Predigt am 09.04.2004 (Karfreitag) in der evangelischen Kirche Denklingen von Pfr. Burkhard Weber Direktor der Evangelistenschule Johanneum (Wuppertal-Barmen) über 2.Korinther 5,14-21 Die Sünde hängt am Kreuz Gott hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt (2. Korinther 5, 21). Liebe Gemeinde, ich möchte heute von einem großen Sünder berichten. Einem, der eine Menge auf dem Kerbholz hat. Er ist der größte Räuber, Mörder, Ehebrecher, Dieb, Tempelschänder, Gotteslästerer, der durch keinen Verbrecher in der Welt je übertroffen wird. Nicht wahr, alle diese Dinge sind Wirklichkeit. Die Sünde ist da. Wir entdecken sie auf Schritt und Tritt. Wo aber ist die Sünde genau? Wo entdecken wir sie? Um eine Antwort auf diese Frage zu erhalten, brauchten wir eigentlich nicht erst in die Kirche zu kommen. Diese Frage ist leicht von jedem von uns zu beantworten, der halbwegs ehrlich ist. Wir müssen nur uns selbst beobachten, um zu erkennen, dass wir nicht in Ordnung sind. Sollte sich dennoch einer für fehlerlos halten, so muss er nur die Menschen in seiner Umgebung fragen, seinen Ehepartner, den Nachbarn, den Kollegen, den anderen Mitarbeiter in der Gemeinde, ja, auch den, mit dem man gemeinsam in den Gottesdienst oder in die Bibelstunde geht. Diese Leute werden ihm schon sehr genau sagen, dass er nicht ganz so in Ordnung ist, wie er selber annimmt. Natürlich wird der so kritisch von den anderen unter die Lupe Genommene sehr schnell entgegnen, dass sein Ehepartner und sein Nachbar und sein Kollege und die Schwester und der Bruder aus der Gemeinde auch nicht so ganz ohne sind. Wir sind alle nicht so ganz ohne. Was heißt das eigentlich? Das heißt: Wir sind alle nicht ohne Sünde. Wir rechnen anderen ihre Schuld vor und bekommen schnell unsere Gegenrechnung dafür vorgehalten: Du bist auch nicht ohne Sünde. (Ob man dieses harte Wort Sünde vermeidet oder nicht, darauf kommt es nicht an. Auch wenn man von Fehlern, von Versagen, vom Nicht-so-ohne-sein, vom Danebenhauen, von den dunklen Stellen in unserem Leben spricht oder von schicksalhaften Verstrickungen, in denen wir uns irgendwie verfangen haben, immer macht das den Tatbestand deutlich, den für uns das Wort Sünde meint. Wir sind nicht ohne Sünde. Doch noch einmal: Wo entdecken wir die Sünde?)
- 2 - Die Sünde müssen wir nicht suchen. Sie ist überall. Sie ist in uns und im anderen Menschen. Und so erschreckend und peinlich ist es: Sie ist auch in mir. Sie ist mit den Händen zu greifen. Und so kann man denn auch, wenn man nicht die Augen vor der Wirklichkeit verschließt, von jenem Verbrecher berichten, dem Räuber, Mörder, Ehebrecher, Dieb, der von keinem Verbrecher in der Welt je übertroffen wird. Die Sünde sie ist da. Man kann sie gar nicht übersehen. Das alles können wir uns selber sagen. Um zu diesen Erkenntnissen zu kommen, müssen wir nicht eine Predigt hören. Aber die Predigt und das Wort Gottes haben gerade das zu sagen, was wir uns selbst nicht sagen können. Das Wort Gottes beschreibt nicht die Wirklichkeit, so wie wir sie sehen, sondern es bezeugt die Wirklichkeit Jesu Christi inmitten unserer verfahrenen Wirklichkeit. Das gibt einen ganz anderen Ausgangspunkt für unser Nachdenken. Wir dürfen und müssen jetzt also ausgehen von der Wirklichkeit Jesu Christi und nicht von unserem Erschrecken oder unserer Entrüstung über Sünde. Die durch die Bibel beschriebene Wirklichkeit aber sieht so aus: Jesus Christus hängt am Kreuz. Das