Pictures of the Future

Ähnliche Dokumente
Nachhaltigkeit als Chance Siemens setzt um

German Green City Index

Kunstflugzeug als Demonstrator

Für Wärme, Warmwasser und Strom

Die Stadt der Zukunft vernetzt und nachhaltig

Motivieren statt Regulieren

Was verträgt unsere Erde noch?

CrossPower. Das Intelligente Energiesystem.

Video-Thema Begleitmaterialien

Pionier damals Pionier heute Peter Löscher Vorstandsvorsitzender, Siemens AG 25. Mai 2011

Fokus Berlin: Anforderungen an die Energieversorgung in einer Metropolregion

Cargo Climate Care unser Beitrag zum Umweltschutz.

Tritt Indien in Chinas Fußstapfen? Indiens demografische Vorzeichen für wirtschaftliche Entwicklung stehen gut weiterlesen

Die Kraft von Siemens nutzen

Sustainable Urban Infrastructure Intelligente Energieversorgung für Berlin Kooperationsprojekt von Siemens, Vattenfall, TU Berlin

Die grüne Brücke 2050 Gemeinsam den Weg in die neue Energiewelt gestalten.

Einfach mehr Zukunft: Willkommen im Elektrischen Haus von Dimplex

Gemeinsam Energie erleben

Klug, klüger, Kopenhagen

ELEKTRO- MOBILITÄT QUO VADIS Panel Elektromobilität im Verkehrsverbund der Zukunft

Verbinden Sie Ihr Haus mit der Zukunft

Smart Grids und das Maßnahmen- Puzzle der Energiewende Rudolf Martin Siegers, Leiter Siemens Deutschland

Systemintegration für eine nachhaltige Stadtentwicklung 7. Highlights-Veranstaltung des BMVIT / VD DI Marc H. Hall

6. Sachverständigentag

Produktionsprozesse an unterschiedlichen Orten werden punktgenau mit den zu verarbeitenden

FUSO Eine Marke im Daimler-Konzern. GRÜNER WIRD S NICHT. Der Canter Eco Hybrid.

Das weltweit erste Groß-Serien Elektroauto: Mitsubishi i-miev

Neue Studie bewertet die aktuelle Performance und das zukünftiges Potenzial von 125 Städten weltweit

TECHNOLOGIE IM EINKLANG MIT DER UMWELT

Antriebs- und Kraftstoffstrategie - Roadmap automatisiertes Fahren

ELEKTRO MOBILITAT MIT DACHS POWER

Wasser und Energie für alle

Dr. Florian Steinke, Dr. Clemens Hoffmann April 2011 Copyright Siemens AG All rights reserved.

Kooperation und Konvergenz von US-amerikanischen und europäischen Positionen

Energie und Energiesparen

Erneuerbares Kraftwerk Grüner Strom intelligent vernetzt

Intelligente Städte von morgen Smart City Wien Dipl.-Ing. Rainer Müller, TINA Vienna Smart City Wien Agency. Berlin,

Ambient Mobility: Neue Mobilitätsformen für die Stadt der Zukunft

Für Wärme, Warmwasser und Strom!

Nachhaltigkeit bei UPS The Road Ahead. Be global act local

Die Zukunft der Energieversorgung: Die Intelligenz im Netz

adele ein speicher für grünen strom

AEW myhome. Unabhängig auch bei meiner Energieversorgung. Bestellen Sie jetzt Ihre persönliche Richtofferte.

Arbeitsblatt Netz der Zukunft

Die Energiewende ein komplexes Puzzle an Maßnahmen Überblick

Olaf Scholz startet bei Mercedes- Benz Hamburg die weltweit erste Brennstoffzelle eines Autohauses

Think Blue. Weniger verbrauchen. Mehr erreichen.

Technologische Zusammenarbeit

What-if-Bedingungen passen diese Szenarien flexibel an die Wünsche der Bewohner an. So wird zum Beispiel der Rollladen in

Fragen und Antworten zu unserem

Photovoltaik-Anlage Ihr eigenes Kraftwerk.

Wir sind vielleicht nicht mehr die Jüngsten. Aber wir denken in Generationen. Nachhaltigkeit seit 1874.

Strom Matrix Basis für eine erfolgreiche Energiewende in Deutschland

CITIES NEXT GENERATION. Future Energy Forum 2016 in der Wissenschaftsstadt Aachen. Ideas. Networks. Solutions. Einladung zum

Ökologische Verantwortung einer Airline Für die Umwelt von morgen. Daniel Sollberger Leiter Lufttüchtigkeit Swiss International Air Lines

Die 2000-Watt-Gesellschaft

FUTURE FLEET FIRMENWAGEN MIT GRÜNER ENERGIE. Eine Forschungsinitiative zur Einbindung von Elektrofahrzeugen in betriebliche Fahrzeugflotten

Sonderausstellung. Aktionstag E-Mobilität. 5. bis 23. Juni 2012 / StadtQuartier Riem Arcaden. 9. Juni 2012 / Willy-Brandt-Platz STADT QUA RTIER

Smart Cities bosch.com/smartcities

NOVELAN EINFACH DIE RICHTIGE WAHL. Heizen und Kühlen mit der Wärmepumpe

GRÜNER WIRD S NICHT. Der Canter Eco Hybrid und Canter E-CELL.

HANDELSBLATT ENERGY AWARDS

SMart Home. Smart Home der Zukunft. Was ist ein Smart Meter? Was ist ein Smart Grid? Facts & Figures

China Ein Labor für die Stadt für Morgen?

Klimaschutz für Einsteiger

Offshore-Windenergie für einen nachhaltigen Energiemix

Grundlagen der Kraft-Wärme-Kopplung

LEISTUNGSÜBERSICHT. Stadtwerk Winterthur. Komfort für Ihren Alltag

Center Schleswig-Holstein Herzlich willkommen

Die Zeit ist reif. EQOO. Sonnenenergie speichern mit System

Ihr Partner für Blockheizkraftwerke. Erdgas Flüssiggas Pflanzenöl Heizöl

Autark und unabhängig mit Solarstrom und Batteriespeicher

Ideen für eine bessere Umwelt

Die Eisenbahn ist das Rückgrat der deutschen Wirtschaft. Wo Fortschritt ist, ist Mobilität und umgekehrt. Damit das auch in

Energieerzeugung für ein modernes Zuhause.

SMA Leitbild Nachhaltigkeit

E-Mobilität: umdenken in Richtung Zukunft.

I N F O R M A T I O N

Weltbevölkerungsprojektionen bis 2100

Elektrifizierung, Automatisierung, Digitalisierung: Technologische Lösungen für die Energiewende

SMART CITIES DI Christian Schneider KNG Kärnten Netz GmbH

E.ON Aura Photovoltaikanlagen wirtschaftlich, innovativ und grün. Die moderne Stromversorgung von E.ON.

ANHANG 1 Rechenaufgaben

Nachhaltige Energie und Mobilität für die Städte von Morgen

Eine Insel kauft sich frei und versorgt sich mit erneuerbarer Energie

Position von Roche zum Bau eines Biomasse-Heizkraftwerks im Nonnenwald. Infoveranstaltung Stadt Penzberg

OSRAM die Zukunft des Lichts gestalten. Martin Goetzeler Kongress Optische Technologien Berlin, 5. Februar 2008 CSM SD

Geschäftsbericht unsere Region gemeinsam erfolgreich machen

Das ist FUTURE.WOW! Energie für morgen! future matters Büro für Innovation und Zukunftsforschung

Demographischer Wandel Alle Menschen reden von dem demographischen Wandel. Das heißt, etwas ändert sich gerade:

Deutschland-Tag des Nahverkehrs

Kia Soul EV spart mit der Klimaanlage

Urs Gribi, Geschäftsführer ABB Turbo Systems AG ABB Kurzporträt Futura-Anlass 18. September 2014 Energieeffizienz als Geschäftsmodell

Saubere und bezahlbare Energie für alle ist die größte Herausforderung unserer Zeit.

Nico Ninov, ABB Schweiz AG, Niederspannungsprodukte, Business Development für e-mobility und Smart Grid Smart Energy Nachhaltig erzeugt, intelligent

Kurzmitteilung zu den Hochtemperatur-Supraleitern

Automobilwirtschaft in Baden-Württemberg Weltklasse-Fahrzeuge, innovative Technologien, intelligente Mobilitätslösungen Baden-Württemberg ist ein

Mehr Wert(e): Nachhaltige Innovationen für nachhaltigen Konsum. Stephan Füsti-Molnár 31. August 2015

Danke. für über 10 Jahre Dachs. In Zukunft noch mehr vom Dachs profitieren.

Transkript:

Pictures of the Future Die Zeitschrift für Forschung und Innovation Herbst 2011 www.siemens.de/pof Lösungen für die Welt von morgen Lebensqualität in Städten Wie lassen sich Städte in aller Welt lebenswerter gestalten? Wie Maschinen lernen Selbsttätig lernende Systeme eröffnen neue Einsatzgebiete Wachstum mit weniger Ressourcen Mehr Wohlstand und Ressourcenschonung sind kein Widerspruch

Pictures of the Future Editorial Pictures of the Future Inhalt Städte sind wie Magnete: Sie ziehen Menschen an. Schon jetzt nennt mehr als jeder zweite Mensch eine Stadt sein Zuhause, und nach Berechnungen der Vereinten Nationen werden die urbanen Zentren der Welt bis 2050 um weitere drei Milliarden Bewohner wachsen und zwar fast ausschließlich in den heutigen Entwicklungs- und Schwellenländern. Zudem wird bereits heute in den 600 größten Metropolen rund die Hälfte der globalen Wirtschaftsleistung erbracht, mit weiter zunehmender Tendenz. Erzeugung über die Verteilung bis hin zum Verbrauch ökonomisch und ökologisch sinnvoll steuern (S.15, 96, 104). Wie unterschiedlich die Ausgangssituationen und Erfordernisse von Städten in der Welt ausfallen können, zeigen die Ergebnisse der Green City Indizes, die die Economist Intelligence Unit im Auftrag von Siemens erstellt hat (S.8) oder auch die Vergleiche von Städten wie Jakarta (S.30) und London (S.15). In Jakarta geht es um die Verbesserung der Lebensbedingungen vieler Bewohner sowie grund- Für ein besseres Leben in Städten Lebensqualität in Städten Wie Maschinen lernen Wachstum mit weniger Ressourcen Dr. Roland Busch ist CEO des zum 1.10.2011 neu gegründeten Sektors Infrastructure & Cities und Mitglied des Vorstands der Siemens AG. Titelseite: Die Stadt von morgen, eine Mischung aus Tradition und Moderne. Um die Mobilität der Millionen Bewohner umweltfreundlich sicherzustellen, sind stark vernetzte Verkehrssysteme notwendig mit hohem Anteil an Elektroautos und öffentlichem Nahverkehr. Das Wachstum urbaner Regionen ist zunächst einmal positiv: Sie bringen Menschen zusammen. Sie helfen, Kreativität und Unternehmergeist freizusetzen. Sie locken mit Arbeit, Bildung und Gesundheitsversorgung. Gerade in den Entwicklungs- und Schwellenländern verspricht ein Leben in der Stadt einen erheblichen Zugewinn an Chancen und Einkommen, verglichen mit dem Leben auf dem Land. Doch leider nicht selten um den Preis erheblicher Kompromisse bei der Lebensqualität. Dichter Verkehr, Raumknappheit, Umweltverschmutzung und Lärm setzen Stadtbewohnern überall auf der Welt zu. Darüber hinaus sind ein effizienter öffentlicher Nahverkehr oder fließendes Wasser oft keine Selbstverständlichkeit. Städte zu Orten zu machen, an denen Menschen eine hohe Lebensqualität genießen können, ist daher eine der großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Ihr stellen sich Politiker, Planer, aber auch Unternehmen wie Siemens. Aus diesem Grund haben wir einen neuen Unternehmenssektor gegründet. In ihm bündeln wir wichtige Teile unseres Portfolios, um unseren Kunden in den Städten noch konsequenter nachhaltige Infrastrukturlösungen aus einem Guss anbieten zu können. Denn in einem Punkt ähneln sich alle Städte der Welt: Um nachhaltig zu wachsen, brauchen sie zum Beispiel nicht einfach nur Züge, öffentlichen Nahverkehr, Verkehrsleitstellen oder Ladestationen für Elektroautos. Sie brauchen Mobilitätskonzepte (S.22), die alle diese Elemente effizient vernetzen, wie im Schwerpunkt Lebensqualität in Städten (S.10-43) in dieser Ausgabe von Pictures of the Future geschildert wird. Ein ähnlich bewusstes Vorgehen gilt für die Energieversorgung: Boomende Städte und Regionen brauchen nicht nur Kraftwerke, Stromleitungen und Umspannstationen sie setzen künftig auf Smart Grids. Mit ihnen können sie den Energiebedarf und -verbrauch besser in Einklang bringen, das heißt, die Kette von der legende Infrastrukturmaßnahmen wie Wasserversorgung, Abfallmanagement oder den erstmaligen Bau einer U-Bahn. In London hingegen muss die fast 150 Jahre alte U-Bahn dringend modernisiert und der Nahverkehr ausgebaut werden, um die steigenden Passagierzahlen bewältigen zu können. Siemens-Technologie hilft hier, dem wachsenden Druck auf die Infrastruktur zu begegnen. Hybridbusse und Elektrofahrzeuge verbessern die Luftqualität der britischen Hauptstadt, der nötige Strom kommt zum Teil aus Windkraftanlagen vor den Küsten Südenglands, erzeugt mit Windturbinen von Siemens. Ein sparsamer Umgang mit Ressourcen ist allerdings nicht nur in Städten wichtig. Mit der rasanten wirtschaftlichen Entwicklung in Ländern wie China (S.40), Indien (S.33) oder Brasilien (S.104) steigt auch die Ressourcen- und Energienutzung landesweit stark an. In den aufstrebenden Ländern wächst vor allem die Zahl der Menschen, die der Mittelklasse zuzurechnen sind hier entstehen neue Bedürfnisse nach Komfort, Konsum und Mobilität. Nachhaltiges Wachstum ist daher das Gebot der Stunde. Beispielhafte Lösungen dafür zeigt der Schwerpunkt Wachstum mit weniger Ressourcen (S.76-113) in dieser Ausgabe von Pictures of the Future. Dazu gehören Effizienzsteigerungen in der Energieversorgung (S.96) ebenso wie Alternativen zu knappen Rohstoffen (S.100), die Optimierung von Recyclingverfahren (S.88) oder die umfassende Berücksichtigung des Umweltschutzes bereits beim Produktdesign: vom Geschirrspüler (S.90) über den Computertomographen (S.86) bis zum Hüttenwerk (S.81). Ressourcenschonendes Wachstum und die Erhöhung der Lebensqualität in Städten sind zweifellos zwei der größten Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Siemens ist fest entschlossen, für beide Menschheitsfragen Antworten zu liefern, um unsere Welt auch in Zukunft lebenswert zu gestalten. 110 Szenario 2040 Leben im Jetzt 112 Trends Lebensraum Stadt 115 London Alles keine Hexerei 118 Neue Siemens-Zentrale Grüne Visitenkarte 120 Fahrzeugkonzepte Zug aus dem Baukasten 121 Fast Lane Tel Aviv Freie Fahrt gegen Aufpreis 122 Vernetzte Mobilität Flexibel duch den Großstadtdschungel 124 Projekt SmartSenior Smarte Lösungen für Senioren 128 Kommunikationstechnologien Das Büro im World Wide Web 130 Jakarta Leben in Asiens Paradiesfrucht 133 Indiens Städte Metropolendämmerung 134 Interview Dr. Joan Clos Der Leiter des UN-Siedlungsprogramms HABITAT über die richtige Planung für eine glänzende Städte-Zukunft 136 Müllrecycling in Bolivien Einkommen aus Müllhalden 137 Safe Water Kiosk Der himmlische Wasserspender1 138 Fakten und Prognosen Die Ungleichgewichte in den Städten wachsen weltweit 140 Finanzierung in Chinas Städten Grün gewinnt 141 Interview Pablo Vaggione Der Experte für nachhaltige Stadtentwicklung über die Wege, Städte mit hoher Lebensqualität zu realisieren 142 Tawam Center in Al-Ain Spitzenmedizin in der Stadt-Oase in den Vereinigten Arabischen Emiraten Rubriken 148 Szenario 2035 Unsichtbarer Prophet 151 Trends Von Komplexität profitieren 152 Neuronale Netze Die Wissenschaft der Prognosen 154 Wie maschinelles Lernen funktioniert Über die Funktion und Vorteile der künstlichen Intelligenz 157 Medizinische Anwendungen Verstecktes Wissen nutzen 161 Fakten und Prognosen Das digitale Universum braucht Computerintelligenz1 162 Interview Prof. Dr. Bernhard Schölkopf Der Direktor des neuen Max-Planck- Instituts für Intelligente Systeme erklärt, wie Maschinen das Lernen lernen können 164 Sicherheitsanwendungen Maschinenauge, sei wachsam 167 Buchstabenerkennung Sehen heißt verstehen 168 Interview Prof. Dr. Tomaso Poggio Der MIT-Forscher hält Lernen für das Tor zur Intelligenz 170 Industrieanwendungen Aus Erfahrung gut 184 In aller Kürze Neues aus den Siemens-Labors 186 Gestiksteuerung bei Zügen Gesten steuern den Bahnverkehr 187 Flugzeuge mit Elektromotoren Stromer der Luft 188 Green City Index Nordamerika Ambitionierte Ziele 176 Szenario 2035 Weniger ist mehr 178 Trends Fossile Grenzen 181 Bewertungsmethode Eco-Care-Matrix Alles im grünen Bereich 182 Fakten und Prognosen Materialverbrauch und Wirtschaftswachstum lassen sich entkoppeln 184 Interview Dr. Mathis Wackernagel Unser ökologischer Fußabdruck 186 Öko-Leitlinien für Produkte Grün von Anfang an 188 Recycling von Zügen Zweites Leben für Waggons 190 Produktdesign Hausgeräte Energiespar-Champions im Haushalt 192 Effizienzsteigerung bei Windrädern Luftschwerter für mehr Strom 192 Wärmepumpen Heizen fast zum Nulltarif 194 PLM-Software Von der virtuellen in die reale Welt 196 Gas-und-Dampfturbinen-Kraftwerk Das Weltrekord-Kraftwerk 198 Supply Chain Management 199 Energieeffiziente Lieferkette Ein grünes Rezept für Lieferanten 100 Knappe Rohstoffe Die Rohstoff-Detektive 102 Pflanzenkläranlagen in Indien Oase im Betonbecken 104 Innovationen in Brasilien Zucker, Öl und schlaue Köpfe 106 Interview Brito Cruz und Ozires Silva Forschung und Entwicklung in Brasilien 108 Öl- und Gasförderung im Meer Die Tiefsee lockt 111 Interview Carlos Tadeu da Costa Fraga Brasiliens künftige Öl- und Gaspläne 112 Pflanzenölkocher in Indonesien Kochen mit Brechnüssen 189 Green City Index Deutschland Beim Umweltschutz spitze 144 Gesundheitsversorgung im Regenwald Klinik unter Palmen 174 Gestiksteuerung im OP Mit der Spielekonsole im Operationssaal 114 Feedback 115 Vorschau 2 Pictures of the Future Herbst 2011 Pictures of the Future Herbst 2011 3

Pictures of the Future In aller Kürze Leichtgewicht: Die 6-MW-Turbine in Dänemark wiegt nicht mehr als eine 3-MW-Anlage mit Getriebe. Windturbine ohne Getriebe Die SWT-6.0-120 ist der dritte getriebelose Windenergieanlagen-Typ von Siemens. Die Anlage verwendet die innovative Direktantriebstechnik, das heißt, sie kommt ohne Getriebe zur Kraftübertragung aus. Ein Prototyp wird jetzt an der dänischen Küste umfangreichen Tests unterzogen. 2014 soll die Turbine in Serie gehen. Die Anlage zeichnet sich durch ihr geringes Gesamtgewicht aus. Bisher waren Windturbinen mit höherer Leistung überproportional schwerer als kleinere Maschinen. Die SWT-6.0-120 wiegt dagegen nur so viel wie konventionelle Windturbinen mit Getriebe in der 2- bis 3-Megawatt(MW)-Klasse. Aufgrund der gleichzeitig extrem robusten Bauweise reduzieren sich die Kosten für die Windturbine selbst und für die Türme und Fundamente. Dies wird die Preise für Strom aus Windkraftwerken auf dem Meer weiter senken. Die Siemens-Experten von Wind Power aus Dänemark entwickelten die 6-MW-Windturbine speziell für die rauen Offshore-Bedingungen. So reduziert ein ausgeklügeltes und zugleich einfaches Design die Anzahl der rotierenden Teile erheblich. Gleichzeitig minimieren verbesserte Diagnose-Verfahren das Ausfallrisiko, machen die Anlage zuverlässiger und erhöhen die Verfügbarkeit. Auf dem Meer müssen Windkraftanlagen rund 20 Jahre lang Wind und Wetter widerstehen und dabei möglichst we nig Wartungskosten verursachen. Denn eine Reparatur kostet auf hoher See im Vergleich zu Onshore-Anlagen etwa das Zehnfache. Bis heute hat Siemens mehr als 700 Windturbinen mit einer Gesamtleistung von 1.900 MW in europäischen Gewässern installiert. CO 2 einfangen Ein Pilotprojekt von Siemens und E.ON hat gezeigt, dass die Abscheidung von CO 2 aus Kraftwerken gut funktioniert und in ersten Demonstrationsprojekten umgesetzt werden kann. Mehr als 90 Prozent des CO 2 wurden aus einem Rauchgasteilstrom des Kohlekraftwerks Staudinger bei Hanau abgetrennt. Dafür wird ein spezielles und umweltfreundliches Waschmittel aus dem gelösten Salz einer Aminosäure verwendet, das das CO 2 binden und anschließend wieder abgeben kann. Der Versuch in der seit 2009 laufenden Pilotanlage zeigte auch, dass das Rauchgaswaschverfahren den Kraftwerkswirkungsgrad um nur sechs Prozent und somit deutlich weniger als erwartet senkt. Das Verfahren eignet sich auch für die Nachrüstung bestehender Kraftwerke. Ende 2012 wird die Abscheidetechnologie in einem noch größeren Projekt in den USA getestet. Saubermacher: Blick in die Pilotanlage bei Hanau Energiesparer: Taipei 101 spart jährlich 700.000 US-Dollar. Erfahrungswert: Im eigenen Labor testet Siemens die Netz-Software. Smarte Landregion Siemens und das Allgäuer Überlandwerk (AÜW) in Kempten testen zusammen mit der RWTH Aachen und der Hochschule Kempten ein intelligentes Stromnetz ein sogenanntes Smart Grid. Das Gemeinschaftsprojekt Integration regenerativer Energien und Elektromobilität (Irene) hat eine Laufzeit von zwei Jahren und wird vom Bundeswirtschaftsministerium gefördert. Hierbei sollen die vielen Photovoltaikanlagen, Windturbinen und Biogasanlagen, die das AÜW inzwischen ins Verteilnetz eingebunden hat, im Sinne eines intelligenten Stromversorgungsnetzes betrieben werden. Möglich machen wird das ein selbstorganisierendes Energieautomatisierungssystem von Siemens eine neu entwickelte Software, mit der sich die Energieverteilung besser planen und koordinieren lässt und das Netz effizienter betrieben werden kann (S.70). Das Projekt schließt den Aufbau einer Ladeinfrastruktur für Elektrofahrzeuge ein, die den umweltfreundlich erzeugten Strom etwa aus Photovoltaikanlagen nutzen können. Die Elektrofahrzeuge können künftig zudem als Stromspeicher genutzt werden. Eingebunden in ein Smart Grid speichern sie den Strom, wenn er im Überfluss zur Verfügung steht und speisen ihn zu Spitzenlastzeiten wieder zurück ins Netz. Das Gemeinschaftsprojekt bietet dabei für alle Beteiligten Vorteile: Die Verbraucher können über ein verändertes Verbrauchsverhalten Kosten sparen und die Erzeuger können ihren Strom effizient vermarkten. Taipei hochgrün Der Wolkenkratzer Taipei 101 erhielt die Zertifizierung Leadership in Energy and Environmental Design (LEED) auf der Qualitätsstufe Platin. Das höchste grüne Gebäude der Welt verbraucht im Vergleich zu konventionellen Gebäuden 30 Prozent weniger Energie. Beleuchtung und Klimaanlage werden in ungenutzten Räumen automatisch ausgeschaltet, über Nacht mit günstigerem Strom produziertes Eis hilft tagsüber dabei, die Räume zu kühlen. Das Gebäude spart durch diese und andere Maßnahmen rund 3.000 Tonnen CO 2 jährlich. Siemens spielte als LEED-Berater eine große Rolle bei diesem Erfolg. Das Unternehmen installierte bereits 2004 im Taipei 101 die Gebäudemanagement-, Sicherheits- und Beleuch tungslösungen. Rekord-Leistung Siemens baut Stromrichterstationen für eine Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragungsanlage (HGÜ) mit der Rekordleistung von 2.000 Megawatt (MW). Mit der neuen HGÜ-Technik HVDC-Plus soll diese Leistung ab 2013 unterirdisch über 65 Kilometer übertragen werden. Diese zum Teil mit Mitteln der Europäischen Union finanzierte Anlage verbindet das französische mit dem spanischen Stromnetz. Zwischen den beiden Ländern existieren bisher nur Leitungen mit geringer Kapazität. Werden künftig mehr erneuerbare Energien genutzt, müssen die Stromnetze aber europaweit erheblich ausgebaut werden. Soll eine hohe Leistung nicht über Freileitungen, sondern via Erd- oder Seekabel über weite Entfernungen übertragen werden, ist der übliche Wechselstrom nicht geeignet, denn hier treten wegen der Auf- und Entladung der Kabelkapazitäten hohe Verluste auf. Eine HGÜ-Verbindung hat dagegen gegenüber einer vergleichbaren Drehstromübertragungsstrecke 30 bis 40 Prozent weniger Übertragungsverluste. Dank der Siemens-Technik sollen zwei Kabel je 1.000 MW bei einer Spannung von rund 320 Kilovolt übertragen. Das ist die bei heutigen Kabeln maximal mögliche Spannung. Die HVDC-Plus- Stromrichterstationen haben etliche Vorteile verglichen mit ihren Vorgängern: Sie sind flexibler, robuster und gleichzeitig weniger störungsanfällig. Verlustarm: hier ein 800-kV-Trafo für HGÜ-Übertragungen bei Freileitungen in China. Strahlende Kombination Osram hat mit 2DO-Design eine Leuchte entwickelt, in der organische (OLED) und klassische Leuchtdioden (LED) kombiniert sind. Die Airabesc setzt sich aus elf rechteckigen OLED-Panels zusammen, dazwischen sind kleine LEDs angebracht. Die OLED-Panels bestehen aus mehreren Schichten organischen Materials, die auf Glas aufgedampft werden und insgesamt so dick sind wie ein Hundertstel eines Haares. Das Besondere an OLEDs ist ihr flächig abgestrahltes Licht. Innovativ: Die Airabesc kombiniert LED und OLED. 4 Pictures of the Future Herbst 2011 Pictures of the Future Herbst 2011 5

Sauberer Flug: Der Motorsegler DA36 E-Star fliegt hybrid-elektrisch: Ein Elektroantrieb treibt dabei den Propeller an, während ein kleiner Verbrennungsmotor die Batterien lädt. Pictures of the Future Bahnverkehr Kompakt: Siemens entwickelt eine neue Generation von Leittechnik für Eisenbahnen. Ein Multitouch-Tisch soll dabei helfen, das Verkehrs netz zu optimieren. Gesten steuern den Bahnverkehr Ein Multitouch-Tisch in den Leitzentralen der Bahn könnte dafür sorgen, dass Züge künftig pünktlicher fahren. Die Technik verbessert den Überblick über das Schienennetz und erleichtert die Kommunikation. Pictures of the Future Elektroflieger Stromer der Lüfte Siemens, EADS und Diamond Aircraft haben das weltweit erste Flugzeug mit seriell-hybridem Elektroantrieb entwickelt. Das Resultat: weniger Lärm, Kerosin-Verbrauch und CO 2 -Emissionen. Montagmorgen, Rush-hour, die Berliner Innenstadt ist dicht. In der Verkehrsleitzentrale herrscht Hochbetrieb. Fahrdienstleiter, Netzkoordinatoren und Einsatzplaner der öffentlichen Verkehrsbetriebe haben alle Hände voll zu tun, um den Verkehr im Fluss zu halten. Sie stehen um einen großen Bildschirm, der wie ein Tisch in der Mitte der Leitzentrale platziert ist, und verfolgen die Informationen auf dem berührungsempfindlichen Display. Die Da - ten geben einen aktuellen Überblick über die Situation auf den Straßen und Schienen. Die Mitarbeiter lenken Zugfolgen oder optimieren Fahrt- und Haltezeiten per Fingertipp und mithilfe von Gesten. Sie setzen zusätzliche Bahnen ein und organisieren Umleitungen. Bis zu 32 Fin - ger-kommandos gleichzeitig erkennt der Bildschirm. So lassen sich blitzschnell Streckenüber - sichten zoomen, Trassen sperren und Daten verknüpfen. Das ist unsere Vision einer neuen Generation von Verkehrsleittechnik für die Mobilitätsanforderungen der Zukunft, sagt Kim- Markus Rosenthal, Designer von Benutzeroberflächen für die Siemens-Bahnautomatisierung. Noch steckt die Technik in den Kinderschuhen. Einen Prototypen des bedienerfreundlichen Leitstands haben Entwickler des Siemens-Bereichs Rail Automation aus Braunschweig im Herbst 2010 auf der InnoTrans in Berlin, der Fachmesse für Verkehrstechnik, vorgestellt. Siemens entwickelt diese neue Generation von Leittechnik zurzeit für Eisenbahnen. Teil des interaktiven Systems ist der Multitouch-Tisch : Er bietet nicht nur einen Überblick über das Verkehrsnetz, sondern vereint auch unterschied - lichste Funktionen wie Fahrplanregelung oder Reparatur- und Instandhaltungsplanung. Mit unserer Zukunftsstudie wollen wir zeigen, wie man die Zusammenarbeit bei den immer komplexer werdenden Abläufen in den Betriebsleitzentralen optimieren könnte, sagt Gerd Tasler, Produktmanager für Betriebsleittechnik. Gegenwärtig nutzt jeder Bereich der örtliche Fahrdienst, die Strecken- und Knotenplaner sowie das Instandhaltungspersonal die Leittechnik individuell für seine jeweiligen Aufgaben. Doch um auch künftig die Mobilität sicherstellen zu können, gilt es, die Abläufe von Bus, U- und S-Bahn aufeinander abzustimmen, Umsteigezeiten zu reduzieren und Störungen schnell und sicher zu beheben (S.22). Heute ist ein kurzfristiger Abgleich von Abfahrt- oder Wartezeiten fast unmöglich. Ob Bus oder Bahn, jeder hat eine separate Leittechnik und eigene Verkehrszentralen. Die Akteure dort haben nur den Überblick über das Geschehen im eigenen Bereich. Ziel muss es sein, die Informationen über die aktuelle Verkehrssituation in einer Region allen Beteiligten gleichzeitig zur Verfügung zu stellen, erläutert Rosenthal. Und es gibt noch ein weiteres Problem: Eine strenge Hierarchie sorgt heute für klare Verantwortlichkeiten, erschwert jedoch schnelle Lösun - gen bei unvorhergesehenen Ereignissen weil jeder Akteur die eigenen Interessen im Blick hat. Fallen daher Streckenabschnitte wegen einer Panne aus, kommt es oft zu größeren Verspätungen. Das neue System soll das reduzieren, denn künftig sollen alle Verantwortlichen damit einen Einblick in die Entscheidungskriterien der anderen erhalten, sagt Rosenthal. Alles in einem. Im Mittelpunkt des neuen Systems steht eine Software, die als einheitliche Benutzeroberfläche die Arbeitsplätze zu einer Art Steuerzentrale verschmilzt. Basis ist eine Leittechnik, die wichtige Managementfunktionen wie das Fahrplan- und Konfliktmanagement vereint. Die Mitarbeiter kümmern sich nach wie vor primär um ihre Aufgaben, gleichzeitig aber haben die Entscheider über den riesigen Multitouch-Bildschirm Zugriff auf das gesamte Verkehrssystem. Entscheidungen kön - nen so schnell und gemeinsam getroffen werden. Und man kann zusätzliche Automatisierungsfunktionen integrieren, die Mitarbeiter von Routineaufgaben entlasten, erklärt Tasler. Eine automatische Abstandsregelung könnte beispielsweise Zugfolgen, Fahr- und Haltezeiten optimieren und Abweichungen vom Fahrplan schnell und effektiv ausgleichen. Der Computer bestimmt dann die Taktzeiten und die Reihenfolge der Züge auf der Strecke. Eine derart komplexe Aufgabe war nur in einem interdisziplinären Team zu lösen, sagt Rosenthal. Wir haben unser Wissen aus der Bahn technik eingebracht, das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt steuerte sein Knowhow der Software-Ergonomie bei. Das Institut für Transportation Design beriet uns bei der Hard - ware, und Studio B12 lieferte kreative Ideen für das Interaktions- und Grafikdesign. Derzeit wird das System weiter optimiert. Beispielsweise wer - den in Kundengesprächen mithilfe des Multitouch-Tisches die Arbeitsabläufe detailliert analysiert. Mit den Ergebnissen wollen wir zusätzliche Anwendungen für die Leittechnik ent - wickeln, so Rosenthal. Darüber hinaus sollen Schnittstellen zu Leitsystemen anderer Verkehrs - systeme geschaffen werden und dann soll das System mit ausgewählten Kunden in der Praxis getestet werden. Hans Schürmann Auf den ersten Blick sieht die Weltneuheit ganz unscheinbar aus: Rein äußerlich unterscheidet sich der Motorsegler DA36 E-Star nicht von seinen konventionellen Geschwistern, die den Namen HK36 Super Dimona tragen. Einem aufmerksamen Beobachter wäre beim Jungfernflug des zweisitzigen Motorseglers am 8. Juni 2011 auf dem Flugfeld Wiener Neustadt allerdings etwas aufgefallen: das leise Geräusch und der fehlende Geruch nach Flugbenzin. Das hat einen einfachen Grund: Das einzigartige Fluggerät ist das weltweit erste seriellhybride Elektroflugzeug und kommt beim Start und bei der Landung ganz ohne Verbrennungsmotor aus. Ein Siemens-Elektromotor mit 70 Kilowatt Leistung treibt den Propeller an und bezieht seine Energie aus Batterien, die in den Tragflächen untergebracht sind. Hat der Motorsegler seine Reiseflughöhe erreicht, schal - tet der Pilot einen kleinen Verbrennungsmotor mit 30 Kilowatt Leistung ein. Dieser Wankelmotor ist nur dazu da, um über einen Generator die Energie für den Elektromotor zu liefern und gleichzeitig die Batterien nachzuladen. Das klingt nach einem komplizierten System, hat aber entscheidende Vorteile. Mit elektrisch betriebenen Flugzeugen lassen sich im Vergleich zu den derzeit effizientesten Technologien 25 Prozent an Kraftstoff und Emissionen einsparen, erklärt Dr. Frank Anton, Initiator der Electric-Aircraft-Entwicklung bei Siemens Corporate Technology. Außerdem vermeiden wir dadurch Lärm und Emissionen während des Starts und der Landung. Aber warum sparen elektrische Antriebskonzepte Energie? In konventionellen Flugzeugen sind die Motoren und Turbinen für eine maximale Leistung ausgelegt, die man aber nur für den Start und den Aufstieg benötigt, sagt Anton. Sobald die Reiseflughöhe erreicht ist, reichen rund 60 Prozent dieser Leistung aus. Die herkömmlichen Antriebe sind also nicht nur unnötig groß und schwer, sondern laufen meist nur im Teillast-Betrieb, der besonders ineffizient ist sie verschwenden einen Großteil der Energie, die im Kerosin steckt. Elektrisierender Start. Ganz anders der hybride Motorsegler, den Siemens mit EADS und dem österreichischen Hersteller Diamond Aircraft entwickelt hat: Sein Elektromotor arbeitet in einem weiten Bereich mit einem Wirkungsgrad von nahezu 100 Prozent. Nach Start und Aufstieg mithilfe der Batterie übernimmt der Wankelmotor die Versorgung, der dabei kontinuierlich im effizientesten Arbeitspunkt betrieben werden kann produziert er einmal zu viel Strom, kann dieser problemlos in den Batterien zwischengespeichert werden. So wird die Energie des Kerosins optimal genutzt. Durch das seriell-hybride Konzept trennen wir die Energieerzeugung und den Antrieb, so dass wir beide unabhängig voneinander optimieren können, umschreibt Anton die Idee. Bislang waren allerdings die Komponenten für elektrische Flugzeuge noch zu schwer, um der Technik zum Durchbruch zu verhelfen. Dank der zunehmenden Elektrifizierung des Autos machen die Hersteller von Motoren, Batterien und Leistungselektronik aber enorme Fortschritte, von denen jetzt auch die Luftfahrt profitiert. 2011 ist das Jahr des elektrischen Fliegens, bringt es Anton auf den Punkt. Denn neben dem Diamond-Motorsegler startete im Mai 2011 auch e-genius zum Jungfernflug ein reines Elektroflugzeug, das von der Universität Stuttgart mit EADS und Airbus entwickelt wurde. Der Zweisitzer hat einen Elektromotor mit 60 Kilowatt Leistung und Batterien mit einer Speicherkapazität von 56 Kilowattstunden. Damit schaffte e-genius im Juni eine Strecke von 341 Kilometern, bei einem Energieverbrauch von umgerechnet vier Litern Benzin. Und neben dem Motorsegler DA36 E- Star war in Le Bourget auch der Cri-Cri zu sehen, ein Mini-Flugzeug, das von vier Elektromotoren angetrieben wird und von EADS, Aero Composites Saintonage und der Green Cri-Cri Association entwickelt wurde. Cri-Cri kann bei einer Geschwindigkeit von 110 Stundenkilometern 30 Minuten lang rein elektrisch fliegen. Für die Flugzeughersteller sind elektrische Flugzeuge eine interessante Alternative, weil 6 Pictures of the Future Herbst 2011 Pictures of the Future Herbst 2011 7

sie dazu beitragen können, die Klimabelastung durch den Luftverkehr zu reduzieren immerhin stammen 2,2 Prozent der CO 2 -Emissionen aus den Antrieben der Fluggeräte. Mit den Prototypen haben wir die Eintrittskarte zum elektrischen Fliegen gelöst, sagt Dr. Peter Jänker, der bei EADS ein Team leitet, das sich intensiv mit dem Thema beschäftigt. Allerdings müssen die Komponenten noch leichter werden. Zum Beispiel die Batterien: Spitzenmodelle auf Lithium-Ionen-Basis können heute pro Kilogramm rund 200 Wattstunden (Wh) elektrische Energie speichern Kerosin kommt auf 13.000 Wh, von denen wegen des schlechten Wirkungsgrades der Turbinen aber nur rund die Hälfte genutzt werden kann. Neue Lithium- Schwefel-Akkus könnten in einigen Jahren 2.600 Wh erreichen heute liegt ihre Speicherkapazität bei 350 Wh/kg. Neue Leichtigkeit. Auch die Motoren müssen leichter werden: Heutige E-Maschinen leisten pro Kilogramm Gewicht bestenfalls 1,5 Kilowatt (kw). Unser Ziel sind zehn Kilowatt pro Kilogramm, sagt Anton, der selbst einen Pilotenschein hat und Kunstflug betreibt. Und dem sind wir schon einen großen Schritt näher gekommen: Die Experten von Siemens Drive Technologies haben einen Motor entwickelt, der 6,4 kw/kg leistet das Vierfache des heutigen Wertes. Die neue Leichtigkeit erreichen sie durch ein ganzes Bündel von Maßnahmen. Die mechanischen Komponenten bestehen nicht aus Metall, sondern aus leichter Kohlefaser, und wegen der hohen Polzahl des Motors muss das Magnetfeld nur über kurze Strecken geführt werden so sparen die Entwickler magnetisches Material ein, das relativ schwer ist, aber nichts zum Antrieb beiträgt. Mit dem neuen und patentierten Design wird Siemens ein neues Kapitel im Bau von Elektromotoren aufschlagen, sagt Swen Gediga von Siemens Drive Technologies. Und langfristig vielleicht auch ein neues Kapitel der Luftfahrt: Denn durch die Elektrifizierung des Fliegens lassen sich Energieerzeugung und Antrieb auch räumlich trennen der Verbrennungsmotor, der Generator und die Batterie machen rund 80 Prozent des Gewichts des Antriebsstranges aus und können im Rumpf untergebracht werden. Die leichten Elektromotoren verantwortlich für die restlichen 20 Prozent würden in den Tragflächen sitzen. An den Flügeln hingen dann keine schweren Turbinen mehr, sagt Anton. Stattdessen könnte man dort mehrere Elektromotoren mit Propellern anbringen, die schwenkbar sind und von denen manche nur für den Start benutzt werden. Das würde den Energieverbrauch beim Fliegen nochmals deutlich verringern. Christian Buck Pictures of the Future Die grünsten Städte Nordamerikas Ambitionierte Ziele Auch in Nordamerika gibt es sehr umweltbewusste Städte, wie der US and Canada Green City Index zeigt. Bei der Wasserinfrastruktur, der Luftqualität und dem Recycling schlagen sie sogar viele Städte Europas. Großer Nachholbedarf besteht beim Ressourcenverbrauch, den CO 2 - Emissionen und dem öffentlichen Nahverkehr. Grüne Vorzeigeprojekte Grüne Ziele: Der Oberbürgermeister von Seattle initiierte 2005 ein freiwilliges Abkommen für Städte, um die im Kyoto-Protokoll vorgeschriebenen CO 2 -Einsparungen zu erreichen oder zu übertreffen. Mehr als 1000 Bürgermeister unterzeichneten das US Mayors Climate Protection Agreement. Grüne Lunge: Um die Luft- und die Lebensqualität in New York City zu verbessern, sollen binnen zehn Jahren eine Million Bäume gepflanzt werden durch die Stadt, private Organisationen und engagierte Bürger. Grüner Strom: In Chicago ging 2010 der größte Solarpark der USA ans Netz. Mehr als 32.000 Solarpaneele produzieren zehn Megawatt Strom für 1.200 Haushalte. Grüner Verkehr: Denver investierte in einem der größten Verkehrsentwicklungsprojekte der USA bereits über eine Milliarde Euro in den Ausbau des Verkehrsnetzes. Siemens lieferte hierfür 55 Stadtbahnen. Bis 2017 sollen für weitere 4,6 Milliarden Euro die Länge des Stadtbahnnetzes verdreifacht und Bus-Rapid-Transit-Spuren eingerichtet werden. Auch im Sommer zieht der US-Wintersportort Aspen viele Besucher an mit dem Aspen Ideas Festival. Im Zentrum: Ideen für eine bessere Zukunft. Ende Juni 2011 wurde hier auch der US and Canada Green City Index vorgestellt. Im Auftrag von Siemens hatte die Economist Intelligence Unit (EIU) 27 Großstädte in den USA und Kanada untersucht, in Bezug auf neun Umweltkategorien: CO 2 -Emissionen, Energie, Landnutzung, Gebäude, Verkehr, Wasser, Abfall, Luftqualität und Umweltmanagement. Ähnliche Studien entstanden bereits für Europa, Asien und Lateinamerika (Pictures of the Future, Frühjahr 2010, S.17 und Frühjahr 2011, S.9). Oft wird den US-Metropolen Ressourcenverschwendung, Zersiedelung und fehlendes Umweltbewusstsein nachgesagt. Doch der Schein trügt: Die Bürgermeister haben erkannt, dass gehandelt werden muss und setzen sich für eine nachhaltige Zukunft ein, sagt Alison Taylor, Chief Sustainability Officer bei Siemens für Nord- und Südamerika. Natürlich stehen einige noch am Anfang, andere sind dagegen schon sehr weit. Die Nase vorn hat San Francisco, das zur grünsten Stadt des Index gekürt wurde, gefolgt von Vancouver, New York, Seattle und Denver. Überraschend: Alle Top-Städte haben sehr unterschiedliche Voraussetzungen in Bezug auf Einwohnerzahl und -dichte, Fläche Spitze in der Neuen Welt: San Francisco ist die grünste Stadt Nordamerikas, gefolgt von Vancouver und New York. Vielen Städten fehlt vor allem ein ausgefeilter öffentlicher Nahverkehr. oder Einkommen, und dennoch sind sie erfolgreich. So hat New York zwölf Millionen Einwohner, Boston oder Seattle nur etwas mehr als 600.000. Vancouver erwirtschaftet ein Bruttoinlandsprodukt von knapp 37.000 US- Dollar pro Kopf, in den anderen Städten sind es fast 60.000 Dollar. Gemeinsam haben sie alle ambitionierte Umweltziele. San Francisco setzt darüber hinaus auf eine enge Partnerschaft mit privaten Firmen und hat strenge Gesetze, etwa für Recycling, erlassen. Durstige Metropolen. Doch auch schlechter platzierten Städten gelingen bemerkenswerte Erfolge: Atlanta belegt nur den 21. Rang, hat aber die höchste Anzahl LEED-zertifizierter also besonders umweltfreundlicher Gebäude. Miami (Platz 22) belegt dank sauberer Kraftwerke den zweiten Platz in der Kategorie CO 2 - Emissionen. Detroit, das Schlusslicht der Studie, hat eines der am besten ausgebauten öffentlichen Ver - kehrsnetze noch vor New York oder Seattle. Insgesamt schneiden die nordamerikanischen Städte verglichen mit anderen Weltregionen mit ihren Maßnahmen zur Verbesserung der Luftqualität und des Abfallmanagements sowie beim Recycling und bei der Wasserinfrastruktur gut ab, sagt Tony Nash, Leiter der EIU. Die Wasserverluste durch undichte Leitungen sind mit 13 Prozent deutlich geringer als in Asien (22%), Europa (23%) oder Lateinamerika (35%). Auch die Recyclingquote ist mit 26 Prozent rund ein Drittel höher als etwa im European Green City Index. Trotz dieser Erfolge gibt es noch viel zu tun vor allem beim Ressourcenverbrauch, den CO 2 -Emissionen und beim Verkehr. Der Einwohner Nordamerikas benötigt im Durchschnitt 590 Liter Wasser am Tag, mehr als doppelt so viel wie in Europa, Asien oder Lateinamerika. Auch produzieren die kanadischen Städte im Mittel acht Tonnen CO 2 pro Kopf und Jahr, die US-Städte etwa doppelt so viel. Damit schneiden sie zwar besser ab als der US-Durchschnitt, der laut Weltbank bei knapp 20 Tonnen liegt, aber Städte in Europa oder Asien produzieren im Schnitt nur etwa fünf Tonnen. Immerhin haben sich 21 von 27 Städten des Index eigene Ziele zur Senkung ihrer CO 2 -Emissionen gesetzt. Pendeln per Auto. Viele Probleme im Verkehr gehen auf die Zersiedelung der Städte zurück. Ideal wäre eine Kombination aus hoher Bevölkerungsdichte, ausreichenden Grünflächen und kurzen Wegen zur Arbeit und Freizeit wie bei New York City mit seinen knapp 11.000 Einwohnern pro Quadratkilometer (qkm) und Deutsche Städte beim Umweltschutz in europäischer Spitzengruppe den Grünflächen, die etwa ein Fünftel des Stadtgebiets ausmachen. Doch die meisten Metropolen im Index sind mit rund 3.000 Menschen pro qkm nur dünn besiedelt. In Europa liegt die Zahl bei 3.900, in Asien bei 8.100. In den USA wohnen viele Menschen in Vororten und nutzen häufig das Auto. Nur jeder zehnte US-Amerikaner und jeder vierte Kanadier fährt mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder dem Fahrrad zur Arbeit oder geht zu Fuß. In Europa sind es über 60 Prozent. In Kanada wurde der öffentliche Nahverkehr schon recht gut ausgebaut: Rund 1,5 Kilometer Bus-, Bahn- und Metrolinien pro qkm stehen den kanadischen Einwohnern zur Verfügung, mehr als dreimal so viel wie in den US-Städten. Ein positives Signal sind die guten Ergebnisse beim Umweltmanagement, die sich mit denen der fortschrittlichen europäischen Städte messen können. Fast jede Stadt im Index hat einen Beauftragten für Nachhaltigkeit ernannt und einen umfassenden Umweltplan verfasst. Auch das Engagement von Nicht-Regierungs- Organisationen ist vorbildlich. Ein prominentes Beispiel ist der U.S. Green Building Council, eine gemeinnützige Organisation aus Washington, die die LEED-Richtlinien für Gebäude verfasst hat, die mittlerweile weltweit angewandt werden. Karen Stelzner 74 Prozent der Deutschen leben in urbanen Ballungszentren Tendenz steigend. Der German Green City Index nahm zwölf deutsche Metropolregionen unter die Lupe. Das Ergebnis: Ein über Jahrzehnte gewachsenes Umwelt - bewusstsein und das Engagement von Politikern für eine nachhaltige Stadt - entwicklung zeigen Erfolg. Zehn der zwölf untersuchten Städte schneiden im Gesamtergebnis besser ab als die europäischen Metropolen, die 2009 im European Green City Index untersucht wurden. Insbesondere zeigen ambitionierte Richtlinien zur Drosselung des Energieverbrauchs von Gebäuden und eine aktive Verkehrspolitik Wirkung. Doch trotz eines überdurchschnittlich guten Nahverkehrsangebots nutzt im Automobilland Deutschland fast jeder zweite Bürger das Auto für den Weg zur Arbeit. München und Berlin (Bild) heben sich positiv ab: Hier fahren rund 40 Prozent mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit, rund 20 Prozent nutzen das Fahrrad oder gehen zu Fuß. Vorbildlich sind die Deutschen beim Wasserverbrauch: Er ist nur etwa halb so hoch wie im europäischen Mittel. Auch Müllvermeidung und Recycling sind selbstverständlich allen voran in Leipzig: Hier ist die Recyclingquote von 81 Prozent die höchste aller europäischen Städte. Negativ sind die hohen CO 2 -Emissionen deutscher Städte aufgrund eines relativ hohen Industrieanteils und der bedeutenden Rolle von Kohlestrom: 9,8 Tonnen produziert jeder Einwohner im Durchschnitt, fast doppelt so viel wie in den europäischen Metropolen (5,2 Tonnen). Etliche Städte gehen mit ehrgeizigen Einsparzielen dagegen vor. So will München die Pro-Kopf-CO 2 -Emissionen bis 2030 halbieren. Nicole Elflein 8 Pictures of the Future Herbst 2011 Pictures of the Future Herbst 2011 9

