«Schreib doch mal ein anständiges Sonett! ST. H.» Es war ein älterer Dichterkollege, der 1915 geborene Stefan Hermlin (gest. 1997), der die 1946 geborene Ulla Hahn aufforderte: «Schreib doch mal ein anständiges Sonett! ST. H.». Er wollte die junge Kollegin wohl testen: Würde Sie die strenge Form meistern oder sich eine Blösse geben? Wegen seiner strengen Form lehnten viele Dichter das Sonett ab. Auch Goethe gehörte lange zu den Sonett-Kritikern, bevor er die Form in der späten Lyrik virtuos nutzte. Wie beherrscht Ulla Hahn die Form: virtuos oder bloss anständig? Rekonstruiere die Sonettform! Ulla Hahn, Anständiges Sonett Komm beiss dich fest ich halte nichts vom Nippen. Dreimal am Anfang küss mich wo`s gut tut. Miss mich von Mund zu Mund. Mal angesichts der Augen mir Ringe um und lass mich springen unter der Hand in deine. Zeig mir wie s drunter geht und drüber. Ich schreie ich bin stumm. Bleib bei mir. Warte. Ich komme wieder zu mir zu dir dann auch «ganz wie der Kehrreim schöner alter Lieder». Verreib die Sonnenkringel auf dem Bauch mir ein und allemal. Die Lider halt mir offen. Die Lippen auch. Zur Form des Sonetts: Gedicht aus zwei Quartetten (Vierzeilern) und zwei Terzetten (Dreizeilern). In der strengen italienischen Form sind nur vier Reime für die Quartette und Terzette zugelassen, nach dem Schema: abba abba cdc dcd oder abab abab cdc dcd Das Reimschema wird später oft folgendermassen variiert: abba cddc efe fef Klassisches Versmass ist der fünfhebige Jambus.
Ulla Hahn, Anständiges Sonett Zu schwierig? Hast du kein «anständiges Sonett» hingekriegt? Dann versuch es mal mit dem Gedicht «Leda» von Rilke! Immerhin hält sich Rilke an das klassische Versmass, und das vereinfacht vieles! Erklärung: Leda war die Gemahlin des spartanischen Königs Tyndareos. Der Gott Zeus verliebte sich in sie. Er näherte sich ihr in der Gestalt eines Schwanes und schwängerte sie. Leda Als ihn der Gott in seiner Not betrat, erschrak er fast, den Schwan so schön zu finden; er ließ sich ganz verwirrt in ihm verschwinden. Schon aber trug ihn sein Betrug zur Tat, bevor er noch des unerprobten Seins Gefühle prüfte. Und die Aufgetane erkannte schon den Kommenden im Schwane und wusste schon: er bat um eins, das sie, verwirrt in ihrem Widerstand, nicht mehr verbergen konnte. Er kam nieder und halsend durch die immer schwächre Hand ließ sich der Gott in die Geliebte los. Dann erst empfand er glücklich sein Gefieder und wurde wirklich Schwan in ihrem Schoß.
R. M. Rilke, Leda
Ulla Hahn Anständiges Sonett Komm beiss dich fest ich halte nichts vom Nippen. Dreimal am Anfang küss mich wo s gut tut. Miss mich von Mund zu Mund. Mal angesichts der Augen mir Ringe um und lass mich springen unter der Hand in deine. Zeig mir wie s drunter geht und drüber. Ich schreie ich bin stumm. Bleib bei mir. Warte. Ich komme wieder zu mir zu dir dann auch «ganz wie der Kehrreim schöner alter Lieder» Verreib die Sonnenkringel auf dem Bauch mir ein und allemal. Die Lider halt mir offen. Die Lippen auch. Das Gedicht als Lehrstück für den Umgang mit tradierten Regeln Form: Sonett (klassisch-streng) Konventionen Thema: Liebe Klischees Geschlechterrollen (Rollenzuweisung / Sprechverhalten) Verhüllte und offene Tabubrüche bei Rilke und Hahn Rilke: mythologische Verhüllung Hahn: explizite Anweisungen, implizite Bedeutungen, Ambivalenzen
R. M. Rilke Leda Als ihn der Gott in seiner Not betrat, erschrak er fast, den Schwan so schön zu finden; er ließ sich ganz verwirrt in ihm verschwinden. Schon aber trug ihn sein Betrug zur Tat, bevor er noch des unerprobten Seins Gefühle prüfte. Und die Aufgetane erkannte schon den Kommenden im Schwane und wußte schon er bat um Eins, das sie, verwirrt in ihrem Widerstand, nicht mehr verbergen konnte. Er kam nieder und halsend durch die immer schwächre Hand ließ sich der Gott in die Geliebte los. Dann erst empfand er glücklich sein Gefieder und wurde wirklich Schwan in ihrem Schoß. Werther über den Vorteil von Regeln: «Man kann zum Vorteile der Regeln viel sagen, ungefähr was man zum Lobe der bürgerlichen Gesellschaft sagen kann. Ein Mensch, der sich nach ihnen bildet, wird nie etwas Abgeschmacktes und Schlechtes hervorbringen, wie einer, der sich durch Gesetze und Wohlstand modeln läßt, nie ein unerträglicher Nachbar, nie ein merkwürdiger Bösewicht werden kann; dagegen wird aber auch alle Regel, man rede was man wolle, das wahre Gefühl von Natur und den wahren Ausdruck derselben zerstören!» Goethe, Die Leiden des jungen Werther (26. Mai)