ist die nicht auszulöschende und nicht unterzukriegende Wirklichkeit, vor die uns dieser Tag, der Karfreitag, erneut stellt. Was geschieht da am Kreuz? Geschieht da ein Justizirrtum? Stirbt da ein edler Mensch, der an der Widrigkeit der Umstände scheiterte? Liegt da einer in den letzten Zügen, dessen Einsatz zu Lebzeiten und dessen Sterben für uns ein Vorbild sein sollte? So hat man den sterbenden Christus am Kreuz immer wieder gedeutet. Aber der Glaube deutet ihn anders. Das Wort Gottes bezeugt, wie wir es gehört haben: Gott hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht. Wenn wir jetzt noch einmal fragen: Wo entdecken wir die Sünde?, so erinnern wir uns, dass wir gesagt hatten: Sie ist überall, in uns und im anderen Menschen. Man kann sie gar nicht übersehen. Aber jetzt erfahren wir: Das ist ja gar nicht wahr! Die Sünde ist nicht in mir, sie ist auch nicht im anderen Menschen, sie hängt vielmehr am Kreuz von Golgatha. Und was ist mit jenem Verbrecher, der durch keinen Verbrecher in der Welt je übertroffen wird? Martin Luther hat von ihm gesprochen und aus seiner Auslegung des Galaterbriefes habe ich auch diese Gedanken. Martin Luther hat gesagt, dieser Verbrecher sei der größte Räuber, Mörder, Ehebrecher, Dieb, Tempelschänder, Gotteslästerer, den man sich vorstellen kann. Wen meint Luther? Vielleicht einen Gewaltherrscher wie Nero oder Stalin oder Hitler? Vielleicht einen brutalen Triebverbrecher? Nein. Es kann einem den Atem verschlagen, wenn man liest, von wem Luther spricht. Er spricht von Jesus Christus. Er ist, so sagt Luther, der größte Räuber, Mörder, Ehebrecher, Dieb, Lästerer, der durch keinen anderen Verbrecher in der Welt je übertroffen wird. Liebe Schwestern und Brüder, das zu sagen, kommt uns kaum über die Lippen. Doch es ist keine Gotteslästerung, sondern die Botschaft von Karfreitag: Gott hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht. Jesus trägt unser Versagen. Unsere Sünde hängt mit ihm am Kreuz von Golgatha. Das, was er
- 3 - trägt, ist in Wirklichkeit mehr als die Summe dessen, was sich unter uns an Sünden aufhäuft. Das ist in der Tat eine umwerfende Botschaft. Wir leiden an der Krankheit der Gewöhnung. Wir suchen die Sünde am falschen Ort, wenn wir sie unter uns suchen und mit Leichtigkeit zu entdecken meinen; vor allem beim anderen, aber auch bei uns selbst. Wir treiben, wenn das stimmt, was Paulus schreibt, ein unsinniges Spiel, wenn wir einander Sünde vorrechnen und vorhalten, ohne das Kreuz Jesu Christi im Blick zu haben Die Sünde ist gar nicht mehr unter uns. Sie ist am Kreuz. Und was ist mit uns Menschen, wenn diese Botschaft wahr sein sollte? Gott hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht auf das wir würden in ihm die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt. Das heißt: Weil die Sünde am Kreuz hängt, bist du vor Gott gerecht. Weil Jesus der Verbrecher, Mörder, Dieb ist, stehst du auf einmal mit einer reinen (oder besser: gereinigten) Weste da. Die Sünde ist am Kreuz. Sie ist weg. Gott hat unsere Sünde nicht auf uns, sondern auf Christus, seinen Sohn, gelegt (Luther). Ich gebe zu, dass ich gegen diese Botschaft selber Zweifel und Einwände habe. So ist der Mensch! Er gibt nicht eher Ruhe, bis die Sünde wieder unter uns und in uns ist, damit die Menschen sich im Kampf gegen die Sünde wieder die Gerechtigkeit verdienen können. Aber Gott hat es nun einmal gefallen, die Sünde ans Kreuz zu bringen. Da