Highlights 15 Der Weg ins 21. Jahrhundert Stadtbilder ändern sich, ebenso die Lebens- und Arbeitswelt von Menschen. Siemens ist hier Vorreiter: Für seine Zentrale plant das Unternehmen das energieeffizienteste Gebäude der Welt. Seiten 15, 18, 28 20 Neue Verkehrskonzepte Nicht nur öffentliche Verkehrssysteme, sondern auch effiziente Lösungen für den Straßenverkehr wie in Tel Aviv sind wichtig, um den Verkehr zu entlasten. In Zukunft wird Mobilität schneller, effizienter und umweltfreundlicher. Die Vision: Mithilfe intelligenter Systeme sollen unterschiedlichste Verkehrsmittel miteinander vernetzt werden. Seiten 20, 22 24 Smarte Lösungen für Senioren Altersgerechte Assistenzsysteme könnten Senioren helfen, länger ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Bericht über ein Pilotprojekt in Berlin. 30 Hinter den Kulissen Was bedeutet Lebensqualität für die Menschen in Entwicklungs- und Schwellenländern? Alles eine Frage der Perspektive ob in Asien, Afrika oder Lateinamerika. Seiten 30, 33, 34, 36, 39, 40, 41 42 Spitzenmedizin Im Leben jedes Menschen ist eine erstklassige medizinische Versorgung unabdingbar. Am Tawam Molecular Imaging Center in den Vereinigten Arabischen Emiraten kann man bereits heute die Zukunft der Gesundheitsversorgung am Golf erleben. 2040 Gegensätze: In einer chinesischen Metropole lässt der junge Li für einen Tag den hypermodernen Teil der 25-Millionen-Metropole hinter sich und taucht in die 40 Kilometer entfernte harmonische und grüne Oase seines Großvaters Jun Yang ein. Auf dem Weg zur entschleunigten Enklave benutzt Li mehrere miteinander vernetzte Verkehrsmittel. Sein flexibler Tablet-PC weist ihm zuverlässig den Weg in die befremdliche Ruhe. Lebensqualität in Städten Szenario 2040 Leben im Jetzt Eine chinesische Megacity im Jahr 2040: Li besucht seinen Großvater Jun, der in einer Oase der Ruhe inmitten der hypermodernen 25-Millionen-Metropole wohnt. Innerhalb der gleichen Stadt treffen dabei zwei Welten aufeinander Beschleunigung auf Beschaulichkeit und ein Leben für Morgen auf ein Leben im Jetzt. Li sitzt im Dschungel und trinkt Tee. Unzählige Stimmen exotischer Vögel hallen durch den Wald und vermischen sich mit einer Symphonie von Mozart, die unaufdringlich im Hintergrund ertönt. Ein handtellergroßer Schmetterling setzt sich auf den papierdünnen Tab let- PC, den er wie eine Zeitung auf seinem Schoß hält. Der junge Geschäftsmann verscheucht das Insekt und konzentriert sich wieder auf seine Online-Kontakte. Kurz darauf wird er wieder abgelenkt ein livrierter Kellner kommt vorbei und bietet ihm noch etwas Gebäck an. Li lehnt ab und berührt mit der Fingerspitze kurz seinen Tablet. Automatisch setzt sich das Gerät mit dem Smartphone des Kellners in Verbindung und begleicht in Sekundenschnelle die Rechnung Trinkgeld inklusive. Vielen Dank, Sir, flötet die Langnase, ein Gastarbeiter aus Europa, und verbeugt sich tief. Li seufzt. Er hätte gerne noch weiter gearbeitet, hier im Café des tropischen Gartens im 50. Stock des Tiger Towers. Doch er ist mit seinem altmodischen Großvater verabredet und der wohnt in einem entlegenen Viertel, 40 Kilometer vom Zentrum der 25-Millionen-Metropole entfernt. Li steht auf, rollt seinen Tablet zusammen und folgt einem sorgfältig geharkten Pfad, der sich unter Blüten und Blättern zum Ausgang schlängelt. Zwischen zwei Hibiskussträuchern öffnet sich eine unauffällige Tür zum verglasten Fahrstuhl an der Außenseite des Tiger Towers und gibt den Blick auf die reale Welt frei: Wolkenkratzer, so weit das Auge reicht, manche an den Außenseiten wie mit lebenden Teppichen begrünt, andere mit Gärten auf den Dächern. Dazwischen wälzen sich un- 10 Pictures of the Future Herbst 2011 Pictures of the Future Herbst 2011 11

zählige Autos durch ein weitverzweigtes Straßennetz, darüber sausen Hängebahnen auf filigranen Stelzen. Mit einem Schritt verlässt Li die perfekte Illusion des exotischen Gartens und tritt in die Kabine. Er zieht seinen Tablet hervor, blickt auf das brodelnde Leben unter sich und spürt, wie sein Puls sich wieder beschleunigt. Li atmet beruhigt auf langsam kommt er wieder auf normale Betriebstemperatur. Während Li im gläsernen Fahrstuhl nach unten saust und seinen Tablet die schnellste Route zum Großvater errechnen lässt, sitzt Opa Jun gemütlich vor seinem kleinen Holzhaus. In der Mittagshitze scheint die Luft stehen geblieben zu sein genauso wie die Zeit in der kleinen Enklave. Hier, zwischen den traditionellen flachen Häusern, den kleinen grünen Gärten und engen Gassen, ist eine Oase der Entschleunigung und Harmonie entstanden. In den letzten 100 Jahren hat sich das Viertel nicht wesentlich verändert, während die Stadt darum herum ständig gewachsen ist. Wahrscheinlich haben die Stadtplaner im Laufe der Jahre ihr Augenmerk auf den Ausbau der modernen Stadtteile gelegt, vielleicht war auch kein Geld mehr für die Entwicklung des kleinen Zwei Welten in einer 25-Millionen- Metropole: eine Welt der Beschleunigung und eine der Beschaulichkeit. Viertels übrig. Jun jedenfalls glaubt, dass die Verantwortlichen die Ansammlung alter Hütten schlichtweg vergessen haben geschadet hat das nicht, meint er. Denn mit der hektischen Außenwelt will er nichts zu tun haben. Im Inneren seiner Hütte beginnt der Teekessel zu pfeifen. Jun blinzelt zufrieden in die Sonne und zündet sich erstmal eine Zigarette an. Er hat Zeit, so viel Zeit. Während Jun mit seinem Teekessel um die Wette dampft, muss sich Li in Geduld üben. Seit einer halben Stunde steht er bereits im Stau und das, obwohl die Mobilitäts-App die schnellste Route zu seinem Großvater ermittelt hatte. Zunächst hatte ihn die Software zur nächsten Station geleitet. Li hatte sich in die Magnetschwebebahn gesetzt und die Fahrtzeit genutzt, um nebenbei noch eine kleine Videokonferenz über seinen Tablet zu halten denn das klassische Büro kennt Li wie die meisten seiner Altersgenossen nur noch aus den Geschichtsbüchern. In seiner Welt sind die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit fließend, Flexibilität und Vernetzung sind bei der jungen Stadtbevölkerung längst nicht mehr wegzudenken. Auf Anweisung seines Tablets war Li dann ausgestiegen und hatte sich auf ein Elektrofahrrad gesetzt, das ihm seine App gemietet hatte. Damit war er mühelos durch den Stadtpark gestrampelt und konnte so den Verkehr auf den Ringstraßen umgehen. Am Parkausgang wartete schließlich ein reserviertes Elektroauto auf ihn, mit dem er die letzten Kilometer zu seinem Großvater zurücklegen sollte. Laut seiner Mobilitäts-App der schnellste Weg, denn offenbar hatte die Stadtverwaltung vergessen, dem alten Viertel eine Metrostation zu spendieren. Die schlaue Software hatte bei der Routenplanung allerdings nicht den streunenden Hund auf der Rechnung, der kurz vor dem Ziel einen Unfall provozierte. Li schaltet auf Autopilot und lässt den Stromer selbstständig den Stop-and-Go-Verkehr bewältigen. Er möchte die Verzögerung nutzen, um schnell noch etwas weiter zu arbeiten. Carpe Diem, murmelt er und rollt seinen Tablet aus. Ein paar Kilometer weiter hat es Jun endlich geschafft, eine Kanne frischen Tee zu kochen. Er gießt sich eine Tasse ein und lässt sich auf der Bank vor seinem Haus nieder. Jun freut sich auf seinen Enkel, auch wenn er findet, dass der Junge ständig unter Strom steht und sich deshalb Sorgen um seine Gesundheit macht. Dabei war es ausgerechnet Li, der ihm den digitalen medizinischen Assistenten angedreht hat, den er seitdem ständig wie eine Uhr ums Handgelenk trägt. Das Gerät überwacht in Echtzeit seinen Puls, Herzaktivität und andere medizinische Daten und alarmiert bei Gefahr automatisch den Arzt. Jun steht auf und schirmt mit seiner Hand die Sonne ab: Ein Elektroauto rollt mit leisem Surren die Straße hinauf, darin sitzt sein Enkel und tippt geschäftig auf seinen Tablet-PC, während der Autopilot den Wagen steuert. Li blickt sich nervös um. Ihm ist, als ob jemand ein unsichtbares Bremspedal getreten hätte eben noch im Großstadtgetümmel und nun auf einmal in einer bizarr verlangsamten Realität. Diese entschleunigte und stille Welt ist für ihn beklemmend. Er reißt sich zusammen und begrüßt seinen Großvater. Der lotst ihn auf die Bank und bietet ihm einen Tee an. Du siehst blass aus, bemerkt Jun nach einer Weile. Vielleicht solltest Du zu mir ziehen und die ganze Hektik hinter Dir lassen. Li schluckt und bekommt Schweißausbrüche. Er steckt sich eine von Juns Zigaretten an und inhaliert hektisch. Rauchen bei Deinem Stress ist doppelt ungesund, mahnt der alte Jun. Er lächelt verschmitzt. Ich habe ein Geschenk für Dich, sagt er und streift sein medizinisches Armband von der Hand. Ich finde, das solltest Du tragen, kannst es sicher besser brauchen als ich. Florian Martini Ende Oktober 2011 begrüßen die Vereinten Nationen den siebenmilliardsten Erdenbürger. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass sie oder er in einem Entwicklungs- oder Schwellenland geboren wird dort lebt die Mehrheit der Menschheit. Und die Wahrscheinlichkeit spricht ebenso dafür, dass sie oder er in einer Stadt geboren wird, denn mehr als 50 Prozent der Menschheit lebt in Städten. Sie könnte Márcia heißen und in der brasilianischen Hafenstadt Recife das Licht der Welt erblicken. Er könnte Ramesh heißen und in Kalkutta zur Welt kommen. Vielleicht wird er aber auch in Lagos, Nigeria, der Heimat Dr. Babatunde Osotimehins, das Licht der Welt erblicken. Babatunde Osotimehin leitet den United Nations Population Fund, die Bevölkerungsorganisation der Vereinten Nationen. Sie macht derzeit mit der Aktion 7 billion actions auf die Herausforderungen des fortschreitenden Bevölkerungswachstums aufmerksam. Eine der wichtigsten ist die weltweit zunehmende Verstädterung, erklärt Babatunde Osotimehin: Eine Welt mit sieben Milliarden Einwohnern wird von 1,8 Milliarden Menschen im Alter zwischen zehn und 24 bewohnt werden. Viele dieser jungen Leute werden beruflich ihr Glück Lebensqualität in Städten Trend Lebensraum Stadt in Städten suchen. Städten, die nicht darauf vorbereitet sind, all ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Wir brauchen daher eine intelligente Planung, um sicherzustellen, dass die Städte für sie ein sicheres Umfeld darstellen, und Zugang zu Gesundheitsversorgung, Ausbildung und Arbeit ermöglichen. Auch wenn der siebenmilliardste Mensch wie einst Babatunde Osotimehin in einem kleinen Dorf geboren werden sollte, die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass sie oder er eines Tages in die Stadt umziehen wird: Städte locken mit Bildung und Arbeit, mit Unterhaltung und Gesundheitsversorgung. Bewohner von Städten sind im Schnitt besser ausgebildet und verdienen mehr als Menschen, die auf dem Land wohnen. Aber sind sie auch glücklicher? Wie hoch ist ihre Lebensqualität? Leben sie gerne in der Stadt? Jeder hat eine andere und subjektive Ansicht von Lebensqualität. Es gibt Unterschiede innerhalb eines Landes und sogar innerhalb einer Stadt, erklärt der Stadtplaner Pablo Vaggione (S.41). Was der Einzelne von seiner Stadt erwartet, hängt von vielen Faktoren ab, wie die Beispiele London und Mumbai zeigen. Ein Student mag das Leben im stark verdichteten Stadtzentrum von London genießen eine fünfköpfige Familie wird vor den hohen Mieten und den fehlenden Spielplätzen sowie der schlechten Luft eher in die grüneren Vororte flüchten. Der Bewohner einer Slumsiedlung in Mumbai mag sich fließend Wasser erhoffen und eine direkte Busverbindung zu seiner Arbeitsstelle. Für seine Arbeitgeber aus der wachsenden indischen Mittelschicht wiederum, die diese Grundbedürfnisse bereits befriedigen können, mag die Nähe zu besseren Schulen für ihre Kinder entscheidend sein. Massive Landflucht. Mumbai und London zeigen exemplarisch die extremen Unterschiede in den Herausforderungen, denen Metropolen begegnen müssen. Erst ein Drittel der Inder lebt in urbanen Regionen. Dort, in Städten wie Mumbai, Kalkutta oder Madras, werden jedoch mehr als zwei Drittel der Wirtschaftsleistung des Landes generiert. Aufgrund der massiven Landflucht dürften Städter im Jahr 2030 bereits rund die Hälfte der indischen Bevölkerung ausmachen. Doch mangelnde Stadtraumplanung und ungenügende Investitionen in Infrastruktur etwa U-Bahn-Linien und Wasseraufbereitung lassen befürchten, dass ein großer Ein gutes Leben in der Stadt: Ob Shanghai, Houston oder Frankfurt am Main, Städte sind nicht nur ökonomische Zentren, sondern auch und vor allem Lebensraum für eine wachsende Zahl an Menschen. Städte sind wie Magnete für Menschen, die hoffen, dort bessere Bildungs-, Arbeits- und Lebenschancen zu finden. Die fortschreitende Urbanisierung birgt jedoch auch Gefahren. Nur wenn Städte ausreichend und intelligent in ihre Infrastruktur investieren, lässt sich eine hohe Lebensqualität für möglichst viele sichern. Anteil des Wachstumspotenzials indischer Städte ungenutzt bleiben könnte (S.33). Dabei ist Wirtschaftswachstum dringend nötig, um auch in Zukunft die nötigen Mittel für den Bau neuer Infrastruktur zur Verfügung zu haben. Anders die Lage in London: Die englische Metropole baute im 19. Jahrhundert die erste U-Bahn der Welt; viele Wasserleitungen und Abwasserkanäle stammen aus Viktorianischer Zeit. Die Stadt war im Hinblick auf ihre Infrastruktur schon früh Vorbild für andere Großstädte. Doch in den letzten Jahrzehnten blieben die Investitionen hinter dem Bedarf zurück. Inzwischen muss die Stadt an der Themse mit einer im Kern über 100 Jahre alten Infrastruktur den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts begegnen (S.16). Mit diesem Problem steht London nicht allein, vielen Städten in hochentwickelten Industrieländern geht es ähnlich. Statt grundlegender Infrastrukturinvestitionen brauchen sie intelligente Modernisierungen und punktuelle Verbesserungen. So hilft etwa ein automatisiertes Mautsystem, das die Preise flexibel am tatsächlichen Verkehrsaufkommen ausrichtet, der Stadt Tel Aviv, die vorhandene Straßen-Infrastruktur effizienter zu nutzen (S.21). 12 Pictures of the Future Herbst 2011 Pictures of the Future Herbst 2011 13

Die Erfahrung zeigt: Städte profitieren oft in besonderem Maße, wenn sie ganzheitliche Lösungen aufbauen, statt mit Einzellösungen nur einen Teil ihrer Probleme anzugehen, wie auch die Studie Megacity Challenges A stakeholder perspective zeigt. So kann eine integrierte Verkehrsplanung helfen, Individualverkehr und öffentlichen Nahverkehr besser zu verzahnen und die Mobilitätsanforderungen einer modernen Großstadt zu erfüllen (S.22), vom Leih-Elektroauto bis zur Niederflur-Stadtbahn (S.20). Wir müssen uns von der Sichtweise befreien, Städte wären ihre Gebäude. Ihr Material ist vielmehr der Mensch. Auch US-amerikanische und kanadische Städte entwickelten ihre Infrastruktur relativ früh. Ihr Vorsprung gereicht ihnen nun zum Nachteil: Viele Bahnlinien, Brücken und der größte Teil des Stromnetzes stammt aus dem letzten Jahrhundert. Die Siedlungsstruktur spiegelt die stadtplanerischen Visionen der Vergangenheit wider, mit vielen suburbanen Wohngebieten, stadtnah im Grünen aber nur mit dem Auto zu erreichen. Das mag für den einen oder anderen vordergründig die Lebensqualität erhöhen, findet aber seinen Niederschlag im Energieverbrauch, wie der US and Canada Green City Index zeigt. Die Economist ner besiedelten Gebieten (S.8). Städter verbrauchen weniger Energie. Dieser Vergleich zeigt: Urbanisierung an und für sich kann einen Nutzen für die Umwelt bedeuten. Schon in den 1970er-Jahren schuf die amerikanische Stadtexpertin Jane Jacobs die Vision einer grünen Metropole, in der Menschen hochverdichtet in Wolkenkratzern wohnen, in Laufweite zur Arbeitsstätte. Auf energieintensive, umweltschädliche Autofahrten zwischen Vorstadt und Arbeitsstelle können sie verzichten. Ob eine solche Stadt für jedermann lebenswert wäre, sei dahingestellt. Professor Edward Glaeser von der Harvard University jedenfalls bringt den Gedanken in seinem Buch mit dem Titel Triumph of the City provokant auf den Punkt: Wenn Sie die Natur lieben, dann halten Sie sich von ihr fern. Die hohe Bevölkerungsdichte New Yorks erklärt zum Teil das gute Abschneiden der Stadt beim US and Canada Green City Index. Big Apple belegte den dritten Platz, hinter San Francisco, der am besten platzierten Stadt, und Vancouver. Stadtviertel unter Wasser. In diesen Städten bildet sich auch heute schon ein Trend ab, der künftig innerstädtische Fahrten weiter verringern könnte: neue Arbeitsformen wie Telearbeit, getrieben durch neue Kommunikationstechnologien (S.28). Die Flexibilität, die ein sen Dämme aufgebaut oder erhöht werden, in Extremszenarien müssten ganze Stadtviertel aufgegeben werden. Dr. Joan Clos, Leiter des United Nations Human Settlements Programme, UN-HABITAT, erklärt: Zu lange wurde Urbanisierung als etwas Schlechtes betrachtet, was verlangsamt oder gar ganz gestoppt werden sollte. Das aber ist unmöglich. Jetzt beginnen die Menschen, die Stadt als positive Macht für Veränderung zu begreifen um Maßnahmen gegen den Klimawandel zu ergreifen und die sozioökonomische Entwicklung voranzutreiben. (S.34) Urbanisierung ist mehr als ein abstraktes Phänomen. Urbanisierung ist auch die Summe individueller Geschichten, von Menschen, die sich entscheiden, in einer Stadt zu leben um auf relativ engem Raum mit anderen ihre Kreativ- und Produktivkräfte zu bündeln. Was Städte ausmacht, sind eben nicht allein ihre Häuser, Straßen, Bahnlinien, Wasserrohre und Parks. Wir müssen uns von der Sichtweise befreien, Städte wären die Summe ihrer Gebäude. Tatsächlich ist das Material unserer Städte der Mensch, nicht der Beton, erklärt Edward Glaeser. Wer immer der siebenmilliardste Mensch sein wird, eines steht schon heute fest: Ihre oder seine Lebenserwartung wird höher sein als die der vorangegangenen Generationen; der wachsende Anspruch, auch in hohem Alter in den eigenen vier Wänden leben zu können, dürfte sich mithilfe von Sensor- und Kommunikationstechnik in vielen Fällen erfüllen lassen, Lebensqualität in Städten Infrastruktur in London Alles keine Hexerei London erneuert seine Infrastruktur und steigert mithilfe von Siemens die Energieeffizienz. Wie schon Ende des 19. Jahrhunderts spielt elektrischer Strom dabei eine Schlüsselrolle: Das neue Stromzeitalter in London hat es bereits begonnen. Lebenswertes London: Trotz schlechter Luftqualität ist London Magnet für Menschen aus aller Welt. Mehr Elektrofahrzeuge und Strom aus Windkraft werden helfen, die Stadt noch lebenswerter zu machen. Ein guter Plan: Integrierte Stadtplanung hilft, die Lebensqualität in Städten zu steigern. Sei es mittels Hybridbussen in London oder durch Weltklassemedizin in Al-Ain, V.A.E. Intelligence Unit stellte ihn im Juni 2011 beim Aspen Ideas Festival vor: Während die Bewohner europäischer Städte rund fünf Tonnen CO 2 pro Jahr verursachen, liegt der Wert für Städte in den USA bei rund 16 Tonnen. Damit erscheinen sie im Vergleich zu den Bewohnern ländlicher Regionen der USA allerdings geradezu sparsam: Der Durchschnitt für die USA insgesamt liegt bei rund 20 Tonnen pro Kopf, vor allem aufgrund der vermehrten Autofahrten in dün- auch zeitlich stärker selbstbestimmtes Arbeiten mit sich bringt, wissen viele als Beitrag zu ihrer persönlichen Lebensqualität zu schätzen. Die große Herausforderung, der sich alle Städte der Welt gleichermaßen stellen müssen, bleibt aber die zunehmende Umweltverschmut - zung. Der befürchtete Klimawandel könnte vor allem Küstenstädte teuer zu stehen kommen. So liegen 20 Prozent der Fläche Jakartas unterhalb des Meeresspiegels. Steigt dieser an, müs- wie der Feldversuch SmartSenior in Berlin zeigt (S.24). Mit großer Wahrscheinlichkeit wird ihre oder seine Bildung größer sein als die der Eltern; gleiches gilt für das erwartbare Lebenseinkommen. Ein großer Teil dieser Fortschritte wurde in Städten erarbeitet. Sie zu Orten zu machen, an denen Menschen gerne leben wollen und eine hohe Lebensqualität erfahren, ist eine der großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Andreas Kleinschmidt Ein Tag im Sommer, London schwitzt. Die Stadt ist voll, die Luft zum Schneiden. Touristen aus aller Herren Länder mischen sich in noch größerer Zahl als sonst unter die Einwohner der englischen Metropole. Die Menschenmassen drängen sich über die engen Gehsteige und zwischen Autos hindurch, die im tagsüber verstopften Zentrum mehr stehen als rollen. Die Blechlawine trägt dazu bei, dass London die schlechteste Luft aller europäischen Städte hat. Wer ein wenig Kühlung sucht, der könnte auf die Idee kommen, in die Gewölbe der Tube hinabzusteigen, der ältesten U-Bahn der Welt. Seit 1863 rumpelt sie durch den Untergrund, sie ist wenngleich überlastet das Rückgrat des Nahverkehrs und transportiert mehr als eine Milliarde Fahrgäste pro Jahr. Doch zur Überraschung vieler herrscht dort statt erfrischender Kühle eine noch größere Hitze: Im Lauf der Jahrzehnte hat sich das Erdreich durch den Betrieb der U-Bahn erwärmt. Inzwischen werden in den Stationen Temperaturen bis zu 47 Grad Celsius erreicht, wie Stephen Scrimshaw von Siemens Mobility erklärt. Das Unternehmen arbeitet derzeit im Rahmen einer Ausschreibung an Vorstudien für Londons U-Bahn-Züge der Zukunft, die ab 2018 zum Einsatz kommen sollen mitsamt Klimaanlage. Vor allem leicht müssen sie sein. Denn weniger Gewicht bedeutet einen geringeren Energieverbrauch, sagt Scrimshaw. Das Siemens- Design würde die Energieeffizienz um rund ein Fünftel erhöhen, zudem würden die Züge über zehn Prozent mehr Passagieren Platz bieten. Auf diese Weise ließe sich die vorhandene Infrastruktur besser auslasten. Verglichen mit den Anfangsjahren der Tube muss man dennoch den Aufenthalt im Londoner Untergrund heutzutage fast als angenehm bezeichnen: Im 19. Jahrhundert wurden die Züge von Dampfloks gezogen. Zeitzeugen berichten von infernalischen Zuständen in den rauchigen Tunnels. Entlüftungsschächte ließen die Rauchgase damals an die Oberfläche entweichen. Die ersten elektrisch angetriebenen, rauchfreien Züge aus dem Jahr 1890 erschienen da wie schiere Hexerei. London war zu dieser Zeit im Hinblick auf seine Infrastruktur weltweit Vorreiter. Größter Windpark der Welt. Die Stadt und ihr heutiger Bürgermeister, Boris Johnson, haben sich nichts weniger vorgenommen, als diese Position zurückzuerobern. Auch heute könnte wieder elektrischer Strom der Schlüssel für eine sauberere und effizientere Stadt sein: Vor der Küste Südenglands wird derzeit am weltweit größten Offshore-Windpark gebaut; Siemens-Ingenieure tüfteln mit dem Netzbetreiber UK Power Networks an einem Smart Grid für London, das künftig in der Stadt produzierten Strom etwa aus Solarzellen aber auch Windstrom von Offshore-Farmen ins Netz einbinden kann. Und immer mehr Elektro- und Hybridfahrzeuge bevölkern die Straßen der Stadt. Das neue Stromzeitalter hat begonnen, und London weist vielen anderen Metropolen den Weg zu mehr Effizienz bei Erzeugung, Transport und Verbrauch von Energie. Die Stromerzeugung findet in Großbritannien zunehmend CO 2 -frei statt. Was in den engen Straßen Londons fehlt, das gibt es auf hoher See im Überfluss frischen Wind. Dieser wird in Großbritannien konsequent in Offshore- Farmen geerntet. Im Windpark Gunfleet Sands, der im August 2009 sieben Kilometer südöstlich vor der Küste von Essex in Betrieb ging, produzieren 48 Siemens-Windturbinen mit einer Kapazität von jeweils 3,6 Megawatt (MW) genügend Strom, um 120.000 Haushalte zu versorgen. Ebenfalls in der Nähe Londons, in der Themsemündung, stattet Siemens mit 175 14 Pictures of the Future Herbst 2011 Pictures of the Future Herbst 2011 15

Windturbinen London Array aus, den größten Offshore-Windpark der Welt, der 2012 ans Netz gehen wird. Der 630-MW-Park könnte in einem zweiten Schritt auf eine Kapazität von über einem Gigawatt ausgebaut werden und damit das Äquivalent von rund 750.000 Londoner Haushalten mit Strom versorgen. Siemens ist zudem für die Netzanbindung des Parks verantwortlich. Der intelligente Transport und die effiziente Verteilung von Strom in Lastzentren insbesondere Städten ist eine immer wichtigere Aufgabe, da die Produktion erneuerbarer Energien sehr stark schwanken kann: im Fall der Windkraft beispielsweise je nachdem, wie stark die Brise gerade ausfällt. Von großer Bedeutung sind daher Puffer, um die überschüssige Energie zwischenzuspeichern. Das können Batterien etwa in Elektrofahrzeugen oder auch Gebäude sein, die ihren Stromverbrauch durch Last- wird es eine der großen Lasten darstellen. Das bedeutet eine Herausforderung für die Netzanbindung, aber auch eine große Chance, erklärt Gareth Lewis von Siemens Energy, denn auf diese Weise lässt sich das Verhalten von Lasten in einem Smart Grid gut testen. Smart Grid für London. Lewis Team plant gemeinsam mit dem Netzbetreiber UK Power Networks ein Smart Grid für weite Teile der Themsemetropole. Siemens baut das System auf, in dem Daten zum Zustand des Netzes und der Last stündlich aktualisiert werden. Im Falle vorhersehbarer Lastspitzen könnte das System beim Siemens-Zentrum beispielsweise eine Drosselung der Last für den Folgetag anfragen, erklärt Lewis. So könnte das Gebäude in den Sommermonaten nachts stärker kühlen und tagsüber dann die Klimaanlagen herunterfahren. Kristall der Zukunft: Das Siemens Zentrum für nachhaltige Städte wird 2012 in London eröffnet. Das hocheffiziente, kristallförmige Gebäude wird Teil eines Projektes für intelligente Stromnetze. London: Besitzer von Elektrofahrzeugen können für eine Jahresgebühr von 100 Pfund an Ladesäulen, die über die ganze Stadt verteilt sind, mit ihrem Fahrzeug so viel Strom tanken, wie sie wollen. Bis 2013 sollen insgesamt 1.300 Ladesäulen zur Verfügung stehen und den Eigentümern der Fahrzeuge die Sorge nehmen, wegen schwacher Batterien irgendwo in der Stadt auf der Strecke zu bleiben. Siemens stellt sicher, dass Source London rund um die Uhr reibungslos funktioniert, also die Informationstechnologie, das Management der Daten der Kunden, deren Zugang zum Ladenetzwerk sowie die Abrechnung. Auch wenn immer deutlicher wird, dass künftig die städtischen Straßen kleinen Elektroautos gehören werden, einen Schönheitsfehler haben auch die Elektroflitzer: Sie verbrauchen pro Passagier relativ viel Platz, verglichen mit Bussen und Bahnen. Metropolen wie London Lampen leuchten, keine Kratzer auf dem roten Lack. Die Fahrt kann beginnen. Parcell klettert in die Fahrerkabine und legt einen unscheinbaren Hebel um: die Hauptstromversorgung für den Hybridmotor. Kurz meldet sich zwar brummend das Dieselaggregat, aber nur um seine Funktionstüchtigkeit unter Beweis zu stellen. Dann rollt Parcell mit dem neuen Gefährt geräuschlos aus der Busgarage, der Dieselmotor bleibt bei dieser niedrigen Geschwindigkeit ausgeschaltet. Der Fahrer berichtet, dass viele Fahrgäste ihn auf das seltsam leise Fahrzeug ansprechen, bei dem über weite Strecken kein Verbrennungsmotor brummt; er erklärt ihnen dann, dass ein elektrisches Antriebssystem die Arbeit tut, gespeist von einer Batterie. Alles keine Hexerei. Stolz sagt Parcell: Ich bin seit 17 Jahren Busfahrer, aber Hybridbusse sind die besten Busse, die ich je gefahren habe. Sein Fahrtweg führt ihn an der Bank of England und St. Paul s Cathedral vorbei, bis zum Endhalt Waterloo, einem der verkehrsreichsten Bahnhöfe Englands. Auf dieser Strecke zeigen wir den Londonern und den Besuchern der Stadt die Zukunft unserer Busflotte. Wir sind ein Aushängeschild für den Verkehr von morgen: Hybridbusse verbrauchen bis zu einem Drittel weniger Diesel als herkömmliche Fahrzeuge, erklärt Parcell. 1.200 neue Waggons. Die Tube entlasten neben den Bussen auch die für den innerstädtischen Verkehr genutzten oberirdischen Bahnstrecken. Deren Züge verkehren bis in die Stunde. Zudem sollen neue, längere Züge eingesetzt werden. Siemens wurde als bevorzugter Lieferant für 1.200 Waggons ausgewählt, für zwei neue Depots, sowie für Wartung und Instandhaltung. In Summe senkt dieses Paket die Betriebskosten ein wichtiger Faktor im Hinblick auf die knappen Kassen vieler Kommunen. In den Gewölben unterhalb vieler Trassen hat sich inzwischen ein Eigenleben gebildet: Aufgrund der hohen Mieten in London ist jeder Quadratmeter kostbar, sodass sich hier kleine Geschäfte, Bars und Restaurants einrichten. Das ist typisch für London, die Dichte der Stadt erhöht sich, sagt Mark Brearley von Design for London, einer kleinen Truppe kreativer Planer, die für den Bürgermeister Raumentwicklungskonzepte erarbeitet. Das bedeutet noch mehr Menschen auf gleicher Fläche, erklärt er. Dass dieses Konzept der Verdichtung auch an Grenzen stoßen kann, verrät allerdings das Gemurre seiner Mitarbeiter, wenn sie davon berichten, wie sie sich jeden Morgen in die Waggons der überfüllten, stickigen Tube quetschen müssen. Neues Leben für Brixton. Diesem Schicksal entgeht Dougald Hine: Der Freiberufler kann es sich erlauben, erst nach der täglichen Rush- Hour U-Bahn zu fahren. Seine kleine Beratungsfirma Space Makers Agency spezialisiert sich darauf, mit geringem Aufwand Stadtviersagt Hine und schlürft von seinem Kaffee in der riesigen Bahnhofshalle von St. Pancras. Zu diesen Leerräumen gehören auch die Gewölbe unter den innerstädtischen Bahnlinien. Eine Stadt wie London, die sich stets neu erfindet, füllt diese von selbst. Besonders gut gelingt dies, wo bereits Infrastruktur existiert, etwa in der Nähe von Haltestellen der Tube. Hine nimmt den letzten Schluck, er muss schon wieder weiter. In Kürze wird er in den Eurostar-Zug einsteigen, um nach Brüssel zu sausen, einer Strecke, auf der ab dem Jahr Unsere neuen Hybridbusse verbrauchen bis zu einem Drittel weniger Diesel als herkömmliche Fahrzeuge. 2014 Hochgeschwindigkeitszüge von Siemens zum Einsatz kommen werden. Auch für Ray Parcell neigt sich der Arbeitstag dem Ende entgegen. Nach zweistündiger Fahrt lenkt er seinen Hybridbus zurück in die Garage, um das Gefährt an den nächsten Fahrer zu übergeben. In den kommenden Jahren werden noch mehr dieser energiesparenden Fahrzeuge die Busspuren Londons erobern, denn für viele neue Linien werden Konzessionen nur noch für Hybridbusse ausgeschrieben. Immer mehr der Fahrzeuge nutzen Antriebstechnologien von Siemens. Sie sind, zusammen mit anderen elektrisch angetriebenen Fahrzeugen wie Bahnen und Unter Strom: Neue U-Bahn-Wagen, Hybridbusse, Elektroautos. Siemens hilft Bürgermeister Johnson (3. Bild: beim Betanken eines Elektroautos) bei der Emissionsreduzierung. Frischer Wind: Elektrofahrzeuge sind nur so grün wie der Strom, mit dem sie betrieben werden. Hier der Offshore Windpark Gunfleet Sands vor den Küsten Englands. verschiebung flexibel regeln können (Pictures of the Future, Frühjahr 2011, S.17). Das Siemens-Zentrum für nachhaltige Städte in Ostlondon wird so einen Puffer darstellen. Das Ausstellungs-, Konferenz- und Bürogebäude soll im Sommer 2012 eröffnet werden (Pictures of the Future, Frühjahr 2011, S.8). Auch wenn das Gebäude den allerhöchsten Standards an Energieeffizienz gerecht wird, in Ostlondon Einen weiteren effektiven Puffer könnten in Zukunft Elektroautos darstellen nicht nur durch Lastverschiebung, sondern indem sie tatsächlich Strom speichern. In ihren Batterien ließe sich in Zeiten niedrigen Bedarfs, etwa nachts, Strom speichern und wieder ans Netz abgeben, sobald der Bedarf steigt. In London startete im Mai 2011 Bürgermeister Boris Johnson das Programm Source müssen daher ihr Nahverkehrssystem weiter ausbauen, um den kompletten Infarkt auf den Straßen zu verhindern. Und da die Tube zur Hauptverkehrszeit an ihrer Kapazitätsgrenze fährt, sind Alternativen zur U-Bahn wichtig. Geräuschlos rollen. Eine Busgarage in London: Ray Parcell kontrolliert seinen nagelneuen Doppeldecker. Alle Muttern sitzen fest, alle Region, weithin auf historischen Trassen, die, auf gemauerten Gewölben geführt, zum charakteristischen Bild vieler Stadtteile Londons gehören. Eine dieser Strecken, die London von Norden nach Süden durchquert, ist Thameslink. Derzeit wird durch neue Bahnhöfe und Verbesserungen an der Strecke die Kapazität drastisch erhöht, auf künftig bis zu 24 Züge pro tel zum Besseren zu wandeln. 2010 hauchte er dem Brixton Market im Süden der Stadt neues Leben ein, indem er den Eigentümer dazu bewegte, in der historischen Markthalle Konzerte und Kunstperformances stattfinden zu lassen. Leerstehende Flächen füllten sich rasch mit Mietern, sogar Touristen finden inzwischen ihren Weg hierher. In einer Stadt wie London tun sich immer wieder kleine Leerräume auf, kleinen Elektroautos die sauberste Möglichkeit, um in der Stadt an der Themse schnell ans Ziel zu kommen. Und eine extrem attraktive: Parcell hatte jedenfalls schon mal einen Darsteller aus der Harry-Potter-Filmserie als Fahrgast. Er ist überzeugt, dass jener vom leisen Bus so verzaubert war, dass er ihm den Vorzug gab und den fliegenden Besen einfach zu Hause ließ. Andreas Kleinschmidt 16 Pictures of the Future Herbst 2011 Pictures of the Future Herbst 2011 17

Lebenswertes München: CEO Peter Löscher und OB Christian Ude präsentieren die Pläne für die neue Siemens-Zentrale, die in Sachen Transparenz, Weltoffenheit und Nachhaltigkeit neue Maßstäbe setzen soll. Lebensqualität in Städten Neue Siemens-Zentrale Neue Visitenkarte Im Herzen Münchens plant Siemens seine neue Zentrale. Sie soll eines der energieeffizientesten Gebäude der Welt werden, und dank Innenhöfen und Gastronomie für die Öffentlichkeit auch ungewöhnlich zugänglich sein. Das Unternehmen sieht sich mit dem neuen Hauptsitz auf dem Weg in die Zukunft. Die neue Zentrale soll quasi ein Null-Energie- Haus werden. Fassaden in V-Form, spezielle Reflektoren und miteinander verbundene und für den Publikumsverkehr geöffnete Innenhöfe werden die Tageslichtversorgung in den Büros optimieren. Photovoltaikanlagen auf dem Dach und in der kombinierten Glas-Stein-Fassade sowie die Grund- und Regenwassernutzung zur Gebäudekühlung oder zur Wasserversorgung tragen dazu bei, dass die neue Zentrale CO 2 - neutral betrieben werden kann. Falls doch einmal zusätzlicher Energiebedarf entstehen sollte, wird ausnahmslos Ökostrom bezogen. Höchste internationale und nationale Green-Building- Standards wie LEED Platin oder DGNB Gold zu erreichen, wenn nicht sogar zu übertreffen, ist unser Ziel, ergänzt Sluitner. Technologisch betrachtet soll das Gebäude, das Siemens eine niedrige dreistellige Millionensumme kosten wird, ab der Eröffnung Ende 2015 nicht nur State-of-the-Art, sondern über viele Jahre hinweg seiner Zeit voraus sein. Gleichzeitig soll die Zentrale auch in punkto Arbeitsklima neue Maßstäbe setzen. Anpassungsfähige Etagen lassen prinzipiell alle möglichen Office-Formen zu. So können speziell ge - staltete Großraumbüros das Teamgefühl stärken. Neueste Kommunikations technologien ermöglichen das flexible und nicht schreibtischgebun - dene Arbeiten. Unser neues Arbeitskonzept Siemens Office war ein Grundbaustein des Neu bauprojekts. Es ist nicht mehr entscheidend, wo wir arbeiten, sagt Sluitner, sondern dass die Ergebnisse stimmen. Der Mitarbeiter soll eine größtmögliche Flexibilität erfahren. München ist eine lebhafte Metropole, vor allem mit ihrer pulsierenden Altstadt. Wer jemals an der U-Bahn-Station Odeonsplatz ausgestiegen ist, weiß um den belebten Platz vor der Feldherrnhalle und um die vielen Menschen, die bei gutem Wetter im seit 1775 existierenden Kaffeehaus Tambosi die Sonne, den Cappuccino und ihr persönliches Dolce Vita genießen. Schräg gegenüber liegt der Wittelsbacherplatz, der an drei Seiten von majestätischen Gebäuden umgeben ist. Doch statt voller Trubel zu sein, ist dieser Platz oft fast menschenleer und das, obwohl er laut Oberbürgermeister Christian Ude einer der schönsten und intaktesten Plätze Münchens ist. Der Grund dafür ist einfach: Die prachtvollen Gebäude sind nicht offen für den Publikumsverkehr. Ein Palais beherbergt das bayerische Innenministerium, ein anderes ist die Zentrale der Siemens AG. Als daher Anfang 2010 der Neubau der Siemens-Zentrale beschlossen wurde, waren sich die Entscheider der Stadt München und von Siemens schnell einig, dass nur ein möglichst transparenter Gebäudekomplex in Frage kommt, der hilft, den Wittelsbacherplatz neu zu beleben. Moderne Innenhöfe mit Ausstellungen, Cafés und Restaurants sollen die Gebäude zu den Straßen hin öffnen, während die Siemens-Mitarbeiter in den oberen Stockwerken arbeiten. Der Konzern will sich mit dem neuen Projekt auch technisch den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts stellen. Das Palais Ludwig Ferdinand am Wittelsbacherplatz wurde 1825 von Leo von Klenze einem der berühmtesten klassizistischen Architekten errichtet. 1949 wurde es zum Siemens-Stamm sitz. Seither baute das Unternehmen kontinuierlich an. Beginnend in den 1950er-Jahren wurden Häuser aufgekauft, neu gebaut und miteinander verbunden, einschließlich eines im Jahr 2000 fertiggestellten weißen Gebäudes des US-Archi - tekten Richard Meier. Heute ist der Komplex ein bunt zusammengewürfelter, unübersichtlicher Koloss, der für technische Neu e rungen seine physischen Grenzen erreicht hat. Die Zentrale, so wie sie heute steht, ist einfach nicht zukunftsfähig, erklärt Thomas Braun, Leiter des Neubauprojekts bei Siemens Real Estate (SRE). Es gibt kaum Möglichkeiten, die Räume mit State-of-the-Art-Technologie nachzurüsten, etwa mit Klima- oder Kommuni ka - tions technik. Gleichzeitig passt die ver winkelte und unüberschaubare Raumstruktur nicht mehr zum Arbeitskonzept des Unternehmens, in dem Kommunikation unter den Mitarbeitern an erster Stelle steht. Daher fiel 2010 die Entscheidung für den Neubau. Transparente Planung. Es folgte ein transparenter und interaktiver Planungsprozess. Schon sehr früh holte Siemens die Stadt München ins Boot, um mit ihr gemeinsam zu eruieren, welche Möglichkeiten ein solcher Neubau der Stadt bieten könnte. Neben der angestrebten Belebung des Wittelsbacherplatzes sollte das Gebäude möglichst offen und mithilfe von Innenhöfen regelrecht durchgängig sein. So könnte das hinter der Zentrale liegende weltbekannte Museumsviertel mit seinen Pinakotheken relativ einfach auch für Fußgänger an die Innenstadt angebunden werden. Darüber hinaus stand auch die Einbindung der Münchner Bevölkerung schnell im Fokus des Planungsprozesses. Zahlreiche Bürger haben die Möglichkeit genutzt, bei einem soge- nannten Werkstattgespräch ihre Ideen, Vorstellungen und Wünsche zu äußern, die dann im Architektenwettbewerb berücksichtigt wurden. Es folgten auch intensive Gespräche mit unterschiedlichsten Zielgruppen, etwa den Nachbarn. Heute können sich alle Interessierten über Internetseiten, E-Mail oder eine Telefonhotline über den neuesten Stand informieren. Im nächsten Schritt organisierte das renommierte Architektur- und Stadtplanungsbüro Albert Speer & Partner einen Wettbewerb, zu dem Architekturbüros eingeladen wurden, ihre Vorschläge einzureichen. Dem vorausgegangen war ein aufwändiges Screening aus rund 100 Architekturbüros weltweit und 40 europäischen Büros, aus denen Siemens mit der Stadt München die Finalisten wählte. Die Kriterien waren klar definiert: So sollte sich das Gebäude nicht dem historischen Wittelsbacherplatz aufdrängen, dennoch aber eine magnetische Wirkung auf Außenstehende ausüben. Gleichzeitig sollte die Architektur die Werte des Unternehmens und dessen Historie widerspiegeln. Zwölf Architektur-Büros schafften es in die Endrunde. Eine 22-köpfige Jury mit Vertretern von Siemens und der Stadt München, inklusive dem Vor - standsvorsitzenden Peter Löscher und Oberbürgermeister Christian Ude, sowie Fachexperten aus den Gebieten Architektur, Stadtplanung, Denkmalschutz und Freiraumplanung, beriet über die Vorschläge. Den Zu schlag erhielt der Entwurf des Büros Henning Larsen Architects aus Kopenhagen. Dieser Entwurf hat laut Jury den Spagat zwischen Moderne und Tradition am besten gemeistert. Der Wittelsbacherplatz wird sich optisch nicht verändern. Die Gebäude am Platz und dessen heutiger Charakter bleiben unangetastet, erklärt Louis Becker, einer von drei Chefs des 1959 gegründeten Kopenhagener Architekturbüros, die Hauptmerkmale des Siegerentwurfs. Hinter dieser historischen Fassade entsteht jedoch eines der modernsten und energieeffizientesten Gebäude der Welt. Über mehr als 45.000 Quadratmeter wird das neue Gebäude verfügen, erzählt Dr. Zsolt Sluitner, CEO von SRE. Trotz dieser Größe wollen wir uns aber energetisch selbst versorgen. Trotz seiner enormen Größe von über 45.000 Quadratmeter soll sich das Gebäude energetisch selbst versorgen. Während des Neubaus werden viele Mitarbei - ter in den umliegenden Siemens-Standorten Quartier beziehen. Ende 2012 soll mit dem Abbruch begonnen werden, der einige Monate dauern wird. Ein schneller Abriss mit einer Birne kommt in diesem sensiblen Umfeld nicht in Frage, erklärt Braun. Die historischen Gebäude, Nachbarn und Geschäfte erfordern ein vorsichtiges und vor allem geräuscharmes Abriss- Verfahren, ehe der Neubau schließlich Mitte bis Ende 2013 beginnen kann. Spätestens Anfang 2016 wird München dann einen neuen, im wahrsten Sinne leuchtenden, grünen Besuchermagneten haben. Ein technologisches Highlight in der historischen Innenstadt soll es sein eine aussagekräftige Siemens-Visitenkarte also, von der ganz sicher nicht nur die eigenen Mitarbeiter Notiz nehmen werden. Sebastian Webel 18 Pictures of the Future Herbst 2011 Pictures of the Future Herbst 2011 19

Flexibel einsetzbar: Die Bahnen Avenio (rechts, 2.v.l.) und Inspiro (großes Bild) erlauben dank Plattformkonzepten verschiedenste Ausstattungsvarianten. Dabei nutzte Siemens seine langjährige Expertise, etwa bei der ressourcenschonenden Metro für Oslo (rechts). Lebensqualität in Städten Fahrzeugkonzepte Mit Unwägbarkeiten unterschiedlicher Verkehrsinfrastrukturen kennen sich auch die Metro-Experten von Siemens Mobility aus. Nur dass hier unterschiedliche Gleisqualitäten noch die geringste Herausforderung sind. Seit die weltweit erste Metro 1863 in London ihren Betrieb aufgenommen hat, hat sich vor allem in Westeuropa ein bunter Blumenstrauß verschiedenster U-Bahn-Züge entwickelt, die sich allesamt in ihrer Höhe, Länge, Breite sowie der technischen Ausstattung unterscheiden, erzählt Sandra Gott-Karlbauer, Leiterin der Geschäftseinheit für Metros in Wien. So musste bisher jede bestellte Metro-Serie auf das entsprechende Streckennetz maßgeschneidert wer - den. Im Vergleich zu standardisierten Zügen bedeutet dies längere Entwicklungszeiten und vor allem bei Kleinserien höhere Kosten. Um weiterhin weltweit im Metro-Segment agieren zu können, mussten wir daher die Kosten einer individualisierten U-Bahn drastisch senken, ohne dass die Qualität darunter leidet, erinnert sich Gott-Karlbauer. Die Lösung: die Chmelar hinzu. Darüber hinaus sind wegen der Skaleneffekte und geringeren Entwicklungsaufwendungen die Risiken kleiner sowie die Ausfallraten und die Wartungs- und Reparaturkosten für den Betreiber niedriger. Hinzu kommen technische Finessen wie Sys - teme zur Rückgewinnung der Bremsenergie oder die Möglichkeit des fahrerlosen Betriebs. In die Inspiro-Entwicklung sind unsere Erfahrungen aus den U-Bahnen in Oslo ebenso eingeflossen wie die aus den fahrerlosen Metros in Nürnberg, ergänzt Sandra Gott-Karlbauer (Pictures of the Future, Frühjahr 2010, S. 22, und Frühjahr 2008, S. 74). Die Aluminium-Bau - weise, die den Inspiro zur derzeit leichtesten U- Bahn macht, und eine Recyclingrate von bis zu 95 Prozent verleihen dem Zug endgültig das Prädikat Effizienzmeister. Das allein reicht jedoch nicht aus, um Verkehrsteilnehmer von der Straße in den Zug zu lotsen. Eine gut funktionierende Verkehrsanbindung (S.22), möglichst kurze Zugfolgen und ästhetische Präferenzen sind auch wichtig der Fahrgast muss sich im Zug wohlfühlen. Dazu hat Siemens Produktdesigner der BMW DesignworksUSA mit der Außen- und Inneneinrichtung des Inspiro beauftragt. Das Ergebnis kann sich sehen lassen: Große Einstiege laden zum Betreten des Zuges ein, LED-Lichter bieten unterschiedliche Lichtstimmungen und weite Durchgänge schaffen ein großzügiges Raumgefühl. Eine Design-Vorgabe, die den Entwicklern den Schweiß auf die Stirn trieb, war, die Elektroschränke komplett aus dem Fahrgastraum zu verbannen was sie dank mancher technischer Kniffe schafften. Spezielle Informations- und Sicherheitssysteme an Bord, etwa Kameras zur Innenraumüberwachung oder Sensoren für Brandschutzmaßnahmen, sorgen dafür, dass sich der Fahrgast auch sicher fühlt. Die Weichen zum Markterfolg sind gestellt: Während München 21 Züge mit Inspiro-Komponenten orderte, hat Warschau 35 sechsteilige Züge bestellt als Generalprobe für den Verkehr der Zukunft: Warschau ist eine der am schnellsten wachsenden Städte Europas. Sebastian Webel Zug aus dem Baukasten Metros und Straßenbahnen sind wichtig, um den Verkehr in Städten nicht kollabieren zu lassen. Doch in den reifen Städten der Industrienationen mit ihren oft alten Infrastrukturen sind die Möglichkeiten für Optimierung und Standardisierung begrenzt. Neue Plattform-Konzepte von Siemens bieten eine Lösung. Je mehr Menschen in die Ballungsräume strömen, desto knapper wird der Verkehrsraum. Wie dieses Problem zu lösen ist, wird weltweit unterschiedlich gesehen: So baut China in den nächsten Jahren die Verkehrsnetze kräftig aus. Die Mammutprojekte ermöglichen hohe Stückzahlen, Standardisierungen und Kos tenreduktionen. Anders in vielen Städten Eu ropas: Hier sind die Metro- und Straßenbahn-Netze teilweise Jahrzehnte alt. Im Lauf der Zeit wurden sie immer wieder erweitert oder sukzessive erneuert. Große Optimierungspotenziale oder Platz für kostensparende Standardisierungen sind auf diesen Flickenteppichen Mangelware. Jedes Straßenbahnnetz mitsamt seinen Kurven, Neigungen, Gleisen und vor allem seiner Qualität, ist einzigartig, berichtet Matthias Hofmann, Produktmanager für Straßenbahnen bei Siemens Mobility in Erlangen. Insbesondere Städte mit einer langen Straßenbahnhistorie zeichnen sich durch enge Kurven und veraltetes Gleismaterial aus. Ist eine Bahn nicht optimal aufs jeweilige Gleis abgestimmt, werden bei einer scharfen Kurve enorme Kräfte frei der Verschleiß bei Gleis und Zug ist entsprechend hoch, und mancher Passagier wird durchgerüttelt, schmunzelt Hofmann. Flexibel einsetzbar. Die Siemens-Ingenieure erkannten dieses Problem und entwickelten mit dem Avenio eine Straßenbahn, bei der nicht, wie bisher üblich, starre Fahrwerke lange Wagenkästen flankieren, sondern die Drehgestelle mittig unter jedem Modul sitzen. Ein einfaches Prinzip mit großer Wirkung: Damit werden die Kräfte symmetrisch verteilt und die Wagen-Gelenke entscheidend entlastet. Der Avenio kann daher flexibel eingesetzt werden auch in älteren und abgenutzten Gleisnetzen. In Budapest, das ein Streckennetz mit engen Straßen, alten Strecken und gewundenen Gleisen besitzt, fahren unsere Trams 500.000 Kilometer ohne zusätzliches Überdrehen der Radsätze, berichtet Hofmann. Der Radverschleiß ist dort dreimal niedriger als der von herkömmlichen Bahnen in gut gepflegten westeuropäischen Netzen. Ein positiver Nebeneffekt: Die geringe Abnutzung bedeutet für den Fahrgast eine komfortable Fahrt, die leise und nahezu ruckfrei ist und bei der ein unsanftes Drücken zur Seite sowie lautes Quietschen und Poltern während einer Kurve der Vergangenheit angehören. Gleichzeitig verfügt der Avenio über eine flexible Länge und Breite, die der Kunde selbst bestimmen kann, sowie durch eine ausgefeilte Niederflurtechnik: Da die Drehgestelle seitlich liegende und somit für die Wartung leicht zugängliche Antriebe haben, ist der Raum zwischen den Rädern nutzbar. Entsprechend niedrig liegt nun der Boden: nur wenige Zen timeter über dem Gleisbett. Zusammen mit großen Doppeltüren ermöglicht das eine komplett barrierefreie Nutzung der Bahn, etwa für Kinderwagen oder Rollstühle. Weitere Highlights wie eine elektrische Bremse, die im Gegensatz zu ihren Vorgängern bis zum Stillstand des Fahrzeugs wirkt, Nebenaggregate, die sich im Stand abschalten, ein intelligentes Energiemanagementsystem und nicht zuletzt eine Recyclingrate von rund 90 Prozent (S.88) machen den Avenio zu einer rundum benutzerfreundlichen Tram mit niedrigen Lebenszykluskosten. Metro-Plattform Inspiro, ein Fahrzeugkonzept mit Baukastenformat. Der Kunde kann aus standardisierten, vorgefertigten Modulen seine persönliche Metro zusammenstellen, erklärt Werner Chmelar, Inspiro-Plattformmanager bei Siemens Mobility in Wien. Das bringt einen enormen Kostenvorteil: Wir können auf Nachfrage der Kunden mit adäquaten Produkten reagieren, müssen diese aber dank des Baukastenmodells nicht von Grund auf neu entwickeln. Im Grunde genommen ähnelt die Plattform einem Konfigurator aus der Autobranche. Nur dass der Kunde hier mehr Entscheidungsmöglichkeiten hat. So ist das Basisfahrzeug des Inspiros ein sechsteiliger Einzelwagenzug, dessen Konfiguration auch mit drei bis acht Teilen unterschiedlicher Motorisierungsgrade und Ausstattungsvarianten möglich ist. Die Züge können je nach Anforderung zusammengestellt werden was für jeden Kunden einen attraktiven Kaufpreis bedeutet, da er nur das geliefert bekommt, was er auch benötigt. Insofern haben wir hier den Spagat zwischen Standardisierung und Individualisierung geschafft, fügt Freie Fahrt gegen Aufpreis Neben öffentlichen Verkehrssystemen sind auch effiziente Lösungen für den Straßenverkehr wichtig. So sorgt im Großraum Tel Aviv seit Januar 2011 eine Sonderfahrspur für freie Fahrt. Autofahrer können sich hier eine kürzere Reisezeit erkaufen. Dabei gilt das Prinzip der Marktwirtschaft: Stockt der Verkehr, steigt der Preis für die Fast Lane. Die Reisenden können dann entscheiden, ob ihnen die kürzere Fahrtzeit auf der Sonderspur das Geld wert ist, oder ob sie lieber auf der regulären Straße im Stau stehen. Die Idee ist nicht neu, in den USA gibt es solche Sonderspuren seit Jahren. Jedoch nach einem starren System: Hier werden die Mautgebühren tageszeitabhängig auf Basis von Verkehrstabellen definiert. Für die Fast Lane in Israel hat Siemens hingegen mit der Technischen Universität München ein softwarebasiertes Verfahren entwickelt, das die Gebühren erstmals dynamisch, also je nach Verkehrsaufkommen, ermittelt. Das System berechnet minutengenau den Preis der Maut: Detektoren im Asphalt messen dafür in Echtzeit die Anzahl der Autos und deren Geschwindigkeit. Der Effekt: Inzwischen nutzen rund 6.000 Autos täglich die rund 13 Kilometer lange Sonderspur. Den Fahrern erspart dies viel Stress und der Umwelt Emissionen. 20 Pictures of the Future Herbst 2011 Pictures of the Future Herbst 2011 21

Den Überblick behalten: Ob Busse und Leihfahrräder wie in Denver oder Elektroautos (rechts unten) mit einem Multitouch-Tisch und der Mobility-App von Siemens (rechts oben) sollen Verkehrsmittel zu integrierten Verkehrssystemen verschmelzen. Lebensqualität in Städten Vernetzte Mobilität Flexibel durch die Großstadt Vernetzte Verkehrssysteme und aktuelle Informationen über die schnellste Verbindung sorgen dafür, dass Stadtbewohner künftig trotz wachsender Verkehrsdichte bequem ihre Ziele erreichen. Das Auto wird es auch 2050 noch geben, doch es wird nur eine Fortbewegungsmöglichkeit von vielen sein. eigenes Auto besitzen wird. Fahrräder und hocheffiziente leichte Elektromobile sind die neuen Statussymbole der städtischen Bevölkerung, so der Ausblick der Wissenschaftler. Mobilität als Dienstleistung. Autobauer wie BWM und Daimler stellen sich längst auf die veränderten Mobilitätswünsche ihrer Kunden ein. Sie wollen künftig nicht nur Autos, sondern vor allem Mobilität verkaufen. Neben Carsharing-Angeboten für Elektroautos in der Stadt setzen die Unternehmen auf die Verknüpfung mit dem ÖPNV. So will BMW beispielsweise Park+Ride attraktiver machen durch eine bessere Ausschilderung der Parkplätze sowie Informationen im Internet über die Zahl der freien Plätze und Abfahrtszeiten der nächsten Bahnen. Daimler bietet neben seinem car2go -Angebot für Miet-Smarts in den Innenstädten von Ulm, Hamburg, Austin und Vancouver eine neue Form von Mitfahrzentrale, die Fahrer und Beifahrer fast in Echtzeit mithilfe von Smartphones oder PC zusammenbringt. So lassen sich erstmals auch spontane Mitfahrten für Kurzstrecken organisieren, was den täglichen Verkehr in der Stadt entlasten könnte. Um zudem den ÖPNV so attraktiv wie möglich zu machen, müssten sämtliche Angebote möglichst effizient ineinander greifen, fordert Dr. Martin Zimmermann, Vice President Strategy, Alliances & Business Innovation der Daimler AG. Ansatzweise funktioniert das schon heute. Der weltweite Ausbau des mobilen Internets bietet ein enormes Potenzial, um den Verkehr in den Innenstädten effizienter zu vernetzen. Marcus Zwick ist guter Dinge. Es ist Freitag später Nachmittag, Feierabend. Der Siemens-Manager ist gerade nach Hause gekommen. Er wohnt in einem Vorort im Süden von München. Zwick freut sich auf das Spiel des FC Bayern am Abend, während der Mittagspause hat er sich noch eine Eintrittskarte übers Internet gesichert. Ein schneller Blick auf sein Smartphone zeigt, in einer halben Stunde sollte er losfahren, um rechtzeitig zum Anpfiff im Stadion zu sein. Noch ist der Weg durch die Stadt frei. Sein Smartphone navigiert ihn quer durch die Stadt, langsam nimmt die Verkehrsdichte zu bis Spielbeginn sind es noch 40 Minuten. Plötzlich ertönt ein schriller Ton aus dem mobilen Gerät an der Windschutzscheibe, eine Stimme warnt vor einem Stau und empfiehlt auf die S-Bahn umzusteigen, die ihn noch recht zeitig ins Stadion bringen wird. Zwick willigt per Fingertipp auf das Display ein, das Navi ändert automatisch das Ziel und führt ihn zum nächstgelegenen Park-and-ride-Platz. Auf dem Weg dorthin bucht die Software im Smart - phone ein Ticket, so dass Zwick keine Zeit verliert und sich direkt in die Bahn setzen kann. Noch ist das eine Vision, doch es wird nicht mehr lange dauern, dann soll eine Mobility- App auf dem Smartphone dafür sorgen, dass sich die Menschen sicher und schnell durch die Städte bewegen. So wie Marcus Zwick und seine Kollegen bei Siemens arbeiten Forscher und Unternehmen weltweit an Lösungen, die verschiedene Verkehrsmittel in den Städten eng miteinander vernetzen und intelligent steuerbar machen. Die Idee: Um in Zukunft schnell und effektiv von A nach B zu kommen, werden die Menschen von intelligenten Systemen durch den Großstadtdschungel geleitet. Sie benützen nicht nur ein Verkehrsmittel, sondern wechseln je nach Verkehrslage, Strecke und persönlicher Präferenz vom Elektroauto zur U-Bahn, von der S-Bahn auf das Fahrrad oder verknüpfen alles miteinander. Die einzelnen Systeme dafür sind vorhanden, die Herausforderung besteht darin, sie intelligent miteinander zu verbinden und dadurch besser steuerbar und nutzbar zu machen. Der Bedarf für solche intelligenten Verkehrssysteme wächst rapide. Laut der jüngsten Studie der Beratungsgesellschaft Frost & Sullivan werden schon 2025 rund 4,5 Milliarden Menschen in Städten leben das sind eine Milliarde mehr als heute und entspricht gut 60 Prozent der Weltbevölkerung. Weltweit gibt es etwa 30 Megastädte mit über zehn Millionen Menschen sowie Metropolregionen wie das Ruhrgebiet in Deutschland mit einem hohen Grad an Vernetzung einzelner urbaner Zentren. Viele Megacities und Metropolregionen leiden bereits heute unter endlosen Verkehrsstaus, Parkplatznot und stickiger Luft. Gefragte Lösungen. Damit das Leben in den Städten attraktiv bleibt, suchen kommunale Entscheider und Mobilitätsanbieter nach neuen Lösungen. Für den Niederländer Hans Rat, Generalsekretär des Internationalen Verbands für öffentliches Verkehrswesen (UITP) in Brüssel, steht fest: Der öffentliche Personen-Nahverkehr (ÖPNV) wird dabei eine ganz entscheidende Rolle spielen. Auch Megastädte im Mittleren Osten haben das erkannt. So hat für die Planer in Dubai die Integration der Verkehrssysteme höchste Priorität. Hier verbinden immer mehr multimodale Umsteigestationen Metro, Bus und Schiffe. Zubringerbusse bedienen alle Metrostationen, um sicherzustellen, dass auch die letzte Meile an den ÖPNV angeschlossen ist. Das Bezahlen per Smartcard oder e-ticket-app auf dem Smart phone erleichtert das Umsteigen. Die Nutzer müssen sich keine Tarife merken, sie bezahlen für die zurückgelegte Strecke und können so auch die Gebühr für das Parken begleichen. In Europa werden Busse und Bahnen in den Städten ebenfalls zu bevorzugten Verkehrmitteln. Vor allem junge Menschen in den Metropolen verzichten zunehmend auf das eigene Auto, wie Prof. Dr. Stefan Bratzel vom Center of Automotive der Fachhochschule der Wirtschaft in Bergisch Gladbach feststellte. Bratzel und sein Team haben im Rahmen der Studie Jugend und Automobil 2010 über 1.100 junge Menschen zwischen 18 und 25 zu ihren Einstellungen befragt. Das Ergebnis: Für diese Gruppe spielt das Automobil als Statussymbol keine wichtige Rolle mehr. Befragungen seit Mitte 2000 des Bremer Psychologen Prof. Peter Kruse belegen diesen Trend. Früher stand Mobilität für Freiheit und war ein Privileg. Heute wird das Freiheitsgefühl viel besser durch intelligente Mobiltelefone ausgedrückt als durch Autos, so der Forscher. Aus dem Objekt der Begierde und dem Symbol persönlicher Unabhängigkeit sei mehr und mehr ein nüchternes Werkzeug mobiler Funktionalität geworden. Das Auto sei in der unbewussten Einschätzung der Konsumenten nur noch eine unter vielen möglichen Formen moderner Fortbewegung. Zum gleichen Ergebnis kommen Forscher vom Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung in Karlsruhe. Sie prognostizieren in ihrer Studie Vision für nachhaltigen Verkehr in Deutschland für 2050, dass nur noch jeder vierte Einwohner in den Großstädten ein Fahrräder und hocheffiziente leichte Elektromobile sind die neuen Statussymbole der städtischen Bevölkerung. Mit Mobilfunktechnik lässt sich eine sogenannte Car-to-Infrastructure-Kommunikation realisieren, mit der die Verkehrssteuerung noch zeitnäher reagieren kann, sagt Marcus Zwick. In Texas haben die Mobilitätsexperten von Siemens eine intelligente Ampelsteuerung implementiert, die erkennt, wie viele Fahrzeuge mit welcher Geschwindigkeit auf eine Kreuzung zufahren. Sie steuert die Ampelphasen so, dass immer die stärker befahrene Straße die längere Grünphase bekommt. Die neue Technik soll aber nicht nur den Verkehrsfluss unterstützen, sondern auch dazu beitragen, dass Busfahrer ihre Fahrpläne einhalten. Die Infrastruktur erkennt, ob ein Bus Verspätung hat und sorgt bei Bedarf für mehr grüne Ampeln, damit dieser die verlorene Zeit wieder aufholen kann (Pictures of the Future, Frühjahr 2011, S.91). 22 Pictures of the Future Herbst 2011 Pictures of the Future Herbst 2011 23

Die einzelnen Bausteine werden immer intelligenter, doch das reicht nicht. Die Informationen aus den Verkehrssystemen müssen noch gebündelt und zur Steuerung und Optimierung der Verkehrsströme und des Verkehrsflusses genutzt werden, weiß Zwick. Siemens liefert weltweit nicht nur Bausteine für die Verkehrsinfrastruktur etwa Ampeln, Lichtleitanlagen und Verkehrsmanagement-Systeme, sondern entwickelt auch Hard- und Software für Verkehrsleitsysteme sowie IT-Lösungen, um die anfallenden Daten zu sammeln und zur Verfügung zu stellen. Damit die Mitarbeiter in den Verkehrsleitzentralen der Städte künftig die wachsende Menge der Informationen leichter überblicken und nutzen können, hat die Siemens-Abteilung Innovative Mobility Solutions mit Sitz in Erlangen und München, die Zwick zusammen mit einem Kollegen leitet, einen überdimensionalen Multitouch-Bildschirm entwickelt. Einfach mit Fingerzeig. Der Multitouch-Bildschirm sammelt nicht nur die Daten aus den einzelnen Verkehrs- und Informationssystemen und visualisiert sie für die Mitarbeiter in den Verkehrsleitzentralen der Ballungsräume, sondern vereinfacht auch die Interaktion zwischen verschiedenen Verantwortungsbereichen. Über die gemeinsame Oberfläche lassen sich per Gesten mit einzelnen Fingern, wie man das von den modernen Tablet-PCs kennt Streckenübersichten zoomen, Trassen sperren oder Daten miteinander verknüpfen. Jede Aktion wird abgebildet und ist für alle transparent, sagt Zwick. Noch handelt es sich um einen Prototypen, der demonstrieren soll, was künftig möglich sein wird. Durch die Übertragung der Informationen auf mobile Geräte soll auch das Personal unterwegs mit in Entscheidungen einbezogen werden. So werden Reaktionszeiten nicht nur kürzer, sondern auch die Abstimmungsprozesse präziser und sicherer. Busse und Bahnen fahren pünktlicher, Umsteigezeiten werden geringer. Die Informationen sind auch für die Verkehrsteilnehmer verfügbar. Über ihre Smartphones oder Anzeigetafeln können sie sich jederzeit über die aktuelle Situation informieren und sich spontan für das ein oder andere Verkehrsmittel entscheiden. So wie Marcus Zwick, der sich nach dem Fußballspiel noch gerne mit Freunden in der Stadt treffen möchte. Ein Blick auf das Display des Smartphones reicht aus und schon weiß er, wo sich diese gerade auf - halten: in einem Steakhaus in der Nähe des Rathauses. Das passt prima. Etwas essen würde er jetzt auch gerne. Die Verknüpfung mit der Mobility-App zeigt, mit der U-Bahn könnte er in 30 Minuten dort sein. Per Chat bittet er seine Freunde, schon einmal einen Steakteller zu bestellen. Hans Schürmann Lebensqualität in Städten SmartSenior-Projekt Smarte Lösungen Kurz nach dem Aufstehen schaltet Helga Hohmann den Fernseher ein. Auf dem Bildschirm erscheint ihr Benutzername; über die Fernbedienung gibt die 72-Jährige ihr Passwort ein. Sofort erscheinen großflächige Icons: Kommunikation, Gesundheit, Assistenz, zu Hause oder Kalender. Helga Hohmann wählt den Kalender, um zu sehen, was sie sich für diesen Tag vorgenommen hat. Um elf Uhr hat sie eine Visite bei ihrem Arzt, um 15 Uhr Rehabilitationstraining, und für 18 Uhr ist sie mit Freunden verabredet. Doch heute wird sie sich nicht aus ihrer gemütlichen Wohnung bewegen: All das wird virtuell passieren über das Serviceportal ihres Fernsehers mit Audio- Video-Kommunikation. So könnte ein Leben im Tag eines Seniors in Zukunft aussehen: Mit altersgerechten Assistenzsystemen für ein gesundes und unabhängiges Leben neudeutsch Ambient Assisted Living (AAL) sollen Senioren länger selbstständig, gesund, sicher und mobil leben. Dass etwas geschehen muss, ist angesichts des demographischen Wandels klar. In Deutschland wird schon 2035 jeder Dritte über 60 Jahre alt Vernetztes Heim: Bei SmartSenior muss das Zusammenspiel aller Komponenten stimmen, von den Übertragungseinheiten (links) über Blutdruckmesser und Med-I-Box (oben) bis zu Webpad und Smartphone. für die Senioren von morgen Gut vernetzt, aktiv und mobil so könnten Senioren leben, wenn die Ideen des Projekts SmartSenior Wirklichkeit werden. Über das Internet sollen die Nutzer mit Ärzten, Dienstleistern und Angehörigen in Kontakt bleiben und so länger selbstständig leben können. 2012 startet ein Feldtest in Potsdam. sein. Im Forschungsprojekt SmartSenior arbeiten 28 Partnerfirmen und -organisationen aus Forschung und Industrie unter Leitung der Deutschen Telekom Laboratories (T-Labs) zusammen, unter anderem Siemens, BMW, Alcatel-Lucent, die Charité Universitätsmedizin Berlin, das Deutsche Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz, die Technische Universität (TU) Berlin und die GEWOBA Wohnungsverwaltungsgesellschaft in Potsdam. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert das Projekt mit 24 Millionen Euro; weitere 17 Millionen kommen aus der Industrie, davon fünf Millionen von Siemens (Pictures of the Future, Herbst 2010, S.100). Projektstart war 2009: In neun Teilprojekten werden Innovationen entwickelt, die Informations- und Kommunikationstechnologien so wie Dienstleistungen integrieren, unter anderem Notfallassistenz, Sicherheitslösungen für den Haushalt, Systeme zur sozialen Vernetzung und eine telemedizinische Servicezentrale. Die Herausforderung liegt vor allem in der Standardisierung und Integration verschiedener Systeme, vom Fernseher über Smartphone und Hausgeräte bis zum Auto. In dieser Größenordnung und mit dem Anspruch, so viele Dienste in einer Plattform zu integrieren, ist SmartSenior europaweit führend, sagt Michael Balasch, Research & Innovation Director bei den T-Labs und Gesamtkoordinator des Smart- Senior-Konsortiums. Senioren im Feldversuch. Im Frühjahr 2012 startet der dreimonatige Feldtest, der zeigen soll, ob die Technik zusammenpasst und wie die Nutzer sie annehmen: 35 bestehende Wohnungen in Potsdam werden mit einer schnellen Internetverbindung, dem AAL Home Gateway als Datendrehkreuz und Raumsensoren ausgerüstet. Die Bewohner sind 50 Jahre und älter. In der Potsdamer Musterwohnung steht vor der Sitzecke im Wohnzimmer ein Flachbildschirm, der das SmartSenior-Interface zeigt. Dazu kommt die Set-Top-Box für die hochauflösende Audio-Video-Kommunikation über den Fernseher, mit Kamera und Freisprecheinrichtung. Am Fensterrahmen messen Sensoren, ob die Fenster geöffnet sind. Die handtellergroßen Raumsensoren unter der Decke wiederum sammeln Informationen über Temperatur, Licht und eventuellen Gasaustritt. Die meisten funktionieren autark und übertragen ihre Daten ans Gateway. Innerhalb einer Woche erlernt das System anhand der Sensordaten den regulären Tagesablauf des Bewohners, erklärt Karsten Raddatz von der TU Berlin. Hat der Senior das Haus verlassen und dabei ein Fenster, das normalerweise geschlossen ist, offen gelassen, bekommt er eine Meldung auf sein Smartphone. Wertvoll sind auch Bewegungsdaten. Ein Beispiel: Der Bewohner geht nachts wie immer zwischen zwei und drei Uhr zur Toilette, kommt aber nicht nach zehn Minuten wie sonst zurück ins Schlafzimmer. Das System stellt eine Anomalie fest und sendet ein Signal an ein Assistenzzentrum. Das wiederum versucht dann, den Senior telefonisch zu erreichen. Scheitert dies, würde die Rettungsleitstelle alarmiert. Die Möglichkeit zur individuellen Einstellung und die Modularität der Lösungen ist wichtig, betont Balasch, denn: Es gibt nicht den Senior. Manche ältere Menschen sind mobil und können die Plattform beispielsweise nutzen, 24 Pictures of the Future Herbst 2011 Pictures of the Future Herbst 2011 25

um etwa mit Familie und Freunden Kontakt zu halten und sich mit Komfort-Dienstleistungen das Leben zu erleichtern. Andere sind sturzoder schlaganfallgefährdet. Im Feldtest soll auch ein interaktiver Trainer zur Sturzprävention erprobt werden. Später könnte es sogar möglich sein, dass sich in einem Notfall der Pflege- oder Rettungsdienst über die Videofunktion bereits vor Eintreffen ein Bild über die Situation macht falls der Nutzer diese Funktion vorab freigegeben hat. Und Siemens entwickelt derzeit eine Armbanduhr, die die Bewegungen und bestimmte Vitaldaten des Trägers misst und per Funkchip an das AAL Home Gateway überträgt (Pictures of the Future, Herbst 2010, S.100). Flexible Nutzung. Wir haben verschiedene Szenarien entworfen, die medizinische, benutzerrelevante und individuelle Ziele zusammenist. Die Set-Top-Box als nicht-medizinische Kommunikationskomponente ist wie ein Videorekorder dem Fernseher zugeordnet; die Sensoren an Fensterrahmen und Decke ähneln in Größe und Aussehen Alarmanlagen und Rauch - meldern; das AAL Home Gateway und die medizinische Kommunikationsbox Med-I-Box können an beliebigen Orten aufgestellt werden. Beim Feldtest werden den Teilnehmern allerdings keine echten medizinischen Dienstleistungen angeboten aus rechtlichen Gründen. Auch Notfälle werden nur simuliert, um zu erproben, wie die Assistenzsysteme und die Abläufe zwischen den Nutzern funktionieren. Helga Hohmann ist eine der fiktiven Personen, die für ein SmartSenior-Szenario erstellt wurden. Danach hatte sie mehrere Hüftoperationen; zum Arzt fährt sie mit öffentlichen Verkehrsmitteln, aber sie möchte ihre Ärzte lieber mit weniger Aufwand konsultieren. So könnte Hausbesuch, erklärt Dr. Martin Schultz, Leiter des Telemedizincentrums der Charité (TMCC) in Berlin-Mitte. So könnte eine Pflegeassistentin als Empfangsdame agieren, sie würde sich nach dem Befinden erkundigen und die elektronische Krankenakte vorbereiten. Der Arzt fragt dann beispielsweise nach Beschwerden, Symptomen und der Medikamenteneinnahme. Die bisherigen Befunde sind auf dem SmartSenior-Portal sichtbar: Die Daten werden für den Arzt und für den Patienten unterschiedlich aufbereitet, sagt Schultz. In der elektronischen Patientenakte sind alle Daten zu sehen, etwa EKG, Blutdruck, Medikamenteneinnahme: Die Angaben werden durch ein automatisches Diagnosesystem überprüft. Gegebenenfalls werden weitere Ärzte hinzugezogen sowie medizinische Datenbanken, die zum Beispiel Wechselwirkungen verschiedener Medikamente prüfen. Mar tin Schultz: Natürlich gewinnt ein Arzt bei der physischen Begegnung mit dem Patienten nonverbale Informationen, etwa durch die manuelle Untersuchung oder den Geruch. Einen Teil dieser Aufgaben kann bei der Telemedizin auch eine Hilfsperson übernehmen, zum Beispiel ein Angehöriger, eine Krankenschwester, ein Physiotherapeut. Telemedizin könnte nicht nur für Senioren in Städten, sondern auch für ländliche Regionen mit Ärztemangel ein Ausweg sein. In einem Notfall kann der Arzt über Telemedizin Anleitung zur Eigenhilfe geben, bis professionelle Helfer eintreffen. Die medizinische Datenerfassung, etwa über Sensoren, die Sauerstoffsättigung, Bewegung, Herz- und Atemfrequenz aufzeichnen und übertragen, hat auch noch weitere Vorteile. So kann sie auch helfen, Autounfälle zu verhindern. BMW entwickelt im Rahmen des Smart- Senior-Projekts einen Nothalteassistenten. Im sich die Forschungsgruppe mit Prävention und Rehabilitation von Sturz- und Schlaganfallpatienten mehr als ein Million Menschen leben in Deutschland mit den Folgen eines Schlaganfalls. Weitere Themen bearbeiten andere SmartSenior-Projektpartner, so ist etwa Vivantes für Dialyse zuständig; um Schmerztherapie kümmern sich das Schmerzzentrum Berlin und das Klinikum Südstadt Rostock. Ein weiteres wichtiges Thema: Stürze. Jeder Dritte der über 65-Jährigen stürzt mindestens einmal pro Jahr, bei den über 80-Jährigen sind es mehr als 80 Prozent. Die geschätzten Kosten für Stürze und Sturzfolgen in Deutschland liegen bei einer halben Milliarde Euro pro Jahr, so die Forschungsgruppe Geriatrie. Problematisch ist oft der Übergang aus der Rehabilitation nach Hause: Motivation und Regelmäßigkeit des Trainings schwinden. Menschen müssen lange und intensiv trainieren, sagt Gövercin, Herausforderungen auf die Partner. So müssen die erarbeiteten Lösungen in marktrelevante Produkte umgesetzt werden. Dabei sind noch rechtliche Rahmenbedingungen ungeklärt, sowohl beim Nothalteassistenten im Auto als auch an der Schnittstelle medizinischer und nichtmedizinischer Produkte. Krankenkassen finan zieren medizinische Leistungen nur, wenn die Effizienz belegt ist. Für Telemedizin gibt es noch keine Vergütungsstrukturen. Begeisterung bei Jung und Alt. Dass Smart- Senior gefragt ist, merkten die Partner aber schon auf der Messe CeBIT 2011. Wäre Smart- Senior bereits erhältlich gewesen, hätte die Komplettlösung sofort verkauft werden können; Senioren sagten: Das wollen wir mitnehmen! Auch Jüngere waren begeistert, denn über das Serviceportal kann man auch Einkaufen und Essen bestellen, die Hausverwaltung in- Gesundheitscheck: Mit Lösungen wie dem EKG-Shirt können Senioren ihre Vitaldaten messen und über die SmartSenior-Plattform direkt an ihren Arzt schicken. Gut versorgt: Stellt der Arzt Anomalien fest, kann er dank Telemedizin sofort handeln. So kann er via Audio-Video-Verbindung direkt mit dem Patienten kommunizieren. führen, sagt Stefan Göllner von der TU Berlin und dem Quality and Usability Lab der T-Labs. Als Benutzergruppen gelten Senioren als Hauptnutzer und deren Familien, Ärzte, Sanitäter, Physiotherapeuten und andere Dienstleister als Mit- und Nebennutzer. Diese potenziellen Nutzer sollen über das SmartSenior-Serviceportal vernetzt werden und auf stationären oder mobilen Geräten zu erreichen sein sowohl im Notfall wie zur regelmäßigen Visite oder einem interaktiven Training, etwa während der Rehabilitation nach einem Sturz oder einem Schlaganfall. Auch Ängste der Nutzer spielen in den Szenarien eine Rolle: Eine Hemmschwelle könnte die Sorge sein, neue Technik bedienen zu müssen, sowie die Angst, überwacht zu werden. Um diesem Gefühl entgegenzusteuern, sind die Geräte so konzipiert, dass sie sich in die normale Umgebung einfügen: Kein Bewohner und kein Besucher wird auf den ersten Blick wahrnehmen, dass eine Wohnung mit technischen Assistenzsystemen ausgestattet sie etwa kurz vor elf Uhr über das Icon Gesundheit der SmartSenior-Plattform ihre persönliche Patientenakte aufrufen und die Vital - daten sehen, die die Sensoren über das Armband, das Pulsoxymeter und externe Geräte gesendet haben: Puls, Körpertemperatur, Blutdruck, Herz- und Atmungsfrequenz. Dann könnte sie mit der Fernbedienung zum Menüpunkt Televisite mit Audio-Video-Verbindung schalten. Nach kurzem Warten würde sie eine Pflegeassistentin des Telemedizinzentrums begrüßen und sie dann zum Arzt durchschalten. Wichtig ist, dass die Nutzer Interaktionselemente wiedererkennen und intuitiv bedienen können, sowohl auf dem Fernseher als auch auf mobilen Endgeräten wie dem Smartphone, sagt Stefan Göllner. Eine telemedizinische Visite läuft ab wie ein normaler Besuch beim Arzt oder wie ein Effektiver Service. Das TMCC entwickelt die telemedizinische Servicezentrale, die wie eine Telefonzentrale funktioniert: Die Anrufe werden priorisiert und weitergeschaltet. Verschiedene Service-Level haben eigene Kompetenzbereiche. Pflegekräfte, Krankenschwestern und Telemedizin könnte nicht nur für Senioren in Städten, sondern auch für Regionen mit Ärztemangel ein Ausweg sein. Rettungsassistenten arbeiten auf dem ersten Level. Sie sind medizinische Agenten und müssen kommunikativ entsprechend ausgebildet sein, sagt Schultz. Auf dem zweiten Level agieren Ärzte, die hochverfügbar sind und schnell reagieren können, sowie Fachärzte, die hochkompetent sind, aber nicht jederzeit verfügbar. Telemediziner arbeiten am Bildschirm mit einem hochauflösenden Audio-Video-System. Szenario verliert ein Autofahrer das Bewusstsein, etwa durch einen Herzinfarkt. Der Nothalteassistent übernimmt dann automatisch die Kontrolle, schaltet die Warnblinkanlage ein und lenkt das Auto auf der Autobahn sicher auf den Standstreifen. Sensortechniken wie Radar, Laserscanner und Kameras erfassen dabei die Positionen anderer Verkehrsteilnehmer. Gleichzeitig wird ein Notruf mit den medizinischen Daten und dem präzisen Standort des Autos an die Rettungszentrale abgesetzt. Facettenreiche Zielgruppe. Die Zielgruppe für SmartSenior sind alle älteren Menschen, sagt Mehmet Gövercin, stellvertretender Leiter der Forschungsgruppe Geriatrie der Charité. Gerade diese Zielgruppe benötigt nach seinen Worten intelligente, innovative Lösungen, denn: Je älter, desto individueller. Es gibt 55- Jährige, die einen Schlaganfall haben, und 80- Jährige, die Marathon laufen. An der Schnittstelle von Forschung und Praxis beschäftigt mit einem interaktiven Trainingssystem kann die Therapie zu Hause weitergeführt werden unterstützt durch den Therapeuten. Der interaktive Trainer wird auch im Feldtest erprobt. Aus seinem Klinik-Alltag weiß Gövercin, dass Senioren von Computer- und Kommunikationstechnik begeistert sind, wenn der Nutzen klar und verständlich ist: Ältere sind keinesfalls technophob. Ziel ist immer die Erhöhung der Lebensqualität der Senioren und der Erhalt ihrer Eigenständigkeit. Auch eine Senkung der Kosten für Krankenhausaufenthalte und damit die Entlastung der Krankenkassen wird angestrebt. Wie gut solche Ziele prinzipiell erreichbar sind, soll das SmartSenior-Projekt zumindest zum Teil beantworten. Gesamtkoordinator Balasch ist zuversichtlich, dass in dem dreimonatigen Feldtest umfassende Erkenntnisse über das Zusammenspiel der Komponenten und die Akzeptanz durch die Senioren gewonnen werden. Doch wenn das Forschungsprojekt im September 2012 beendet sein wird, warten noch viele formieren, einen Friseurtermin ausmachen, und natürlich das soziale Netzwerk ausbauen. So würde auch die fiktive Nutzerin Helga Hohmann nicht nur Kontakt zu ihrem Arzt über das SmartSenior-Portal halten, sondern auch zu ihrer Familie und Freunden. Hallo Helga, würde um 18 Uhr fröhlich eine Stimme aus dem Fernseher rufen. Auf dem Bildschirm erscheint dann das Gesicht ihrer Freundin Gerda. Kurz darauf teilt sich das Bild, auch ihr Bekannter Klaus Brecht und seine Frau tauchen auf, winken und lächeln in die Kamera. Seit sie SmartSenior nutzen, treffen sich die alten Freunde einmal in der Woche virtuell. Fast ist es, als säßen sie beisammen. Doch heute reicht ihnen das nicht und sie verabreden sich zum gemeinsamen Abendessen. Helga Hohmann streift eine Weste über, der niemand ansieht, dass sie mit Sensorik bestückt ist, ebenso wie ihre Armbanduhr. Sie verlässt ihre Wohnung mit einem guten Gefühl: Sie weiß, dass sie dank der Vernetzung in Sicherheit ist. Evelyn Runge 26 Pictures of the Future Herbst 2011 Pictures of the Future Herbst 2011 27

Lebensqualität in Städten Kommunikation Zukunftstauglich: Neue Bürokonzepte brauchen leistungsstarke Technologien. Deshalb treibt München die Glasfasererschließung massiv voran (rechts: OB Christian Ude und Kurt Mühlhäuser von den Stadtwerken). Das Büro im World Wide Web Künftig kommt die Arbeit zu uns, statt dass wir zur Arbeit gehen dank Hochgeschwindigkeitsnetzen, vernetzter Computer und einer robusten IT-Sicherheitsarchitektur. Auch in den Büros selbst werden feste Arbeitsplätze mehr und mehr flexiblen Arbeitszentren Platz machen. Jens Müller beginnt heute seinen Arbeitstag wie die meisten Pendler: im Stau. 60 Minuten braucht der Fahrzeugingenieur vom Starnberger See in sein Münchener Büro. Wenn ich an mei - ne Kollegin Marijke van Veen denke, sinniert er, werde ich ganz neidisch. Für Marijke aus der Design-Abteilung im Großraum Amsterdam ge - hört der Pendlerstau der Vergangenheit an. Sie hat keinen festen Arbeitsplatz, sondern geht in ein Smart Work Center, auch Co-Working Center genannt. Diese zum Teil firmeneigenen, aber auch privat betriebenen Büros zum Anmie ten gibt es inzwischen in vielen europäischen Städten, von Stockholm bis Madrid. Sie bieten modernste Einrichtungen für die Zusammenarbeit unter Kollegen, ob national oder internatio nal sowohl die Computerprogramme wie auch Räume für Videokonfe renzen und das gemeinsame Arbeiten an 3D-Daten. Marijke hat nur 500 Meter vom Wohnhaus bis zu ihrem heutigen Arbeitsplatz. Oft kann sie auch vom Homeoffice aus arbeiten, wenn nicht gerade Videokonferenzen mit Echtzeitpräsentationen auf dem Terminplan stehen. Arbeit und Leben wachsen stärker zusammen, fasst Dr. Wilhelm Bauer vom Fraunhofer- Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) den Trend dieser neuen Arbeitskultur zusammen. Aber das hängt entscheidend von den technischen Voraussetzungen ab. Im Ideal - fall ist das ein Glasfasernetz, das Daten mit einem Gigabit pro Sekunde (Gbit/s) zum Endkunden übertragen kann. Weniger als ein Zehntel oder ein Hundertstel dieser Datenrate erreichen Verbindungen per Very High Speed Digital Subscriber Line (VDSL) oder per DSL. Sogar im Mobilfunk sollen in Zukunft Datenraten von über hundert Megabit pro Sekunde (Mbit/s) übertragen werden ausreichend für Videokonferenzen mit hochaufgelösten Bildern. Optimal vernetzt. Für virtuelle Arbeitsräume braucht man vor allem einen vernetzten Computer ob Smart phone oder Desktop, ein Hochgeschwindigkeitsnetz und eine moderne IT-Sicherheitsarchitektur. Deshalb hat die deutsche Bundesregierung 2009 vorgegeben, dass bis 2014 drei Viertel der Haushalte über Anschlüsse mit Übertragungsraten von mindestens 50 Mbit/s verfügen sollen. Dies dürfte auch erreicht werden: Nach der im Juni 2011 von Cisco veröffentlichten Studie Global IP Traffic Forecast wird in Deutschland die Bandbreite von durchschnittlich zwölf Mbit/s in 2010 auf 46 Mbit/s im Jahr 2015 steigen. In der südkoreanischen Hauptstadt Seoul ist man heute schon bei 100 Mbit/s bis Ende 2012 strebt die Stadt ein Gbit/s an. Damit können sich nicht nur Filmbegeisterte Kinofilme schnell aus dem Internet herunterladen, sondern auch professio nelle Anwender können mit hochaufgelösten Bildern arbeiten etwa für das Fernstudium an Universitäten. Auch für die Übertragung der Bildsequenzen eines Com p u - ter tomographen braucht man bis zu einem Gbit/s, ebenso für die virtuellen 3D-Daten eines Automodells. Südkorea nimmt, wie fast alle Länder in Asien, neue Technologien in Rekordzeit an. So wurde erst 2009 das iphone im Land eingeführt, aber Ende 2011 soll es bereits 20 Millionen Smartphones geben bei 50 Millionen Einwohnern. Smartphone und Tablet-PC gehören zur Standardausstattung von Studenten: Sie können sich beispielsweise bereits von zu Hause aus ihren Platz in der Uni-Bibliothek sichern. Ein App zeigt ihnen in Echtzeit, in welchem Lesesaal noch ein Platz frei ist. Aber auch deutsche Städte stehen im internationalen Vergleich nicht schlecht da. So wollen die Stadtwerke München (SWM) bis Ende 2013 alle 32.000 Gebäude innerhalb des sogenannten Mittleren Rings mit Glasfasern erreichen: immerhin 350.000 Haushalte, die Hälfte aller Haushalte in München. Ein Viertel der Münchener Bürger kann jetzt schon auf Übertragungsraten bis 100 Mbit/s zugreifen, berichtet der Bereichsleiter Telekommunikation und Projektträger der Glasfasererschließung für München, Dr. Jörg Ochs. Damit gehören wir europaweit zu den schnellsten Städten. Daran haben sich die Ingenieure etwa bei BMW oder in der Siemens-Forschung in München-Perlach längst gewöhnt, denn für eine virtuelle Produktentwicklung via Internet brauchen sie die schnellsten Leitungen, die verfügbar sind. Für Firmen mit diesen Anforderungen, fügt Ochs hinzu, haben wir sogar redundante Zugänge installiert. Das heißt, jedes Firmen - gebäude verfügt über zwei räumlich getrennte Glasfaserleitungen, damit bei einem möglichen Ausfall gleich die zweite bereit steht. In den deutschen Städten ist die Infrastruktur recht gut, aber auf dem Land gibt es Nachholbedarf, sagt IAO-Direktor Bauer. Doch gerade dort könne man von einer leistungs fähigen Vernetzung besonders profitieren, wenn die Pendler nicht mehr so häufig in die Städte zum Arbeiten fahren müssten. Die bayerische Staatsregierung hat deshalb angekündigt, dass sie 100 Millionen Euro in die Förderung von schnelleren Glasfaserverbindungen in bayerischen Gemeinden investieren werde. In zersiedelten Gebieten, wo eine Glasfaserverkabelung zu teuer wäre, wollen Mobilfunkanbieter mit dem Nachfolger von UMTS, dem LTE-Standard (Long Term Evolution), eine überregionale Lösung anbieten. Damit sollen Geschwindigkeiten von über 100 MBit/s erreicht werden. Doch für den Durchbruch des Büros im World Wide Web braucht man noch mehr. Wenn sensible Daten versendet und auf fremdem Server gespeichert werden, ist die IT- Sicher heit entscheidend, erklärt Dr. Johann Fichtner, Leiter für IT-Sicherheit bei Siemens Corporate Technology. Deshalb entwickeln seine Teams Verschlüsselungs- und Eingabeprüfungstechnologien und eine Benutzerrechteverwaltung, die für Hacker kaum zu knacken sind. Darüber hinaus wird auch die Arbeitsweise selbst flexibler werden. Teams werden projektbezogen zusammengestellt und treffen sich standortunabhängig, etwa in den Co-working Centers. In diesem Sinne wird auch die neue Siemens-Zentrale in München mit dem Bürokonzept Siemens Office ausgestattet. Hier können sich Teams virtuell oder real in modernen Bürozonen treffen, die in Bezug auf Größe und Lebensqualität in Städten Interview Dr. Wilhelm Bauer (54) ist Direktor am Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) und am Institut für Arbeitswissenschaft und Technologiemanagement (IAT) in Stuttgart. Zugleich ist er Lehrbeauftragter für Arbeitsgestaltung im Büro an den Universitäten Hannover und Stuttgart. Als Mit-Initiator liegt ihm das Verbundprojekt Office 21 besonders am Herzen, wo es um die Frage geht: Wie wird sich die Büro- und Wissensarbeit künftig entwickeln?. Ausstattung sehr flexibel je nach aktuellem Bedarf eingerichtet werden (S.18). 25. September 2015: Jens Müller hat sich für 10 Uhr von zu Hause aus im virtuellen Meetingroom angemeldet. Marijke van Veen sitzt noch in der Küche ihrer Freundin Christiane, die am Tag zuvor ihren Geburtstag gefeiert hat. Heute soll das Lifting eines kleinen Elektroflitzers besprochen werden. Ihre neueste Interieur-Idee hat sie auf ihrem Tablet-Rechner dabei und wird sie den Kollegen gleich zeigen an gesichts der durchzechten Nacht allerdings lieber ohne Videokonferenz. Klaudia Kunze Die Arbeitswelt wird bunter Die Medien erfuhren durch die Digitalisie - rung einen dramatischen Wandel. Welche Branche wird als nächste betroffen sein? Bauer: Die Digitalisierung der Arbeitswelt wird in jedem Bereich und in jeder Branche voranschreiten. Natürlich in unterschiedlichem Maße: Ein Arzt muss seinen Patienten irgendwann persönlich sehen und kann ihn nicht allein durch Ferndiagnose heilen. Viel wichtiger sind die intra-individuellen Unterschiede. Was meinen Sie damit? Bauer: Darunter versteht man lebensphasenabhängige Rahmenbedingungen. Inwieweit sich Änderungen im Arbeitsumfeld umsetzen lassen, hängt entscheidend vom Faktor Mensch ab. So spricht man heute beispielsweise von den Digital Natives, den jungen Menschen, die jede technische Errungenschaft gleich in ihr Leben und Arbeiten integrieren, und von den Digital Immigrants, also der älteren Generation, die feste Arbeitsplätze und persönliche Besprechungen gewohnt ist. Was bedeutet das für die Arbeitswelt? Bauer: Die Arbeitswelt wird bunter! Berufsbilder sind nicht mehr fix, weil sich die Tätigkeitsfelder individualisieren je nach Können und Einsatz der Menschen. Auch das individuelle Arbeitsumfeld verändert sich nach Bedarf. Es gibt jetzt schon die BYOD-Konzepte: Bring your own device. Jeder bringt dabei seine eigene Ausstattung mit. Als selbstbewusste, dynamische und hochqualifizierte Arbeitskraft bekomme ich also von meinem Unternehmen ein Budget und kaufe mir davon meine favorisierten Arbeitsgeräte selbst. Zum Beispiel: Arbeite ich lieber mit Laptop und BlackBerry oder doch eher mit iphone oder ipad, ich entscheide es selbst. Das Interview führte Klaudia Kunze. 28 Pictures of the Future Herbst 2011 Pictures of the Future Herbst 2011 29