sollten wir Menschen sie auch lassen. Wenn Gott nicht die Sünde von uns fortgenommen und ans Kreuz geheftet hätte allein wären wir damit nicht fertig geworden. Die Sünde hängt am Kreuz. Das heißt: Gott sucht die Sünde nicht mehr bei mir und dir. Und wenn Gott die Sünde nicht mehr bei dir und mir sucht, dann können und dürfen wir damit aufhören, sie unter uns zu suchen. Gott hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung. Karfreitag sagt: Ihr Menschen, lasst die Sünden am Kreuz! Holt sie nicht wieder runter! Liebe Schwestern und Brüder, was ist das für eine Botschaft! Sie geht uns gegen den Strich. Denn wenn es stimmt, dass Gott in Christus war, die Welt mit sich selber versöhnte und uns unsere Sünde nicht zurechnete was rechnen wir noch? Wenn die Sünde wirklich am Kreuz hängt, dann ist sie ja auch nicht mehr bei meinem Ehepartner, Nachbarn, Kollegen, Bruder oder Schwester zu suchen. Liebe Schwestern und Brüder, auch in der Gemeinde stolpern wir alle immer wieder über die Fehler und Schwächen der anderen. Wir sind schnell dabei mit Vorwürfen und Schuldzuweisungen und es gibt auch mitten in der Gemeinde unversöhnte Menschen, Christen, die denselben Herrn haben, sich an der Versöhnung mit Gott freuen und doch untereinander den Schritt zur Versöhnung nicht tun. Was aber, wenn der andere, der mir wehgetan hat, der Schuld auf sich geladen hat, durch Christi Versöhnungstat vor Gott gerecht ist? Dann rechne ich einem Menschen Sünde zu, dem Gott Gerechtigkeit bescheinigt hat. Das ist ein Unding!
- 4 - Paulus sagt: Weil wir einen Herrn haben, der für uns gestorben und auferstanden ist, darum kennen wir von nun an niemanden mehr nach dem Fleisch, d. h. nicht mehr nach seinen Vorzügen und Nachteilen, nicht mehr nach seinen Tugenden und Untugenden. Wir kennen also nicht mehr den Geizkragen und den edlen Spender, den Schwätzer und den Verschwiegenen, den, der in die Kasse gegriffen hat und den, der ehrlich blieb, den Fleißigen und den Faulen, sondern wenn das alles stimmt, dann kennen wir nur noch diejenigen, die Gott in Christus gerecht gemacht hat. Der Einwand ist berechtigt: Wenn ich doch tausendmal den anderen als einen mit Gott Versöhnten ansehen soll, bleibt er nicht doch ein Lügner, ein Geizkragen, ein unversöhnlicher Mensch? Hass und Neid, Streit und Krieg, Mord und Totschlag, Lüge und Diebstahl sind doch unter uns und nicht so einfach aus unserer Welt herauszubringen. Als die Korinther den Brief des Paulus empfingen, in dem diese großartigen Gedanken stehen, mögen sie auch gedacht haben an den Streit mitten in ihrer eigenen Gemeinde. Paulus sieht das auch. Dass die Sünde am Kreuz hängt und wir versöhnt sind, ist kein Argument dafür, dass wir einfach sündigen dürfen oder dass wir geschehene Sünde einfach ungeschehen nennen dürften. Die Botschaft von der Vergebung ist kein Argument für billige Gnade. Dass die Sünde am Kreuz hängt, entbindet uns nicht vom Kampf gegen sie. Das Kreuz ist kein Argument gegen die Heiligung, sondern deren Begründung. Sünde macht kaputt auch heute. Vergebung tut not. Versöhnung ist nötig, Versöhnung ist geschehen. Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber und rechnete ihnen ihre Sünde nicht zu (V 19). Keine billige Gnade! Aber auch kein Fluch der Sünde mehr! Also Kampf gegen die Sünde ja! Umkehr und Neuanfang ja! Aber die Botschaft von der Versöhnung ist eben auch nicht, dass wir gnadenlos werden dürften. Darum sagt Paulus: Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur. Das Alte ist vergangen. Siehe, neues ist geworden. Die Botschaft, dass Gott die Sünde ans Kreuz gehängt hat, lässt den Glauben zu und den Unglauben. Der Unglaube holt die Sünde vom Kreuz herunter, quält sich damit ab und schleudert sie den anderen ins Gesicht. Der Unglaube will, dass Sünde Zwietracht stiftet. Der Unglaube will dem anderen etwas nachtragen und mit ihm abrechnen. Der Unglaube richtet sich in Bezug auf die Sünde sowohl gegen andere Menschen als gegen uns selbst. Unser eigener Unglaube bringt uns ins Verderben. Unser eigener Unglaube möchte am liebsten andere Menschen ins Verderben bringen. So schlimm ist der Mensch! Gut, dass auch dieser Unglaube nicht das letzte Wort haben muss. Der Glaube dagegen freut sich über die Versöhnung mit Gott. Glaube weiß, dass auch der Mensch neben mir ein von Gott Geliebter ist. Der Glaube bekennt, dass wir alle miteinander auf der Sünderbank sitzen. Der Glaube sagt sein kleines JA zu Gottes großem JA. Der Glaube bekehrt sich zu dem Gott, der uns zu sich bekehrt. Den Ruf zum Glauben und zur Umkehr brauchen wir. Weil auch Christen nie unangefochten im Glauben stehen, holen sie immer wieder die Sünde vom Kreuz und quälen sich mit ihrer eigenen Schuld ab. Das bedarf der Umkehr. Manche Menschen leben gar in Feindschaft gegen Gott. Leider wissen sie noch nicht oder wollen nicht wissen, dass mit der Sünde auch die Feindschaft gegen
- 5 - Gott am Kreuz hängt. Darum schickt Gott Botschafter an Christi statt. Deshalb ermahnt Gott durch sie: Lasst euch versöhnen mit Gott! Und weil auch wir Gläubigen unseren Glauben nie allein durchhalten, sondern immer wieder die Sünde vom Kreuz herunterholen, deshalb ist auch für uns das Amt gegeben, das die Versöhnung predigt. Darum versammeln wir uns regelmäßig in der Gemeinde, um uns zurückrufen zu lassen: Lasst euch versöhnen mit Gott! Liebe Schwester, lieber Bruder, Karfreitag heißt: Unsere Sünde heißt hängt am Kreuz. Da hat Jesus sie hingetragen. Er wird zum Verbrecher und ich bin frei. Ich brauche die Sünde nicht mehr bei mir zu suchen oder bei anderen zu entdecken. Das Wort von der Versöhnung, das ich höre durch Menschen, die selbst der Versöhnung bedürfen, ruft mich zurück zum Glauben. Ich brauche mich nicht zu quälen mit dem, was am Kreuz hängt. Ich brauche mich nicht zu quälen, mit meinem Versagen und meinen Versäumnissen. Aber ich brauche auch meinen Nächsten nicht zu quälen mit seinem Versagen und seinen Versäumnissen. Merken wir, wie eng das zusammenhängt, Versöhnung mit Gott und Versöhnung unter Menschen? Gott wollte eigentlich, dass wir JA zu ihm sagen, aber wir haben uns in NEIN verloren. Aber Gottes JA besiegt unser NEIN und dann trägt Gottes JA unser kleines JA, das wir zögerlich mit der ganzen Wackelexistenz unseres Glaubens sagen. Seit Karfreitag gilt Gottes Ja endgültig. Karfreitag wurde alles anders. Karfreitag kann auch heute alles anders werden. Karfreitag ist ein Tag für uns. Karfreitag ist das Ziel der Zuwendung Gottes zu uns Menschen. Was dort geschah, geschah für uns. Aber das alles von Gott, der uns mit sich selber versöhnt hat durch Christus und uns das Amt gegeben, das die Versöhnung predigt. Denn Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung. So sind wir nun Botschafter an Christi statt. Denn Gott ermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi statt: Lasst euch versöhnen mit Gott! (V 18-21). Amen.