Lebensqualität in Städten Lebenswelten in Jakarta Technik, die Hoffnung gibt: Bereiche wie Wasser, Abfallmanagement und Verkehr beeinflussen die Lebensqualität in Jakarta. Im Slum von Cawang liefert ein Wasserfilter von Siemens den Bewohnern reines Trinkwasser (unten). Leben in Asiens Paradiesfrucht schen Siemens-Ingenieur Rhett Butler entwickelt und arbeitet mit ultrafeinen Membranfiltern, die alle Schwebstoffe und Krankheitserreger abscheiden (S.37). Damit kann er pro Tag 10.000 Liter Wasser in hochreines Nass verwandeln wartungsarm und ohne Einsatz von Chemie. Oyo deutet auf eine betonierte Plattform, die zwischen den Hütten und wilden Bananenstauden in den Boden eingelassen ist. Darauf steht der anderthalb Meter hohe zylinderförmige Skyhydrant, daneben ein großer Plastiktank mit Wasserhahn. Ein Schlauch verbindet den Tank mit dem Filter. Dazwischen hängt eine Wäscheleine. 180 Familien zapfen hier umsonst Wasser, sagt er. Benutzt wird es jedoch nicht nur zum Trinken. Einige Meter entfernt ist ein zweiter Hahn angebracht eine alte Frau sitzt auf dem müllbedeckten Boden und wäscht darunter ihr Geschirr. Eine weitere Leitung führt zu einem Holzverschlag. Unsere Dusche, erklärt Oyo stolz. Das reine Nass wird aus Grundwasser gewonnen, das eine Elektropumpe aus 12 Metern Tiefe zum Skyhydranten befördert. Alternativ kann die Anlage auch mit Regenwasser betrieben werden. Oyo ist dafür zuständig, dass die kleine Frischwasserfabrik stets ein- Sieben Millionen Fahrzeuge. Nur wenige Kilometer von Oyos Hütte entfernt weicht das Elendsviertel einem anderen Jakarta: Im Sonnenlicht blitzende Wolkenkratzer, umtost von einer scheinbar unendlichen Blechlawine, bestimmen hier das Bild der großen Durian, wie die Megacity nach der exotischen, aber streng riechenden Frucht genannt wird. Ihrem Spitznamen macht die Stadt alle Ehre: Knapp sieben Millionen Fahrzeuge sind in Jakarta unterwegs, und jeden Tag kommen über 1.100 neue Autos und Motorräder hinzu. Diesen Ansturm können die hoffnungslos verstopften Straßen schon längst nicht mehr bewältigen. Der Dauerstau verursacht zudem hohe Kosten: Nach einer Untersuchung des Umweltexperten Dr. Firdaus Ali von der University of Indonesia belaufen sich die wirtschaftlichen Schäden der Blechlawinen jährlich auf rund drei Milliarden US-Dollar nur wegen des Verlustes produktiver Arbeitszeit und auch weil die Gesundheitskosten aufgrund der schlechten Luftqualität steigen. U-Bahnen oder Metros, die Abhilfe schaffen können, gibt es in Jakarta bislang nicht. Nur ein Bussystem lindert seit 2004 den Verkehr etwas. Auch die Reise zu Fuß gestaltet sich schwierig Bürgersteige und Fußgängerampeln sind meist Mangelware. Mit rund zehn Millionen Einwohnern und knapp 14.000 Menschen pro Quadratkilometer ist Jakarta eine der am dichtesten bevölkerten Städte Asiens. Der Graben zwischen arm und reich ist in Indonesien besonders groß. Lebensqualität ist hier vor allem eine Frage der Perspektive. Der kleine Junge steht in einem Abwassergraben. Auf dem Arm hält er ein Entenküken und presst es vorsichtig an seine schmale Brust. Seine Füße verschwinden in einer Mischung aus Schlamm und alten Plastiktüten. Hinter ihm erstreckt sich ein verwahrloster Friedhof. Zwischen den Gräbern hat sich Müll angesammelt, dazwischen picken Hühner im Staub. Kinder benutzen den Ort als Spielplatz und obwohl sie ausgelassen um die Lehmhügel tollen, klingen ihre Stimmen in der drückenden Mittagshitze wie in Watte gepackt. Vom nahen Fluss weht eine faulige Brise herüber. Sie vermischt sich mit dem Nelkengeruch der Kretek-Zigaretten, die ein paar Männer vor ihren zusammengeschusterten Hütten rauchen. Noch herrscht eine bizarre Idylle im Slum von Cawang in Indonesiens zehn Millionen- Metropole Jakarta. Doch bald, wenn die Regenzeit beginnt und der Monsun mit aller Macht seine Wassermassen ablädt, wird sich der kleine Fluss in einen reißenden Strom verwandeln, und das Armenviertel wird im Elend versinken. Hunderte Menschen werden dann ihr improvisiertes Obdach verlieren und wenn es ganz schlimm kommt wie bei der großen Flut im Jahr 2007 auch Dutzende ihr Leben. Der Friedhof wird wieder Zuwachs bekommen, aber die Menschen in Cawang nehmen es mit Gelassenheit. Wir sind es gewohnt, jeden Tag vor existentiellen Fragen zu stehen, sagt Oyo, der Slum-Sprecher. Und wir haben gelernt, uns der Situation anzupassen. Der 55-Jährige mit dem verhärmten Gesicht kümmert sich um die Belange der Nachbarschaft, ist Ansprechpartner und Sprachrohr der Bewohner zugleich. Seit seiner Geburt wohnt er im Viertel und ist mit den Problemen der Menschen vertraut. Wasser war immer die größte Bedrohung, sagt Oyo und meint damit nicht nur die alljährlichen Überschwemmungen. Mit den Fluten werde man fertig, die Leute würden sich zur Not auf die Dächer ihrer Hütten retten und nach ein paar Stunden sei der Spuk meist vorüber. Doch sauberes Trinkwasser wäre bislang das ganze Jahr über ein Problem gewesen. Die Familien holten ihr Wasser vom Fluss oder bohrten sich improvisierte Brunnen, erzählt Oyo. Aber selbst das Grundwasser ist gelb und stinkt. Nach der Flutkatastrophe, die über 60 Prozent Jakartas überschwemmt und Cawang Pegelstände von sechs Metern über Normal beschert hatte, half nicht einmal mehr abkochen. Viele von uns wurden schwer krank, erinnert er sich. Doch die Situation im Slum von Cawang hat sich seitdem gebessert: Eine kleine Wasseraufbereitungsanlage, die die Hilfsorganisationen Susila Dharma Indonesia und Sky- Juice Foundation nach der Jahrhundertflut gespendet hatten, schafft nun Abhilfe. Der sogenannte Skyhydrant wurde vom australi- Eine Erfahrung, die auch Vini Adini tagtäglich aufs Neue macht. Wie Oyo ist sie in Jakarta geboren und hat hier den Großteil ihres Lebens verbracht. Doch im Gegensatz zu den Slumbewohnern wohnt sie in einem normalen Haus, in einem Viertel, das von den Fluten nicht betroffen ist. Für die 25-Jährige stellt sich die Frage nach Lebensqualität bereits um sechs Uhr morgens, wenn sie sich auf den Weg zur Arbeit macht. Für den Weg brauche ich über zwei Stunden, sagt Vini. Bei normalen Verkehrsverhältnissen wären es nicht einmal 30 Minuwandfrei läuft. Einmal im Monat reinigt er sie, indem er die Filter mit klarem Wasser rückspült. Und seit die Anlage im Jahr 2007 aufgebaut wurde, hat sie problemlos funktioniert. Für die Slumbewohner ist der etwa 3.500 US- Dollar teure Skyhydrant mehr als nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Denn die paar Liter sauberes Wasser pro Tag hätten das Leben der Menschen in Cawang entscheidend verbessert, meint Oyo. Lebensqualität bedeutet für uns vor allem Gesundheit, sagt er und steckt sich genüsslich eine Nelkenzigarette an. 30 Pictures of the Future Herbst 2011 Pictures of the Future Herbst 2011 31

ten. Weil es keinen öffentlichen Nahverkehr gibt, hat Vinis Nachbarschaft ein Carsharing- Modell organisiert. Die letzten Meter geht sie zu Fuß, mit Mundschutz wegen des Smogs. Wenn ich in 20 Jahren aufwache, würde ich gerne Bäume sehen statt Stau, wünscht sie sich. Ich würde gerne einmal im Park unter einem Baum sitzen und ein Buch lesen. Doch mangels Grünflächen verbringt Vini wie viele andere Menschen in Jakarta ihre Freizeit in riesigen Einkaufzentren. Diese Malls sind wie kleine klimatisierte Muster-Städte, in denen man einkaufen, flanieren, essen und ins Kino gehen kann. 70 dieser Vergnügungszentren gibt es bereits in Indonesiens Hauptstadt, Tendenz stark steigend. Und da man sie nur per Auto erreichen kann, sind die Malls nach Angaben der lokalen Polizeibehörde mittlerweile zum Hauptgrund für den Dauerstau gebeikommen, sagt Handhayani. Denn sobald es sich die Menschen leisten können, kaufen sie sich ein Motorrad oder Auto und erhöhen somit weiter den Verkehr. Das Problem sei, dass ihnen wegen des unzureichenden öffentlichen Nahverkehrs oft gar nicht anderes übrig bleibe und hier, so Handhayani, müssen wir ansetzen. Kostspielige Infrastruktur. Bis 2016 sollen die Bürger in Jakarta zum ersten Mal U-Bahn fahren können. 2012 sollen die Arbeiten für den ersten, rund 15 Kilometer langen Abschnitt beginnen, der künftig stückweise ausgebaut werden soll. Auch den Busverkehr will die Stadtverwaltung ausweiten, darüber hinaus ist eine City-Maut im Gespräch. Derartige Infrastrukturprojekte sind für Jakartas eher klammen öffentlichen Geldbeutel natürlich Dauerstau: Knapp sieben Millionen Fahrzeuge sind in Jakarta unterwegs täglich kommen 1.100 hinzu. Um den Verkehr zu lindern, sollen die Bürger in Jakarta bis 2016 zum ersten Mal U-Bahn fahren können. worden. Die Menschen flüchten dort in eine surreale Welt, sagt Vini. Aber diese steht nicht jedem offen. Leute wie Oyo etwa scheitern an den Sicherheitskontrollen und müssen draußen bleiben. Ihnen bleibt nur die harte Realität. Mit der Realität in der großen Durian ist Sarwo Handhayani quasi von Berufs wegen bestens vertraut. Die gebürtige Jakarterin leitet die lokale Stadtentwicklungsbehörde der Megacity, das Development Planning Board. Wenn Handhayani aus ihrem Bürofenster im Business-Distrikt blickt, erwartet sie ein ähnliches Bild wie Vini Adini und auch ihr sind die schier endlosen Auto-Karawanen längst ein Dorn im Auge. Ohne effektiven öffentlichen Nahverkehr werden wir dem Stau nur schwer sehr kostspielig, gibt Handhayani zu. Die Stadtverwaltung setze daher unter anderem auf Public Private Partnerships mit Firmen oder auf Finanzierungsmodelle der Weltbank. Neben dem Verkehrschaos bereiten Handhayani auch die jährlichen Überflutungen Sorgen. Über 20 Prozent Jakartas liegen unterhalb des Meeresspiegels, dazu fließen 13 Flüsse durch das Stadtgebiet, erklärt sie. Außerdem sind infolge des Klimawandels die Wetterextreme in der Regenzeit gestiegen, was das Problem noch verschärft. Auch die Armut trägt ihren Teil dazu bei. So sackt Jakarta jedes Jahr um einige Zentimeter ab eine Folge der unkontrollierten Grundwasserentnahmen, etwa in den Slums. Gerade in den Elendsvierteln sind zudem die Drainage-Kanäle oft mit Plastiktüten und anderem Müll verstopft bei starkem Monsunregen können die Wassermassen nur schlecht abfließen. Wir werden mehr Rückhaltebecken bauen und die Flüsse erweitern, damit sie mehr Wasser aufnehmen können. Darüber hi- naus wollen wir einen neuen Damm an der Küste errichten, verspricht Handhayani. Menschen wie Oyo könnten dann künftig in Harmonie mit dem Wasser leben. Trotz der großen Herausforderungen, vor denen ihre Stadt steht, hat Handhayani auch ein Auge für die schönen Seiten der großen Durian : Jakarta ist eine sehr pluralistische Stadt, mit vielen verschiedenen Rassen und Religionen, die trotz der Unterschiede gut zusammenleben. Für die Zukunft der Millionenmetropole sieht sie grün bis 2030, so Handhayani, sollen die Emissionen um 30 Prozent gesenkt werden. Und auch Bäume und Grünflächen, die sich Vini Adini wünscht, sollen dann verlorenes Terrain zurückerobert haben. Fahrplan für eine grüne Zukunft. Wie der Fahrplan in solch eine bessere Zukunft aussehen könnte, hat Handhayanis Behörde zusammen mit der Deutschen Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit und Siemens untersucht. In der Studie Jakarta 21 haben die Partner Indonesiens Hauptstadt mit Metropolen wie Paris und New York verglichen und daraus Empfehlungen abgeleitet, wie sich Jakarta bis zum Jahr 2050 in eine Weltklasse- Megacity verwandeln könnte. Demnach müssten jährlich etwa 1,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts Indonesiens in die Entwicklung Jakartas investiert werden, um das Ziel zu erreichen. Derzeit erbringt die Stadt rund 16 Prozent der indonesischen Wirtschaftsleistung. Davon würde nicht nur die Hauptstadt profitieren, sondern auch das gesamte Hinterland eine gut angelegte Investition, glauben die Stadtplaner, denn der Großraum Jakarta mit seinen drei Satellitenstädten soll mittelfristig zu einer einzigen gewaltigen Megacity zusammenwachsen. 27 Millionen Menschen sollen sich dann in Jabodetabek (Jakarta, Bogor- Depok, Tangerang, Bekasi) drängen. Dass man in Indonesiens Metropole noch an einer nachhaltigen Zukunft basteln muss, hat auch eine Studie der Economist Intelligence Unit in Auftrag von Siemens ergeben. Laut des Asian Green City Index hat Jakarta vor allem noch in den Bereichen Wasser und Abfallmanagement Nachholbedarf, wohingegen sich die Megacity bei Energiesparprogrammen bereits positiv von anderen asiatischen Städten abhebt. Oyo und seine Familie sehen die Entwicklung mit Gelassenheit. Große Veränderungen erwarten sie zunächst nicht, und wenig Verkehr und viel Grün wuchernde Bananenstauden, wenn auch mit Abfall bedeckt haben sie schon heute im Slum von Cawang. Eine künftige Megacity namens Jabodetabek würde ihnen vor allem eines bringen, ist sich Oyo sicher: eine Menge neuer Nachbarn. Florian Martini Lebensqualität in Städten Stadtentwicklung in Indien Gegensätze: In der 14-Millionen-Metropole Mumbai treffen Arm und Reich aufeinander. Für eine nachhaltige Entwicklung müssen die Städte auf ganzheitliche Konzepte setzen. Siemens kann hierbei helfen. Indiens Metropolendämmerung Indien gehört zu den am schnellsten wachsenden Schwellenländern der Welt. Doch damit der Aufschwung nachhaltig wird, müssen Indiens Städte sich neu erfinden. Das Dach über Laxmi Chinnoos Kopf ist eine Autobrücke, die über die nahen Bahngleise führt. Wenige Meter entfernt rattern Züge in Richtung von Mumbais Bahnhof Chuna Bhatti. Die Mittvierzigerin lebt in einem Rechteck aus festgestampfter Erde. Kleine Lehmwälle markie - ren auf dem Boden, wo ihre Parzelle endet und die ihrer Nachbarn beginnt. Seit drei Jahren haust Laxmi Chinnoo hier, gemeinsam mit ihren drei Töchtern und ihrer alten Mutter. Schlafen, kochen, waschen, lesen ihr ganzes Leben spielt sich im Freien ab. Ihre Privatsphäre beschränkt sich auf einen aus gespannten Drähten und aufgehängten Teppichen gebildeten Verschlag, in dem die Frauen sich umziehen. Laxmi Chinnoo ist eine fleißige Frau. Sie hat zwei Jobs als Haushaltshilfe in bessergestellten Familien der 14-Millionen-Metropole. Die eine bezahlt ihr 500 Rupien im Monat rund 11 US- Dollar, die andere etwa sieben Dollar. Das Einkommen reicht zum Essen und um die Mädchen zur Schule zu schicken. Als die Familie vor einigen Jahren vom Land in die Stadt zog, hatte sie noch ein Zimmer in einer nahen Slum- Siedlung gefunden, doch die Behörden rissen die Behausungen ab und stellten Laxmi Chinnoo vor ein Dilemma: Sollte sie obdachlos in der Nä - he ihrer Arbeit bleiben, oder in ein weiter entferntes Squatterviertel ziehen und einen Großteil ihres Gehalts für den Transport ausgeben? Sie entschied sich fürs Leben unter der Brücke. Das Schicksal von Laxmi Chinnoo, das der US-Journalist Robert Neuwirth in seinem 2005 erschienenen Buch Shadow Cities beschreibt, ist die Alltagsrealität vieler Millionen Inder. Sie zu verändern, stellt das Land vor enorme Herausforderungen. Denn Indiens Bevölkerung wächst rapide, vor allem in den Städten. Zugleich wird schnell gewaltiger Wohlstand geschaffen allerdings nicht für alle: Der Unterschied zwischen Arm und Reich ist dramatisch. Um eine nachhaltige Entwicklung zu schaffen, müssen vor allem die Städte sich neu erfinden. Indiens Städte bleiben weit hinter ihrem Potenzial zurück, sagt Dr. Shirish Sankhe, Direktor der Unternehmensberatung McKinsey & Company in Mumbai. Das ist eine schwierige Situation, aber mit der richtigen Politik sind die Probleme zu lösen. In einer breit angelegten Studie mit dem Titel India s Urban Awakening haben Sankhe und seine Kollegen untersucht, welche Wachstumspotenziale in Indiens Städten schlummern und wie sich diese wecken lassen ein Thema, das auch im Zentrum des Symposiums Future Dialogue stand, das von Siemens und der Max-Planck-Gesellschaft Ende September 2011 in Neu Delhi veranstaltet wurde. Die Herausforderung: Nach Angaben der Vereinten Nationen leben heute über 1,2 Milliarden Menschen in Indien, und ihre Zahl steigt rapide. Von 1950 bis 1990 wuchs Indiens Bevölkerung von 371 auf 873 Millionen Menschen, seitdem kamen noch einmal 350 Millionen hinzu. Bis 2030 prophezeit die UN weitere 300 Millionen, insgesamt sind es dann über 1,5 Milliarden. Die Zahl der Inder im arbeitsfähigen Alter wird dann rund 270 Millionen höher sein als heute. Ihre Jobs werden sie überwiegend in Städten suchen. Obwohl bisher erst ein Drittel der Inder in urbanen Regionen leben, werden dort mehr als zwei Drittel der Wirtschaftsleistung generiert. Wegen massiver Landflucht dürften Städter 2030 über 40 Prozent der Bevölkerung ausmachen, prognostiziert McKinsey. 68 Städte werden dann mehr als eine Million Einwohner haben, und in sechs Megacities werden sogar mehr als zehn Millionen Menschen leben. 32 Pictures of the Future Herbst 2011 Pictures of the Future Herbst 2011 33

Für Indiens Entwicklung ist das grundsätzlich positiv. Denn Städte sind Jobmaschinen. Infrastrukturmaßnahmen, Hausbau, Bildung, Unterhaltung und Dienstleistungen treiben die Wirtschaft an. Auch aufgrund der starken Dynamik der Städte dürfte sich Indiens Bruttoinlandsprodukt bis 2030 auf 5.060 US-Dollar pro Kopf vervierfachen und durch gute Planung könne das BIP um ein weiteres Drittel steigen, haben McKinsey-Analysten berechnet. Doch dafür muss sich viel ändern. Bisher sind Indiens Städte mehr gewuchert als gewachsen. Wie Laxmi Chinnoo hausen viele Menschen im Freien oder in Siedlungen, die sie auf ungenutztem Land errichten, oft ohne Anschluss an Elektrizität, Wasserleitungen oder Kanalisation, zumeist am Rand der Legalität. Obwohl viele Slumbewohner als Fahrer, Putzfrauen oder Kinderbetreuer arbeiten, werden sie als asoziale Kriminelle gesehen, sagt Neuwirth, der selbst längere Zeit in Mumbais Squatterviertel Sanjay Gandhi Nagar wohnte. Egal ob tisch völligen Stillstand bedeuten würde. Neben dem Verlust an Lebensqualität bedeutet das auch erhebliche wirtschaftliche Einbußen, vom Treibstoffverbrauch über verlorene Arbeitszeit bis zu den Kosten des Gesundheitssystem infolge der Luftverschmutzung. Indien braucht nicht nur mehr Straßen, sondern auch ein völlig neues Verkehrskonzept, das den öffentlichen Nahverkehr in den Mittelpunkt stellt, sagt Sankhe. Pro Jahr würden 19.000 Kilome - ter neue Straßen benötigt und bis zu 400 Kilometer neue U-Bahn-Strecken das ist 20-mal mehr als im letzten Jahrzehnt gebaut wurde. Zudem braucht Indien jährlich 700 bis 900 Millionen Quadratmeter neue Wohnfläche. Das entspricht zwei Städten von der Größe Mumbais. Der Wasserverbrauch wird pro Kopf und Tag um 45 Liter steigen. Und der Energiekonsum dürfte sich binnen zehn Jahren verdoppeln. Diese Herausforderungen können Indiens Städte nur bewältigen, wenn sie auf mo dernste Technologie zurückgreifen, sagt Infrastruktur-Bedarf: Indiens Städte benötigen Investitionen in Höhe von 1,2 Billionen US-Dollar (oben: Mumbai). Menschen als Müllsammler oder in einer Fabrik arbeiten, egal ob sie ihren eigenen Straßenstand betreiben oder als Haushälter arbeiten sie alle sollten mit Respekt und Würde behandelt werden. Ganzheitlicher Ansatz. Letztlich sind Metropolen, die von Elendsquartieren geprägt sind, auch für wohlhabende Bewohner nur begrenzt lebenswert. Indien braucht für seine Städte einen ganzheitlichen Ansatz, sagt Sankhe. Ein zentrales Element dabei sei der Bau moderner Infrastruktur. In den kommenden zwei Jahr - zehnten benötigen Indiens Städte Investitionen von insgesamt 1,2 Billionen Dollar. Das bedeutet, dass die durchschnittlichen Pro-Kopf- Investitionen in den Städten von derzeit 17 auf 134 Dollar angehoben werden müssen. Beispiel Verkehr: Für einen gut fließenden Verkehr dürfen auf einer ein Kilometer langen Fahrspur höchstens 112 Autos gleichzeitig unterwegs sein. Vergleicht man das Wachstum des indischen Automarktes mit dem Ausbau des Straßennetzes, könnten aber 2030 bereits 610 Autos auf einen Kilometer kommen was prak- Sankhe. Infrastrukturlösungen wie die von Siemens können dazu einen wichtigen Beitrag leisten. Schon heute ist Siemens in Indien in vielen Bereichen aktiv. So liefert das Unternehmen Nahverkehrszüge für Mumbai, Neu Delhi, Kalkutta und Chennai. Siemens-Gebäudetechnologie hilft, Neubauten energieeffizienter zu machen, etwa Mumbais Tata-Tower, und im Mumbaier Wasserwerk Panjrapur hat Siemens Reinigungsanlagen installiert. Infrastruktur ist jedoch nicht alles. Laut Sankhe brauchen Indiens Städte eine effektivere Verwaltung und politische Reformen, etwa die Direktwahl der Bürgermeister. Auch müsse der Staat in günstige Wohnmöglichkeiten für Arme investieren auf die richtige Art und Weise. Regierungen müssen mit den Gemeinschaften der Slumbewohner ko operieren und mit ihnen ihre Zukunft planen, so Neuwirth. Lebenswert sind Städte nämlich nur, wenn sie für alle ihre Bewohner lebenswert sind. Dazu gehört neben Indiens neuen Eliten auch die Familie von Laxmi, die eines Tages hoffentlich wieder ein besseres Dach über dem Kopf haben wird. Bernhard Bartsch Lebensqualität in Städten Interview Eine glänzende Zukunft für Städte mit der richtigen Planung Dr. Joan Clos (62) leitet seit Oktober 2010 das UN-Siedlungsprogramm HABITAT. Clos studierte Medizin und arbeitete zunächst als Leiter des kommunalen Gesundheitsamts in Barcelona. Von 1983 bis 1987 engagierte er sich als Stadtrat für besseres Städtemanagement und Stadterneuerungsprojekte. Während seiner Zeit als Bürgermeister von Barcelona (1997 bis 2006) wurde mit dem Projekt Barcelona@22 die Industriezone der Stadt saniert. Clos bekleidete verschiedene internationale Ämter, unter anderem war er Präsident der World Association of Cities and Local Authorities, Vorsitzender des UN-Beirats für Lokalbehörden und Vizepräsident der United Cities and Local Governments. Was macht eine Stadt in Ihren Augen lebenswert und nachhaltig? Clos: Es gibt drei wichtige Punkte: Planung, Planung, Planung! Priorität hat die Lebensqualität der Bürger. Das reicht von der Grundversorgung mit Wasser und Strom über effektive Transport- und Kommunikationsnetze bis zum öffentlichen Raum mit seinen kulturellen Wechselwirkungen. Eine ideale Stadt gibt es nicht. Jede hat ihren eigenen Charakter, denn Städte sind lebendige und atmende Wesen. 2050 sollen fast 6,5 Milliarden Menschen in Städten leben so viele wie heute auf der ganzen Erde. Welche Probleme sind am dringlichsten? Clos: Städte kreieren Wohlstand und können die Wirtschaft eines ganzen Landes antreiben. Das sollten wir uns zunutze machen. Die höchsten Raten an Verstädterung sehen wir in Afrika, Asien und Südamerika. Die Bevölkerung dort ist sehr jung; in manchen Städten Afrikas sind sechs von zehn Einwohnern unter 35 Jahren und alle wollen arbeiten. Eines der Hauptprobleme ist also, Arbeitsplätze zu schaffen. Ein anderes die wuchernde Ausdehnung der Städte. Nur mit einer starken Politik kann eine Regierung das Wachstum managen. Ressourcen sind immer eine Herausforderung, aber die Ablehnung, sich um Fragen von Wasser, Sanitäranlagen, Nahverkehr und Wohnungen zu kümmern, wird dazu führen, dass mehr Menschen in Slums leben nicht weniger. Wie kann ein Unternehmen wie Siemens helfen, Stadtplanung und Lebensbedingungen zu verbessern? Clos: Neue Technologien eröffnen neue Möglichkeiten für grünes Bauen und den Nahverkehr. Private Unternehmen sind für diesen Prozess hervorragend aufgestellt, falls eine Stadt gute Investitionsbedingungen bietet. Wo es geht, arbeitet UN-Habitat mit Firmen wie Siemens zusammen. Als Mitglied unserer World Urban Campaign fördert Siemens beispielsweise gemeinsam mit UN-Habitat weltweit nachhaltige Stadtentwicklung. Ist es möglich, die Umwelt in Städten dauerhaft weniger zu beanspruchen, während zugleich Weltbevölkerung, Konsum und Wirtschaft ungebremst wachsen? Clos: Grüne Wirtschaft bietet eine Fülle an Chancen, die noch nicht völlig ausgeschöpft wurden und umweltfreundliche Politik ist wirtschaftlich außerordentlich sinnvoll. So reduziert ein verdichtetes Stadtgebiet mit guter Nahverkehrs- und Kommunikationsanbindung nicht nur die Emission von Treibhausgasen, sondern erlaubt auch, Geschäfte schnell und effizient zu erledigen. Eine nachhaltige Entwicklung soll per Definition umweltbewusst und zugleich stark mit wirtschaftlicher Entwicklung verknüpft sein. Dharavi in Mumbai gilt als der größte Slum Asiens. Vielfach gründen auch die Einwohner von Slums kleine Unternehmen, um sich ein besseres Leben zu schaffen. Wie können Slumbewohner am Dialog über die Zukunft der Städte teilnehmen? Clos: In Indien und Südafrika haben sie Organisationen gegründet, die sich auf ihre Identität als Slumbewohner stützen; dies macht deutlich, dass soziale und politische Anerkennung notwendig ist. In Indien haben sich diese Vereinigungen in den vergangenen zwei Dekaden stark für die Gegenwart und Zukunft der indischen Städte engagiert. UN-Habitat fand heraus, dass beispielsweise Mikrokredite nicht nur die Produktionsleistung der Armen fördern, also nicht nur für die wirtschaftliche Entwicklung wichtig sind, sondern auch die politische Teilhabe vorantreiben. Lokales Wissen verbreitet sich so in den Netzwerken und fördert die Anerkennung als soziale, wirtschaftliche und politische Interessensvertreter. Kann Indien ein Vorbild werden für die Entwicklung von Megastädten im 21. Jahrhundert? Clos: Indien hat zwei Städte mit mehr als zwanzig Millionen Einwohnern und eine mit mehr als zehn Millionen. Diese großen Städte verschmelzen mit kleineren zu Siedlungen gewaltigen Ausmaßes. Zweifellos sind diese großen Ballungsgebiete die neuen Wirtschaftsmotoren der Welt und sie werden neue städtische Hierarchien hervorbringen. Umfang, Reichweite und Komplexität dieser Räume verlangen eine innovative Koordination von Stadtmanagement und Landesregierung. Indien kann nur dann ein Vorbild werden, wenn es bereits heute beginnt, sich dieser Aufgabe zu stellen. Was erwarten und erhoffen Sie sich von Veranstaltungen wie dem Future Dialogue, der dieses Jahr in New Delhi stattfand? Clos: UN-Habitat ist reich an Expertenwissen über Städte, aber verantwortlich für die Stadtentwicklung sind die Stadtregierungen. Sie können jedoch nicht erfolgreich sein ohne die Unterstützung durch den privaten Sektor und die Zivilgesellschaft. Treffen wie der Future Dialogue bringen alle Akteure zusammen, um zu diskutieren und Best-practice-Beispiele auszutauschen. Und sie spielen eine wichtige Rolle, um Stadtentwicklung auf der weltweiten Agenda zu halten. Beim Future Dialogue treffen sich Wissenschaftler, Ökonomen und Politiker. Wie kann man die Einwohner der Megastädte integrieren? Clos: Die Beteiligung der Bevölkerung ist sehr wichtig, wenn man nachhaltige Stadtplanung betreiben und implementieren will. Eine der besonderen Stärken von UN-Habitat ist ja die Feldarbeit, über unsere lokalen Partner, kommunale Initiativen und Nicht-Regierungs-Organisationen. Man darf die Zusammenarbeit von Angesicht zu Angesicht bei der Stadtentwicklung nicht unterschätzen, auch wenn soziale Netzwerke und das Internet viele Veränderungen gebracht haben. Zum Schluss: Was ist Ihre Vision von der Stadt der Zukunft im Jahr 2050? Clos: Ich blicke optimistisch in die Zukunft, denn es gibt einen aufrichtigen Willen, Verstädterung positiv zu gestalten. Zu lange wurde Urbanisierung als etwas Schlechtes betrachtet, was verlangsamt oder gar ganz gestoppt werden sollte. Das aber ist unmöglich. Jetzt beginnen die Menschen, die Stadt als positive Macht für Veränderung zu begreifen um Maßnahmen gegen den Klimawandel zu ergreifen und die sozioökonomische Entwicklung voranzutreiben. Mit der richtigen Planung können wir eine glänzende städtische Zukunft sicherstellen. Das Interview führte Evelyn Runge. 34 Pictures of the Future Herbst 2011 Pictures of the Future Herbst 2011 35

Schätze im Abfall: Wertstoffe im Müll sind in armen Ländern oft eine Lebensgrundlage. Aus Werbeplanen können etwa modische Taschen werden (unten). Lebensqualität in Städten Abfallrecycling Einkommen aus Müll reichen. Bis Ende 2010 arbeiteten 200 Personen davon 40 Prozent Frauen als Sammler im Projekt. Durch ihre Arbeit kamen 2010 rund 7.000 Tonnen Wertstoffe zurück in den Wirtschaftskreislauf, statt als Abfall auf den Deponien zu landen, sagt Hütter. Damit das Projekt funktioniert, müssen richtige Anreize gesetzt werden. So erhalten die Abfallsammler Arbeitskleidung, einen Handkarren und Informationen über gefährliche Abfälle. Ebenso wichtig ist ein verlässliches Einkommen von etwa sechs US-Dollar pro Tag sowie die Verbesserung des sozialen Ansehens. Zudem fördern die Projektpartner Unternehmerpersönlichkeiten durch Weiterbildung. Es gibt bereits Erfolgsgeschichten wie die der Grafikdesignerin Daniela Bolívar aus La Paz, betont Nabholz. Sie leite mittlerweile ein kleines Recycling-Unternehmen, das gebrauchte Werbe-planen aus Plastik zu Taschen und Accessoires verarbeitet (Bild unten). Lebensqualität in Städten Sauberes Wasser Durst löschen ohne Angst: Vor Verunreinigungen und vielen Krankheitserregern schützt der Sky- Hydrant. Er produziert gefiltertes, klares Wasser. Der himmlische Wasserspender Weltweit bestreiten Menschen ihren Lebensunterhalt mit dem Sammeln, Sortieren und Verwerten von Großstadt-Müll. Die Siemens Stiftung hilft, ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern. Wasser, Wasser überall, und nirgends ein Tropfen zu trinken, schrieb der Dichter Coleridge Ende des 18. Jahrhunderts noch heute ein wichtiges Thema: Rund 900 Millionen Menschen haben keinen Zugang zu Trinkwasser. Abhilfe schafft vielerorts das SkyHydrant-System mit Filtermembranen von Siemens. An den Stadträndern von Cochabamba, El Alto, La Paz und Santa Cruz sind die wilden Müllhalden unübersehbar. Müllsammler oft Mütter mit Kindern durchsuchen hier mit bloßen Händen und Müllsäcken auf dem Rücken die stinkenden Berge nach Verwertbarem. Über 3.000 Tonnen Abfall fallen täglich in diesen vier Großstädten an das Recyclingpotenzial dafür schätzt die Schweizer Entwicklungsorganisation Swisscontact auf 80 Prozent. Durch Mülltrennung und Recycling könnten 20.000 Arbeitsplätze geschaffen werden. Doch tatsächlich landet der Müll oft ungetrennt auf Deponien oder der Straße auch wenn 70 Prozent der Einwohner in den Großstädten Boliviens an ein Entsorgungssystem angebunden sind. Kleineren Kommunen fehle dagegen das Budget. Hier verbrennen 40 Prozent der Bevölkerung den Abfall, knapp ein Drittel wirft ihn ins Grüne, 16 Prozent in Flüsse und sieben Prozent vergraben ihn im eigenen Garten, erklärt Matthias Nabholz, Projektleiter von Swisscontact vor Ort. Um das Abfallmanagement in den genannten Städten zu verbessern, unterstützt die Siemens Stiftung seit 2010 das Projekt Arbeitsplätze und Einkommen dank Umweltmanagement, das von Swisscontact 2009 begonnen wurde. Durch Public-Private-Partnerships sollen nach und nach ein flächendeckendes System zur Mülltrennung, das Recycling von Wertstoffen wie Plastik, Glas, Papier, Metall oder organischer Abfall sowie eine geordnete Deponierung des Restmülls aufgebaut werden. Hierbei stützen wir uns auf bestehende Stadtstrukturen, erklärt Gerhard Hütter, Projektbetreuer in der Siemens Stiftung. Wir kooperieren mit den Stadtquartieren, der untersten kommunalen Verwaltungsebene. Die Quartiersverwaltungen treffen feste Vereinbarungen mit informellen Abfallsammlern. Diese tragen in ihren festgelegten Einzugsgebieten ein- bis dreimal pro Woche Wertstoffe zusammen und bringen alles sauber getrennt in nahe Sammelzentren oder zu einer Kompostieranlage. Die Sammelstellen verkaufen recyclingfähiges Material an Verwertungsfirmen im In- und Ausland. Der Erlös fließt als Lohn an die Sammler oder wird in Aufklärungskampagnen investiert. Mit ihren Bildungsprojekten für Kinder und Erwachsene konnten die Projektpartner bisher etwa 75.000 Haushalte er- Doch langfristig kommt man beim Abfallmanagement nicht an rechtlich verbindlichen Vorgaben vorbei, sagt Hütter. Diese erarbeiten die Projektpartner mit städtischen Behörden. Die Stadt Cochabamba hat eine Million US-Dollar für die Projektausweitung angekündigt, und La Paz hat einen eigenen Projektkoordinator eingesetzt, sagt Nabholz. Denn jede zu entsorgende Tonne Abfall koste etwa 30 US-Dollar nicht wenig für ein Land wie Bolivien. Die erste Projektphase reicht bis Ende 2012. Künftig wollen die Partner, wenn möglich, Betreuungsangebote für die Kinder der Abfallsammler aufbauen, solange diese ihrer Arbeit nachgehen. Ein großes Anliegen der Siemens Stiftung ist eine Zusammenarbeit mit Schulen. Wir würden uns wünschen, Umweltbewusstsein und das Wissen um Gesundheit und Hygiene bei Kindern und Jugendlichen möglichst früh zu verankern, sagt Hütter. Außerdem wollen die Partner künftig ein besonderes Augenmerk auf das Problem toxischer Abfälle und die Weiterverarbeitung der rasch wachsenden Mengen an Elektronikschrott legen. Hülya Dagli Zwar ist die Erde zu fast drei Vierteln mit blauem Gold bedeckt, doch nur 0,3 Prozent aller Wasservorräte sind als Trinkwasser verfügbar. Schlimmer noch: Laut Weltgesundheitsorganisation sterben weltweit jedes Jahr rund 1,8 Millionen Menschen an Durchfallerkrankungen, die auf verunreinigtes Wasser zurückgehen. Mercy Nyambura (Bild unten), Schülerin in dem 60 Kilometer von Kenias Hauptstadt Nairobi entfernten Dorf Kilimambogo, kennt das Problem nur zu gut. Noch vor ein paar Jahren musste sie sich mit dem verschmutzten Wasser des Flusses Thika begnügen. Die Folge: unzählige Krankenhausaufenthalte und verpasste Schulstunden eine unzumutbare Situation und symptomatisch für Entwicklungsländer. Das dachte sich auch Rhett Butler bei Siemens Water Technologies in Sydney. Er entwickelte den SkyHydrant : ein kleines, mobiles Wasseraufbereitungsgerät mit großer Wirkung (Pictures of the Future, Herbst 2008, S.36). Beflügelt von der Idee, die Lebensqualität von Menschen zu verbessern, gründete Butler 2005 den gemeinnützigen Verein SkyJuice. Das Ziel: Mithilfe von lokalen Partnerschaften den Sky- Hydranten so bekannt wie möglich machen egal, ob auf dem Land oder in Städten. Inzwischen sind 900 Einheiten in 42 Ländern in Betrieb, wobei ein SkyHydrant bis zu 1.000 Einwohner versorgen kann. In Mercys Heimat hat die Siemens Stiftung seit 2010 zusammen mit SkyJuice, dem Global Nature Fund und dem lokalen Partner Pure- Flow zwei Safe Water Kioske aufgebaut. An diesen kleinen Wassertankstellen verwandeln SkyHydranten schmutziges Flusswasser in reines Nass zu Kosten, die pro Kanister bei drei Cent liegen. Mangelnde Wasserversorgung kann Menschen aus ihren Dörfern in Städte treiben. Mit unserem Projekt in Kenia wollen wir auch einer Landflucht vorbeugen, sagt 36 Pictures of the Future Herbst 2011 Pictures of the Future Herbst 2011 37

25.000 Liter pro Tag: Der hohe Durchsatz des AquaVendors macht noch mehr Menschen frisches, sauberes Wasser zugänglich. Ulrike Wahl, Geschäftsführender Vorstand der Siemens Stiftung. Langfristiges Ziel sei es, aus den Wasserstationen Mikrounternehmen zu machen. Das Trinkwasser muss nicht verschenkt werden. PureFlow schult Wasserkomitees, die die Kioske warten und betreiben, erläutert Wahl. Aus dem Erlös würde ein kleines Einkommen für die Angestellten entstehen, was den Erhalt der Kioske sichert und eine wirtschaftliche Perspektive für das Dorf bietet. Das Herzstück der Safe Water Kioske sind vier anderthalb Meter lange und 16 Kilogramm schwere SkyHydranten, die mittelgroßen Orgelpfeifen ähneln. Ein Filter besteht aus 10.000 haarfeinen Membranfasern mit winzigen Poren, die wie ein Sieb funktionieren. Das Wasser fließt mithilfe natürlichen Wasserdrucks aus einem Tank, der mit Flusswasser gespeist wird, durch die Membranfilter ohne Einsatz elektrischer Energie, erläutert Christine Weyrich, Projektleiterin der Siemens Stiftung. Dabei werden alle Schwebstoffe, Bakterien und Viren entfernt. Falls nötig, werden die Geräte mit Zitronensäure desinfiziert, chemische Reinigungsmittel sind nicht nötig. Je zwei Filter stehen in den eigens für sie gebauten Steinhäuschen. Hierdurch schützen wir sie und das gereinigte Wasser vor Sonne und Schmutz, sagt Weyrich. Pro Tag können aus einer Wasserfabrik mit zwei Einheiten etwa 20.000 Liter klares Trinkwasser sprudeln. So profitieren von den vier SkyHydranten über 2.000 Bewohner. Je nach Bedarf kommen die Einwohner mit ihren 20-Liter-Kanistern und zapfen das Wasser für nur drei Cent. Letztlich sparen wir mit dem SkyHydrant sogar Geld, freut sich Mercy. Denn mit dem Geld, das meine Mutter früher für Medikamente ausgab, kann ich nun zur Schule gehen und, wenn ich groß bin, Krankenschwester werden. 38 Pictures of the Future Herbst 2011 Das Beispiel Kenia verdeutlicht, wie eng die gesellschaftliche Entwicklung an die Wasserversorgung geknüpft ist. Mangelnde Wasserqualität hat Auswirkungen auf Bildungschancen von Menschen, zerstört das Ökosystem und ist Grund für Wasserflüchtlinge, sagt Butler. In Städten sorgen im Allgemeinen Kläranlagen für die Wasseraufbereitung, doch ihr Betrieb erfordert einen hohen technischen Aufwand, der in Entwicklungs- und Schwellenländern nicht immer geleistet werden kann. Zudem sind städtische Infrastrukturen wegen des starken Bevölkerungswachstums zunehmend überlastet. Dezentrale und autonome Technologien sind daher auch hier eine gute Alternative. Deshalb will SkyJuice zusammen mit Partnern wie Rotary International, Oxfam und anderen den SkyHydranten auch in die Städte der Welt tragen bereits mit Erfolg: Die kleine Orgelpfeife kommt heute in Kliniken, Schulen oder Slums zum Einsatz. Ich denke, steter Tropfen höhlt den Stein, betont Butler. Auch wenn der SkyHydrant in Großstädten von Bangladesh, Haiti, Indien, Kambodscha oder Nepal bereits im Einsatz ist, gibt es noch viel zu tun. Automatische Filtration. Butler hält, was er verspricht: In den letzten neun Monaten haben er und sein Team den SkyHydranten weiterentwickelt. Das Ergebnis: Der AquaVendor, dessen Herz aus denselben Membranfasern besteht und dem Prinzip seines raffinierten Vorgängers folgt. Der Unterschied: Eine manuelle Bedienung ist nicht mehr nötig, da ein kleines Kontrollgerät die Steuerung übernimmt und sowohl Filtrationsprozess als auch Reinigung automatisiert. So findet alle 20 bis 30 Minuten eine vollautomatische Reinigung statt, bei der ein kleiner Lüfter am Gerät Luft in den Filter presst, um Verschmutzungen an den Membranen zu entfernen. Mit geringem Platzbedarf kann das Gerät pro Tag bis zu 25.000 Liter trinkfertiges Wasser produzieren weit mehr als der SkyHydrant. Der AquaVendor benötigt lediglich eine Steckdose, der Rest läuft von allein mit minimalem Wartungsaufwand. Laut Butler kann diese tragbare Trinkwasseraufbereitungsanlage in Wohngebäuden, bei kleinen städtischen Wassergenossenschaften oder auch für kleine industrielle Zwecke eingesetzt werden. So kann er in jedem indischen und chinesischem Hotel oder Mehrfamilienhaus stehen, malt Butler die Möglichkeiten aus. Man könnte das auf den Dächern gesammelte Regenwasser zu wertvollem Trinkwasser aufbereiten. Mit einem Preis von 7.000 US-Dollar wäre er zudem erschwinglich, glaubt der Ingenieur. Noch steht der neue Wasserspender aber in Sydney und wartet auf seinen ersten Einsatz in der großen weiten Welt. Hülya Dagli Lebensqualität in Städten Fakten und Prognosen Weltweit wachsen die Ungleichgewichte in den Städten Im Jahr 2050 sollen nach Berechnungen der Vereinten Nationen (UN) die Städte der Welt 6,3 Milliarden Einwohner zählen fast so viele wie heute auf der ganzen Erde. Doch wie wird es dann um die Lebensqualität in den Metropolen bestellt sein? Werden sie sicher, sauber, tolerant und energieeffizient sein? Für Eduardo López Moreno hängt die Lebensqualität einer Stadt entscheidend von diesen Faktoren ab. Der Mexikaner ist Stadt- Geograph und Leiter der Abteilung Global Urban Observatory bei UN-Habitat in Nairobi. Er hat eine umfangreiche Bestandsaufnahme der Städte der Welt, State of the World s Cities 2010/2011, koordiniert und mitverfasst. Die Überwindung innerstädtischer Gräben ist für Moreno die wichtigste Aufgabe der Zukunft. Denn die Ungleichgewichte hätten sich in vielen Städten seit 1980 deutlich verstärkt, angefangen bei der Verteilung der Einkommen über den Zugang zu Bildung und Nahrung bis zum Gesundheitswesen. In den Städte-Rankings, wie sie die Unternehmensberatung Mercer oder das Lifestyle-Magazin Monocle veröffentlichen, geht es allerdings kaum um diese Themen. Das liegt auch am Zielpublikum: Entscheidungsträger mit hoher Mobilität. So listet Mercer 29 Variablen auf, unter anderem politische Stabilität, ökonomische und soziokulturelle Rahmenbedingungen, Infrastruktur, Wohnraum oder Umwelt. Das Ranking aus dem Jahr 2010 umfasst 221 Städte. In den Top Ten dominieren Wien, Zürich und Genf an der Spitze sowie Düsseldorf, Frankfurt und München auf den Plätzen sechs bis acht. In der Städterangliste 2011 der Economist Intelligence Unit punkten vor allem Großstädte aus dem angelsächsischen Raum mit Melbourne als Nummer eins, gefolgt von Wien, Vancouver, Toronto, Calgary, Sydney und Helsinki. Das liegt an der Gewichtung der Daten, bei der Dienstleistungs- und Warenangebot, sowie Sicherheit und Effizienz der Infrastruktur im Vordergrund stehen. Das Lifestyle-Magazin Monocle schließlich stellt als lebenswerteste Stadt 2011 Helsinki an die Spitze vor Zürich, Kopenhagen und München und gewichtet dabei Kriterien wie Sicherheit, internationale Flugverbindungen, Klima, Qualität der Architektur und die Balance zwischen traditionsreicher Gemütlichkeit und progressiver Stadtplanung. Insgesamt sind die Unterschiede an der Spitze aber marginal. New York, als Referenzstadt für den Mercer-Index mit 100 Punkten bewertet, liegt an 49. Stelle um nur 8,6 Punkte hinter der Nummer eins, Wien. Die am besten bewerteten afrikanischen Städte, Kapstadt und Tunis, liegen auf den Rängen 86 und 94. Buenos Aires schafft es als führende südamerikanische Stadt auf Platz 78. Weit abgeschlagen liegen Städte wie Havanna (192) oder Dhaka (206). Viele der Städterankings untermauern nur, was jeder erwarten würde: dass sich vor allem Städte in hoch entwickelten Ländern durch hohe Lebensqualität auszeichnen. Die dynamische Entwicklung mancher Metropolen in Entwicklungs- und Schwellenländern ist bei vielen dieser Studien dem Blickfeld entzogen. Zum Beispiel die Entwicklung der Slums: Der UN-Habitat-Bericht zum Zustand der Städte der Welt zeigt hier Erfreuliches und Betrübliches zugleich. Während einerseits der relative Anteil der Slumbewohner weltweit zurückgeht, steigt ihre absolute Zahl 2010 betrug sie 828 Millionen, gegenüber 657 Millionen im Jahr 1990. Von 1995 bis 2005 nahm die städtische Bevölkerung in Entwicklungsländern um 165.000 zu pro Tag. Allein die 15-Millionen-Metropole Dhaka wächst jährlich um eine halbe Million Menschen. Am stärksten ist dieser Prozess im nach wie vor ländlich geprägten Afrika, wo die Städte ein Wachstum von 3,2 Prozent im Jahr zu verkraften haben. Die wirtschaftliche Entwicklung hält mit diesem Tempo nicht Schritt, Folge sind neue Slums. Noch ist Nordeuropa mit einem Anteil von 84,4 Prozent städtischer Bevölkerung der am stärksten urbanisierte Raum, in Ostafrika sind es erst 23,7 Prozent. Dieses Bild wird sich bis 2050 drastisch ändern. Dann wird laut UN- Habitat Südamerika 91,4 Prozent erreicht haben. Explosives Stadtwachstum in Entwicklungsländern Bevölkerung (Mio.) 40 35 30 25 20 15 10 5 0 2020 2000 1980 1960 Wachstum von 1960 bis 2020 in Prozent +800 +3.585 +44 +445 +1.052 +227 +180 +309 +484 +122 Karachi, Pakistan Kalkutta, Indien Dhaka, Bangladesh Shanghai, China New York-Newark, USA Mexico City, Mexico São Paulo, Brasilien Mumbai, Indien Delhi, Indien Tokio, Japan Quelle: aus Datenmaterial von UN-Habitat Grundsätzlich lässt sich die Lebensqualität in Städten der Dritten Welt nur steigern, wenn es gelingt, die Armut zu besiegen. Dazu braucht es wirtschaftliches Wachstum, politische Stabilität und vor allem den Willen der Entscheidungsträger, langfristig zu planen und zu handeln, sagt Moreno. Ein Vorbild sei Chile, wo die Regierungen nicht nur auf starkes wirtschaftliches Wachstum setzten, sondern mit dem Ausbau von sozialen Dienstleistungen und Bildungsprogrammen gerade in Slums die Menschen befähigt hätten, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Laut Angaben der Stiftung Ein Dach für Chile ist die Zahl der in Slums lebenden Familien innerhalb von 13 Jahren um 77 Prozent auf 29.000 gesunken. Bedenklich stimmt allerdings die weltweite Vergrößerung der Ungleichgewichte, die durch die von UN-Habitat erhobenen Gini-Koeffizienten gemessen werden: 0 bedeutet Gleichheit, 1 absolute Ungleichheit. Werte zwischen 0,3 und 0,4 signalisieren vergleichsweise egalitäre Gesellschaften, ab 0,5 herrscht starkes Ungleichgewicht. Dabei verfügt das ärmste Fünftel der Bevölkerung über nur drei Prozent der verfügbaren Einkommen, während das reichste Fünftel die Hälfte für sich bean- sprucht. Die aktuellen Gini-Koeffizienten zeigen, dass der Reichtum und die Einkommen in vielen Städten der USA heute so ungleich verteilt sind wie in manchen Metropolen der Dritten Welt. Vierzig US-Städte, darunter New York, Washingon D.C. und Chicago, weisen Werte über 0,5 auf. Sie liegen damit auf dem Niveau von Mexico City, Ho-Chi-Minh-Stadt oder Nairobi. Doch in der ganzen westlichen Welt haben sich die Ungleichgewichte seit 1980 verstärkt besonders in den Städten. Selbst in Kanada, einem der egalitärsten Staaten, liegen die urbanen Zentren bei 0,36, gegenüber einem Landesdurchschnitt von 0,28. Ähnliche Tendenzen gelten für Europa, sagt Moreno. Verstärkt würden sie noch dadurch, dass Migranten und ethnische Minoritäten besonders betroffen sind: Das birgt beträchtlichen sozialen Sprengstoff, denn es geht nicht nur um absolute Zahlen, sondern um die Wahrnehmung der Ungleichheit. Die Revolutionen in Tunesien und Ägypten, deren große Städte eine für Entwicklungsländer relativ gute Lebensqualität bieten, sei vor allem von gebildeten Schichten getragen worden, die vom Arbeitsmarkt fast ausgeschlossen gewesen seien. Urs Fitze Die Einkommen in vielen Städten sind ungleich verteilt Gini-Koeffizient (Einkommen-basiert) 0.8 0.6 0.4 0.2 0.0 Johannesburg (2005) Addis Abeba (2003) Bogotá (2005) Nairobi (1999) Mexico City (2005) Santiago (2006) Ho-Chi-Minh-City (2002) Hongkong (2001) Rio de Janeiro (2005) São Paulo (2005) Shenzhen (2004/5) Montevideo (2006) Anteil der Slums geht zurück Bevölkerung (Mio.) % 200 150 100 50 Nordafrika 70 60 50 40 30 20 10 1990 00 2010 Subsahara Afrika Bevölkerung (Mio.) % 200 150 100 50 70 60 50 40 30 20 10 1990 00 2010 Lateinamerika und Karibik Bevölkerung (Mio.) % 200 150 100 50 70 60 50 40 30 20 10 1990 00 2010 200 150 100 50 Internationale Alarm-Linie Kuala Lumpur (1999) Manila (2006) Caracas (2007) Amman (1997) Hanoi (2002) Shanghai (2004/5) Peking (2003) Der Gini-Koeffizient beschreibt die Ungleichgewichte im Einkommen der Menschen. Unterhalb eines Koeffizienten von 0,4 sind die Einkommen relativ gleich verteilt, über 0,5 herrscht starkes Ungleichgewicht. Ostasien Südasien Südostasien Bevölkerung (Mio.) % 70 60 50 40 30 20 10 1990 00 2010 200 150 100 50 Slumbewohner (Mio.) Anteil Slums an Stadtbevölkerung (%) Bevölkerung (Mio.) % 1990 00 2010 Pictures of the Future Herbst 2011 39 70 60 50 40 30 20 10 Bevölkerung (Mio.) % 200 150 100 50 70 60 50 40 30 20 10 1990 00 2010 Quelle: UN-Habitat, Global Urban Observatory, 2009 Quelle: UN State of the World s Cities (2010/2011)

Sparsame Verwaltung: Die Regierungsgebäude im Pekinger Stadtteil Chaoyang wurden mithilfe von Siemens auf Energieeffizienz getrimmt. Das hilft nicht nur Energie und CO 2, sondern auch Kosten zu sparen. Lebensqualität in Städten Städte-Finanzierungen Grün hilft sparen Städte müssen in ihre Infrastruktur investieren bei gleichzeitig knappen Kassen. Finanzierungslösungen von Siemens können helfen, wie ein Verwaltungsgebäude in Peking zeigt. Einmal sehen ist besser als hundertmal hören, besagt ein chinesisches Sprichwort. Chen Gang hat es sich zu Herzen genommen. Vor zwei Jahren beschloss der Parteisekretär von Pekings Stadtteil Chaoyang, dem Wirtschaftszentrum der chinesischen Hauptstadt, sich selbst ein Bild vom Energiesparpotenzial moderner Gebäudetechnik zu machen. Der Stadtmanager hatte ein dringendes Anliegen: In seinem Verwaltungsgebiet wurden in den vergangenen drei Jahrzehnten Tausende Hochhäuser gebaut, allerdings nur die wenigsten nach den neuesten Standards. Vor allem in den frühen Jahren des chinesischen Wirtschaftswunders dachte kaum jemand an steigende Rohstoffpreise oder die Reduktion von Treibhausgasen. Auch Chens Rathaus, ein nüchterner Zweckbau nahe dem traditionsreichen Ritan-Park, stammt aus dieser Zeit. Würde es sich lohnen, ein solches Gebäude auf den modernsten Standard umzurüsten? Chen fand einen Partner, der daran glaubte und ganz ohne Belastung des öffentlichen Haushalts den Beweis dafür antreten wollte: Siemens. Das Unternehmen erklärte sich bereit, das Regierungsgebäude mit modernster Technologie auszustatten. Vor allem sollte es ein effizientes Heiz- und Kühlsystem erhalten, mit dem sich die Temperatur in bestimmten Räumen individuell regulieren lässt, was mit der alten Anlage nicht möglich war. Die Siemens-Experten sagten Energieeinsparungen von mindestens 12 Prozent voraus, was pro Jahr rund 1,5 Millionen Kilowattstunden Strom und 467 Tonnen Kohlendioxid entspricht. Zugleich entwarfen sie ein risikofreies Finanzierungsmodell: Siemens stellt die grüne Technologie in Form eines Leasingvertrags zur Verfügung. Fünfeinhalb Jahre lang wird sie dann mithilfe der garantierten Einsparungen zurückgezahlt. Danach gehen alle Anlagen in den Besitz des Kunden über. Im Oktober 2009 unterzeichneten Siemens Building Technologies und Chaoyangs Stadtteilregierung eine strategische Partnerschaft, seit 2010 ist das neue System im Einsatz. Wir helfen Chaoyangs Regierung, ihre Energieund Betriebseffizienz zu erhöhen, ohne eigene Investitionen in bar tätigen zu müssen, erklärt Yang Gang, General Manager der Siemens Finance and Leasing Ltd. Bei unserer Lösung sind die Leasingkosten niedriger als die einge- sparten Energiekosten, so dass sich die Investition selbst trägt und sogar noch zusätzliche Kosteneinsparungen ermöglicht. Das ist eine Win-win-win-Situation: für die Kunden, Siemens und die Umwelt. In anderen Ländern sind diese Energy Contracting genannten Paketlösungen aus Technologie und Finanzierung schon seit vielen Jahren üblich, doch in China sind sie ein Novum. Die Kooperation mit Siemens hilft uns, ein Modell zur Energieeinsparung und Emissionsreduzierung zu entwickeln, das zu unseren Bedürfnissen passt, erklärt Chen. Er ist überzeugt, dass das Projekt eine Signalfunktion haben wird. Es kann als Vorzeigeprojekt dienen und in anderen öffentlichen Gebäuden der Stadt und im ganzen Land wiederholt werden, sagt der Parteisekretär. Wir möchten Siemens gerne als Partner bei der gemeinsamen Anstrengung für den Aufbau einer Low-Carbon-Economy. Ehrgeiziges Ziel. Der Bedarf ist gewaltig, denn China hat sich ehrgeizige Ziele gesetzt. Bis 2020 will die Volksrepublik ihre Emissionen durch Einsparungen und die Förderung von erneuerbaren Energien um mindestens 40 Prozent gegenüber 2005 reduzieren, gemessen an der Wirtschaftsleistung. Das geht nur durch den Einsatz modernster Technologie. Energy Contracting ist dabei zunehmend eine Lösung, die nicht nur in China, sondern auch in anderen Schwellenländern verstärkt zum Einsatz kommen wird. Aufgrund seiner Größe und finanziellen Stärke kann Siemens seinen Kunden bei den hohen Anfangsinvestitionen helfen und oft bessere Konditionen anbieten, als sonst am Markt zur Verfügung stehen. Auch in anderen Unternehmenssparten liefert Siemens in Schwellenländern nicht nur modernste technische Lösungen, sondern auch gleich die nötige Finanzierung, etwa in der Medizintechnik. So rüstete 2008 das Dazhou Western & TCM Hospital in der westchinesischen Provinz Sichuan seine Diagnostik mit neuen CT- und MR-Geräten aus. Wir waren damals in einer finanziell schwierigen Situation, aber um unseren medizinischen Standard zu erhöhen, wollten wir Geräte von Siemens kaufen, die für uns die besten am Markt erhältlichen waren, erklärt Krankenhauschef Ren Wanwu. Wir waren froh, dass Siemens uns eine Finanzierungsoption angeboten hat. Eine ähnliche Lösung fand das Krankenhaus der Medizinischen Hochschule Jining in der ostchinesischen Provinz Shandong. Auch hier haben sich die Manager über fünf Jahre lang kontinuierlich für Siemens-Technologie und die begleitende Finanzierung entschieden. Für alle hat sich gezeigt: Mit der richtigen Finanzierung rechnet sich moderne Technologie für alle Partner. Bernhard Bartsch Lebensqualität in Städten Interview Jeder Bürger hat eine Stimme, die gehört werden muss Pablo Vaggione (45) ist ein Stadtplaner mit dem Schwerpunkt auf nachhaltige Entwicklung. Er wurde in Spanien geboren und hat über 50 Projekte begleitet: in Latein- und Nordamerika, in Westeuropa oder Ostasien. Er studierte Stadtplanung, Design und Betriebswirtschaftslehre an der Harvard Universität und nachhaltige Entwicklung an der United Nations University. Vaggione war Generalsekretär der Internationalen Gesellschaft für Stadt- und Regionalplaner, einer in 70 Ländern vertretenen, regierungsunabhängigen Organisation. Er ist Gründer von Design Convergence Urbanism (DCU), einer Plattform für Stadtexperten. Was macht eine Stadt lebenswert? Vaggione: Jede Stadt hat ihre ganz eigene Definition von Lebensqualität. Für einige können das Arbeitsplätze sein, für andere bedeutet es einen kürzeren Weg zur Arbeit, ein breites kulturelles Angebot, Sicherheit oder bessere Luft. Heißt das, Nachhaltigkeit und Lebensqualität sind nicht zwingend miteinander verknüpft? Vaggione: Sie sind eng verwandt, aber nicht identisch. Lebensqualität ist subjektiv. Eine nachhaltige Stadt kann ihren Bewohnern aber viel wahrscheinlicher eine gute und dauerhafte Lebensqualität bieten. Die ökonomischen und sozialen Entwicklungen sind hier in Balance mit einer geschützten und gesunden Umwelt. Eine nachhaltige Stadt ist ein komplexes System: Gebäude, Transport, Gesundheitsund Bildungswesen, Energie- und Wasserversorgung. Diese unterschiedlichen Angebote müssen als holistisches und integriertes System gestaltet werden. Eine effiziente Stadt kann mit weniger Verbrauch mehr erreichen. Beispielsweise brauchen kompakte und gut geplante Städte weniger Terrain und haben niedrigere Kosten für die Infrastruktur als Städte mit einer großen Ausdehnung. Welche Städte verfolgen diesen Ansatz? Vaggione: Da gibt es eine ganze Reihe: London, Helsinki oder Kopenhagen sind bekannt dafür, dass sie Nachhaltigkeit in ihre Langzeitplanung einbeziehen. Bogotá in Kolumbien konnte das Problem massiver Verkehrsstaus lösen, indem es viele verschiedene Anbieter in ein koordiniertes Schnellbussystem überführte. Die brasilianische Stadt Curitiba hat Verkehr und Flächennutzung effektiv verbunden. Und Porto Alegre ist ein Vorreiter für partizipative Haushalte, bei denen Bürger teilweise über die verwendeten Mittel mitbestimmen dürfen. Was sind Ihrer Ansicht nach die lebenswertesten Städte der Welt? Vaggione: Vancouver, Portland in Maine, Kopenhagen oder München sind in den Bewertungen für gesunde und florierende Städte stets hoch gelistet. Das endlose kulturelle Angebot von New York und London ist verlockend. Die Schönheit von Rio und Istanbul ist atemberaubend. Die Energie Tokios ist ansteckend, und Ho-Chi-Minh-City ist eine sehr dynamische Stadt mit viel Potenzial. Vor welche Herausforderungen stehen die Stadtplaner weltweit? Vaggione: Städte stehen unter einem enormen Entwicklungsdruck: exponentielles Bevölkerungswachstum, Klimawandel, überlastete Infrastrukturen und begrenzte finanzielle Ressourcen. Die Stadtverwaltungen müssen Wege finden, ihre Mittel bestmöglich einzusetzen. Stadtplaner sollen dabei einen Fahrplan für das nachhaltige Wachstum einer Stadt erstellen. Dazu zählen praktische Richtlinien und Technologien, die helfen das Stadtmanagement zu optimieren. Inwiefern können Informations- und Kommunikationstechnologien dazu beitragen? Vaggione: Informationstechnologien können helfen, eine Stadt effektiver zu gestalten, indem sie alle Daten der Stadt bündeln vom Stromverbrauch der Straßenlaternen bis zur Messung der Luftqualität. Anhand dieser Daten können Stadtverwalter das Verbraucherverhalten besser ermitteln, oder sie helfen Führungskräften, Entscheidungen zu treffen. Wie unterscheiden sich stadtplanerische Strategien in Industrie- und Entwicklungsländern? Vaggione: Städtische Strategien sind nicht übertragbar. Sie unterscheiden sich auch innerhalb entwickelter Länder, wie etwa bei Detroit und Portland. Zentrale Themen in Nairobi sind Transport, Landrecht und die Anzahl der Menschen, die in Slums wohnen. In Shanghai liegt die Herausforderung eher im rasanten Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum und der steigenden Luftverschmutzung. New York wird, um wettbewerbsfähig zu bleiben, seine Infrastruktur verbessern müssen also die Flughäfen und Bahnverbindungen. Außerdem muss es den Energieverbrauch von Gebäuden senken. Wie könnte in Zukunft eine Stadt mit der perfekten Lebensqualität aussehen? Vaggione: Die Teilnahme der Bürger wird eine viel größere Rolle einnehmen. Eine Bevölkerung, die einbezogen wird, schafft das richtige kollektive Klima für nachhaltige Entwicklungen. Informierte und involvierte Bürger machen eine bessere Stadt. Das heißt, dass wir Rechte und Verantwortung anerkennen: Jeder Bürger hat eine Stimme, die gehört werden muss und sein aktiver Beitrag zur Nachhaltigkeit ist entscheidend. Die Dezentralisierung städtischer Dienstleistungen ist in diesem Zusammenhang wichtig. Das Interview führte Silke Weber. 40 Pictures of the Future Herbst 2011 Pictures of the Future Herbst 2011 41

Lebensqualität in Städten Medizinische Versorgung Oase für Spitzenmedizin: Die Wüstenstadt Al-Ain bietet mit neuen Diagnosetechniken eine Gesundheits ver - sorgung auf Weltklasseniveau in den Verei nigten Arabischen Emiraten ist sie Vorreiter. Spitzenmedizin in der Stadt-Oase Lebensqualität in Städten bedeutet auch eine erstklassige medizinische Versorgung ein Beispiel ist das Tawam Molecular Imaging Center in Al-Ain in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Siemens- Technologie hilft hier sowohl bei der Vorbeugung wie auch der Behandlung von Krankheiten. Ain bereits seit rund 4.000 Jahren als urbanes Erfolgsmodell gelten so lange ist dieser Ort an der Grenze zum Oman ununterbrochen bewohnt. Das reichlich verfügbare Wasser machte diesen Flecken Wüste attraktiv und brachte durch Kamelzucht und Gartenbau Wohlstand. Doch auch Al-Ain erfindet sich wie die ganze Region derzeit neu. Die Emirate bemühen sich, ihr Wirtschaftsmodell vor allem auf zukunftsträchtige Wachstumsindustrien zu fokussieren, um die Abhängigkeit von den Ein - nahmen aus der Öl- und Gasförderung zu verringern (Pictures of the Future, Frühjahr 2011, S.43). Diagnose und Design. Al-Ain macht sich nun als ein Zentrum für medizinische Versorgung auf Weltklasseniveau einen Namen. Insbesondere das Tawam Molecular Imaging Center (TMIC) trägt zu diesem guten Ruf bei. Die verwendeten bildgebenden Verfahren setzen auf den Siemens Biograph mct, eine Hybridlösung, welche die Positronen-Emissions-Tomographie (PET) und die Computertomographie Wer Modelle für die Stadt der Zukunft sucht, der wird in den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) fündig. Und das gleich mehrmals: Da ist Masdar City, eine extrem energieeffiziente Stadt, die derzeit neben dem internationalen Flughafen von Abu Dhabi entsteht und unter anderem auf Siemens- Technologien baut (Pictures of the Future, Frühjahr 2011, S.40). Da ist Dubai, die glitzernde Wüstenmetropole, die in den vergangenen 20 Jahren dem ehrgeizigen Ziel zustrebte, eine der wichtigsten Drehscheiben für den Tourismus sowie die Dienstleistungs- und Finanzindustrie zu werden. Und da ist Al-Ain, eine Stadt von 370.000 Einwohnern. Der Kontrast zu Dubai und Abu Dhabi könnte kaum größer sein. Statt Hochhäuser gibt es hier maximal siebenstöckige Bauwerke; manch einer nennt Al-Ain eine Stadt-Oase, vor allem wegen ihrer Gärten, daher auch ihr zweiter Name, Gartenstadt. Während in Masdar die Zukunft eben erst beginnt, und Dubai nach dem wirtschaftlichen Einbruch in den vergangenen Jahren die eigene neu erfindet, kann Alchen Investmentgesellschaft Mubadala. Diese sieht im TMIC eines seiner wichtigsten Projekte, um vor Ort Gesundheitsversorgung auf Weltklasseniveau zu etablieren. Inzwischen kommen Ärzte und Studenten aus allen Teilen des Landes angereist, um in Al-Ain die Diagnosetechniken kennenzulernen. Ein Teil der Attraktion des Zentrums dürfte auch mit dem angenehmen Ambiente zu tun haben: Der Eingang des TMIC erinnert an die Luxushotels, die sich in Abu Dhabi und Dubai aneinander reihen. Filigrane Holzpanelen verkleiden die Glasfassaden, lassen nur einen Teil des Lichts ins Innere dringen. Mobiles hängen von der hohen Decke der Lobby. Die Patienten sollen den Diagnoseprozess als so angenehm wie möglich erleben. So haben sie beispielsweise jeweils Einzelzimmer mit Gartenblick. Trotz neuer Einrichtungen wie dem TMIC bleibt der Ausbau des Gesundheitssystems in den VAE eine große Herausforderung. Studien zeigen, dass die zunehmende Verstädterung und der wachsende Wohlstand etliche Proble- (CT) kombiniert. Dies bringt Vorteile, etwa im Hinblick auf die Früherkennung und die Behandlung von Krebserkrankungen, Herz- Kreislauferkrankungen und neu rologischen Leiden, da die Präzision von Diagnosen erheblich verbessert werden kann. Patienten kann so zu einer optimalen Behandlung verholfen werden. Siemens installierte zudem den Partikelbeschleuniger Cyclotron Eclipse HP, sodass radioaktive Biomarker, die für den PET-Scan benötigt werden, direkt vor Ort hergestellt werden können. Bashar Al Ramahi, Senior Manager für Business Development bei Mubadala Health - care und derzeit Geschäftsführer des TMIC, erklärt: Indem wir PET- und CT-Technologie kombinieren, nutzen wir die Vorzüge beider Verfahren gleichzeitig. Wir sehen jetzt mehr und was wir sehen, sehen wir schärfer. Bei bestimmten Metastasen kann das Leben retten. Seit Einweihung Ende 2010 betreibt Johns Hopkins Medicine International das Diagnosezentrum, welches von Siemens geplant und ausgestattet wurde. Eigner ist Mubadala Healthcare, eine Geschäftseinheit der staatlime verursachen. So trägt der urbane Lebensstil viele Autofahrten, wenig Bewegung dazu bei, dass die VAE neben einem hohen Vorkommen von Herz-Kreislauf-Erkrankungen die zweithöchste Diabetesrate der Welt vermelden. Ein Fünftel der Bevölkerung lebt mit der Diagnose, ein weiteres Fünftel gehört zur Hochrisikogruppe. Besser als eine chronische Krankheit zu diagnostizieren und aufwändig zu behandeln, ist effektive Prävention durch zum Beispiel Sport und eine gesunde Ernährungsweise. Doch auch die Architektur einer Stadt kann dazu beitragen. So nimmt sich etwa Masdar City ein Beispiel an traditionellen arabischen Innenstädten: In schmalen Gassen zirkuliert ein frischer Wind und die Häusermauern spenden Schatten. Ein Spaziergang wird damit anders als in den fußgängerfeindlichen Städten Dubai und Abu Dhabi wieder attraktiv; wie schon seit Jahrtausenden in den Gärten von Al-Ain, wo auch heute Besucher unter den Schatten spendenden Palmen flanieren. Andreas Kleinschmidt Lebensqualität in Städten Auf den Punkt Schon heute leben 3,5 Milliarden Menschen in LEUTE: Städten, 2030 sollen es bereits knapp fünf Milliarden sein. Alleine in Asien ziehen jeden Tag etwa Kevin Worster, City Account Manager London Infrastruktur London: 100.000 Menschen in die Ballungsräume. Damit kevin.worster@siemens.com Lebensqualität und Nachhaltigkeit mit dem Bevölkerungswachstum Schritt halten, sind neue, mark.brearley@designforlondon.gov.uk Mark Brearly, Design for London intelligente Lösungen für die Infrastruktur gefragt etwa um künftig flexibler arbeiten zu kön- Thomas Braun, Projekt-Leiter Siemens SRE Neue Siemens Zentrale: nen, im Alter länger ein selbstbestimmtes Leben braun.thomas@siemens.com zu führen oder um auch in den wachsenden Megacities mobil bleiben zu können. (S.12) Matthias Hofmann, Siemens Mobility Straßenbahnen und Metros: matthias.c.hofmann@siemens.com Die Millionenmetropole London erneuert massiv ihre vielerorts veraltete Infrastruktur. So sollen stefan.wappmann@siemens.com Dr. Stefan Wappmann, Siemens Mobility ab 2018 neue U-Bahnzüge das Verkehrsnetz entlasten und auch die Metro ausgebaut werden. Marcus Zwick, Siemens Mobility Complete Mobility: Zudem sollen die steigenden Emissionen gemindert werden: mit Hybridbussen, Elektroautos SmartSenior-Projekt: marcus.zwick@siemens.com oder grünem Strom etwa vom größten Offshore- Michael Balasch, Koordinator SmartSenior Windpark der Welt, der 2012 in der Themsemündung ans Netz gehen soll. (S.15) Kommunikationstechnologien für Städte: michael.balasch@telekom.de Dr. Johann Fichtner, Siemens CT / IT-Sicherheit Mit rund zehn Millionen Einwohnern und johann.fichtner@siemens.com knapp 14.000 Menschen pro Quadratkilometer Dr. Wilhelm Bauer, Fraunhofer Institut IAO ist Jakarta eine der am dichtesten bevölkerten wilhelm.bauer@iao.fraunhofer.de Städte Asiens. Indonesiens Haupstadt steht vor Megacity Jakarta: gewaltigen Herausforderungen: Bis auf ein Bussystem hat die Metropole keinen öffentlichen sdindo@susiladharma.or.id Titin Suwartini, NGO Susila Dharma Indonesien Nahverkehr und leidet unter Dauerstaus, die Julieta Glasmacher, Siemens Indonesien Kosten von rund drei Milliarden US-Dollar pro julieta.glasmacher@siemens.com Jahr verursachen. Zudem wird die Stadt jedes SkyHydrant: Jahr von Überflutungen heimgesucht. (S.30) Rhett Butler, Siemens Water Technologies rhett.butler@siemens.com Leben und Arbeiten in Städten wird sich künftig deutlich verändern: Hochgeschwindigkeits- Gerhard Hütter, Siemens Stiftung Abfallmanagement Bolivien: netze, vernetzte Computer und eine robuste IT- gerhard.huetter@siemens-stiftung.org Sicherheitsarchitektur ermöglichen eine immer Finanzierung für chinesische Städte: flexiblere Zeitplanung. Auch in den Büros werden Yang Gang, Siemens Financial Services China feste Arbeitsplätze mehr und mehr flexiblen Arbeitszentren Platz machen. (S.28) gang.yang@siemens.com LINKS: Das Projekt SmartSenior soll älteren Menschen Website Nachhaltige Städte: in Städten ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen. Über eine Serviceplattform können Senio- Design for London: www.siemens.de/cities ren dabei mit Ärzten und Physiotherapeuten in www.designforlondon.gov.uk stetigem Kontakt bleiben. Im Jahr 2012 startet SkyJuice Foundation: www.skyjuice.com.au ein Feldtest in Potsdam bei Berlin. (S.24) ISOCARP Society for City Planners: www.isocarp.org Eine ideale Stadt gibt es nicht, denn unsere 7-Billion-Actions-Kampagne der UNFPA: Metropolen sind lebendige und atmende Wesen, www.7billionactions.org sagt Dr. Joan Clos, der Leiter des UN-Siedlungsprogramms HABITAT, im Interview. (S.34) SmartSenior-Konsortium: www.smart-senior.de 42 Pictures of the Future Herbst 2011 Pictures of the Future Herbst 2011 43

Pictures of the Future Gesundheitsversorgung im Regenwald Klinik unter Palmen Die Ureinwohner des brasilianischen Amazonasgebietes müssen für viele medizinische Eingriffe in die Großstadt reisen. Eine Privatinitiative will das ändern: Ärzte behandeln die Indios direkt vor Ort im Urwald. Siemens unterstützt mit mobilen Ultraschallgeräten. Paiki zieht ein letztes Mal die Leinen ein. Drei Welse und fünf Piranhas liegen vor ihm im Boot. Er hat schon mal mehr gefangen. In der Regenzeit beißen weniger Fische an, sagt er. Doch sobald der Wasserspiegel des Flusses niedriger liegt, lassen sie sich wieder leichter fangen. Die Gesetze des Urwalds kennt Paiki. Seit seiner Kindheit streift er durch den Amazonas, auf der Suche nach Wildschweinen, Schildkröten, Fischen. Der Indio lässt den Heckmotor des kleinen Bootes an, das sich langsam in Bewegung setzt. Geschickt manövriert er es an den aus dem Wasser ragenden Baumkronen vorbei. In ein paar Wochen, mit Einsetzen der Trockenzeit, wird der Wasserspiegel des Rio Fresco um bis zu zehn Meter sinken. Dann werden auch die Baumstämme wieder sichtbar. Noch sind sie verborgen, im Strom der gelbbraunen Wassermassen, die sich durch den brasilianischen Bundesstaat Pará wälzen. Eigentlich hätte Paiki heute Morgen eine Verabredung mit dem Zahnarzt gehabt, in seinem Heimatdorf Kikretum. Auch für amazonische Verhältnisse ein abgelegener Flecken Land mit 500 Einwohnern, mitten im Territorium des Stammes der Kayapo: Regenwald so weit das Auge reicht, die nächste Großstadt, Marabá, ist zwei Flugstunden entfernt. Die Angelei ging heute vor, der 31-jährige versorgt immerhin vier Kinder. Seine Frau hat erst vor einer Woche wieder eines zur Welt gebracht. Einen Jungen, darauf ist Paiki besonders stolz. Womöglich wird der Kleine ja eines Tages Kayapo- Krieger. Die Prüfungen auf dem Weg dahin sind hart. So wird er ein Stück aus einem Wespennest herausreißen müssen, die Biester zerstechen die Nachwuchskrieger bei der Mutprobe, das gehört dazu. Eine Hilfsschwester des brasilianischen Gesundheitsdienstes Secretaria Especial de Saúde Indígena (SESAI) war bei der Geburt von Paikis jüngstem Sohn zugegen. Doch voll ausgebildete Ärzte und Zahnärzte machen in den extrem abgelegenen Dörfern der Ureinwohner nur eintägige Stippvisiten. Meist kümmert sich der Schamane um uns, wenn wir krank sind, sagt Paiki und duckt sich unter einem schweren Ast, der über das Wasser ragt, während er sein Boot Richtung Kikretum steuert. Der Schamane nimmt sich etwa Schlangenbissen an und Krankheiten der Seele, wie die Kayapo psychische Störungen nennen. Er versteht schnell, ob ein Unwohlsein womöglich mit dem Wassergeist zusammenhängt und ob man zur Förderung der Heilung Kräuter geben sollte oder dem Patienten bestimmte Speisen verbieten muss. Doch bei Tuberkulose, Leistenbrüchen oder Malaria versagt seine Kunst. Inzwischen verlangen viele Kayapo eine bessere Versorgung mit der Medizin des weißen Mannes, wie sie die Schulmedizin nennen. Im Jahr 2009 besetzten wütende Indios sogar ein Gebäude der Vorgänger-Organisation der SESAI, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Gebiet der Größe Österreichs. Die Urwaldärzte der SESAI reisen regelmäßig mit einem einmotorigen Flugzeug nach Kikretum, denn Neue Hoffnung im Urwald: Indios wie Paiki, seine Familie (unten) und das gesamte Dorf Kikretum profitieren von einer Gesundheits- Expedition in den Amazonas. Vor Ort wird untersucht und sogar operiert (rechte Seite). die rund 7.000 Kayapo verteilen sich auf ein Gebiet der Größe Österreichs. Viele Fälle können die Ärzte ambulant nicht behandeln, dann überweisen sie die Indios an die Krankenhäuser der Städte, nach São Felix do Xingú, nach Marabá, oder gar in die Millionenstadt Belém, unweit der fernen Atlantikküste. Einer meiner Söhne hatte einmal eine Lungenentzündung, erinnert sich Paiki. Die Behandlung in Belém dauerte sechs Wochen. Wir waren die ganze Zeit bei ihm und schliefen im Krankenhaus auf Plastikstühlen. Es wäre schon gut, wenn mehr vor Ort in unseren Dörfern behandelt würden. Dieser Tage erfüllt sich sein Wunsch: Mehr als ein Dutzend Ärzte ist angereist, das gab es noch nie im Territorium der Kayapo. Die Doktoren und Krankenschwestern der spendenfinanzierten Nichtregierungsorganisation Expedicionários de Saúde (EDS) verwandeln die Dorfschule von Kikretum für zehn Tage in ein Krankenhaus: Sie bauen Zelte auf und knatternde Dieselgeneratoren, im Gepäck haben sie Klimaanlagen, Operationsbesteck und sogar Ultraschallgeräte von Siemens. Die gefürchteten Zahnärzte sind auch dabei. Bisherige Begegnun - gen mit dem Berufsstand, so berichten die Indios, führten oft eher zum Verlust eines Zahns als zu seiner Rettung, so etwas merkt man sich. Paikis Kahn nähert sich dem Dorf, schon von weitem sieht er das Getümmel an der Bootsanlegestelle. Eben kam ein Schiff aus Gorotiri an, einer anderen Kayapo-Siedlung. Es bringt Patienten und damit Arbeit für die Augenärzte, den Kinderarzt, den Chirurgen, die Gynäkologin und die anderen Mediziner, die während ihres Aufenthalts rund 1.700 Untersuchungen und Behandlungen durchführen werden, darunter über 70 Operationen. Paiki macht sein Boot fest und schlängelt sich durch das Getümmel. Durch die Kiemen der Fische hat er einen biegsamen, schmalen Zweig gesteckt, dessen Enden verknotet sind. Wie an einer Perlschnur aufgereiht baumeln sie daran, die fetten, langen Welse und die Piranhas mit ihren gefährlich spitzen Zähnen. Bald schwimmen sie in der Suppe. Viele der Ankömmlinge aus Gorotiri haben zur Untersuchung Anhang mitgebracht, einige haben Pfeil und Bogen dabei, um sich während des Aufenthaltes in Kikretum frische Mahlzeiten erjagen zu können. Ein Käfig, in dem ein Papagei unruhig flattert, steht verloren in der Menge; ein junges Kayapo-Mädchen pult aus dem Fell ihrer Ratte Ameisen. Es ist ein kleiner Erfolg, dass überhaupt ein volles Boot mit Patienten landet. In Gorotiri hatte sich das Gerücht herumgesprochen, dass die Doktoren ihren Patienten die Augen ausreißen und durch Pferdeaugen ersetzen würden. Die Dorfältesten mussten die Kranken erst Ein so hoher Standard findet sich in kaum einem brasilianischen Krankenhaus aber im Urwald. überzeugen, nach Kikretum zu reisen. Der gestandene Kayapo-Krieger Akiaboro ging mit gutem Beispiel voran. Erhobenen Hauptes schreitet er, der sich als politischer Führer der Kayapo betrachtet, durch die Menge, einen Schmuck aus gelb-grünen Papageienfedern auf dem Kopf: Es gibt Krankheiten, zu deren Behandlung die Medizin der Weißen besser geeignet ist als die Kunst der Schamanen, sagt er. Ich selbst bin nach Kikretum gekommen, um mich durchchecken zu lassen. Er will auch zum Zahnarzt, mit einem Wurzelkanal ist etwas nicht in Ordnung. Ich habe seit Tagen vor Schmerz kein Auge zugetan. Paikis Zahnarztbesuch verzögert sich dagegen weiter. Es ist inzwischen Nachmittag und Schlangen von Wartenden haben sich vor der Dorfschule gebildet. Ein Kayapo-Mädchen spielt mit einem Luftballon Fußball, zahlreiche Bema lungen zieren ihre Haut, bunte Kettchen baumeln an Hand- und Fußgelenken. Hier in der Schule werden die Patienten digital erfasst und zu ihrer jeweiligen Behandlungsstation geschickt. Die Krankenschwestern kleben den Indios verschiedenfarbige Etiketten auf die Haut, diese zeigen an, wo die Reise hingeht: Blau bedeutet Augenarzt, rosa bedeutet Frauenarzt, gelb bedeutet Kinderarzt, grün bedeutet Operationszelt, erklärt Claudio Braga, der sich um die Computer kümmert. Drahtlosnetzwerk im Urwald. Das IT-System wird bei jedem der Einsätze von EDS weiterentwickelt. Die elf Laptops in Kikretum sind durch ein Drahtlosnetzwerk miteinander verbunden, die Patientenakten sind durchgängig digital, auch in den Behandlungsräumen und Operationszelten zugänglich. Ein so hoher Standard findet sich in kaum einem brasilianischen Krankenhaus aber hier im Urwald, führt Braga sichtlich stolz aus. Hinter seinem 44 Pictures of the Future Herbst 2011 Pictures of the Future Herbst 2011 45

Fernab der Städte: Iria Novaes und Fabio Atui nutzen Ultraschallgeräte von Siemens für eine präzisere Diagnose. Davon profititeren unter anderem die Kayapo-Indios. Tisch mit den Computern und dem Drucker befindet sich der Sterilisationsraum, in dem die Untersuchungsgeräte und das Operationsbesteck gereinigt werden. Das Dach über einer Rampe decken gerade ein paar junge Kayapo mit frischen Palmwedeln. Davon profitieren viele der älteren Patienten, die teils kaum noch sehen können; die starke Sonneneinstrahlung lässt die Linsen der Augen schneller eintrüben als andernorts. Grauer Star ist weit verbreitet. Die Krankheiten, die wir hier diagnostizieren, haben viel mit den Umweltbedingungen und dem Lebensstil der Indios zu tun, erklärt Fabio Atui. Der Chirurg betreibt in São Paulo eine Privatpraxis und arbeitet zudem an einer der besten Kliniken der Megacity. Obwohl zu Hause eine Familie auf ihn wartet, nimmt er sich für die Expeditionen von EDS, die schon seit 2003 stattfinden, jedes Mal Urlaub, um ohne Bezahlung Medizin auf Weltklasse-Niveau in einen der abgelegenen Winkel des Amazonas zu bringen. Die Menschen im tropischen Regenwald leiden oft an Infektionskrankheiten, Hautpilz, Krätze. Jede Menge Bewegung, lange Märsche, schwere Lasten: Leistenbrüche kommen da häufig vor, Herzerkrankungen sind dafür eher selten, erklärt er. Sein Arbeitsplatz ist das Operationszelt. Wer dort hinein möchte, muss in einem Vorraum, der als Schleuse dient, einen blauen Overall und einen Mundschutz anlegen. Atui trägt weiße Latexhandschuhe. Er hat gerade einen Leistenbruch unter dem Messer. Allerlei Werkzeug steckt in der Operationswunde, ein Monitor zeigt die Vitalfunktionen des Patienten an. Die Klimaanlage bläst unablässig kühle Luft ins Zelt, während draußen die schwüle Hitze des Amazonas über dem Dorf liegt. Wir führen im Urwald nur ganz bestimmte Eingriffe durch, erklärt Atui. Die Diagnose muss schnell und eindeutig möglich sein, die Operation darf keine komplizierte Vor- oder Nachsorge erfordern. Wir sind ja nur zehn Tage vor Ort. Gerade die Diagnostik ist eine Herausforderung, denn Röntgengeräte hat EDS bei den Expeditionen nicht dabei, sie wären zu groß und schwer für den Transport. Aber Atui kann ein handliches Ultraschallgerät nutzen, das Siemens kostenlos zur Verfügung stellt. Er und seine Ärztekollegen, die Krankenschwestern und Hilfskräfte verzichten für ihren ehrenamtlichen Einsatz auf Komfort und Privatsphäre: In einem Bretterverschlag neben der Küche befinden sich Plumpsklos und Duschen. Statt in den feinen Lokalen der Großstädte zu speisen, schöpfen sie hier aus großen Töpfen eine Mischung aus Reis und Bohnen mit Fleischeinlage. Es ist ein Privileg, dass Ihr hier sein dürft, ruft Ricardo Affonso Ferreira, der Expeditionsleiter, in die Runde. Wir wollen den Indios Respekt erweisen. Wir erwarten keinen Dank wir sind nicht die Missionare des 21. Jahrhunderts, verdeutlicht er am ersten Abend den jungen Ärzten, die zum ersten Mal dabei sind, die Philosophie der Expeditionen. Fabio Atui sieht das genau so. Er ist überzeugt: Nur wenn die Indios den Urwald als ihren Lebensraum betrachten, lasse sich seine Abholzung verhindern. Daher dürfe man seine Einwohner zur medizinischen Behandlung auch nicht für ein paar Wochen in die Städte schicken: Viele Indios sind den Versprechungen eines vermeintlich luxuriösen Stadtlebens ohnehin ausgesetzt. Fernseher tragen jedes Jahr den Karneval von Rio in die Hütten Kikretums, genauso wie die Musikvideos US-amerikanischer Popidole und, Tag für Tag, die Telenovelas mit Bildern materiellen Wohlstands. Was man sich mit Geld alles kaufen kann, daran erinnern sich die älteren Kayapo lebhaft: In den 1980er-Jahren brachten Goldfunde im Gebiet der Kayapo allerhand Glücksritter hierher. Die einströmenden Goldsucher mussten den Indios Abgaben auf ihre Funde bezahlen, die Kayapo kauften sich mit den Einkünften am Ende sogar Flugzeuge. Nach wenigen Jahren ebbte die Goldflut allerdings ab, das schnell gemachte Vermögen der Kayapo war ebenso schnell durchgebracht. Doch Prostitution und Drogenhandel hatten sich inzwischen an den Rändern des Reservats festgesetzt. Die Zivilisation findet ihre Wege in den Urwald. Hohe Kindersterblichkeit. In Paikis Behausung, in der er inzwischen mit seinem Fang angekommen ist, stehen zwei Fernsehapparate. Müll liegt herum, die Habseligkeiten der Familien befinden sich in Plastiktüten, die an der Wand hängen. Paiki teilt sich seine Hütte mit einer weiteren Familie. Man schläft auf dem Boden, in Zelten oder in Hängematten. In einer liegt gerade Paikis Frau, sie stillt den Nachwuchs. Mangelnde Hygiene und das feuchte Klima setzen vor allem den jungen Indios im Amazonasgebiet zu: Atemwegserkrankungen kommen bei Kindern häufig vor, die Kindersterblichkeit ist hier fast zehnmal so hoch, wie in São Paulo, rechnen die Ärzte vor. Iria Novaes, eine Gynäkologin aus Campinas, berichtet: Viele Frauen haben Vorbehalte, sich untersuchen zu lassen. Oft nehme ich die erste gynäkologische Untersuchung im Leben der Frauen überhaupt vor. Dabei hilft ihr eines der beiden Ultraschallgeräte, die Siemens, neben finanziellen Zuwendungen an EDS, zur Expedition beigesteuert hat. Eines Abends, kurz bevor sie zur Nachtruhe in ihr Zelt schlüpft, berichtet sie von den Fällen des Tages. Etwa von einer 27-jährigen Frau, deren Situation ihr nahe geht: Verdacht auf Krebs, eine Gewebeprobe ist auf dem Weg zur Biopsie, nach Campinas, in die Universitätsklinik. Doch schon jetzt gibt es eine gute Nachricht: Metastasen haben sich bisher offenbar keine gebildet, das zeigt die Ultraschallunter- suchung. Noch ist also Zeit, noch gibt es Hoffnung auf Heilung. Die Kommunikation zwischen Patienten und Ärzten über die kulturellen Gren zen hinweg ist allerdings nicht leicht. Übersetzer unterstützen in Kikretum, und manch ein Kayapo wie etwa Paiki spricht leidlich Portugiesisch. Doch viele Gesten, die für den Austausch zwischen Patient und Arzt so wichtig sind, bleiben unverstanden. Ein Problem, mit dem Ärzte nicht nur am Amazonas konfrontiert werden. Auch wenn die Situation der Eingeborenen hier in vielerlei Hinsicht extrem ist, Milliarden Menschen in ländlichen Gebieten auf der ganzen Welt leiden unter eingeschränktem Zugang zu medizinischer Versorgung (Pictures of the Future, Frühjahr 2011, S.88). Dabei lässt sich ihre Situation zu moderaten Kosten erheblich verbessern, wenn wie bei den Einsätzen von EDS zwei Dinge zusammenkommen: die Leidenschaft einzelner Ärzte und moderne, bezahl bare Technologie. Um Letztere bereitzustellen, produziert Siemens zunehmend in Schwellenländern vor Ort, statt die Geräte einzuführen. Auch Augenarzt Celso Takashi Nakano will nicht mit zweitklassigem oder ausrangiertem Gerät arbeiten, nur weil er im Urwald operiert. Er hat beharrlich Spenden gesammelt, sodass er bei den Expeditionen nun die modernste Ausstattung nutzen kann, die am Markt verfügbar ist. Er operiert vor allem Grauen Star und das am laufenden Band; bis zu 20 Eingriffe schafft er an einem Tag. Wir haben hier die schwierigsten Fälle der Welt, erklärt er. Eine Herausforderung, auch für ihn, der an der Uniklinik von São Paulo als der Mann für die komplizierten Fälle gilt. Die Pupillen der Kayapo erweitern sich kaum, das mag mit ihrer Ernährung zu tun haben, mutmaßt Nakano. In jedem Fall erschwert es die Eingriffe, denn durch die enge Pupille muss er sein Werkzeug einführen. 9.30 Uhr, der erste Fall des Tages: Mit Ultraschall zertrümmert Nakano die eingetrübte, verhärtete Linse eines Patienten, danach führt er mit einer winzigen Pinzette die neue Linse ein. Die operierten Kayapo wachen wenig später in einer Hängematte in der Dorfschule wieder aus ihrer Narkose auf, mit einem dicken Verband auf dem operierten Auge. Einer der ersten Patienten, dessen Augenverband abgenommen wurde, besucht die Ärzte beim Mittagessen; die Sonnenbrille, die er nun trägt, lässt ihn aussehen, wie einen gealterten Rockstar. Schaut her, wie klar mein Blick jetzt ist! ruft er auf Portugiesisch und nimmt die Brille ab. Vor seiner Operation hatte er ein Sehvermögen von nur noch 15 Prozent; bald, wenn das operierte Auge ganz ausgeheilt ist, könnten es wieder über 80 Prozent sein. Die Ärzte rufen ihm freundlich den Gruß der Kayapo nach, Meikumré, alles gut. Einige der Expeditionsteilnehmer tragen gegen Ende der ersten Woche sogar die traditionellen Bemalungen des Stammes auf ihrer Haut. Vor dem Zelt der Zahnärzte werden die Schlangen länger, je näher das Ende der Expedition rückt. Es hat sich herumgesprochen, dass die Zahnärzte, die diesmal gekommen sind, seltener Zähne ziehen und mehr vom Gebiss retten. Wer noch nicht drangekommen ist oder bisher zögerte, will nun seine Chance nutzen. Kekét meitere steht als Werbung auf dem Schild außerhalb des Zeltes: schönes Lächeln. Im Inneren müssen die Zahn ärzte auf der Höhe ihrer Kunst arbeiten, wie Pedro Affon so Ferreira aus Campinas erklärt: Wir haben hier zu wenige Speziallampen. Also benutze ich zusätzlich eine Stirnlampe. Deren Licht lässt aber manche Materialien rascher aushärten. Also muss ich schneller arbeiten. Stundenlange Regengüsse. Draußen hat sich wieder einmal der Himmel verdunkelt, wie so oft Nachmittags. Blätter rascheln im auffrischenden Wind, ein Tröpfeln, das in einen stundenlangen Regenguss übergeht. Danach wird sich Kikretum in Sumpfland verwandelt haben. Improvisierte Stege aus Brettern wie auf dem Markusplatz in Venedig bei Überschwemmung ermöglichen es den letzten Patienten, die anreisen, zu ihrem Quartier und später zur Dorfschule zu laufen. Ein letztes Boot aus A Ukre. Ein weiteres, großes, aus Go- Viele Gesten, die für den Austausch zwischen Arzt und Patient wichtig sind, bleiben unverstanden. rotiri. An Bord unter anderem neun Patienten mit Malaria-Symptomen. Vor zwei Jahren gab es in diesem Teil des Kayapo-Territoriums kaum noch Malaria-Fälle, doch die Infektionskrankheit ist wieder auf dem Vormarsch. Hier hilft nur Prävention, nicht der punktuelle Einsatz von Spitzenmedizinern mit modernen Gerätschaften, das wissen auch die Ärzte von EDS. In wenigen Tagen werden sie ihre Zelte abbrechen und von der staubigen Dschungelpiste abheben, mit den einmotorigen Flugzeugen, die sie zum nächsten größeren Flughafen in Marabá bringen. Von dort geht es weiter, in die großen Städte im Süden Brasiliens, wo die meisten von ihnen leben und arbeiten. Nach Kikretum werden sie auf absehbare Zeit nicht zurückkehren, denn jede Expedition von EDS sucht sich ein neues Ziel. Bedarf nach Gesundheitsleistungen gibt es im riesigen Amazonas schließlich an allen Ecken und Enden. Paiki schlendert zur Bootsanlegestelle, während ein Kayapo-Junge mit seiner Schleuder Steine auf den Rio Fresco hinausschleudert. Sie haben nicht mal gebohrt!, ruft Paiki erfreut aus. Er hat es am Ende doch noch zum Zahnarzt geschafft. Er lächelt und entblößt seine über die vergangenen Jahre mit viel glänzendem Metall reparierten Zähne. Wir werden traurig sein, wenn die Doktoren gehen, fügt er hinzu. Kann es sein, dass Paiki selbst eines Tages den Urwald verlassen würde? Unvorstellbar, sagt er. Er gehöre hierher. In der Stadt lasse sich zwar der Schmuck, den seine Frau anfertigt, gut verkaufen, aber unübersichtlich sei es dort, allein finde er sich nicht zurecht. Der kleine Junge am Flussufer hat zu tanzen begonnen, zwischen seinen Steinwürfen singt er in verständlichem Englisch den Refrain eines Songs, den er kürzlich im Fernsehen aufgeschnappt hat: Baby, baby, baby, oh! Baby, baby, baby, oh! Andreas Kleinschmidt 46 Pictures of the Future Herbst 2011 Pictures of the Future Herbst 2011 47

Highlights 53 Die Wissenschaft der Prognosen Wie können uns lernende Systeme in einer immer komplexer werdenden Welt helfen? Neue Prognosetechnologien werden auf vielen Feldern die Zukunft erhellen. 57 Klarer Blick in den Körper Künftig können lernende Systeme Diagnose- und Behandlungsverfahren optimieren. So werden Arbeitsabläufe schneller, präziser und effizienter. 62 Maschinen als Schüler Wie lernen Maschinen? Was sind die Herausforderungen und welche Potenziale bergen derartige Systeme? Prof. Dr. Bernhard Schölkopf und Prof. Dr. Tomaso Poggio geben im Inter view Antworten auf diese Fragen. Seiten 62, 68. 64 Maschinenauge, sei wachsam Für künstliche Intelligenz ist maschinelles Sehen die größte Herausforderung. Doch Schritt für Schritt bringen Siemens-Wissenschaftler lernenden Systemen das Sehen bei. So sollen in Zukunft der Verkehr, Gebäude oder Industrieanlagen sicherer werden. 67 Sehen heißt Verstehen Systeme zur maschinellen Zeichenerkennung haben bereits den Postverkehr revolutioniert. Doch die Potenziale dieser Form von Erkennungstechnologie reichen weit darüber hinaus. Seiten 67, 70. Wie Maschinen lernen Szenario 2035 Unsichtbarer Prophet 2035 Hilfe naht: Kurz vor ihrer Herzklappen-Operation wird Denise, Erfinderin einer neuen Technologie für maschinelles Lernen, bewusst, dass Konkurrenten ihr nach dem Leben trachten. Was die Verbrecher jedoch nicht wissen: Die neue Spezial-Software verfolgt all ihre Spuren minutiös, bis sie dingfest gemacht werden können. Noch auf dem Behandlungstisch in der Abteilung für interventionelle Kardiologie versucht Denise die Täter ausfindig zu machen. 2035. Denise hat eine Software entwickelt, mit der potenzielle Angriffe auf Unternehmen aufgedeckt werden können. Doch nun findet sie heraus, dass sie selbst Zielscheibe eines heimtückischen Plans geworden ist. Die Täter wissen allerdings nicht, dass die Pilotversion der Software schon gelernt hat, ihre Handlungen vorherzusagen... Was denken Sie, dass sie tun werden, Denise?, fragte Dr. Higgs und sah mich entsetzt an, nachdem ich meine missliche Lage erklärt hatte. Ich bin mir nicht sicher, antwortete ich. Aber ich fürchte, es könnte jeden Moment etwas geschehen. Ich versuchte, mich auf dem Behandlungstisch in der Abteilung für interventionelle Kardiologie zu entspannen, während ein multimodaler Scanner einen 3D- Bildsatz der defekten Mitralklappe meines Herzens erstellte. Zugleich wartete ich gespannt darauf, ob die Pilotversion einer neuen Soft- ware meiner Firma Prophet Analytics handfeste Beweise dafür liefern würde, was meine Konkurrenten planten Vor einem Jahr habe ich das Unternehmen gegründet. Meine Idee war, mithilfe patentierter Lernalgorithmen Gefahren für Firmen und Menschen aufzuspüren, mögliche Angriffe vorherzusagen und damit auch abwenden zu können. Die Pilotversion dieser Software namens Prophet sollte als Hochsicherheits-App auf meinem Communicator laufen. Sie ist darauf trainiert, anomale Ereignisse in meinem Umfeld zu erkennen. Prophet schickt Software- Agenten durch die Netzwerke, die alle möglichen Sensordaten analysieren. Sobald die Sensoren etwas Außergewöhnliches feststellen, formuliert Prophet Hypothesen und vergleicht sie mit dem tatsächlichen Geschehen. Dabei lernt das Programm aus seinen Erfahrungen und erhöht kontinuierlich seine Genauigkeit. Obwohl die Entwicklung der Software streng geheim abgelaufen war, hatte offenbar jemand davon erfahren und sah nun seine Geschäfte bedroht. 48 Pictures of the Future Herbst 2011 Pictures of the Future Herbst 2011 49

Mithilfe patentierter Lernalgorithmen soll die Hochsicherheits-App Gefahren für Firmen und Menschen aufspüren. Doch wer immer mir auch nachstellte und das Programm verhindern wollte er kam zu spät. Die Prophet-Testversion lief bereits, ebenfalls streng geheim natürlich. Sie schlug erstmals Alarm, als Dr. Shanti, Wissenschaftler eines Wettbewerbers, unserer Firma einen Besuch abstattete und dabei ein gemeinsames Picknick mit unseren Top-Managern vorschlug. Scheinbar besorgt erkundigte er sich bei einem Kollegen von mir, ob ich irgendwelche Allergien hätte. Ein Prophet-Agent in einem audiovisuellen Sensor unserer Lobby registrierte dabei einen verdächtigen Tonfall in seiner Stimme. Nur ein Detail, doch kurz darauf entdeckten Prophet-Agenten, dass jemand versucht hatte, auf meine Akte bei meinem früheren Kinderarzt zuzugreifen. Unter anderem war darin eine allergische Reaktion auf einen Bienenstich aufgezeichnet. Prophets Hypothese-Engine startete daraufhin eine Suche nach Verbindungen zu Melittin, dem Hauptbestandteil von Bienengift. Dabei stellte sich heraus, dass ein Professor, der sich erst kürzlich mit Dr. Shanti getroffen hatte, ein kleines Unternehmen für Nanogeräte besitzt, die industriell erzeugtes Melittin zur Krebsbekämpfung einsetzen. Dann, vor etwa einem Monat, wurde mir bei einem Wohltätigkeitsturnier ein Volleyball so hart gegen die Brust geschlagen, dass mich die Heftigkeit des Schlags umwarf. Ein Ultraschalltest direkt vor Ort wies dank Verbindung zu einer Wissensdatenbank auf einen möglichen Riss der Sehnenfäden hin, die die Mitralklappe des Herzens festhalten. Solche Risse können einen Rückfluss von Blut durch die Klappe auslösen und zu Herzschwäche führen. In der Hitze des Gefechts wurden die Untersuchungsergebnisse automatisch und mit nur geringer Datensicherheit an ein nahegelegenes Krankenhaus geschickt. Am nächsten Morgen grübelte ich über Prophets Erkenntnisse nach, die bisher noch keineswegs eindeutig waren. Dabei kam mir der Gedanke, den Unfall und die mangelnde Datensicherheit als Falle für eventuelle Angreifer zu benutzen. Wenn tatsächlich jemand etwas gegen mich oder das Unternehmen planen sollte, würde er bei meinem sorglosen Umgang mit Informationen nicht darauf kommen, dass ich ihm auf der Spur bin. Deshalb ließ ich weitere Daten über die Ultraschalluntersuchung mit niedriger Sicherheit zwischen meinem Büro und der Kardiologie des Krankenhauses hin- und hergehen. So auch eine Terminabsprache für einen interventionellen Eingriff, bei dem die beiden Segel der Klappe mit einem Clip verbunden werden sollten. Im Laufe des Nachmittags lieferte Prophet die unterschiedlichsten Anhaltspunkte. Gesprächsfetzen und Bilder von Sensoren aus Fahrzeugen, Straßen und auf Parkplätzen deuteten darauf hin, dass das hochautomatisierte Prosthetic Device Production Center (PDCD) des Krankenhauses im Mittelpunkt stand. Besonders interessant war ein scheinbar zufälliges Aufeinandertreffen von Dr. Shanti und einem früheren Manager von Prophet Analytics, Dr. Clark Hallick, an einer KwickC-Aufladestation für Elektrofahrzeuge. Kurz danach gingen sie gleichzeitig in die Toilettenräume. An Clark konnte ich mich gut erinnern, da wir uns einige Male privat verabredet hatten. Wegen seines egozentrischen Verhaltens trennten wir uns dann aber im Streit, und er verließ kurz darauf das Unternehmen. Jetzt stellte sich heraus, dass er ein Optimierungsprogramm für maschinelles Lernen im Krankenhaus leitete und dass Luftfiltersensoren in der Toilettenräumen etwas sehr Ungewöhnliches wahrgenommen hatten: Melittinmoleküle. Nachdem Prophet eine große Menge an Informationen zu persönlichen Angaben, Lebensläufen und Echtzeit-Aktivitäten der mutmaßlichen Täter gesammelt hatte, begann es sich auf die wahrscheinlichsten Szenarien zu konzentrieren. Und tatsächlich: Das Szenario mit der höchsten Wahrscheinlichkeit von 93 Prozent wurde Wirklichkeit. Am späten Abend bereitete Hallicks Abteilung einen Test vor, angeblich um zu prüfen, ob die Videoüberwachungssysteme des Krankenhauses gehackt werden könnten. Offiziell sollte der Test zwei Tage später in den frühen Morgenstunden durchgeführt werden also kurz vor meinem Behandlungstermin im Krankenhaus. Als ich dann auf dem Behandlungstisch lag, und Dr. Higgs die Abbildung meiner Mitralklappe auf dem Display untersuchte, erschien die Skizze eines individualisierten Prothese-Clips auf dem Monitor. Mit einigen Klicks auf virtuelle Knöpfe der Bedienoberfläche schickte er den Datensatz zur Fertigung an das PDPC. Nur Augenblicke später blinkte ein blaues Licht auf einem Bedienfeld und zeigte an, dass der maßgefertigte Clip über eine Druckluftleitung angekommen war. Gleich ist alles überstanden, Denise, versicherte mir Dr. Higgs. Ich gebe Ihnen jetzt ein Beruhigungsmittel. Doch bevor er ein kleines Drehrad am Katheter, der mit meiner Leiste verbunden war, berühren konnte, hielt ich seine Hand fest. Ich würde mir die Prothese erst gern anschauen, sagte ich zu ihm. Bitte öffnen Sie das Fach, damit ich sie kurz untersuchen kann. Das Fach öffnete sich, und ich hielt mein Smartphone über das winzige Objekt. Diese neuesten Mobiltelefone können Objekte automatisch erkennen und sie mit Preisund Ortsinformationen katalogisieren. Spezielle Anwendungen ermöglichen das virtuelle Öffnen der Geräte, indem ihre Internetdaten untersucht werden. So kann man ihr Innenleben sehen, hören, analysieren und Preise vergleichen. Ausgestattet mit der Prophet-Technologie, suchte das Smartphone jetzt nach allem, was auf der Basis seiner Vorkenntnisse möglicherweise zu erwarten wäre. Nur einen Sekundenbruchteil später erschien eine Warnung auf dem Display: Im PDPC hatte es kurz vor der Herstellung des Clips einen Datenausfall gegeben. Schlimmer noch: Das im Smartphone integrierte Laserdioden- Spektrometer fand in der Prothese Spuren von Melittin, wahrscheinlich gekoppelt mit einem zeitgesteuerten Abgabemechanismus. Mein Gott!, rief Higgs aus. Mit Ihrer Krankengeschichte wäre das... Genau, sagte ich. Und bis weit nach meiner Entlassung aus dem Krankenhaus wäre nichts passiert. Ich richtete mein Smartphone auf einen breiten Wandmonitor, der normalerweise zur Anzeige zellulärer, physiologischer und anatomischer Daten diente. Nun übernahm der Monitor die Rolle des Smartphone-Displays, da dieses für die Darstellung der komplexen Informationen zu klein war. Nacheinander erschienen die Bilder und Berichte des Verbrechens, das Prophet rekonstruiert hatte und jetzt stetig aktualisierte. Zuerst war eine Nahaufnahme meiner Prothese und die entsprechenden Spektroskopie- Befunde zu sehen. Danach erschien das Bild eines M6-Sanitärroboters mit einem Bericht darüber, dass Spuren von Melittin und Clarks DNA auf Handschuhen gefunden worden waren, die der Roboter automatisch untersucht hatte. Als drittes folgte ein Bild von Clark, wie er das PDPC an diesem Morgen bereits um 4 Uhr 35 betrat. Als ich auf das Prophet-Symbol Bericht an Sicherheitsdienst übertragen drückte, wurde schließlich eine Ansicht der Krankenhauslobby gezeigt. Eine Person war hier rot eingekreist und mit Hallick C gekennzeichnet. Sie bewegte sich auf den Ausgang zu, während zugleich bei einer blau eingekreisten Person in Uniform zu lesen war: Sicherheitsdienst informiert. Tja, sagte ich zu Higgs, ich glaube, jetzt haben wir ihn. Da haben Sie wohl recht, Denise, antwortete er erleichtert. Dann würde ich vorschlagen, dass ich jetzt eine neue Prothese bestelle, und die Behandlung zu Ende führe. Arthur F. Pease Intelligenz auf dem Sprung: Noch können Systeme zur Bildauswertung nur Personen oder Gegenstände registrieren. In fernerer Zukunft sollen sie auch verstehen, was auf einem Bild geschieht. Wie Maschinen lernen Trend Von Komplexität profitieren Ob sie an Tausenden von Beispielen trainiert wurden oder selbst Schlussfolgerungen ziehen, lernenden Maschinen gehört die Zukunft. Ihre Einsatzgebiete reichen von der Analyse medizinischer Bilder bis zur Vorhersage der Leistung von Windparks. So helfen sie uns, mit einer immer komplexer werdenden Welt nicht nur zurechtkommen, sondern auch von ihr zu profitieren. Sie arbeiten in Kraftwerken, Lagerhallen und Krankenhäusern. Man findet sie in Überwachungszentren, Finanzabteilungen und bei der Postsortierung. Manche hämmern auf glühendes Metall, andere fliegen wie kleine Hubschrauber durch Fabrikhallen, wieder andere helfen, riesige Mengen Strom zu erzeugen. Sie alle gehören zu einer neuen Generation von Systemen: den lernenden Maschinen. Die Fähigkeit, aus Erfahrung zu lernen, macht aus Maschinen Systeme, die sich erinnern, selbstständig entwickeln und die uns nicht selten überraschen sei es dadurch, dass sie die Effizienz der weltgrößten Turbine noch steigern können oder dass sie die Anatomie des Herzens automatisch erkennen, was entsprechende Eingriffe sicherer und für den Patienten schonender macht. Ist das ein Paradigmenwechsel oder der Beginn einer Revolution? Ganz gleich wie man es nennt, maschinelles Lernen beschleunigt den Wissenserwerb und wird zu einem entscheidenden Wettbewerbsfaktor. Lernen ist das Tor zur Intelligenz, sagt Tomaso Poggio, Professor im Fachbereich Gehirnund Kognitionswissenschaften am Labor für Künstliche Intelligenz des Massachusetts Institute of Technology (MIT, S.68). Die Komplexität und die Spezialisierung unserer Gesellschaft nehmen immer weiter zu. Maschinelles Lernen eignet sich hervorragend, all die gesammelten Daten zu verarbeiten und Optimierungsmöglichkeiten zu erkennen. Deshalb ist es bereits heute die einzige Lösung, um hochkomplexe Prozesse zu beherrschen. Die Welt mathematisch abbilden. Was könnte komplexer sein, als beispielsweise die Entwicklung der Strom- oder Kupferpreise vorherzusagen, die von tausenden Variablen abhängen? Genau für solche und ähnliche Aufgaben hat Siemens das lernende System Software Environment for Neural Networks (SENN) entwickelt (S.53). Schon jetzt unterstützen die Vorhersagen von SENN Siemens beim Einkauf von Strom in Deutschland und von großen Kupfermengen weltweit. Dr. Hans-Georg Zimmermann, der SENN maßgeblich mitentwickelt hat und die meisten Patente an der Software hält, erklärt: Die Prognostik ist ein Rennen zwischen der sich steigernden Komplexität der Welt und unserer zunehmenden Fähigkeit, mit den Möglichkeiten der Informationstechnologie die Welt mathematisch abzubilden. Ein weiteres gutes Beispiel für den Zusammenhang von Komplexität und IT-Lösungen sind Verfahren, die statt Operationen am offenen Herzen einen Katheter verwenden. Um sie durchführen zu können, muss der behandelnde Arzt jedoch praktisch in den Patienten hineinsehen können. Hierfür entwickeln Wissenschaftler Bildverarbeitungssysteme, die sie mit tausenden Bildern menschlicher Herzen trainieren. Diese Computersysteme können dann beispielsweise selbsttätig die Umrisse einer Aortenklappe auf flimmernden Angiographie- und Ultraschallbildern identifizieren. Sie erkennen auf beiden die entsprechenden anatomischen Punkte und kombinieren diese Bilder anschließend zu einer Hybridansicht (S.57). Anders als beim menschlichen Lernen, bei dem umso weniger nützliche Informationen extrahiert werden können, je größer die Datenmenge ist, entfalten künstliche Systeme ab einem bestimmten Komplexitätsgrad erst ihr volles Potenzial. So haben sie bereits erstaun liche Erkenntnisse in Versuchen geliefert, in denen mögliche Beziehungen zwischen verschiedenen 50 Pictures of the Future Herbst 2011 Pictures of the Future Herbst 2011 51

Bereichen des menschlichen Genoms erkannt werden sollten eine unlösbare Aufgabe für das menschliche Gehirn (S.62). Wenn die Software erst einmal auf diesem Gebiet trainiert wurde, erklärt Prof. Dr. Bernhard Schölkopf, Direktor des Max-Planck-Instituts für intelligente Systeme in Tübingen und Stuttgart, werden die Ergebnisse immer präziser, je mehr Daten eingespeist werden. Dasselbe gilt für den Zusammenhang von lokalen Wetterbedingungen und der Vorhersage der Leistung eines Windparks hier müssen große Datenmengen in Echtzeit verarbeitet werden (S.70). Wissenschaftler von Siemens haben dafür ein autonomes lernendes System entwickelt, das vor Ort Sensordaten zu Windgeschwindigkeit, Turbulenzen, Temperatur und Druck sammelt. Die Software erfasst schrittweise den Zusammenhang zwischen Inputvariablen und Output des Windparks und passt dann Parameter wie den Anströmwinkel der Rotorblätter an, um die Leistung zu optimieren. Da es im Betrieb immer mehr Erfahrungen sammelt, kann das System mit der Zeit eine wesentliche Verbesserung der Gesamtleistung eines Windparks erzielen. Auch bei der Wartung von Windparks können wir von maschinellem Lernen profitieren. Kleine fliegende Videoplattformen könnten mittels Laser und optischen Sensoren Inspektionen durchführen. Ein Beispiel: Nach einem schweren Sturm möchte ein Betreiber Türme und Propeller auf Schäden überprüfen lassen. Dafür ist eine direkte visuelle Inspektion besser als eine Prüfung mit Fernglas. Warum nicht fliegende Roboter verwenden? Genau so etwas sollen künftig die Quadcopter leisten können, die Wissenschaftler von Siemens Corporate Technology (CT) in Princeton und dem MIT in Boston konstruieren kleine fliegende Videoplattformen, die mithilfe von Lasern und optischen Sensoren Inspektionen durchführen und 3D- Modelle ihrer Umgebung erstellen (S.64). Die Geräte wurden bereits in Tests zur Überprüfung großer Industrieanlagen eingesetzt, wo sie detaillierte digitale Karten vom Inneren der Anlagen erstellten, um Modernisierungsmaßnahmen zu unterstützen. Sie könnten auch darauf trainiert werden, Schäden bei Windparks genau zu erkennen und zu lokalisieren. Was haben Briefumschläge, Nummern- und Straßenschilder, Pharmaprodukte und Supermarktregale gemeinsam? Buchstaben, Zahlen und den Bedarf an Systemen, die diese automatisch lesen und zuordnen können. Auch hierfür liegt der Schlüssel im maschinellen Lernen (S.67). Siemens ist weltweit führend bei Adresslesesystemen für Postverteilzentren. Dank einer ausgeklügelten Schrifterkennung können 90 bis 95 Prozent aller handgeschriebenen Texte fehlerfrei gelesen werden. So etwas hilft bei der Nummernschild-Erkennung, die für Mautsysteme ebenso wichtig ist, wie bei Systemen, die speziell gekennzeichnete Gefahrguttransporte identifizieren es ist ein Markt mit einem riesigen Potenzial weltweit. Maschinelles Lernen erobert sogar Werkzeugmaschinen wie Hochleistungsbohrer und -drehbänke. So wurde 2008 im Technology-to- Business-Center von Siemens in Berkeley, Kalifornien, unter Leitung von Dr. Sarah Peach ein Programm ins Leben gerufen und vor kurzem an CT in Princeton zur weiteren Entwicklung übergeben. Dabei arbeiten die Forscher Dr. Linxia Liao und Zack Edmonson zusammen mit der Geschäftseinheit Motion Con trol an der Feinabstimmung einer Software namens Plug and Prognose (PnP). Dank dieses Programms können Werkzeugmaschinen kontinuierlich von Sensordaten wie Vibrationen, Strömung, Drehmoment, Drehzahl und Temperatur lernen und ihre Leistung so anpassen, dass sie den optimalen Werten entspricht. Um die Maschinen zu testen, muss sie dann kein Spezialtechniker mehr außer Betrieb setzen. Die Software bezieht auch die nötige Flexibilität der Produktionslinie in die Berechnungen mit ein. Wenn etwa ein neuer Auftrag hereinkommt, bei dem dickere Aluminiumplatten durchbohrt werden müssen, kommuniziert PnP mit der Maschinensteuerung und passt die entsprechenden Parameter an, erklärt Liao. Der PNP-Algorithmus ändert sich automatisch ohne Zutun des Bedieners. Kurz: Die Maschine lernt aus Erfahrung. Generell kann maschinelles Lernen jede erdenkliche Technologie vorantreiben: ob in der Medizintechnik, der Energieversorgung, der Automatisierung, bei Sicherheitsanwendungen oder der Vorhersage von Preis- und Absatzentwicklungen. Trotzdem gibt es einige grundlegende Aufgaben, die damit noch nicht gelöst werden können: zum Beispiel zu interpretieren, was auf einem Foto von Personen auf einer Party gerade geschieht. Ich denke, das wäre eine der größten intellektuellen Herausforderungen für eine Maschine, sagt Poggio. Es gibt Systeme wie Watson von IBM, die Antworten auf komplexe Fragen finden. Es gibt Systeme, die Menschen oder Autos auf einem Bild zählen können. Aber zu erkennen, was auf einem Bild geschieht? Bis ein künstliches System dazu fähig ist, werden wahrscheinlich noch mindestens 20 weitere Jahre vergehen. Arthur F. Pease Schauen Sie mal für einen Moment aus dem Fenster. Was sehen Sie? Vermutlich Gebäude und Bäume doch wenn Sie noch nie ein Haus oder einen Baum gesehen oder auch nur davon gehört hätten, würde Ihnen die Umgebung wohl eher wie ein wirres Durcheinander unbekannter Formen vorkommen. Dass dies nicht so ist, liegt an den Lernprozessen in un- Vorhersage via Software: Dr. Hans-Georg Zimmermann von Corporate Technology hat das lernende System Software Environment for Neural Networks entwickelt ein Prognosetool auf Basis neuronaler Netze. Wie Maschinen lernen Prognosesysteme Die Wissenschaft der Prognosen Wann ist für ein Unternehmen der beste Zeitpunkt, um Strom oder Rohstoffe zu kaufen? Wie weit im Voraus lässt sich die Energieproduktion eines Windparks möglichst präzise vorhersagen? Siemens entwickelt Verfahren, die die Schlüsselparameter solcher Systeme automatisch erkennen, überwachen und daraus lernen können. Damit werden langfristige Voraussagen mit erstaunlicher Genauigkeit möglich. serer Kindheit, die dazu führten, dass unser Gehirn Modelle gebildet hat. Sie ordnen die Menge an Bilddaten, die unsere Augen liefern, sofort in Kategorien ein. Künstliche Systeme stehen vor einer ähnlichen Herausforderung, allerdings arbeiten die betreffenden Modelle mit Mustern, die so vielschichtig sind, dass wir niemals etwas darin erkennen könnten und doch sind das Muster, mit deren Hilfe immer erfolgreichere Vorhersagen getroffen werden. Und sie funktionieren! Die Prognosetechniken, die zurzeit bei Siemens entwickelt werden, liefern erstaunlich scharfe Schnappschüsse der Zukunft. Dabei können Leistung, Verhalten und Wartungsbedarf von Systemen von der Turbine bis zum Windpark genauso vorhergesagt werden wie ökonomische Trends oder die Entwicklung von Rohstoffpreisen und Börsenkursen. Schon jetzt wird Siemens beim Einkauf von Strom in Deutschland und für den Kupferbedarf weltweit durch Vorhersagen seines lernenden Systems Software Environment for Neural Networks (SENN) unterstützt. Es ist nach den Worten des leitenden Forschers Dr. Hans-Georg Zimmermann, das technisch ausgefeilteste hochdimensionale, nichtlineare Mo dellbildungssystem seiner Art. Dank 20 Jahren Erfahrung in der Integration von mathematischer Forschung, Software-Entwicklung und realen Anwendungen konnte SENN durchgängiger als jedes andere Programm auf die Prognostik konzentriert werden. Präzise Nachfrageprognosen. Zimmermann hat die mathematischen Grundlagen für über 60 industrielle Prognosesysteme geschaffen, besitzt 22 Patente zum Schutz der entsprechenden Modellarchitekturen des Software- Systems und hält Vorlesungen in Quantitative Finance. Neuronale Netze bieten seiner Meinung nach wesentliche Vorteile gegenüber konventionellen Prognosesystemen auf Basis linearer Logik. Neuronale Netze kommen mit realen Anwendungen zurecht, egal, wie nicht-linear oder hochdimensional das zugrundeliegende Problem ist. Außerdem sind sie ein eleganter Rahmen für die Modellierung temporärer Strukturen, erklärt er. In einer aktuellen Studie, bei der es um die Vorhersage der Nachfrage für 16 verschiedene Schaltschrankmodelle ging, hat Zimmermanns Team SENN gegen ein lineares Modell ins Rennen geschickt. Die beiden Systeme prognostizierten für jeden Schaltschrank die Absatzvolumina für ein ganzes Jahr, Monat für Monat. Dabei bezog SENN auch Faktoren wie Währungskurse und Schwankungen des Automatisierungsmarktes mit ein. Das Ergebnis: SENN erzielte einen Vorhersagefehler von nur 23,3 Prozent und ist damit viel genauer als das lineare Modell mit 52,6 Prozent. Solche hochpräzisen Nachfrageprognosen können bei der Optimierung der Lieferkette helfen und die Kosten reduzieren, sagt Zimmermann. Auch bei der Vorhersage der Leistung von Windparks spielt SENN eine wichtige Rolle. So hat Siemens Wind Power in Dänemark das SENN-Team gebeten, die Leistung eines großen Windparks auf einer 72-Stunden-Basis vorherzusagen. Dabei verwendet SENN Wettervorhersagen, die sich nur auf ein grobes Raster beziehen, und wandelt sie in Vorhersagen für die lokale Energieerzeugung um. Mit dem steigenden Anteil von erneuerbaren Energien wie Wind am Energiemix müssen Energieversorger nicht nur die Nachfrage, sondern auch die Liefermengen vorhersagen können, erklärt Zimmermann. Solche Prognosen sind wichtig, damit man einschätzen kann, 52 Pictures of the Future Herbst 2011 Pictures of the Future Herbst 2011 53

wann etwa Gasturbinen zugeschaltet werden müssen. Dafür hat Zimmermanns Team ein neuronales Netz entwickelt, das auf den wesentlichen Einflussparametern für die Stromerzeugung durch Windkraft basiert. Ziel ist es, ein Software-Modell zu entwickeln, das die reale Welt mathematisch darstellt, erklärt Zimmermann. Zu Beginn weiß das Modell jedoch nicht, wie wichtig die einzelnen Parameter sind genau hier kommt das maschinelle Lernen ins Spiel (siehe Kasten rechts). Zunächst weiß das System nur, dass es mit dem Input während der Trainingsphase ein Ergebnis produzieren muss, das der tatsächlichen Leistung des Windparks nahe kommt. Ausgehend von einer großen Diskrepanz am Anfang ändert der Lernalgorithmus die einzelnen Modellparameter nach und nach derart, dass die berechnete und die tatsächliche Leistung einander immer ähnlicher werden. Das System misst über mehrere tausend Iterationen seinen Vorhersagefehler und bewegt sich von anfänglichen Zufallsergebnissen weg, da es lernt, welche Gewichtungskombinationen von Parametern welche Ergebnisse erzielen. Das ist, wie beim Fußball Tore schießen zu lernen, erklärt Zimmermann. Der Spieler weiß nur, dass er den Ball ins Tor bekommen muss. Indem er es immer wieder in vielen Spielsituationen übt, lernt er schließlich, wie es geht. Auch SENN hat gelernt, wie es geht. Sein durchschnittlicher Vorhersagefehler bei der Prognose der Gesamtleistung des Windparks pro Tag genauer, die Wurzel aus der mittleren quadratischen Abweichung liegt nun bei 7,2 Prozent. Das ist ganze drei Prozentpunkte besser als das nächstbeste Modell der Physik. Für Photovoltaikanlagen werden zurzeit ähnliche Modelle entwickelt. Meister des Unbekannten. Auch für die Modellierung der NO X -Emissionen von Gasturbinen hat Zimmermanns Team ein neuronales Netz erstellt. Wie beim Windpark begann SENN mit Rohdaten und dem Ziel, im Lauf der Zeit die tatsächliche Turbinenleistung zu berechnen. Je mehr das Modell über die Beziehung der einzelnen Variablen zueinander lernte, desto besser konnte es das Verhalten der Turbine simulieren und so schließlich ihr Verhalten in Echtzeit und mit extrem hoher Genauigkeit voraussagen. In einer Turbine und in jedem anderen komplexen System passiert jedoch noch viel mehr, als sich in ihren bekannten Variablen ausdrücken lässt. Manche Variablen lassen sich nicht messen, und wieder andere kennen wir gar nicht, erläutert Zimmermann. Solche unbeobachteten Variablen können eine enorme Unsicherheit darstellen. Hier haben wir eine neue Methode entdeckt, das Unbekannte zu erklären und zwar als Interaktion von erkennbaren und versteckten Variablen. Wie maschinelles Lernen funktioniert und was es bringt Lernende biologische Systeme reichen vom Fadenwurm mit seinen rund 300 Nervenzellen bis zum Gehirn eines erwachsenen Elefanten mit 200 Milliarden Neuronen. Doch ob es sich um die Neuronen von Fruchtfliegen oder Kakerlaken, von Schimpansen oder Delfinen handelt: Sie alle verarbeiten und übermitteln Informationen. Der Grund dafür ist in der Biologie immer derselbe. Um Gefahren zu vermeiden und den Erfolg des eigenen Überlebens und der Fortpflanzung zu maximieren, müssen alle Organismen ihre Umwelt wahrnehmen und auf sie reagieren. Außerdem müssen sie sich an die Reize erinnern können, die Risiko oder Belohnung anzeigen. Lernen ist eine Voraussetzung für das Überleben in der Natur. Das gleiche eherne Gesetz trifft jedoch immer mehr auch auf künstliche Systeme zu. Laut Dr. Volker Tresp, einem Siemens-Experten für maschinelles Lernen und Informatikprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität München, gibt es drei Arten des Lernens: durch Erinnerung (etwa von bestimmten Fakten), über Fähigkeiten (wie einen Ball werfen) und durch Abstraktion (zum Beispiel das Ableiten von Regeln aus Beobachtungen). Computer, die auf dem ersten Feld wahre Genies sind, holen auch in den anderen beiden enorm schnell auf. Ein Beispiel ist die Fähigkeit, ein perfekt planes Stahlblech mit einer bestimmten Dicke herzustellen ein Gebiet, auf dem Siemens seit über 20 Jahren führend ist. Das einfachste Lernschema ist hier, eine Vorhersage zu treffen und dann zu prüfen, ob das fertige Produkt den Anforderungen entspricht, erklärt Tresp. Für die Herstellung eines besonders hochwertigen Stahls nutzt ein automatisiertes Walzwerk aktuelle Sensordaten, etwa über die Bandtemperatur, und schätzt dann den nötigen Druck auf der Grundlage bereits gelernter Informationen ab. Das künstliche neuronale Netz (1) gibt auf der Basis von bereitgestellten Informationen (2) eine Vorhersage (3) zum Gasverbrauch der nächsten sieben Tage ab. Grundlage für die Prognosen ist die Entwicklung des realen Systems über die letzten 14 Tage, die als Trainingsphase dienen. Drei Momentaufnahmen der Lernphasen: Zufallsgewichtung (4), im Lernprozess (5), Training abgeschlossen (6). Künstliche neuronale Netze können riesige Datenmengen verarbeiten, um ihre Vorhersagen anzupassen. Dafür muss das System ein mathematisches Modell erstellen, das eine möglichst genaue Abbildung der Realität erzeugt. Solch ein Modell ist im Wesentlichen eine Gruppe von Entscheidungseinheiten. Die Interaktion dieser Einheiten kann in Form einer Matrix dargestellt werden (siehe Kasten in jedem Diagramm). Je nach Komplexität der Anwendung Lernen aus Beobachtungen Neuro-Simulator 7-Tage-Vorhersage Momentaufnahme 14-Tage-Rückblick 2 Output: Gasverbrauch (7-Tage-Vorhersage) 3 Input: Temperatur, Feuchtigkeit, Strahlung, Zeit und externe Effekte. Jede Linie stellt ein Neuronenbündel dar (Gewichtsmatrix, siehe rechte Box). 1 Auf Basis seiner eigenen Daten passt es dann die Parameter so lange in Echtzeit an, bis es genau den richtigen Druck für die gewünschte Dicke gefunden hat. Über die Optimierung von Fähigkeiten hinaus werden künstliche Systeme verstärkt auch dafür eingesetzt, um herauszufinden, welche Charakteristika ein bestimmtes Objekt zum Teil einer Gruppe machen. Die Texterkennung (OCR für optical character recognition) ist ein Beispiel dafür. Klassischerweise wird sie für die Hochgeschwindigkeitssortierung von Briefen und Paketen genutzt. Seit ihrer Einführung etwa im Jahr 1985 ist die Genauigkeit der Handschriftenerkennung von wenigen Prozent auf heute über 95 Prozent für lateinische Buchstaben und auf über 90 Prozent für arabische Handschriften angestiegen. 2007 gewann das lernfähige Siemens-System ARTread den OCR-Wettbewerb für Arabisch der internationalen Konferenz für Dokumentenanalyse und -erkennung. Dank ihrer außergewöhnlich hohen Zuverlässigkeit wird die OCR-Technologie nun auch auf andere Anwendungen übertragen, wie etwa die automatische Erkennung von Nummernschildern und die industrielle Bildverarbeitung (S.67). Was wird in Zukunft noch möglich sein? Mit steigender Leistung und Zahl von Sensoren eröffnen sich enorme Chancen. Immer mehr Daten werden lokal und über Netzwerke zugänglich. So wird das Lernen im Kontext vernetzter Umgebungen in zwei großen Projekten verfolgt: Theseus (Pictures of the Future, Frühjahr 2008, S.89), zu dem Siemens sein System Medico beisteuert, ist ein Projekt, das sich darauf konzentriert, semantische Informationen aus Bild- und Textdaten zu gewinnen, um medizinische Arbeitsabläufe zu unterstützen. Das EU-Projekt LarKC (Pictures of the Future, Frühjahr 2011, S.84) beschäftigt sich mit skalierbaren Abfragen, Modellierung und maschinellem Lernen in vernetzten Systemen. Lernen mit vernetzten Informationen ist heute eines der spannendsten Forschungsfelder, ist Tresp überzeugt. Arthur F. Pease Gewichtsmatrix Gewichtsmatrix 5 Gewichtsmatrix 6 Trainiert Im Lernprozess 4 Untrainiert können hunderte Interaktionsmatrizen nötig sein. Am Anfang sind die Interaktionen noch zufällig. Wenn das System mit der Trainingsphase beginnt (Zeitstrahl links), ist sein Vorhersagefehler der Unterschied zwischen Erwartung und Beobachtung deshalb hoch (4). Sobald ein Vergleich mit den tatsächlichen Werten stattgefunden hat, wird der Vorhersagefehler an die Matrix zurückgegeben (Pfeile nach rechts zu jedem Kasten). So bewegt sich die interne Gewichtung jeder Entscheidungseinheit vom Zufall weg und ändert die Eingabeparameter auf Basis des bisher Gelernten (Pfeile nach links von jedem Kasten). Nach tausenden Iterationen, die alle zur Senkung des Vorhersagefehlers dienen (5), lernt das System irgendwann, den gesamten Informationsfluss so zu beschreiben, dass sein Output die realen Geschehnisse genau abbildet (6) und sie damit auch vorhersagen kann. Wer hat wie viel Neuronen? Fadenwurm 302 Neuronen Fruchtfliege 100.000 Kakerlake 1.000.000 Oktopus 300.000.000 Mensch 100.000.000.000 Elefant 200.000.000.000 54 Pictures of the Future Herbst 2011 Pictures of the Future Herbst 2011 55

Wertvolle Prognosen: Schon jetzt sorgt SENN dafür, dass Kursschwankungen (etwa für Kupfer) für Siemens kalkulierbar bleiben (links: Chicago Mercantile Exchange). Der gewöhnliche Ansatz für die Messung von Unsicherheit in dynamischen Systemen ist die Abweichung zwischen der Vorhersage des Modells und dem, was in der Realität tatsächlich geschieht, in eine Risikoeinschätzung zu verwandeln. Dafür wird angenommen, dass über die Unsicherheit, die in der Vergangenheit gemessen wurde, das zukünftige Risiko gut abgeschätzt werden kann. In der Finanzwelt, zu der auch die Kupfer- und Strompreise gezählt werden, ist es üblich, die Verteilung der Unsicherheit als Diffusionsprozess zu sehen, kalibriert durch die früher gemessenen Modellfehler, sagt Zimmermann. Die Diffusion der Unsicherheit wird dabei immer größer, je weiter wir in die Zukunft gehen. Zimmermann und sein Team haben hingegen einen alternativen Ansatz entwickelt. Da es nicht möglich ist, versteckte Systemvariablen eindeutig zu rekonstruieren, kann die Prognoseunsicherheit quantifiziert werden, indem man die Verteilung des Eintretens verschiedener Szenarien analysiert. Die Streuung der Szenarien wird dabei als Risikolevel interpretiert. Ein Hauptszenario auf Grundlage der Durchschnittswerte der verschiedenen Einzelszenarien die alle die gleiche Wahrscheinlichkeit haben kann dann als der wahrscheinlichste Zukunftstrend gesehen werden. Energiepreise auf 20 Tage im voraus Energiepreis in EUR 86 85 84 83 82 81 80 79 78 11.8. Das Marktrisiko wird auf diese Weise über die Variation der Szenarien charakterisiert, sagt Zimmermann. Bei einer begrenzten Anzahl von Beobachtungen gäbe es dann immer mehrere Wege, um versteckte Variablen zu rekonstruieren, so dass sich für die Zukunft verschiedene Szenarien ergäben. Siemens wendet diese Methoden bereits an, um Entscheidungen beim Strom- und Kupfereinkauf zu unterstützen. Anstatt einer einzigen zukünftigen Entwicklung, fügt Zimmermann hinzu, bietet diese Methode eine Reihe verschiedener Szenarien, die dann ausgewertet werden können. Wie könnte sich die Wissenschaft der Prognose in den nächsten Jahren weiter entwickeln? Blickt man in die Vergangenheit, liegt es nahe, anzunehmen, dass ihre Genauigkeit weiter zunehmen wird. Denn laut Zimmermann lernen nicht nur die SENN-Modelle auch ihre Schöpfer lernen ständig hinzu, während sie Modelle entwickeln, die immer genauere Abbildungen der Realität darstellen. Riesiges Potenzial. Über Prognosen für Stromund Rohstoffpreise oder die Leistung von Windparks und Turbinen hinaus eröffnet SENN eine praktisch unbegrenzte Zahl von Anwendungen. Sie könnten helfen, einige der schwierigsten, komplexesten und teuersten Entschei- EEX-basiert 09 (EEX: European Energy Exchange) SENN-Marktprognose 14.8. 17.8. 22.8. 27.8. 1.9. 4.9.2008 dungen unserer Zeit zu treffen: Investitionen von Städten und Regionen bei Straßenbau, Luftfahrt, Wasser- und Stromversorgung. Bei Siemens wird bereits das Potenzial von SENN als Entscheidungshilfe getestet, zum Beispiel, wenn es darum geht, die langfristigen Vorteile verschiedener Standorte zu bestimmen, bevor man neue Fabriken baut. Und darüber hinaus? Im Siemens-Intranet können interne Kunden der Corporate Technology schon heute anhand des Demo-Projekts SENN Forecast Server die Möglichkeiten von SENN erkunden. Zehn Jahre weitergedacht, und wir könnten beispielsweise SENN-Apps herunterladen, um die Funktionen unserer Häuser, Fahrzeuge, Unternehmen oder Lieferketten zu überwachen, davon zu lernen, Diagnosen zu erstellen und die Prozesse zu optimieren. Zukünftige Versionen von SENN könnten sogar Szenarien anbieten, die optimierte, personalisierte Prozesse in den Bereichen Ernährung, Gesundheit, Bildung und Finanzen unterstützen. Die Prognostik, resümiert Zimmermann, ist ein Rennen zwischen der ansteigenden Komplexität der Welt und unserer zunehmenden Fähigkeit, mit den Möglichkeiten der Informationstechnologie wie den SENN-Modellen die Welt mathematisch abzubilden. Arthur F. Pease SENN simuliert Turbinenleistung genau NO x -Konzentration 45 40 35 30 Beobachtete Datenmuster (in Sekunden) SENN-Modell Reale NO x-emissionen Wie Maschinen lernen Medizin-Anwendungen Wenn sie mit vielen Bildbeispielen trainiert werden, können Software-Systeme lernen, Organe zu identifizieren und sogar Krebsstadien von Zellen zu erkennen. Dies eröffnet den Weg für völlig neue Diagnose- und Behandlungsverfahren, in denen Anatomie und Physiologie zunehmend transparent werden. Stellen Sie sich vor, Sie würden so umfassend medizinisch gescannt, dass Ort und Funktion jeder Körperzelle gespeichert würden. Damit könnten dann beispielsweise alle Herz- oder Prostatazellen sofort visualisiert und ein 3D-Bild des jeweiligen Organs erzeugt werden. Die Vorteile: ungehinderte Sicht aus jedem Blickwinkel und Heranzoomen jedes beliebigen Details und das per Joystick. Auch wenn es noch Jahrzehnte dauern mag, bis aus dieser Vision Wirklichkeit wird, kommen Forscher dieser Idee schon recht nahe, zumindest in bestimmten Körperregionen und auf der Ebene von Voxeln also 3D-Pixeln, von denen jeder rund 100.000 Zellen repräsentiert. Wir arbeiten darauf hin, dass letztlich jeder einzelne Voxel eines Scans automatisch gekennzeichnet werden kann, erklärt Dr. Shaohua Kevin Zhou, Leiter eines Programms zur Analyse von Ganzkörperaufnahmen bei Siemens Corporate Technology (CT) in Princeton, USA. Daraus können wir dann Dienste wie eine semantische Suche entwickeln. Ärzte könnten sich damit vom Computer durch bloßes Erwähnen eines Lebertumors Bilder dieses Tumors aus den neuesten Untersuchungen anzeigen lassen, sagt Zhou. Das System würde die Tumorgröße auf jeder Aufnahme automatisch messen und damit belegen, wie der Tumor auf die Behandlung reagiert hat. Auf diese Weise würden Arbeitsabläufe schneller, präziser und effizienter. Bevor ein Bildanalysesystem jedoch herausfinden kann, ob die gesuchte Leber in einer Aufnahme vorhanden ist, muss es sich zunächst orientieren. Dafür suchen solche Systeme nach anatomischen Orientierungspunkten. Im Brustkorb sind das zum Beispiel das obere Wo ist die Leber? Siemens-Forscher Kevin Zhou entwickelte ein lernfähiges System, das dank des Trainings an Tausenden von Bildern Organe automatisch erkennen und markieren kann. Verstecktes Wissen nutzen Ende der Lunge und das untere Ende der Aorta. Die Orientierungspunkte sorgen dafür, dass das System nicht durcheinander kommt und sich zurechtfinden kann, erläutert Zhou. Hinter der Fähigkeit solcher Computersysteme, Orientierungspunkte immer besser zu identifizieren und die gewünschten Objekte zu finden, steckt eine Software, die lernt, Bildinhalte zu interpretieren. Dies geschieht auf Basis riesiger Mengen an Merkmalen, die die Bilder eines bestimmten Zielobjekts gemeinsam haben. Beispielsweise kann die Software anhand von Tausenden von Leberbildern trainiert werden, die von Experten kommentiert wurden. Auf diese Weise speichert sie die dreidimensionale Form der Leber und kann anschließend das Organ in jedem medizinischen Bild identifizieren und von seiner Umgebung trennen unabhängig von Blickwinkel, Verdeckun- 56 Pictures of the Future Herbst 2011 Pictures of the Future Herbst 2011 57

Jeder Körper ist anders: Auch wenn alle Menschen über die gleichen Organe verfügen, ist es schwierig, deren Umrisse auf Ultraschall-, Computer- oder Magnetresonanztomographie- Bildern korrekt zu bestimmen, denn sie können verdeckt oder krankhaft verändert sein. gen oder dem Krankheitsbild. Das Gleiche gilt für immer mehr Körperteile: von Organen und Knochen bis zu den Umrissen eines Fötus oder der Form einer Verletzung. Hat ein maschinelles System erst einmal gelernt, bestimmte Teile des Körpers zu erkennen, eröffnen sich erstaunliche Möglichkeiten zum Beispiel nach einer routinemäßigen Ganzkörper-Computertomographie. Unabhängig vom Grund des Scans müssen Radiologen heute in vielen Ländern per Gesetz alle wichtigen Organe in einem Bildsatz und dem gesamten Brustkorb auf Anzeichen von Krankheiten untersuchen. Eine Untersuchung der Rippen ist besonders zeitaufwändig, weil die genaue Betrachtung von gebogenen Oberflächen schwie rig ist, sagt Zhou. Durch die Software, die CT in Princeton gerade zusammen mit der Siemens-Geschäftseinheit Computed Radiology entwickelt, könnte es eines Tages möglich sein, den Brustkorb automatisch vom Rest der Aufnahme zu segmentieren und zu verflachen, so dass der Prozess enorm beschleunigt würde. Das Programm könnte einzelne Rippen identifizieren und ihre Mittellinien lokalisieren, fügt Zhou hinzu. Dadurch lässt sich jede Rippe auf dem Bild mit einem einfachen Programm sozusagen plattdrücken. Fusion unterschiedlicher Verfahren. Über 50 Jahre lang mussten sich viele Patienten mit schweren Herzerkrankungen einer Operation am offenen Herzen unterziehen. Dank der sich ständig verbessernden Bildgebungsverfahren und dank der Systeme, die lernen, Herzklappen und -kammern, Katheter, Stents und vieles mehr automatisch zu erkennen, können heute jedoch immer mehr Patienten mit minimal-invasiven Katheterverfahren behandelt werden. Vor einem Jahr präsentierte Siemens eine neue Visualisierungs- und Führungstechnik auf Röntgenbasis, um die Implantation von künstlichen Aortenklappen zu erleichtern (Pictures of the Future, Herbst 2010, S.79). Mithilfe von Algorithmen für maschinelles Lernen, die gleiche anatomische Orientierungspunkte in Aufnahmen aus verschiedenen Bildgebungsverfahren automatisch iden tifizieren, werden Behandlungen wie der Ersatz von Aortenklappen immer präziser. Die neue Technik bezeichnen wir als modellbasierte Fusion erklärt Dr. Razvan Ionasec von CT. Dreidimensionale Angiographie auf Röntgenbasis eignet sich hervorragend, um Die Software soll Ärzten helfen, das Ausmaß von Kalkablagerungen zu quantifizieren. die Position des Katheters zu sehen dies gilt aber nicht für die Visualisierung von Gewebe. Beim Ultraschall ist es genau anders herum. Die Idee ist also, beides zu kombinieren. Daher entwickeln CT-Forscher unter Leitung von Dr. Terrence Chen eine lernbasierte Erkennungs- und Verfolgungstechnologie, die das Erfassen von Bildern aus Angiographie und intravaskulärem Ultraschall (IVUS) optimiert. Solche Geräte werden oft eingesetzt, um die Menge von Plaques in den Herzkranzarterien also Ablagerungen in den Herzschlagadern zu bestimmen. Hier konzentriert sich der Lernprozess darauf, den Ultraschallwandler und den entsprechenden Führungskatheter, die sich durch die Blutgefäße bewegen, auf Angiographiebildern automatisch zu erkennen. So können die Plaques genau lokalisiert und die Behandlungsplanung unterstützt werden, sagt Chen. Verkalkungen erkennen. Auf einem ähnlichen Gebiet arbeitet ein Team unter Leitung von Dr. Tong Fang bei CT in Princeton: Die dynamische Gewebekontrastverstärkung erkennt die Anatomie auf Ultraschallbildern und verbessert die Bildqualität über Verfahren zur Rauschunterdrückung und Strukturoptimierung. Nach einem Offline-Training mit kommentierten Beispielbildern erzielte die Software in einer Pilotstudie laut Fang eine herausragende Bildqualität und damit Vorteile für die klinische Diagnose. Maschinelles Lernen wird auch zum Training von Computertomographie-Systemen genutzt, die verkalktes Gewebe auf Herzaufnahmen identifizieren sollen. Verkalkung ist der Hauptgrund für einen nötigen Ersatz der Aortenklappe und ein Schlüsselfaktor für koronare Herzerkrankungen, erklärt Ionasec. Die Aufnahmen von Computertomographen zeigen zwar sehr gut anatomische Details, aber mit der Software, die derzeit entwickelt wird, wollen wir eine Lösung schaffen, die Ärzten erstmals dabei hilft, das Ausmaß von Kalkablagerungen auf Herzklappen und in der Aorta zu quantifizieren. So können sie die Erfolgschancen der Behandlung besser einschätzen und entscheiden, welcher Prothesentyp verwendet und wie viel Druck über den Ballon zum Befestigen der Klappenprothese ausgeübt werden soll. Die Wissenschaftler hoffen, dass sich mithilfe maschinellen Lernens langfristig die Unterschiede zwischen normalen Plaques, die auf der Oberfläche verankert sind, und den instabilen Plaques, die sich ablösen und Herzinfarkte oder Schlaganfälle auslösen können, erkennen lassen. Letztere sind ein großer Risikofaktor bei vielen interventionellen Verfahren. Auf Computer- und Magnetresonanz-Tomographie-Scans können wir verschiedene Arten von Plaques sehen, sagt Dr. Gareth Funka-Lea, Spezialistin für kardiovaskuläre Krankheiten in Princeton, aber instabile Plaques können wir noch nicht identifizieren. Dies könnte uns jedoch gelingen, wenn wir künftig maschinelles Lernen und die Analyse von Datenbanken verbinden. Das ganze Herz im Fokus. Siemens-Expertenteams für Herz und Gefäße sowie für maschinelles Lernen haben inzwischen ihren Arbeitsschwerpunkt von der Aortenklappe praktisch auf das gesamte Herz ausgedehnt. Als Teil eines großen Forschung- und Entwicklungsprojekts von Siemens mit dem Namen Semantic Heart verwenden wir maschinelles Lernen, um alle vier Klappen automatisch zu identifizieren, erklärt Ionasec. Diese Information integrieren wir dann in unsere Modelle der Herzkammern, um ein Gesamtmodell des Herzens zu erhalten. Ziel ist es, dass Ärzte vor der Behandlung die Auswirkungen verschiedener interventioneller Verfahren auf die Dynamik des gesamten Herzens eines Patienten simulieren und analysieren können sei es für das Einsetzen eines Stents, die Behandlung eines Aneurysmas oder den Ersatz einer Herzklappe. Eines der am weitesten reichenden Ergebnisse des Projekts Semantic Heart ist, dass auch die Mitralklappe, die den Blutfluss zwischen dem linken Vorhof und der linken Herzkammer regelt, immer besser modelliert werden kann. Die Mitralklappe ist viel komplexer als die Aortenklappe und wird von einem Netz Implantation von Aortenklappen: Die Software von Dr. Razvan Ionasec (2. Bild, 1. v. l.) und seinem Team kann Katheter auf Angiographie-Bildern automatisch erkennen. Lernen am realen Objekt: Im Projekt Semantic Heart (links) wird das Herz modelliert. Das System von Leo Grady (rechts) lernt die Krebsstadien von Prostatabiopsien. 58 Pictures of the Future Herbst 2011 Pictures of the Future Herbst 2011 59

von Sehnenfäden gehalten, die die beiden Mitralsegel davon abhalten, in den linken Vorhof umzuschlagen. Bei Überanstrengung oder Erkrankungen können diese Sehnenfäden jedoch reißen die Folgen können lebensbedrohlich sein. Als Behandlung kann das lose Mitralsegel über ein Katheter-gestütztes Verfahren am zweiten, gesunden Segel befestigt werden. Zurzeit können wir uns allerdings nur über Fluoroskopie-Bilder orientieren. Das macht es nicht einfach, einen winzigen Clip an zwei sich bewegenden Segeln über einen Katheter zu befestigen, erklärt Ionasec. Sein Team arbeitet deshalb an einem Ansatz, der die Submillimeter-Auflösung von präoperativen Ultraschall - aufnahmen, die von einem Wandler in der Speiseröhre erzeugt werden, mit intraoperativen Röntgenbildern kombiniert. Diese Röntgenbilder erstellt das 3D-Bildgebungsverfahren syngo DynaCT Cardiac von Siemens. Auch hier wurden die Algorithmen wieder anhand von Tausenden von Patientenbildern trainiert. Das maschinelle Lernen wird hier eingesetzt, um Anatomie und Bewegung der Segel automatisch zu erkennen und zu verfolgen und um die Röntgen- und Ultraschallbilder zu verschmelzen. Ende 2011 soll das neue Der Computer hilft bei komplexen Entscheidungen Mit dem Fernziel, ein System zu entwickeln, das eines Tages Ärzten helfen kann, komplexe medizinische Fragen zu beantworten, arbeiten Forscher bei Siemens Corporate Technology in Princeton, USA, an einer Maschine, die aus großen Datenmengen vernünftige Schlussfolgerungen ziehen kann. In dem unten dargestellten, vereinfachten Beispiel sind vier Schritte gezeigt: (1) sammle die Daten aus den Untersuchungen und der Krankengeschichte des Patienten (2) bestimme mögliche Diagnosen (Differentialdiagnose) (3) empfehle diagnostische Tests, um die noch existierenden Wissenslücken zu schließen zum Beispiel ein Elektrokardiogramm (EKG), um den Verschluss einer Koronararterie (ST-Elevation) und eine lokale Dysfunktion von Herzmuskelzellen (Q-Wellen) zu entdecken (4) wähle dann die wahrscheinlichste Diagnose aus. Das System bildet den medizinischen Entscheidungsprozess ab, erklärt der Projektleiter Dr. Mathäus Dejori. Ärzte erhalten typischerweise lange Listen von Patientendaten und sollen dann harte Entscheidungen treffen. Sein Kollege Dr. Vinay Shet ergänzt: Unser System vermeidet die Komplexität des direkten Umgangs mit Sprache. Stattdessen arbeiten wir mit semantischen Konzepten wie Verschluss einer Koronararterie oder akute Brustschmerzen. Die Maschine versteht diese Konzepte und nutzt medizinisches Wissen, um Schlussfolgerungen zu ziehen. Dejori, Shet und Dr. Dan Tecuci, der dritte beteiligte Forscher, stellen sich diese neue Technologie als einen intelligenten Assistenten vor, der den Ärzten künftig helfen soll, die wachsende Menge an digitalen Informationen sinnvoll zu nutzen und auszuwerten. Detektivische Schlussfolgerung: Plaque-Instabilität Patientendaten und Patientenbeobachtung Alter: 54 Geschlecht: Männlich Symptome: Akute Thoraxschmerzen Nackenschmerzen Rückenschmerzen Müdigkeit Schwitzen Niedrige Pulsamplitude EKG: Bluttest: ST-Elevation Neue Q-Wellen Erhöhte Nekrosemarker 1 2 Differentialdiagnose: Empfehlung: Schlussfolgerungen Akutes Koronarsyndrom EKG Blutprobe Begründung: Patient hat Ischämie (Minderdurchblutung) wegen erhöhter Nekrosemarker Wahrscheinlichste Diagnose: Myokardinfarkt Subtyp: ST-Elevation 3 Begründung: Patient zeigt ST-Hebungen im Elektrokardiogramm Mögliche Ursache: ST-Hebungsinfarkt verursacht durch Konorarverschluss 4 verursacht durch Thrombus h.w. Ursache: Plaque-Instabilität g.w. Ursache: Endothel-Erosion h.w.: hohe Wahrscheinlichkeit / g.w.: geringe Wahrscheinlichkeit Verfahren in Deutschland in die klinische Phase gehen. Pathologie-Scanner. Eines Tages wird es auch so etwas wie einen digitalen pathologischen Diagnose-Scanner geben. Er wird sehr genau und kostengünstig tausende Objektträger pro Stunde analysieren, auf denen jeweils papierdünne Gewebeschichten aufgebracht sind, bei denen ein Verdacht auf krankhafte Veränderung vorliegt. Die Resultate werden dann mit anderen Untersuchungsergebnissen der Patienten kombiniert werden, etwa aus den Bereichen Genetik, Physiologie und Anatomie. Und natürlich wird das System von jedem einzelnen Ergebnis lernen und seine Genauigkeit kontinuierlich verbessern. Außerdem werden solche Geräte wahrscheinlich vernetzt sein, um auch voneinander zu lernen. Das mag zurzeit noch wie eine weit entfernte Vision erscheinen, aber schon heute sammeln Forscher Grundlagenwissen für die Realisierung solcher Geräte. Bei Siemens Corporate Technology in Princeton nutzt ein Team unter Leitung von Dr. Leo Grady, Spezialist für biomedizinische Bildanalyse, maschinelles Lernen, um Krebsstadien von Proben aus Prostatabiopsien vorherzusagen. Anhand von Proben, die vorher von Pathologen in jeweils eines von vier Krebsstadien eingeteilt wurden, versucht das System Merkmale wie Zellstruktur und -anordnung zu identifizieren, die sich mit den Krebsstadien in Verbindung bringen lassen, erklärt Grady. Bei 100 klassifizierten Trägern wird das System durch 90 trainiert und bei den restlichen zehn getestet. Dann werden nach dem Zufallsverfahren weitere 90 Träger für das Training und zehn zum Testen ausgesucht. Das wird solange wiederholt, bis die Leistung insgesamt gut ist, das System also gelernt hat, aus seiner Erfahrung die richtigen Schlüsse zu ziehen manchmal mit Ergebnissen, die auch die Wissenschaftler überraschen. Das System hat beispielsweise nicht nur wie erwartet gelernt, wie verschiedene Zellen aussehen das ist der erste Schritt in Richtung automatisches Zählen, sondern es hat auch etwas entdeckt, an das die Forscher gar nicht gedacht hatten. Obwohl es auf jedem Bild schleifenförmige Anordnungen von Krebszellen und normale Zellen gibt, hat das System herausgefunden, dass die Länge der Schleifen und die Anzahl der darin enthaltenen Zellen ausreichen, um das Krebsstadium zu erkennen, erklärt Grady. Das war überraschend für uns. Doch als wir das mit einem Pathologen diskutierten, sagte er uns, dass Spezialisten genau nach diesen Strukturen suchen, um das Krebsstadium zu bestimmen. Hier hatte das System das jedoch von ganz alleine herausgefunden. Arthur F. Pease Wie Maschinen lernen Fakten und Prognosen Das digitale Universum braucht Computerintelligenz Immer weniger Kosten für gespeicherte Daten Nötiges Investment pro Gigabyte (US-Dollar) Weltweit 4 Billionen US-Dollar in Hard-/Software, Services, Netze, Personal (in 2009) Exabyte (10 18 Byte) Weltweit explodiert das Datenvolumen. So überschritt das Digitale Universum, also die Gesamtheit aller digital gespeicherten Daten, nach Angaben des Marktforschungsunternehmens International Data Corporation (IDC) im Jahr 2010 weltweit erstmals die Zettabyte-Grenze (10 21 Byte, ZB). Bis 2020 rechnet IDC mit 35 ZB (Pictures of the Future, Frühjahr 2011, S.82). Das entspricht zwei Stapeln von DVDs, die von der Erde bis zum Mond reichen. Hierbei gehören Metadaten, also größere Datensammlungen, wie etwa Bücher oder Datenbanken, sowie unstrukturierte Daten etwa beliebige Texte oder Graphiken mit undefinierter Struktur zu den am schnellsten wachsenden Datenkategorien. Derzeit besteht das Digitale Universum zu knapp einem Drittel aus hochwertigen Informationen. Das sind Daten und Inhalte, die Sicherheits-, Compliance- und Aufbewahrungspflichten unterliegen. Bis 2020 dürfte nach IDC dieser Anteil nahezu 50 Prozent erreichen. Diese wachsende Datenmenge und -komplexität muss effizient bearbeitet werden. Ohne Computer, die helfen, Daten zu ordnen, zu analysieren, zusammenzufassen und für den Menschen aufzubereiten, geht das Die verarbeitende Industrie und die Regierung speichern die meisten Daten in den USA 6 5 4 3 2 1 Verarbeitende Industrie Regierung Kommunikation und Medien Prozessfertigung Banken Gesundheitsdienstleister Wertpapier- / Investmentfirmen Einzelhandel Erziehung und Bildung Versicherungen Transport / Verkehr Großhandel Energie- / Wasserversorgung Investment pro Gigabyte Menge (Exabytes) 0 0 2009 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 2020 Gespeicherte Daten in den USA, Stand 2009 Petabyte (10 15 Byte) 40.000 35.000 30.000 25.000 20.000 15.000 10.000 5.000 Quelle: IDC Digital Universe Study, sponsored by EMC, Mai 2010 966 848 715 694 619 434 429 364 269 243 227 202 194 Gespeicherte Daten pro Firma (> 1.000 Angestellte), 2009 Terabyte (10 12 Byte) 967 1.312 1.792 831 1.931 370 3.866 697 319 870 801 536 1.507 Computer hilft vor allem bei Brustuntersuchung Umsatzbeitrag verschiedener Verfahren der computergestützten Diagnose im Jahr 2010 (weltweit) Brust (Mammographie) 78% Thorax 14% Darm 4% Prostata 1,5% Leber 1% Knochen 0,5% Quelle: IDC; US Bureau of Labor Statistics; McKinsey Global Institute analysis Quelle: Frost & Sullivan (2011) nicht. Besonders hilfreich sind lernfähige Systeme. Solche Systeme lernen aus Beispielen, erkennen Gesetzmäßigkeiten in den Daten und sind anschließend auch in der Lage, künftige Entwicklungen zu prognostizieren. Die Anwendungen sind extrem vielfältig. Sie reichen von Marktanalysen über die vorausschauende Wartung von Industrieanlagen bis zu Diagnoseverfahren in der Medizintechnik. Oft stehen Technologien wie die Sprach-, Schrift- und Bildmustererkennung im Vordergrund. Spracherkennungssysteme werden unter anderem eingesetzt bei der Bedienung von Fahrzeugen, der maschinellen Telefonvermittlung, der Steuerung von Gebäude- oder Bürotechnik, der industriellen Qualitätskontrolle oder der Erstellung von medizinischen Befunden. Die Marktforscher von Datamonitor erwarten auf einigen Feldern hohe Wachstumsraten. So soll sich etwa der Markt für fortgeschrittene mobile Spracherkennung in Handsets von 2009 bis 2015 von 32,7 auf rund 100 Millionen US-Dollar verdreifachen. In Fahrzeugen rechnen die Marktexperten mit einem Anstieg der mobilen Spracherkennung im gleichen Zeitraum von 64,3 auf 208,2 Millionen US-Dollar. Grundsätzlich ist das Thema Spracherkennung nicht neu. Gemäß einem Bericht des Marktforschungsunternehmen Gartner von 2011 gehörten Spracherkennungstechnologien bereits 1995 zum sogenannten Hype Cycle, also zu technologisch relevanten Trends. Sie sind heute immer noch nicht ausgereift, da insbesondere die Erkennung von Alltagssprache zu den schwierigsten Aufgaben von Computern gehört der Hauptgrund ist, dass sie ein breites Weltwissen erfordert, um wirklich zu verstehen, was der Sprecher gemeint hat. Lernende Systeme können auch bei der Bild- und Videoanalyse zum Einsatz kommen. Hiervon profitiert beispielsweise die industrielle Bildverarbeitung. So erwartet die European Machine Vision Association (EMVA) in Europa für 2011 ein Wachstum von 20 Prozent, nach 11 Prozent in 2010. Inspektion und Qualitätskontrolle bleiben die häufigsten Anwendungsfelder von industrieller Bildverarbeitung, doch es kommen auch neue Technologien, etwa in der Robotik und dem 3D-Sehen, hinzu. Das reicht von Videosystemen für die Fahrzeugtechnik bis zu Sicherheitslösungen. In der Medizintechnik gewinnt die Mustererkennung zunehmend an Bedeutung (Pictures of the Future, Frühjahr 2011, S.70). Bei modernen digitalen Bildgebungsverfahren wie Computer- und Magnetresonanz-Tomographie oder Ultraschall wird gemäß dem Beratungsunternehmen Frost & Sullivan lernende Software, die für die Ärzte die wichtigen Informationen herausfiltert und nutzbar macht, immer wichtiger. Zum Einsatz kommen diese Systeme unter anderem in der Mammographie, bei Lungen-, Bauchspeicheldrüsensowie bei Darmkrebs. Sylvia Trage 60 Pictures of the Future Herbst 2011 Pictures of the Future Herbst 2011 61

Wie Maschinen lernen Interview Maschinen lernen Lernen Prof. Dr. Bernhard Schölkopf (43) ist Direktor des neuen Max-Planck-Instituts für Intelligente Systeme in Tübingen und Stuttgart und einer der weltweit führenden Forscher für maschinelles Lernen. Der Physiker und Mathematiker entwikkelt neue Lernverfahren, um Gesetzmäßigkeiten in komplexen Daten aufzuspüren. Schölkopf, der unter anderem bei den Bell Laboratories und Microsoft Research forschte, wurde 2011 mit dem Max-Planck-Forschungspreis ausgezeichnet. Was versteht man eigentlich in der Wissenschaft unter Lernen? Schölkopf: Das kommt darauf an, wen man fragt. Ein Psychologe würde sagen, Lernen ist die Veränderung im Verhalten aufgrund von Erfahrung. Das greift aber zu kurz. Wenn sich jemand am Fuß verletzt, wird er hinken, aber nicht weil er das gelernt hat, sondern weil es weh tut. Ich als Physiker suche dagegen nach Gesetzmäßigkeiten, die von einem bestimmten Input zu einem Output führen. Die Wissenschaft bezeichnet diesen Prozess des Schließens aus Beobachtungen auf Gesetzmäßigkeiten als empirische Inferenz. Mein Institut versucht, diese Mechanismen in Algorithmen umzusetzen, um Probleme zu lösen, die ein Mensch nicht lösen kann. Zum Beispiel? Schölkopf: Solche Probleme finden wir immer dort, wo riesige Datenmengen anfallen. Ein Beispiel ist die Bioinformatik. Genetiker wollen wissen, wo Gene auf dem DNA-Strang, der das Erbgut enthält, anfangen und wo sie enden. Dies kann man experimentell im Labor herausfinden. Die Experimente erzeugen Daten mit Millionen Datenpunkten, die hochdimensional miteinander verknüpft sind. Kein Mensch findet daraus Gesetzmäßigkeiten, mit denen man die richtigen Schnittstellen vorhersagen kann. Wenn wir aber mit diesen Daten eine Software trainieren, funktioniert das sehr gut. Das Erfreuliche ist, dass die Gesetzmäßigkeiten konvergieren, wie wir das nennen, dass also die Ergebnisse umso genauer sind, je mehr Daten wir verwenden. Hier liegt der große Vorteil maschinellen Lernens: Die Maschine findet in großen Datenmengen Strukturen, die der Mensch niemals finden würde. Das ist kein Wunder: Das Gehirn ist optimiert für Wahrnehmen und Handeln, nicht für Wissenschaft. Ein zweiter Vorteil maschinellen Lernens liegt dort, wo wir die Umwelt mit Sensoren beobachten, die der Mensch nicht hat. Der Mensch hat nun mal keinen eingebauten Laserscanner zur Entfernungsmessung. Und wo hat der Mensch Vorteile? Schölkopf: Das Gehirn ist extrem kompliziert und schafft es durch Lernen, manche Aufgaben sehr exakt und effizient zu erledigen. Dies ist insbesondere der Fall für Probleme, die in der Evolution für uns wichtig waren, zum Beispiel die Erkennung visueller Muster. Deshalb erkennen wir Ziffern und Buchstaben in Sekundenbruchteilen, während der Computer Mühe hat. Übersetzt man die Zeichen aber in Barcodes, können wir das nicht lesen, dem Computer ist das egal. Das liegt daran, dass unser Gehirn ein Leben lang darauf trainiert wurde, aus Ziffern und Buchstaben Gesetzmäßigkeiten zu extrahieren. Der Neurowissenschaftler Prof. Horace Barlow nannte das Gehirn ein statistisches Entscheidungsorgan. Allerdings müssen wir beachten, dass es nur bestimmte statistische Aufgaben besonders gut lösen kann diejenigen, die evolutionsgeschichtlich von großer Bedeutung waren. Welche Rolle spielen Gefühle beim Lernen? Schölkopf: Gefühle spielen sicher eine Rolle beim menschlichen Lernen, etwa bei der Bewertung dessen, was wichtig und lohnend ist, oder bei der Motivation. Die Evolution legt nahe, dass alles, was beim Menschen implementiert ist, auch nützlich ist. Daher erwarte ich, dass diese Themen aus der Psychologie früher oder später auch für die Konstruktion intelligenter Systeme relevant und hilfreich sein werden. Mein eigenes Gefühl sagt mir aber, dass wir noch weit davon entfernt sind, dies funktional zu verstehen und umsetzen zu können. Vor 40 Jahren dachten Wissenschaftler, dass sie bald Roboter mit künstlicher Intelligenz bauen können. Warum sind sie gescheitert? Schölkopf: Diese Maschinen wurden von Ingenieuren gebaut und waren daher für Menschen verständlich. Ein bestimmter Messwert eines Sensors erzeugt zum Beispiel eine dazugehörige Bewegung eines Motors. Die Künstliche Intelligenz ist aber kein klassisches Ingenieurproblem. Biologische Systeme sind im Moment die einzigen wirklich intelligenten Systeme und für den Menschen nicht so einfach zu verstehen. Mit handgestrickten Programmen wie damals geht es also nicht. Das heißt, dass Maschinen das Lernen lernen müssen? Schölkopf: Lernende Systeme haben Vorteile, aber auch die werden ja von Ingenieuren konstruiert. Fortschritte gibt es vor allem beim überwachten Lernen. Damit ist gemeint, dass der Mensch die Messdaten erst bewerten muss, er muss ihnen ein Label geben, wie wir das nennen. Gesichtserkennungs-Software trainiert man zum Beispiel, indem man dem Programm sagt, wann eine bestimmte Person im Bild auftaucht. Macht man das oft genug, kann das Programm in begrenztem Maße extrapolieren, auch wenn die Person jedes Mal ein wenig anders aussieht. Menschen und Tiere lernen wahrscheinlich nicht überwacht? Schölkopf: Meistens ja. Aber wenn Eltern einem Kind das Bild einer Katze zeigen und sagen, dass das eine Katze ist, ist das auch überwachtes Lernen. Das Greifen von Gegenständen lernt ein Kind dagegen ohne Überwachung. Das schaffen Maschinen noch nicht. Da setzen wir zunehmend das sogenannte Verstärkungslernen ein, eine Art Mittelweg. Der Konstrukteur eines Roboters sagt diesem nicht mehr, welchen Weg der Greifarm zurücklegen muss. Er meldet nur, ob der Roboter den Gegenstand erfolgreich gegriffen hat oder nicht. Die Maschine lernt daraus, welche Bewegungen zum Erfolg führen und findet dadurch einen möglichst guten Weg. Und wie funktioniert das, wenn man biologische Systeme mit Maschinen koppelt, wie bei Ihrem Brain-Interface, das Gehirnströme in Muskelbewegungen übersetzt? Schölkopf: Das Brain-Interface soll gelähmten Personen helfen, ihren Arm zu bewegen, indem sie sich die Bewegung vorstellen und wir das in den Gehirnströmen messen. Die Arbeit des Gehirns ist nicht mathematisch modellierbar, so dass wir auch hier mit überwachtem Lernen arbeiten, indem der Experimentator während der Trainingsphase zusätzlich zu den Gehirnströmen auch die vorgestellten Bewegungen aufzeichnet. Mit genügend Daten kommen wir auf eine Erkennungsrate von 80 bis 90 Prozent. Die Generalisierung also die Übertragbarkeit auf ähnliche Probleme ist allerdings sehr begrenzt. Wenn wir die Gehirnströme für Handbewegungen wissen, können wir daraus nicht auf Bewegungen der Beine schließen. Wir Menschen sind darin Meister. Wir lernen, mit der Hand auf Papier zu schreiben, trotzdem können wir dieselbe Schrift, ohne neu zu üben, mit dem Arm groß an die Tafel schreiben. Wo wird maschinelles Lernen heute hauptsächlich eingesetzt? Schölkopf: Wo wir es nicht sehen, obwohl wir es täglich nutzen: in Suchmaschinen. Viele der Mitarbeiter, die Google einstellt, haben eine Expertise in maschinellem Lernen. Die Grenzen zur klassischen Statistik sind allerdings fließend. Auch Banken nutzen maschinelles Lernen, etwa zur Prognose von Aktienkursen. Eine für die Medizintechnik interessante Anwendung: Die Positronen-Emissionstomographie (PET) wird in klinischen Anwendungen üblicherweise mit einem Computertomographen kombiniert, dessen Bilder dazu dienen, die Intensitätswerte in den PET-Aufnahmen zu korrigieren. Ärzte hätten aber lieber einen Magnetresonanztomographen (MR), weil der zusätzliche medizinische Informationen liefert Siemens hat unlängst einen solch kombinierten MR-PET vorgestellt. Unser Institut hat eine Methode entwickelt, die aus MRT-Bildern synthetische CT-Bilder vorhersagt und zwar indem wir MRT- und CT-Bildpaare zum Trainieren benutzt haben. So kann man die PET-Aufnahmen aufbereiten, als hätte man einen Computertomographen benutzt. Welche Fortschritte können wir vom maschinellen Lernen in den nächsten zehn oder 20 Jahren noch erwarten? Schölkopf: Es wird sicher Fortschritte bei der Verarbeitung großer Datenmengen geben, durch immer leistungsfähigere Rechner. Ob es auch grundlegend neue Methoden geben wird, ist schwer zu sagen. Ich habe die Hoffnung, dass sich beim kausalen Lernen etwas tun wird. Heute sehen wir nur statistische Gesetzmäßigkeiten, aber nicht die kausalen Gesetze, die dahinter stecken. Ein Beispiel: In Ländern, wo es mehr Störche gibt, liegt die Geburtenrate höher. Heißt das, dass der Klapperstorch die Kinder bringt? Natürlich nicht, aber heute machen unsere Methoden da keinen Unterschied. Hier müssen wir die kausalen Gesetze finden. Und was ist mit dem Menschheitstraum vom lernenden Roboter? Schölkopf: Ich vermute, dass es künftig tatsächlich mehr physische autonome Systeme geben wird. Unsere Kollegen vor 40 Jahren dachten, dass heute überall Roboter herumlaufen. Das hat sich nicht bewahrheitet, und ich bezweifle, dass etwa Pflegeroboter wirklich im Krankenhaus Einzug halten werden. Menschen pflegen Menschen einfach besser. Eher dürfte es Mikroroboter mit maschineller Intelligenz geben, die dort agieren, wo Menschen nicht hinkommen, etwa bei der Behandlung von Tumoren direkt im Körper. Das Interview führte Bernd Müller. Versuch und Irrtum: Roboter und Menschenkinder lernen durch Ausprobieren und anhand von Beispielen. 62 Pictures of the Future Herbst 2011 Pictures of the Future Herbst 2011 63

Wie Maschinen lernen Sicherheitsanwendungen Maschinenauge, sei wachsam Es gibt wenige Forschungsfelder, die so komplex sind, wie das der Künstlichen Intelligenz. Eines der härtesten Probleme für die Forscher und Entwickler auf diesem Gebiet ist dabei das maschinelle Sehen. Siemens entwickelt Videosysteme, die eigenständig die sichtbare Welt interpretieren. Ein eigenartiges Fluggerät surrt durch die Forschungslabore von Siemens Corporate Research in Princeton. Ein quadratisches Drahtgestell, in dessen Mitte Streben einen schwarzen Motorblock mit vier Hubschrauberrotoren halten: Quadcopter nennt sich das Flugobjekt. Mit Lasern tastet es Wände, Fenster, Schreib - tische und Regale ab. Optische Sensoren und Videokameras registrieren jedes Detail. Der Quadcopter sortiert die Datenströme nach Farben, Kontrasten und Kanten. Er fliegt auf zuvor festgelegten Bahnen durch die Luft, bereit, Hindernisse zu identifizieren und ihnen auszuweichen. Aus den gesammelten Daten erstellt er ein präzises 3D-Modell seiner Umwelt. Das fliegende Auge entwickelt ein Team um den Computerwissenschaftler Yakup Genc aus Princeton und den Robotiker Nicholas Roy vom Massachusetts Institute of Technology in Boston. Mit dem Fly & Inspect -Projekt sollen digitale 3D-Modelle komplexer Innenräume geschaffen werden, etwa von Gepäckabfertigungs-, Fabrikoder Veranstaltungshallen. Diese Modelle können dann für die Gebäudeplanung und -inspektion verwendet werden. Das Ziel der Forscher ist nun, das Fluggerät soweit zu entwickeln, dass es routinemäßig eingesetzt werden kann. Fliegendes Auge: Der Quadcopter ist eine Plattform, die mithilfe von Videokameras, Lasern und optischen Sensoren 3D-Karten von komplexen Umgebungen erstellt. Das Gerät könnte etwa bei Gebäudeplanungen helfen. Mit dem kleinen Helikopter lassen sich auch schwer zugängliche Orte kontrollieren, um etwa Beschädigungen von Windkraftanlagen oder Strommasten zu entdecken. Noch wird der Quadcopter ferngesteuert, aber später soll er mithilfe seiner optischen Sensoren eigenständig innerhalb vorgegebener Umgebungen fliegen und lernen, besondere Merkmale wie etwa Risse automatisch zu erkennen, erklärt Genc. Für künstliche Intelligenz ist maschinelles Sehen nach über fünfzig Jahren Forschung weiterhin die größte Herausforderung. Ein IBM-Supercomputer namens Watson hat bei Amerikas populärem Fernsehquiz Jeopardy im Februar 2011 zwar die bislang erfolgreichsten Quizkandidaten aus Fleisch und Blut geschlagen. Doch selbst diese erstaunliche Leistung basierte nur auf einer ausgeklügelten Auswertung von Informationen aus Datenbanken und Suchen im Internet. In der realen Welt sind Rechner bislang sehr unbeholfen: Während ein Kleinkind problemlos eine Antenne von einem Baum unterscheidet, wühlten sich Rechner bislang mehr schlecht als recht durch die aus Kameraaugen strömenden Datenfluten. Doch Schritt für Schritt bringen Forschergruppen an Universitäten und in der Industrie künstlichen Systemen nun das Sehen bei. Auch bei Siemens. An seinen Forschungsund Entwicklungsstandorten in Princeton, New Jersey, im österreichischen Graz und in München entwickelt Siemens Systeme, die Satellitenbilder auf komplexe Muster wie Fabrikanlagen, Gebäude, Straßen und andere Infrastruktur hin untersuchen, auf Röntgenbildern von Gepäck und Containern nach verdächtigen Gegenständen fahnden, im Verkehr Straßenschilder lesen, Menschenmengen überwachen oder schwer zugängliche Orte kartieren und inspizieren. Das Zauberwort für diese Aufgaben heißt: Lernen. Wie leisten die Systeme das? Sie werden vor dem Einsatz trainiert gestütztes Lernen heißt der Fachbegriff. Ein dreijähriges Kind hat bereits eine Unzahl von Objekten gesehen, die es ihm erlauben, nicht nur Antennen und Bäume zu unterscheiden. Genauso füttern Computerwissenschaftler Programme mit Hunderttausenden von Objektbildern, aus denen intelligente Algorithmen charakteristische Merkmale ableiten. Beispielsweise von Menschen: Sie haben ovale Gesichter, Arme und Beine, meist Haare, und auf der Straße gehen sie aufrecht. Ein Tisch dagegen ist eine horizontale Platte mit Stützen, auf der sich Dinge ablegen lassen. Indem Rechner diese Charakteristika herausfiltern, entsteht eine digitale Repräsentation. So etwas ermöglicht unter anderem modernen Fahrerassistenzsystemen, Verkehr sschilder automatisch zu erkennen. Unterscheiden lernen. Doch oft sind die gewünschten Aufgaben komplexer und es hilft nicht, nur zu wissen, wie ein Mensch aussieht. Wenn die Videoanalyse einen Kopf erkennt, aber keinen Rumpf, Arme oder Beine sieht, muss das System trotzdem zu der Schlussfolgerung kommen, einen Menschen vor sich zu haben. Das gelingt ihm, wenn es weiß, dass der Rest des Körpers nicht sichtbar ist, weil eine andere Person oder ein Objekt ihn verdecken. Künftig sollte es auch möglich sein, noch komplexere Muster in archiviertem Videomaterial zu erkennen, erklärt der Computerwissenschaftler Vinay Shet in Princeton. Ein Beispiel ist die Aufgabe, eine Person über mehrere Kameras durch eine große Anlage etwa einen Flughafen zu verfolgen. Shet vergleicht das mit der Suche nach einer visuellen Grammatik : Wie ein Satz haben auch Bild- und Videodaten eine formalisierbare Struktur, die sich als visuelle Grammatik deuten lässt. Dabei werden Bilddaten Eigenschaften zugeschrieben. Deren Kombination hilft dann dem Programm, zu entscheiden, ob in verschiedenen Bildsequenzen dieselbe Person zu sehen ist. Mit der Suche nach solchen Mustern will Siemens in Zukunft auch bei Container- und Gepäckkontrollen unterstützen. So kann die Technologie beispielsweise helfen, die komplexe Anordnung einer Bombe mit Zünder, Kabeln, einem Handy oder Wecker und Sprengstoff zu erkennen. Das ist eine Aufgabe, die auf Flughäfen bislang noch von Menschen durchgeführt wird. Schritt für Schritt bringen Forscher an Universitäten und in der Industrie künstlichen Systemen das Sehen bei. Die automatischen Erkennungsalgorithmen funktionieren bereits sehr gut, aber nicht perfekt. Daher zielt ein innovativer Ansatz eines Teams um den EEG(Elektroenzephalogramm)- Experten Paul Sajda von der New Yorker Columbia University darauf, die Geschwindigkeit von Maschinen mit der Urteilssicherheit von Menschen zu vereinen. Finanziert wurde das Projekt teilweise vom amerikanischen Verteidigungsministerium. Beteiligt waren auch Experten von Siemens in Princeton. Der treibende Faktor war, eine Technologie zu entwickeln, mit deren Hilfe man schnell sehr große Satellitenbilder auf bestimmte Objekte hin durchsuchen kann, wie etwa Industrieanlagen oder Hubschrauberlandeplätze. Zuerst sortiert die von Siemens entwickelte Bildanalyse-Software all jene Bereiche aus, die mit hoher Wahrscheinlichkeit keines der gesuchten Objekte enthalten etwa homogene Flächen ohne hervorstechende Bildeigenschaften wie Wüsten, dichte Wälder oder Steppen. Dann werden die verbleibenden interessanten Bildteile in kleine quadratische Flächen zerlegt und einem menschlichen Bildanalysten gezeigt, der mit einem EEG verbunden ist. Dabei ist die Bildfolge mit fünf bis zehn Bildern pro Sekunde 64 Pictures of the Future Herbst 2011 Pictures of the Future Herbst 2011 65

schneller, als ein Mensch sie bewusst analysieren kann. Das EEG-System jedoch kann lernen, ein Hirnsignal zu bemerken, das auf einen interessanten Bildbereich hinweist. Dann können dem Analysten diese Bilder nochmals langsamer vorgelegt werden und er kann bewusst entscheiden, ob sie relevant sind oder nicht. Mit dieser Methode haben wir die Analysegeschwindigkeit um das Vierfache erhöht, sagt Claus Bahlmann, Siemens-Forscher in Princeton. Autonome Navigatoren. Ebenso wichtig wie die Bildanalyse ist für Roboter die optische Navigation durch den Raum und die Fähigkeit, bestimmte Aufgaben zu erledigen. Das leistet ein bereits am Markt erhältliches Steuersystem, das Autonomous Navigation System. Roboter sollen sich ins Umfeld der Menschen einfügen, mit ihnen kom - munizieren und durch sie lernen. Siemens-Ingenieure haben es in München und Stuttgart für Nutzfahrzeuge entwickelt: schon 1999 für Reinigungsroboter, seit 2007 für Gabelstapler. Das Fahrzeug erlernt seine Einsatzstrecke, indem es sie geführt von einem Menschen abfährt. Dabei speichert es automatisch Merkmale in den oberen Raumbereichen, die sich in der Regel nur selten verändern. Dies erlaubt ihm später, dieselbe Route zeuge, je nach Aufgabe, auch andere Objekte erfassen oder wissen, in welchem Raum sie sich befinden. Hierfür gibt es eine Vielzahl von Anwendungen, die von Roboterführern in Museen oder Einkaufszentren bis zu Sicherheitseinsätzen reichen. Roboter, die Karten lesen. An einem mobilen Roboter arbeitet auch der Wissenschaftler Maneesh Singh in Prince ton. Er hat einen im Handel erhältlichen Roboter der an einen rollenden Schnellkochtopf mit Rädern erinnert mit einem von Microsoft hergestellten Kamerasystem namens Kinect ausgerüstet (S.74). Diese Kamera, ursprünglich für die Spielekonsole Xbox 360 entwickelt, ist mit einem 3D-Sensor ausgestattet. Der Roboter kann damit nicht nur Hindernissen ausweichen, sondern auch in Echtzeit ein Modell des Gebäudes entwickeln und so seinen Standort he - raus finden. Genau wie Menschen wird sich dieser Roboter am Eingang eines Gebäudes einen Übersichtsplan ansehen und ihn verstehen. So kann er eigenständig navigieren. Zugleich schafft er sich eine visuelle Erinnerung an die Räume, die er durchquert hat, und kann das später nutzen. Singh hat aber noch weitere Pläne. Der Roboter soll sich nahtlos in das menschliche Umfeld einfügen, Menschen und ihre Aktivitäten erkennen, mit ihnen kommunizieren und durch wicklungsabteilungen von Siemens in der Regel für einige Zeit getestet, ehe dann mit den geschäftsführenden Einheiten entschieden wird, ob sich daraus ein Produkt entwickeln lässt. Das gibt Siemens-Ingenieuren eine gewisse Freiheit, immer wieder Neues auszuprobieren. Zu dieser Kategorie gehört auch ein Projekt namens Outlier, das die Idee des Lernens radikal weiterdenkt. Was ist normal, was nicht? Während die meisten der lernfähigen Algorithmen vor dem eigentlichen Einsatz an Bildern oder Videosequenzen geschult werden, lernt dieses Analyseprogramm während des Betriebs vorerst allerdings nur im Labor. Es beobachtet über längere Zeit einen erfassten Bildausschnitt, etwa einen belebten öffentlichen Platz oder eine Straßenkreuzung, und ermittelt daraus statistisch, was normal ist. Tritt ein ungewöhnliches Ereignis ein stellt sich etwa ein Fahrzeug auf der Straße quer würde das System dies an das Aufsichtspersonal melden. Das wiederum kann dann Feedback geben, ob Vorfälle dieser Art relevant sind oder nicht. Und das Programm würde sich danach richten. Das ist ein Paradigmenwechsel, sagt der an Outlier arbeitende Ingenieur Josef Birchbauer am Siemens-Standort Graz. Denn das Programm kann sich Bedingungen stets neu anpassen. Das bietet sich vor allem in jenen Fällen an, in denen sich von vornherein nicht sagen lässt, welche ungewöhnlichen Ereignisse Wie Maschinen lernen Buchstabenerkennung Sehen heißt verstehen Führende Technologie: Dank einer ausgeklügelten automatischen Texterkennung ist Siemens Weltmarktführer bei Briefsortieranlagen. Die Systeme können selbst handgeschriebene arabische, chinesische oder russische Schriftzeichen zuverlässig lesen. Systeme zur automatischen Texterkennung haben den internationalen Postverkehr revolutioniert. Doch die Technologie birgt noch weit größere Potenziale: Künftige Anwendungen reichen von der Verkehrs- und Sicherheitstechnik bis zu Lesehilfen für sehbehinderte Menschen. Wege zur Selbstständigkeit: Mittels Laser tastet der autonome Gabelstapler seine Umgebung ab. Der Singh-Roboter (rechts) orientiert sich über 3D-Sensoren. die Interaktion mit Menschen lernen. Schon in naher Zukunft, sagt er, werden wir diese Roboter wie unsere Kinder in vielen Aufgaben unterrichten können etwa indem wir auf Objekte deuten oder mit den Robotern sprechen. Innovative Forschungsprojekte wie dieser Roboterassistent oder das fliegende Quadcopterauge sind derzeit noch in der Erkundungsphase. Sie werden in den Forschungs- und Enteigenständig zu fahren. Dieses System verfügt über so viel Objekterkennung, wie für eine Anwendung nötig ist. So erkennt es in Lagerhallen beispielsweise Paletten oder Gitterboxen, erklärt Dr. Gisbert Lawitzky, Roboterexperte bei Siemens Corporate Technology in München. Derzeit transportieren die Geräte bei Firmen wie Daimler vor allem Paletten durch die Hallen und zu Laderampen. Künftig sollen Fahr- an einem Flughafen oder auch am Times Square in New York für eine Überwachungskamera relevant sein könnten. Ich halte es für wahrscheinlich, so Birchbauer, dass beide Technologien gestütztes Lernen anhand von Beispielbildern und statistisches Echtzeitlernen künftig miteinander kombiniert werden, um bei Sicherheitsanwendungen möglichst effizient zu funktionieren. Hubertus Breuer Was haben Briefträger und Apotheker gemeinsam? Sie verfügen oft über wahrhaft kryptologische Fähigkeiten, um auch die schlimmste Sauklaue zu entziffern. Doch inzwischen gibt es auch Maschinen, die automatisch unterschiedlichste Schriftzeichen erkennen können dank erstaunlicher Lernprozesse. Die dahinter stehende Technik heißt Optical Character Recognition, kurz OCR. Auf dem Gebiet der Adresserkennung sind wir Weltmarktführer, sagt Siemens-Produktmanager Peter Schindler stolz. Die Leistung ist hier nicht das Lesen maschinengeschriebener Texte, das kann heute jeder Scanner, sondern die Entzifferung von Handschriften. In fast jeder zweiten Briefsortieranlage rund um den Globus ist OCR- Technik von Siemens implementiert, schätzt Schindler. Der Weltmarkt umfasst derzeit etwa eine Milliarde US-Dollar, und die Siemens-Division Mobility, wo diese Anlagen hergestellt werden, hat daran einen Marktanteil von 35 Prozent. Ein besonderes Augenmerk der Entwickler gilt dabei der stetigen Verbesserung der Leserate. Gegenwärtig sind wir mit unserer neuesten Produktlinie ARTread in der Lage, 90 bis 95 Prozent der handgeschriebenen Anschriften zu lesen, verdeutlicht Matthias Schulte-Austum, technischer Verantwortlicher für das Team der Bildvorverarbeitung und Objekterkennung bei Siemens Mobility in Konstanz. Eine weitere Herausforderung ist die Identifizierung aller relevanten Informationen auf einer Postsendung. Die automatische Erkennung von Nachsendeaufträgen anhand der Adresse oder von handschriftlichen Vermerken seitens des Zustellers gehört ebenso dazu wie die Erfassung der korrekten Frankierung. Aber auch die Identifizierung von Vorausverfügungen etwa ob bei einem Umzug des Adressaten der Brief an den Absender zurückgeschickt werden soll ist Aufgabe der Postautomatisierung. Ziel ist es, den gesamten Prozess immer weiter zu automatisieren. Schulte-Austum: Wir wollen alle für die Sendung relevanten Informationen automatisch extrahieren, um den manuellen Aufwand so gering wie möglich zu halten. Insbesondere in Russland, Indien, China und den arabischen Ländern gibt es noch große Entwicklungspotenziale. Wir haben Algorithmen entwickelt, um Schriften aller Art zu lesen das können auch russische, chinesische oder arabische Zeichen sein, erklärt Ingolf Rauh, Experte im Innovationszentrum in Konstanz. Unlängst haben wir sogar einen Wettbewerb im Lesen arabischer Handschriften gewonnen. Die Herausforderung habe darin bestanden, tunesische Ortsbezeichnungen fehlerfrei zu identifizieren. Letztlich basiert das Prinzip der maschinellen Zeichenerkennung immer auf den gleichen Regeln. Als besonders effizient hat sich eine Methode erwiesen, bei der die Systeme darauf trainiert werden, tausende von handgeschriebenen Ziffern oder Buchstaben aus unterschiedlichen Quellen zu vergleichen und diese im Zuge eines Lernprozesses eindeutig zu klassifizieren. Wir erkannten schnell, wie vielseitig einsetzbar ein solches Verfahren ist. Deshalb beschlossen wir, die Möglichkeiten der OCR- Technik universell auszuloten und völlig neue Märkte zu erschließen, erklärt Rauh. Rasend scannen. Technisch herausragend sind auch die Sicore-Systeme von Siemens, die automatisch die Nummernschilder von Autos erkennen. Dahinter verbergen sich intelligente Kamerasysteme, die in der Regel an Straßen und Autobahnen aufgebaut sind und über eine entsprechende Bildverarbeitungs-Software ver - fü gen. Systeme dieser Art werden etwa in Großbritannien eingesetzt, wo Städte wie Lon- 66 Pictures of the Future Herbst 2011 Pictures of the Future Herbst 2011 67

don eine Citymaut eingeführt haben. Mit Kameras werden an den Einfallstraßen die Autos automatisch erfasst, und mithilfe einer zentralen Datenbank wird überprüft, ob diese für die Mautabbuchung angemeldet sind. Eine andere Anwendung ist die Abschnittsgeschwindigkeitskontrolle mithilfe automatischer Kameras, die die Autokennzeichen erfassen. Im Gegensatz zu Radarpistolen wird dabei die Durchschnittsgeschwindigkeit über einen größeren Abschnitt bestimmt. Auf diese Weise lässt sich etwa ermitteln, ob ein Fahrer einen längeren Tunnel zu rasch durchquert hat. Auf Basis unserer Kameratechnologie haben wir mit etwa auf Lkw zu identifizieren (Pictures of the Future, Frühjahr 2010, S.78). Das sind orangefarbene Tafeln, die zwei Nummern enthalten. Die erste gibt die Gefahrstoffklasse an, die zweite dient der Identifizierung des Gefahrstoffs. Die automatische Erkennung dieser Tafeln soll die Sicherheit in Tunnel- und Brückenbereichen erhöhen, erklärt Stephan von der Nüll. So soll das System zum Beispiel eine automatische Tunnelsperre auslösen, falls einem mit Wasserstoff beladenen LKW in kurzem Abstand ein Transporter mit Sauerstoff folgt. Auch ließe sich bei einem Unfall im Tunnel Wie Maschinen lernen Interview Lernen als Tor zur Intelligenz Was ist Ihre Definition von maschineller Intelligenz? Poggio: Die beste Definition stammt aus dem Jahr 1953 vom britischen Mathematiker Alan Turing. Er stellt sich eine Situation vor, in der man mit jemandem in einem anderen Raum spricht, den man nicht sieht. Wenn nun dieser Jemand eine Maschine wäre, und man sie nicht als Maschine erkennen würde, dann so sagte er hätte man es mit einer Art künstlicher Intelligenz zu tun. cher sein als die Anzahl der Synapsen im Gehirn. Jedes Neuron hat im Schnitt etwa 1000 Synapsen, bei 10 11 Neuronen sind es also 10 14 Bit das entspricht 100 Festplatten mit je ein Terabyte oder 1000 Gigabyte. So eine Festplatte bekommt man schon für weniger als 50 Euro. Maschinen sind also von der Speicherkapazität des Gehirns nicht mehr weit entfernt. Was aber noch fehlt, sind die Algorithmen, um diese Rechenleistung in etwas umzuwandeln, was wir Intelligenz nennen würden. trainiert, um acht Verhaltensweisen von Mäusen zu erkennen: etwa Rennen, Schlafen, Hängen oder Säugen. Die Mäuse waren genetisch manipuliert, um Autismus, Depression oder Schizophrenie zu entwickeln. Das Programm kennzeichnet in einem Video ein Verhalten automatisch als Schlafen, Rennen und so weiter und speichert die Dauer in einer Datenbank. Außerdem erkennt es die Übergänge von einem Verhalten zum anderen, so dass eine Art Fingerabdruck des Verhaltens entsteht. Durch die Automatisierung dieses Prozesses konnten wir das Verhalten schnell und objektiv mit den genetischen Veränderungen korrelieren. Wie genau ist dieses Verfahren? Poggio: Wir haben die Ergebnisse des Systems mit denen menschlicher Beobachter verglichen, und sie sind genauso gut oder sogar besser. Und das System arbeitet rund um die Uhr, ohne sich zu langweilen! Zeichenerkennung überall: Ob es um das Verfallsdatum von Lebensmitteln geht oder um Autokennzeichen bei der Citymaut viele Systeme profitieren von einer automatischen Schrifterkennung. So hilft das Sicore-System bei der Identifizierung von Rasern ebenso wie bei der Erhöhung der Sicherheit in Tunnelbereichen (unten). Siemens ITS in Großbritannien ein System namens Safezone entwickelt, das erstmals derartige Kontrollen in Innenstädten erlaubt, erläutert Stephan von der Nüll, verantwortlich für die Entwicklung neuer Produkte und Technologien bei Siemens in Konstanz. Dieses System befinde sich unmittelbar vor der Markteinführung. Gefahrgut im Tunnel. In der Evaluierungsphase ist derzeit noch eine Erweiterung des Systems, die im Rahmen eines Projektes des deutschen Forschungsministeriums gefördert wird: Dabei geht es darum, Gefahrgutschilder schnell ermitteln, ob ein Lkw mit Gefahrgut hinein gefahren ist. Vermutlich wird es künftig kaum einen Bereich geben, der nicht auf die erweiterte OCR- Technik zurückgreifen kann. Die automatische Erkennung des Verfallsdatums auf Lebensmittel - verpackungen oder Arzneimitteln gehört ebenso dazu wie die Identifizierung von Produktionsoder Seriennummern auf Platinen für die Elektronikindustrie. Auch Blinde könnten profitieren: So könnten OCR-Systeme beliebige Texte vorlesen, sei es bei Briefen, Büchern oder Lebensmittel-Etiketten im Supermarkt. Rolf Froböse Prof. Dr. Tomaso Poggio (63) ist Professor für Kognitionswissenschaften am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge, USA, sowie am Labor für künstliche Intelligenz des MIT. Außerdem ist er Co-Direktor des Zentrums für biologisches und maschinelles Lernen am MIT. Bevor er 1981 ans MIT kam, hatte er zehn Jahre am Max- Planck-Institut für biologische Kybernetik in Tübingen gearbeitet. Seinen Doktorgrad erwarb er 1970 an der Universität Genua. Poggio ist Mitglied der italienischen Akademie der Wissenschaften und der amerikanischen Akademie der Künste und Wissenschaften. Ist Lernen das Tor zur Intelligenz? Poggio: Das ist eine plausible Behauptung. Evolutionär betrachtet sind Primaten und Menschen von allen Lebewesen am wenigsten fest verdrahtet. Insekten lernen zwar, aber ein Großteil ihres Verhaltens ist durch die Evolution begrenzt. Menschen brauchen dagegen viele Jahre für ihre Entwicklung. Zum Beispiel können Kinder unter zehn Jahren Gesichter nicht so gut wiedererkennen wie Erwachsene. Wie wichtig sind Gefühle, um Gelerntes zu bewerten? Poggio: Emotionen sind entscheidend, wenn es um die Erklärung menschlichen Verhaltens und die Entwicklung von Intelligenz geht. Biologisch gesehen sind unsere Gefühle wahrscheinlich sehr wichtig für das Lernen. Doch um lernfähige Maschinen zu entwickeln, denke ich nicht, dass sie unbedingt nötig sind. Doch wenn eine Maschine den Turing-Test bestehen soll, muss sie emotionale Intelligenz simulieren können. Das ist ein schwieriges Feld: Ein Simulationssystem kann sich sehr stark von einer Person unterscheiden wenn aber niemand den Unterschied merkt, ist das dann wichtig für uns? Wo liegt für Maschinen die größte Schwierigkeit, eine dem Menschen ähnliche Lernfähigkeit zu erreichen? Poggio: Wir wissen es nicht! Ich denke aber, dass Maschinen irgendwann genauso gut lernen können wie wir, oder sogar noch besser. Bis dahin wird noch viel Zeit vergehen, aber es ist sicher nicht unmöglich. Bis vor rund zehn Jahren hieß es, dass das menschliche Gedächtnis viel größer wäre als das von Computern. Heute stimmt das nicht mehr. Unsere Gedächtniskapazität kann nicht viel umfangrei- Warum? Was ist dafür nötig? Poggio: Im Moment wissen wir das noch nicht. Wenn ich es wüsste, wäre Intelligenz die wahrscheinlich größte Herausforderung der Wissenschaft nur noch eine Sache der Technik. Ich glaube, der Kern des Problems liegt in der Integration der verschiedenen Aspekte von Intelligenz, zum Beispiel Sehvermögen, Sprache und gesunder Menschenverstand. Aber um herauszufinden, wie diese Faktoren zusammenhängen, brauchen wir noch grundlegende Forschungen in der Neuro- und Kognitionswissenschaft sowie der Informatik und deren Kombination. Inwiefern hilft es dabei, zu verstehen, wie unser Großhirn funktioniert? Poggio: Wenn Intelligenz heißt, den Turing- Test zu bestehen, dann ist es auf jeden Fall nützlich, zuerst das menschliche Gehirn zu verstehen. Die Neurowissenschaft hilft uns hier sehr. Sie hat sich in den letzten 20 Jahren enorm schnell weiterentwickelt. Ich glaube, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis unser Wissen über die Funktionsweise des Gehirns direkt in Anwendungen wie der Bilderkennung und dem maschinellen Lernen genutzt werden kann. Haben Sie in diesen Bereichen schon gearbeitet? Poggio: Ja. Meist haben wir über Elektroden Hirnsignale von Makaken-Affen aufgezeichnet. Dabei kann man sogar Daten von einzelnen Neuronen gewinnen. Als Ergebnis erstellten wir ein mathematisches Modell der Sehrinde von Makaken, das die Lernaktivität von etwa einer Million Gehirnzellen simuliert. Wir lassen es nun als Computerprogramm laufen und haben es bereits mit tausenden Fotos Könnte eine solche Technologie zu Überwachungssystemen führen, die menschliche Aktivitäten analysieren? Poggio: Im Prinzip ja. Aber natürlich würde solch ein System sehr viel Training brauchen. Menschliche Verhaltensweisen sind viel komplizierter als die von Mäusen. Arbeiten Sie auch daran, einem intelligenten künstlichen System ein Bild zu zeigen und eine Beschreibung dessen zu bekommen, was darauf passiert? Poggio: Ja. Aber so weit sind wir noch nicht. Ich denke, wir werden bald Systeme haben, die automatisch erkennen können, was auf einem Bild zu sehen ist: ein Fußgänger, ein Au - to, ein Vogel. Es gibt aber viel komplexere Fragestellungen etwa zu verstehen, was Men - schen auf einem Bild gerade tun. Heute gibt es noch keinen Computer, der so etwas kann. Was ist so schwierig daran? Poggio: Menschen profitieren von einer riesigen Menge an Wissen und Erfahrung. So können wir leicht erkennen, dass eine Person gerade in ein Gespräch verwickelt ist und eine andere nicht. Doch für so etwas braucht man weit mehr als nur reines Sehvermögen. Man braucht Intelligenz. Werden Maschinen in zehn Jahren über diese Art von Intelligenz verfügen? Poggio: Die Fähigkeit, das Geschehen auf einem Bild zu beschreiben, wäre eine der größten intellektuellen Herausforderungen für eine Maschine. Wir werden noch viel Grundlagenforschung benötigen, um solche Aufgaben lösen zu können. Ich denke, das wird mindestens noch 20 Jahre dauern. Das Interview führte Arthur F. Pease 68 Pictures of the Future Herbst 2011 Pictures of the Future Herbst 2011 69

Wie Maschinen lernen Industrieanwendungen Intelligent: Amit Chakraborty bei CT hat eine lernende Software zur Vorhersage des Strombedarfs entwickelt. Auch beim Ausbau eines Smart Grids im Allgäu (rechts) könnte maschinelles Lernen helfen. Stromnetzen. Dabei muss er im wahrsten Sinne des Wortes ganz unten anfangen: Häufig fehlen für Verteilnetze die Informationen, wo vor 35 Jahren wie viele Kupferleitungen für die Stromversorgung der Endverbraucher vergraben wurden, erklärt Metzger. Um die Basisinformationen über das verborgene Stromnetz zu bekommen, hat Metzger einen lernenden Algorithmus entwickelt: Er bedient sich der Messwerte, die Sensoren von bestimmten Punkten im Kabelnetz über Stromfluss und Spannung liefern, und errechnet daraus, wie die Struktur des Netzes aufgebaut ist. Dadurch kann der Netzbetreiber jederzeit berechnen, wo wie viel Spannung auf seinem Netz ist, sagt Metzger. Zurzeit testet Siemens in einem Teil des Stromnetzes der Allgäuer Überlandwerke die Software des Schätzalgorithmus. Vorzeichen eines Ausfalls erkennen. Geradezu revolutionär sind die Veränderungen, die Daten zu erkennen. So gibt es eine Reihe von Anzeichen, wenn das kühlende Helium in einem MR-Tomographen zu entweichen beginnt: zunächst sind das sehr geringe Änderungen der Temperatur und des Drucks. Die Techniker von Siemens Healthcare können daher das Kühlsystem warten, bevor das Gerät ausfällt. Heute werden über 3.500 MR-Scanner von den Siemens-Serviceteams mithilfe dieser Software überwacht und vorausschauend gewartet. Innerhalb von drei Jahren konnten so Kosten in Höhe von 4,3 Millionen Euro eingespart werden, weil nötige Reparaturen ausgeführt wurden, bevor die Geräte Schaden nehmen konnten. Vorläufer dieser Forschungsarbeiten war das Brückenüberwachungsprogramm, das CT- Forscher Ciprian Railenau in Princeton geleitet hat: Das US-Verkehrsministerium suchte nach einer Methode, die Wartung und Instandhaltung der rund 650.000 Brücken in den USA zu optimieren. Railenaus Team arbeitete dafür mit der nahe Princeton gelegenen Rutgers University und dem dortigen Center for Advanced Infrastructure and Transportation zusammen. Autonomes Lernen steigert die Leistung eines Windparks so, als ob er eine weitere Turbine hätte. Das System erkennt selbstständig, in welchem Zustand die Brücken sind, erklärt Railenau. Die dafür benötigten Rohdaten stammen aus unterschiedlichen Quellen: von Sensoren an den Brücken, aus Prüfungsberichten, Wetterdaten oder historischen Daten der Baupläne, der Unfallhäufigkeit aus Polizeiberichten oder Fotografien von Brücken. Diese sehr heterogene Aus Erfahrung gut Das Lernen von wiederkehrenden Erfahrungsmustern befähigt Computer zu selbstständigem Handeln. Daraus entwickeln Forscher jetzt Systeme für Energieversorgung und Servicedienste, die wesentliche Aufgaben erkennen und automatisch erledigen. Mit der Idee intelligenter Roboter spielt Hollywood gerne meist um tief sitzende Ängste bei den Zuschauern zu wecken: Man denke nur an die sich selbstständig machenden Maschinen im Blockbuster Transformers. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus. So dürften wohl die meisten Kinobesucher gar nicht wissen, dass die Forschung bereits große Erfolge darin erzielt hat, Maschinen selbstständiges Lernen und Handeln beizubringen natürlich nur zum Wohle der Menschheit. Etwa bei Siemens Corporate Technology (CT) in Princeton, USA: Dort entwickelt das Team um Amit Chakraborty im Forschungs-Cluster Information & Automation Technologies eine neuartige Software für Energieversorger, die aus Millionen Datensätzen die Gewohnheiten von Stromkunden erlernen kann. Später soll das System selbstständig und in kürzester Zeit Lastprognosen erstellen, also den Strombedarf vorhersagen. Im Smart Grid, dem intelligenten Stromnetz der Zukunft, wird es nämlich vor allem darum gehen, den Stromverbrauch und die fluktuierende Stromerzeugung etwa durch Solar- und Windkraftwerke in Einklang zu bringen (Pictures of the Future, Frühjahr 2011, S.17, 20, 22). Dann werden nachhaltige Energiesysteme den Laststrom der Verbraucher so managen, dass er der schwankenden Erzeugung aus den erneuerbaren Energiequellen folgt, ist Chakraborty überzeugt. Wir müssen deshalb Methoden entwickeln, die den Energieunternehmen eine präzise Planung ermöglichen. Noch im Jahr 2011 soll die neue Software in einem Pilotprojekt mit einem US-Energieunternehmen getestet werden. Ziel ist es, zunächst das Profil der Verbraucher zu erforschen. Dafür stellt das Unternehmen Auslesedaten von etwa fünf Millionen Kunden zur Verfügung, die von intelligenten Stromzählern erhoben wurden. Die Daten geben Auskunft über Strommenge und Nutzungszeit. Die Siemens- Forscher werden sie mit meteorologischen Daten und Informationen über besondere Ereignisse, etwa ein Baseball-Finale, kombinieren. Aus diesem Rohdatenschatz entwickeln sie Lerndatensätze für ihre Software. Deren Algorithmen sollen dann genaue kurzfristige Lastprognosen erstellen können. Lastprognosen sind allerdings keine neue Erfindung. Jeder kennt die berühmte Bratenspitze, wenn an Feiertagen die Gans in den Ofen geschoben wird. Diese recht groben Muster werden aber den Anforderungen eines nachhaltigen Energiesystems nicht gerecht. In den USA setzen Energieunternehmen bereits seit einigen Jahren beim Lastmanagement auf die Prinzipien der Marktwirtschaft: Steht viel Strom zur Verfügung, wird der Strompreis gesenkt, umgekehrt können sich Verbraucher vertraglich verpflichten, bei Stromknappheit weniger zu verbrauchen oder einen teureren Strompreis in Kauf zu nehmen. Dieses sogenannte Demand Response funktioniert allerdings nicht immer optimal: Reagieren die Verbraucher nicht wie erwartet, müssen die Energieunternehmen schnell zusätzlichen Strom produzieren oder einkaufen, was häufig uneffizient ist und zu verstärkten Treibhausgas-Emissionen führt. Um dies zu verhindern, müssen wir voraussagen können, wie sich Verbraucher unter den jeweils aktuellen Bedingungen verhalten werden, sagt Chakrabkorty. Maschinelles Lernen könnte aber auch dazu beitragen, die Kosten beim Ausbau des Stromnetzes zu reduzieren. Dr. Michael Metzger forscht im Siemens-Leuchtturmprojekt Smart Grid in München an der Automatisierung von maschinelles Lernen im Servicebereich auslösen wird: Statt zu warten, dass es bei teuren Geräten zu Ausfällen kommt, gehen die Siemens-Forscher einen großen Schritt weiter: Wir haben ein Programm entwickelt, das voraussagen kann, wann ein Magnetresonanz-Tomograph oder ein System für Nuklearmedizin ausfallen wird, erklärt Dr. Fabian Mörchen, der bei Siemens in Princeton an lernenden Systemen für Service Analytics arbeitet. Ausgangspunkt ist, dass es bei vielen Maschinen Vorzeichen für ein baldiges Versagen gibt. Die Kunst besteht darin, diese Signale zu identifizieren und sichtbar zu machen, erklärt Mörchen. So verändern sich elektrische Ströme und Spannungen, Geräusche und Vibrationen, der Druck oder die Temperatur. Diese Abweichungen vom Normalbetrieb werden von Sensoren an den Maschinen gemessen. Aus diesem Rohdatenschatz filterten die Forscher mithilfe ihrer mathematischen Methoden Muster heraus, im Fachjargon Data Mining genannt. Nachdem eine ganze Reihe von Mustern für Störungen bekannt war, konnte das Team um Mörchen Algorithmen entwickeln, die ein Programm darauf trainieren, die Muster bei unbekannten Effizienter Riese: Lernende Software-Systeme können auf Basis neuronaler Netze Prognosen für Emissionen und den optimalen Betrieb von Turbinen berechnen (im Bild: das Innere einer Gasturbine). 70 Pictures of the Future Herbst 2011 Pictures of the Future Herbst 2011 71

Wie Maschinen lernen Auf den Punkt Smart Grids: Software-Agenten Personal Energy Agents sollen künftig über die PEA-Box (links) den Stromhandel zwischen Verbrauchern und Erzeugern abwickeln. Schallwellen sparen Energie beim Stahlschmelzen Wenn Schrott in einem Elektrolichtbogenofen zu Stahl geschmolzen wird, ist das ein chaotischer Prozess: Die unterschiedlich schweren Schrottstücke verrutschen während des Schmelzens unter den drei Lichtbögen. Das führt immer wieder dazu, dass einer der bis zu 10.000 Grad Celsius heißen Lichtbögen frei gegen die Ofenwand strahlt. Im Ofen herrscht ohrenbetäubender Lärm: Die Lichtbögen der Drehstrom-Elektroden erzeugen rund 120 Dezibel, mehr als ein Düsenflugzeug. Genau dieser Lärm hat Dr. Detlef Rieger, Projektleiter im globalen Technologiefeld für zerstörungsfreie Prüfungen bei Siemens Corporate Technology in München, und Dr. Thomas Matschullat bei Metals Technologies in Erlangen auf die Idee gebracht, wie man das Einschmelzen überwachen und steuern kann, um Energieeinsparungen zu erzielen. Sie brachten Sensoren an der Außenwand des Lichtbogenofens an, die die Schallwellen messen, die sich aus dem Ofen übertragen. An den Elektroden wird außerdem ständig der elektrische Strom gemessen. Diese Werte nutzen wir ebenfalls und kombinieren sie mit den Werten der Schallwellen. Unsere Algorithmen können dann errechnen, wie sich Schallwellen zwischen Lichtbogen und Ofenwand ausbreiten und daraus Schlüsse ziehen, was gerade im Ofen passiert, sagt Rieger. So kann das System in der Einschmelzphase erkennen, wie der Schrott im Ofen verteilt ist und entsprechend die Leistung der Elektroden reduzieren oder erhöhen. In der zweiten Schmelzphase ist es besonders wichtig, dass die Schlacke, die sich im Verlauf des Einschmelzprozesses gebildet hat, als gleichmäßig dicke, schaumige Schicht auf dem flüssigen Stahlbad schwimmt. Dafür wird Kohlestaub in den Ofen geblasen, der über Gas- und Schlackenphase zu Kohlenmonoxid reagiert und die Schlacke zum Schäumen bringt. Diese Schicht isoliert die Lichtbögen und die Schmelze und verhindert, dass die Ofenwände stark erhitzt werden und der Energieverbrauch steigt. Die Software berechnet mithilfe der gemessen Schallwellen ständig, ob die Schaumschlacke hoch genug und gleichmäßig verteilt ist. Daher wird das System auch SIMELT Schaumschlacken-Manager genannt. Es wird zurzeit in zwei Stahlwerken in Deutschland und einem in Weißrussland eingesetzt und sorgt dafür, dass dort etwa 2,3 Prozent Energie eingespart werden. Das sind bei einer typischen Charge von 100 Tonnen Stahl rund 920 Kilowattstunden, und dies ungefähr jede Stunde, erklärt Rieger. Außerdem sparen die Stahlwerke bis zu 25 Prozent Blaskohle ein und verringern ihren jährlichen CO 2 -Ausstoß um etwa 12.000 Tonnen. Katrin Nikolaus Datenmenge untersuchten wir auf Muster, sagt der Siemens-Forscher. Anhand dieser Muster lernen die Algorithmen, welche Folgen sich aus dem Aufeinandertreffen bestimmter Faktoren ergeben könnten: Wenn es sich etwa um eine Brücke, Baujahr 1976, handelt, die in einer niederschlagsreichen Region steht und Eisenträger hat, ist es sehr wahrscheinlich, dass in den Pfeilern nach 30 Jahren Risse entstehen. Das US-Verkehrsministerium setzt dieses Brücken-Überwachungsprogramm seit 2008 ein. Es stand auch Pate für ein neues System, das Bahnunternehmen in Großbritannien und Russland für das Monitoring ihrer Zugflotte verwenden: Die Daten für die lernende Software stammen von Sensoren in den verschiedenen Subsystemen in den Zügen, etwa zur Überwachung der Bremsen oder Türen, aus Fahrplänen oder Störungsmeldungen. Das System namens Rail Remote Service Desktop (RRSD) kombiniert diese Daten miteinander und errechnet, wo sich welcher Zug gerade befindet und ob Wartungsarbeiten anstehen. Zurzeit werden 175 Züge von RRSD überwacht Siemens liefert dafür nicht nur die Software, sondern auch die Automatisierungskomponenten. Komplexität beherrschen. Auch bei Gasturbinen berechnen lernende Software-Systeme auf Basis neuronaler Netze im Sekundentakt Prognosen für die Emissionen und den optimalen Betrieb der Turbinen (S.54 und Pictures of the Future, Frühjahr 2011, S.97). In den riesigen Maschinen wirken unzählige, komplizierte Zusammenhänge diese können die Forscher oft nur mit statistischen Methoden erfassen, da viele Messgrößen nur annähernd zu bestimmen sind. Mit klassischen mathematischen Formeln, die genaue Zahlen benötigen, kommt man hier nicht weit. Um in den Turbinen eine lange Lebensdauer, niedrige Emissionen oder höhere Leistungen zu erzielen, muss jedoch die Wirkung von Steuerungsmaßnahmen genau bewertet und prognostiziert werden. Dazu haben Volkmar Sterzing und das Team vom globalen Technologiefeld Intelligent Systems & Control bei Siemens CT in München Siemens-Forscher testen derzeit das Gesamtsystem. eine neue Methode entwickelt: Mit sogenannten rekurrenten neuronalen Netzen können die Forscher die Vorgänge in einer Turbine abbilden. Bislang konnte man nur eine Momentaufnahme gewinnen, erklärt Sterzing. Mit unserer neuen Methode können wir nun quasi die fehlenden Bilder vor und nach dieser Momentaufnahme ergänzen und somit eine komplette Fotoreihe erstellen. Damit wissen wir nicht nur, was in der Vergangenheit geschah, sondern auch wie sich der Ablauf weiter entwickeln wird. Mit diesem dynamischen Abbild können Veränderungen frühzeitig erkannt und Maßnahmen gezielt geplant werden. Die CT-Wissenschaftler haben diese Methoden auch für die Optimierung von Windturbinen erweitert. Als passionierter Regattasegler weiß Sterzing, dass er sein Boot nur dann optimal steuern kann, wenn er Wellengang, Wind und Mitsegler in jeder Minute des Wettkampfs beobachtet, prognostiziert und seinen Kurs dementsprechend plant. Diese Vorgehensweise inspirierte ihn zu einem Software-System für Windturbinen: Sensoren messen an jeder einzelnen Windturbine eines Windparks rund zehn Einflussfaktoren, darunter Windstärke, Turbulenzniveau, Temperatur und Luftdruck. Diese Daten setzen die Algorithmen in Beziehung zur Energieerzeugung der Turbine, so dass die Software diese Zusammenhänge lernt und wie ein menschliches Gehirn abspeichert. Je mehr Situationen das System kennt, desto präziser kann es im aktuellen Betrieb prognostizieren, mit welcher Einstellung, also Anstellwinkel der Rotorblätter oder Generatorgeschwindigkeit, die Windturbine am meisten Leistung aus dem jeweiligen Wind herausholt. Bis zu einem halben Prozentpunkt kann sich die Leistung einer Windturbine so verbessern. Das klingt wenig, bewirkt aber in großen Windparks viel. Getestet wird das System seit knapp einem halben Jahr im schwedischen Windpark Lillgrund. Das selbstständige Lernen aus den eigenen Aktionen, das sogenannte Autonome Lernen bewirkt, dass die Leistung des Windparks so gesteigert wird, als ob er eine zusätzliche Turbine hätte. Katrin Nikolaus Lernenden Maschinen gehört die Zukunft. Maschinelles Lernen ermöglicht es, in einer immer komplexer werdenden Welt Daten zu sammeln, zu verarbeiten und Optimierungsmöglichkeiten zu erkennen. Siemens-Forscher haben die mathematischen Grundlagen für Dutzende industrielle Prognosesysteme geschaffen. Sie werden anhand von Tausenden von Beispielen trainiert. Anschließend können sie auch komplexe Einsatzgebiete wie die Vorhersage von Absatzvolumina und Rohstoffpreisen oder die Prognose der Leistung von Windparks und Gasturbinen beherrschen weit besser als konventionelle Systeme. (S. 51, 52) Software-Systeme können anhand von Bildern aus dem Körperinneren und von Zellstrukturen daraufhin trainiert werden, die Umrisse von Organen zu identifizieren und die Krebsstadien von Zellen zu erkennen. Dies eröffnet den Weg für völlig neue Diagnose- und Behandlungsverfahren. Zum Beispiel können solche Systeme Ärzten dabei helfen, das Ausmaß von Kalkablagerungen zu quantifizieren oder bei minimal-invasiven Verfahren Röntgen- und Ultraschallbilder zu kombinieren und sie so sicherer durchzuführen. (S.57) Das maschinelle Sehen stellt nach über fünfzig Jahren Forschung weiterhin eine der größten Herausforderungen für Experten dar, die an Systemen des maschinellen Lernen arbeiten. Videosysteme von Siemens könnten in Zukunft nicht nur digitale Modelle der sichtbaren Welt schaffen, sondern diese auch eigenständig interpretieren, etwa um Gefahren zu erkennen. (S.64) Systeme zur automatischen Texterkennung von Siemens haben den internationalen Postverkehr revolutioniert. Doch das Prinzip der maschinellen Zeichenerkennung birgt noch weit größere Potenziale: Künftige Anwendungen reichen von der Verkehrs- und Sicherheitstechnik über Lesehilfen für sehbehinderte Menschen bis zu Sicherheitscodes bei Gefahrguttransporten. (S.67) Hochkomplexe Systeme, die mit Lernalgorithmen ausgestattet werden, können mit Hilfe von Erfahrungsmustern ihren eigenen Wartungsbedarf minimieren und zugleich ihre Leistung erhöhen. Das reicht von modernen medizinischen Systemen über die Energieverteilung und Gasturbinen bis hin zu kompletten Windparks. (S.70) LEUTE: Prognosetechniken: Dr. Hans-Georg Zimmermann, CT hans_georg.zimmermann@siemens.com Prof. Dr. Volker Tresp, CT volker.tresp@siemens.com Medizinische Anwendungen: Dr. Shaohua Kevin Zhou, CT shaohua.zhou@siemens.com Dr. Razvan Ionasec, CT razvan.ionasec@siemens.com Sicherheit und Robotik: Dr. Gisbert Lawitzky, CT gisbert.lawitzky@siemens.com Maneesh Singh, Corporate Research maneesh.singh@siemens.com Bild- und Zeichenerkennung: Prof. Dr. Volker Tresp, CT volker.tresp@siemens.com Ingolf Rauh, Mobility ingolf.rauh@siemens.com Stephan Von der Nuell, Mobility stephan.vondernuell@siemens.com Industrieanwendungen: Amit Chakraborty, Corporate Research amit.chakraborty@siemens.com Dr. Michael Metzger, CT michael.metzger@siemens.com Dr. Fabian Moerchen, Corporate Research fabian.moerchen@siemens.com Interviews: Prof. Dr. Tomaso Poggio: tp@ai.mit.edu Prof. Dr. Bernhard Schölkopf: bernhard.schoelkopf@tuebingen.mpg.de LINKS: Association for the Advancement of Artificial Intelligence: www.aaai.org European Machine Vision Association: www.emva.org/cms/index.php Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme: www.is.mpg.de MIT Computer Science and Artificial Intelligence Laboratory: www.csail.mit.edu Neural Information Processing Systems Foundation: nips.cc 72 Pictures of the Future Herbst 2011 Pictures of the Future Herbst 2011 73

Pictures of the Future Gestenerkennung im OP-Saal Wenn Dr. Thomas Friese in seinem Labor in Erlangen bei Siemens Healthcare vor seinem Monitor steht und mit beiden Händen Drehbewegungen im Raum vollführt, erinnert die Szene ein wenig an Tom Cruise im Film Minority Report. Auf dem Display vor ihm beginnt sich das 3D-Modell eines Brustkorbes zu drehen. Sobald Friese in seinen Bewegungen stoppt, kommt auch die Rotation zum Stillstand. Zwei Meter vom Monitor entfernt stehend, verändert er den Bildausschnitt durch behutsame Bewegungen mit der rechten Hand von links nach rechts. Er blättert ähnlich wie bei einem Smartphone mit einer Wischbewegung seiner rechten Hand durch eine Bilderserie. Diese Art der berührungslosen Gestenerkennung soll es Chirurgen künftig ermöglichen, im Operationssaal Radiologie-Aufnahmen auszuwählen oder deren Darstellung zu verändern, ohne einen Monitor berühren oder sich vom OP-Tisch entfernen zu müssen. Einige der größten Veränderungen in der Medizintechnik finden zurzeit im Arbeitsfeld des Chirurgen statt, sagt Michael Martens, verantwortlich für die Geschäftsentwicklung in der Chirurgie bei Siemens Healthcare syngo. Er Keimfrei: Dank modifizierter Spielekonsolen- Technik können Ärzte bald medizinische Schnittbilder im OP mit Handbewegungen steue rn. Unten: Tests bei Siemens Healthcare in Forchheim. Spielekonsole im Operationssaal Chirurgen können künftig während einer Operation mit einfachen Gesten durch radiologische Aufnahmen blättern und Bilddarstellungen verändern. Damit können sie schnellere Entscheidungen treffen. Das sterile Arbeiten bleibt dabei gewährleistet modernste Technik aus Spielekonsolen macht s möglich. meint damit vor allem den Boom bei den minimal-invasiven Eingriffen mit kleinen, den Patienten schonenden Schnitten. Während der Chirurg bei einer herkömmlichen OP sofort nach dem Aufschneiden des Patienten die relevanten Organe oder Knochen vor sich sieht, hat er bei der minimal-invasiven Chirurgie einen Informationsverlust, den die medizinische Bildgebung auszugleichen hilft. Die Chirurgen bereiten sich daher nicht nur mit dem radiologischen Befund auf eine OP vor, sondern betrachten und diskutieren vorab die medizinischen Schnittbilder der Voruntersuchung. Auch während der OP greifen die Chirurgen gerne auf diese Aufnahmen zurück. Durch diese Informationen können Standardoperationen und mögliche Komplikationen besser gehandhabt werden. Immer häufiger hängen deshalb Displays in Operationssälen, die diese Informationen im direkten Arbeitsfeld des Chirurgen darstellen. Dabei gibt es jedoch ein Problem: Um jedes denkbare Infektionsrisiko zu minimieren, berührt der Chirurg abgesehen vom Patienten und den Operationswerkzeugen möglichst keine weiteren Instrumente und Geräte. Wenn er jegliches Infektionsrisiko ausschließen möchte, müsste er sich nach jeder Berührung eines nicht OP- relevanten Gerätes, wie etwa eines entfernt auf gestellten Touchscreens, komplett umziehen und würde damit die Operations- und Narkosedauer für den Patienten erheblich ausdehnen. Xbox-Technik im OP. Eine berührungsfreie Steuerung des Displays per Sprache ist für die notwendigen, komplexeren Interaktionen mit medizinischen Bildern nicht praktikabel. Der Chirurg würde dazu einen weiteren Mitarbeiter benötigen, der für ihn die Sprachbefehle erteilt. Diese Person müsste sich zusätzlich im OP aufhalten und würde ein Mehr an Keimen und Kosten verursachen. Auch könnte der Chirurg die Displays nicht intuitiv, sondern nur indirekt bedienen. Die Lösung fanden die Experten schließlich im Videospielbereich: Als Microsoft die Kinect-Technik auf den Markt brachte, haben wir sofort das Potenzial in der Gestenerkennung für die Chirurgie erkannt, sagt Friese. Kinect wird in der neuen Spielekonsole Xbox 360 von Microsoft eingesetzt, wo die Technik die Bewegungen von Spielern erkennen und interpretieren kann. Herzstück von Kinect ist die sogenannte PrimeSensor Technology der Firma PrimeSense. Eine Infrarotlichtquelle projiziert ein unsichtbares Punktmuster in den Raum. Alle dort vorhandenen Personen oder Gegenstände verzerren das Punktmuster. Ein Infrarotsensor misst das verzerrte Punktemuster, eine Software vergleicht die Messwerte mit einem internen Referenzmuster und berechnet damit für jeden Punkt den Abstand zur Lichtquelle den sogenannten Tiefenwert. Zu Kinect gehört auch eine Videokamera, die ein Farbbild des Raums aufnimmt. Jedem Bildpunkt des Videobildes wird der entsprechende Tiefenwert zugeordnet. Damit errechnet das System eine dreidimensionale Punktwolke, die die räumliche Struktur des aufgenommenen Bereichs wiedergibt. Mithilfe von Wahrscheinlichkeitsmodellen kann das System anhand dieser Punktwolke einzelne Personen voneinander unterscheiden. Punkte, die sich nicht bewegen, gehören nicht zu einer Person und werden vom System ignoriert. Die Bewegungserkennung der Xbox 360 ist darauf spezialisiert, schnelle Körperbewegungen von Spielern zu identifizieren. Für die langsamen, aber präzisen Handbewegungen, mit denen ein Chirurg die Darstellung am Display beeinflussen soll, ist diese Art der Erkennung hingegen nicht ausgelegt. Meine Abteilung hat dem System die notwendige Präzision verpasst und die Messtechnik neu programmiert, erklärt Dr. Georg von Wichert, der bei Siemens Corporate Technology über die Steuerung intelligenter Systeme forscht. Für die Erkennung von Handgesten müssen die Forscher zunächst die Hand identifizieren, die Bestandteil der Punktwolke ist. Das System wählt hierzu eine sensitive Zone zwischen dem Monitor und dem Benutzer. Wir gehen davon aus, dass das, was aus der Punktwolke in diese Zone hineinragt, eine Extremität wie zum Beispiel ein Arm ist, erklärt von Wichert. Die Software berechnet dann, wo sich die zum Arm gehörende Hand befindet und auf welche Stelle des Monitors sie zeigt. Anschließend misst das System die Breite dieser Hand. Bei einer Geste wie etwa dem Spreizen der Hand wird das zu bewegende Objekt auf dem Bildschirm virtuell ergriffen. Danach ermöglicht eine einfache Handbewegung das Rollen durch den Bilderstapel. Um zum Beispiel einen Bildausschnitt zu verändern, bewegt der Chirurg beide Hände voneinander weg. Mit Infrarotlichtquelle, Sensor und Software setzt das System nur relevante Bewegungen in Befehle um. Nur vier Monate hat es gedauert, bis Friese und von Wichert den ersten Prototypen fertiggestellt hatten. Unterstützung erhielten sie dabei vom Partner Microsoft, der ihnen die Schnittstellen von Kinect zum Windows- Betriebssystem zur Verfügung stellte. So konnten die Forscher die Daten aus der Personenerkennung für ihre Berechnungen nutzen. Wir sind begeistert, wie stabil und robust das System funktioniert, freut sich Martens. Das System fixiert sich auf die relevante Zone, in der es die Handgesten erkennt und blendet Bewegungen außerhalb dieses relevanten Bereichs aus. Deshalb lässt es sich auch nicht von einer OP-Schwester aus dem Tritt bringen, die sich in unmittelbarer Nähe des Chirurgen bewegt und ihm Instrumente reicht. Demnächst soll der Prototyp den Weg aus dem Labor in den OP-Saal finden. Chirurgen an zwei europäischen Krankenhäusern in Spanien und Amsterdam wollen das System im Herbst 2011 unter semi-realen Bedingungen testen selbstverständlich noch nicht am Patienten. Als nächstes wollen die Siemens-Ingenieure eine Gestensteuerung program mieren, mit der ein Chirurg virtuell einen Gegenstand auf dem Monitor ergreifen, bewegen und wieder loslassen kann. Dadurch wird der Benutzer mit 3D- Bildern viel intuitiver umgehen können als mit der heute üblichen Maussteuerung. Das fertige System soll sich außerdem mit anderen Krankenhaussystemen wie etwa digitalen Bildarchiven oder elektronischen Patientenakten verknüpfen lassen. Während einer OP kann der Chirurg dann zum Beispiel schnell am Monitor die Blutwerte des Patienten aufrufen. Das System bietet dem Chirurgen Zugang zu einem ganzen Universum nützlicher Informationen und kann dadurch zu einer besseren OP beitragen, resümiert Martens. Michael Lang 74 Pictures of the Future Herbst 2011 Pictures of the Future Herbst 2011 75

Highlights 79 Ressourcenschonende Zukunft Die Erdbevölkerung wächst und mit ihr die Nachfrage nach Energie und Konsumprodukten. Dabei zeigen die Preisentwicklungen für Rohstoffe wie Öl und Metalle schon heute die Auswirkungen knapper Ressourcen. Es bedarf effizienter Lösungen, die Nachfrage, Angebot und Umweltschutz in Einklang bringen. 81 Effizienzsteigernde Maßnahmen Im Zeitalter von Klimawandel und Ressourcenknappheit ist Effizienz gefragter denn je. Das gilt für Produkte, deren Herstellung oder Gebäude gleichermaßen. Abhilfe schaffen hier von Siemens entwickelte Tools. Seiten 81, 86, 90, 98 84 Buchhaltung für Naturkonsum Der ökologische Fußabdruck sollte als Messgröße so selbstverständlich werden wie das Bruttosozialprodukt, meint Dr. Mathis Wackernagel, Präsident des Global Footprint Network, im Interview. 100 Alternativen auf der Spur Um der Herausforderung der weltweiten Rohstoff-Verknappung entgegenzutreten, forscht Siemens an alternativen Materialien und ausgeklügelten Recyclingmethoden. 104 Südamerikas Ingenieurskunst Brasiliens Energiehunger macht die Ingenieure des Landes erfinderisch: Durch technische Innovationen erhöhen sie die Effizienz und Stabilität der Energieversorgung. Ressourcenschonendes Wachstum Szenario 2035 2035 Der Wahrheit auf der Spur: Der Substitutions- Experte Maurice Lavell analysiert im Auftrag des Autoherstellers Wheel-E die Materialzusammensetzung des neuen Elektroautos eines Wettbewerbers. Dieser verspricht das beste Preis-Leistungs-Verhältnis seiner Klasse dank der optimalen Mischung aus wie der verwerteten Materialien und Alternativen zu den mittlerweile teuren, weil verknappten, Rohstoffen wie Lithium oder den Seltenen Erden. Weniger ist mehr 2035 Die Rohstoffverknappung hat die Weltwirtschaft bereits vor Jahren erreicht. Um dennoch Produkte zu erschwinglichen Kosten anbieten zu können, versuchen Unternehmen möglichst viele recycelte oder alternative Materialien einzusetzen. Oft holen sie dafür Substitutions-Analysten wie Maurice Lavell zur Hilfe manchmal an der Grenze des Erlaubten. Ich kann verstehen, warum man mich mitten in der Nacht in dieses dunkle, verlassene Parkhaus auf dem Werksgelände gerufen hat. Jetzt, wo er vor mir steht in seiner ganzen Pracht. Ein Meilenstein in der Riege der Elektroautos, ein Top-Auto zum Top-Preis. Das zumindest behauptet der Hersteller dieses Flitzers. Ob das stimmt, werde ich heute herausfinden. Gestatten, Maurice Lavell mein Name. Ich arbeite für das Büro Henry Poiret in New York, eine vor rund 20 Jahren für die Optimierung von Ökobilanzen gegründete Agentur, die heute auch bei der Identifizierung von Recyclingund Materialsubstitutionspotenzialen Weltmarktführer ist. Wir bieten unseren Kunden einen ganz besonderen Service an. Egal ob Kleinstprodukte wie elektrische Zahnbürsten, komplette Highspeed-Züge oder wie im heutigen Fall Elektroautos: Wir durchleuchten Produkt-Prototypen bis zur kleinsten Schraube. Dabei prüfen wir, ob und wie die Herstellungskosten gesenkt werden können. Etwa mit einem möglichst hohen Anteil an recycelten Materialien. Oder preisgünstigen Alternativen, die teure Werkstoffe ersetzen. Stets mit dem Ziel, dass die Qualität und Leistung des Produktes darunter nicht leidet. Das Geschäftsfeld ist eine Goldgrube, seit uns vor fünf Jahren die Rohstoffverknappung vollends erreicht hat und die Preise für Materialien wie Kupfer, Lithium oder Aluminium explodiert sind. Und selbst die sind im Vergleich zur Preisentwicklung von Seltenen Erden noch wahre Schnäppchen. Je mehr wiederverwertete oder alternative Materialien verwendet werden, 76 Pictures of the Future Herbst 2011 Pictures of the Future Herbst 2011 77

desto höher der Wettbewerbsvorteil. Heute stehen bei uns Produzenten aller Art und aus der ganzen Welt Schlange. Wir kommen kaum noch mit der Arbeit hinterher. Einen unserer ersten Aufträge erhielten wir von einem Industrieverband. Wir sollten ein Verfahren für die Massenherstellung von Polyhydroxybuttersäure entwickeln. Das ist ein Kunststoff den das Purpurbakterium Paracoccus denitrificans produziert, indem es überschüssige Kohlenhydrate in Fettsäure umwandelt und diese zu langen Molekülketten zusammensetzt. Mit unseren Hochleistungsrechnern haben wir in einem virtuellen Bioreaktor an manchen Parametern herumgeschraubt. So lange, bis wir so eine höhere Festigkeit des Plastiks erreicht haben. Das Ergebnis unserer Anstrengungen war ein in beliebigen Mengen herstellbares Material, das für manche Anwendungen sogar Metalle ersetzt. Dieser Erfolg machte uns von einem auf den anderen Tag weltweit berühmt. Dabei ist das Einsatzfeld des Plastiks sehr breit. Beispielsweise beinhalten heute alle Straßenbahnen der neueren Generationen mehrere Prozent dieser grünen Polymere. Der Rest Je mehr wiederverwertetes oder alternatives Material verwendet wird, desto höher ist der Wettbewerbsvorteil. besteht meist aus komplett wiederverwerteten Materialien. Dank ausgeklügelter Recyclingmethoden, die mein Team für unzählige Werkstoffe entwickelt und patentiert hat. Um beim Beispiel der Straßenbahnen zu bleiben: In nahezu allen europäischen Großstädten haben wir mit einer speziellen Bewertungsmethode die Betriebskosten der Trams reduziert, indem wir den Zügen supereffiziente Sandwichakkumulatoren verordnet haben. Damit können die Trams über weite Strecken oberleitungslos und autark ihre Kreise ziehen, ehe die Stromspeicher nachts an der Ladestation wieder aufgeladen werden natürlich nur mit CO 2 -freiem Strom von erneuerbaren Energien, der nachts auch besonders kostengünstig ist. Für derartige Batterien haben wir uns auf die Suche nach Alternativmaterialien gemacht. Denn seitdem Elektroautos das Straßenbild beherrschen, ist das chemische Element Lithium sehr begehrt und entsprechend teuer geworden. Hier bekamen wir von den Vereinten Nationen vor wenigen Monaten die Bitte, eine Alternative zu suchen. Zum Glück hatten wir wenige Wochen zuvor unseren Quantencomputer in Betrieb genommen. Ansonsten wäre dieser Auftrag eine langwierige Geschichte geworden. Eine ausgeklügelte Software hat auf dem Hochleistungscomputer innerhalb weniger Tage mehrere 100.000 Elektroden mit verschiedensten Metallmischungen virtuell aufgebaut und simuliert, bis wir eine Mischung gefunden haben, die den Lithium-Eigenschaften am nächsten kam. Soweit ich das erkennen kann, ist dieser Alternativstoff bereits in den Akkumulatoren des schicken Flitzers vor mir enthalten. Und damit wären wir beim heutigen Auftrag. Es geht um den E-Ston Boiteaux, der laut Hersteller E-Captions das beste Preis-Leistungs- Verhältnis auf dem Markt haben soll. Eine Behauptung, die bisher der direkte Konkurrent in diesem Preissegment, Wheel-E, für sich beanspruchte. Daher hat mich das Unternehmen beauftragt, den neuen Flitzer genau unter die Lupe zu nehmen, um E-Captions der Täuschung zu überführen. In diesem Fall ist die Lupe ein speziell entwickeltes, faltbares E-Paper, mit dessen Hilfe ich die Materialzusammensetzung des Wagens analysieren kann. Dafür hat mir Wheel-E die 3D-Daten des Elektroautos auf das Paper gespielt. Solche Produktdaten können Konkurrenten einfordern, sobald ein berechtigter Verdacht besteht, dass auf dem Wettbewerbsfeld kein Fair Play betrieben wird. Optische Sensoren und eine intelligente Software gleichen mein Blickfeld und den Betrachtungswinkel mit den virtuellen Daten ab, so dass das Display den Querschnitt exakt der Stelle zeigt, auf die ich das Paper halte. Die in den Fahrzeugdaten enthaltenen Materialinformationen werden derweil in Echtzeit mit unserer Datenbank in der Zentrale abgeglichen und analysiert. Aber wie es ausschaut, bedarf es in diesem Fall nicht viel Zeit E-Captions scheint schon auf den ersten Blick gute Arbeit geleistet zu haben. Der Kobalt-Gehalt in der Batterie ist mit der richtigen Menge Eisen reduziert worden. Im Synchronmagnet des Radnabenmotors ist eine perfekt gemischte Neodym-Eisen-Bor- Kombination zu erkennen, die den Preis zwar deutlich senkt, aber noch ausreichend Energie aufweist, um die Leistung des Motors nicht zu schmälern. Grüne Polymere ersetzen dagegen anscheinend alle statisch unwichtigen Metallteile, während der Rest aus recyceltem Material besteht. Unter uns: Wheel-E muss sich in Zukunft wohl warm anziehen der Elektro-Flitzer der Konkurrenz ist seiner Klasse voraus. Änderungsbedarf besteht eigentlich nur im Cockpit. Hier bin ich der Meinung, dass dieses ausnahmslos durch mich besetzt werden sollte. Sebastian Webel Im Jahr 1972 veröffentlichte der Club of Rome den Bericht Die Grenzen des Wachstums, in dem Ökonomen und Forscher wie Dr. Dennis L. Meadows die Zukunft der Weltwirtschaft erörterten. Das Fazit der Experten: Wenn die gegenwärtige Zunahme der Weltbevölkerung, der Industrialisierung, der Umweltverschmutzung, der Nahrungsmittelproduktion und der Ausbeutung von natürlichen Rohstoffen unverändert anhält, werden die absoluten Wachstumsgrenzen auf der Erde im Laufe der nächsten hundert Jahre erreicht. Die Reaktion auf die These folgte prompt. Kritiker aus aller Welt, wie zum Beispiel der Ökonom Dr. Thomas Sowell, stempelten den Bericht des 1968 gegründeten Klubs, der sich noch heute mit internationalen politischen Fragen beschäftigt, als vielleicht berühmteste Fehlprognose der jüngeren Geschichte ab. Doch heute, 40 Jahre nach der Veröffentlichung der Grenzen des Wachstums, sind die dort und in den Folgepublikationen getroffenen Aussagen aktueller denn je. So verdeutlicht der sich anbahnende Klimawandel, dass unser Energiesystem alles andere Ressourcenschonendes Wachstum Trend Fossile Grenzen als nachhaltig ist. Viele Akteure in Wirtschaft und Politik haben sich dieser Herausforderung angenommen: Dies zeigt unter anderem der Boom der erneuerbaren Energien, insbesondere der Windenergie. Hier muss es nun vor allem darum gehen, durch intelligente Konstruktionen mehr Strom zu ernten und zugleich die Herstellung der Windanlagen zu automatisieren und sie dadurch wirtschaftlicher zu machen (S.92). Zugleich versuchen die Ingenieure, Kraftwerke auf Basis fossiler Brennstoffe wie Kohle oder Gas noch effizienter zu machen und so weniger wertvolle Ressourcen zu verbrauchen. Den Effizienz-Weltmeistertitel hält derzeit ein Gas- und Dampfturbinen-Kraftwerk im bayerischen Irsching. Hier gelang es erstmals, fast 61 Prozent der im Gas enthaltenen Energie in Strom zu verwandeln (S. 96). Dank spezieller Entwicklungstools und Analysemethoden, die größtmögliche Umweltfreundlichkeit mit hoher Wirtschaftlichkeit verbinden, können selbst komplexe Stromverbraucher, etwa große Industrieanlagen, so konstruiert werden, dass sie immer weniger Elektrizität verbrauchen und immer weniger Schadstoffe ausstoßen (S.81, 86). Ein anderes Beispiel stammt aus dem Gebäudebereich: Hier sind Wärmedämmung und Wärmepumpen ein guter Weg, um die nötige Energie fürs Heizen drastisch zu verringern (S.93). Solche Anstrengungen verfolgen nicht nur das Ziel, den CO 2 -Ausstoß zu minimieren, sondern auch Rohstoffe einzusparen. Diese drohende Verknappung und stetige Verteuerung der Ressourcen ob Öl, Gas, Kohle oder Metalle war eine der Vorhersagen des Club of Rome, die nun langsam Wirklichkeit zu werden droht. So stufte die Europäische Union im Jahr 2010 den Zugang zu 14 Mineralien und Metallen als kritisch ein, darunter Antimon, Beryllium, Kobalt und Seltene Erden; diese sind für die Produktion von Hightech-Produkten wie auch von Produkten des täglichen Gebrauchs von entscheidender Bedeutung. Auf dem Trockenen: Nicht nur Süßwasserreserven, sondern auch Öl- und Metallvorkommen schwinden (links). Der Energiehunger einer wachsenden Weltbevölkerung lässt die Rohstoff-Preise steigen. Die Erdbevölkerung wächst und mit ihr die Nachfrage nach Ressourcen, wie Öl oder Metalle. Deren Preise steigen. Um Nachfrage, Angebot und Umweltschutz im Einklang halten zu können, entwickelt Siemens Lösungen, die Wirtschaftswachstum bei geringerem Ressourcenverbrauch ermöglichen. 140 Milliarden Tonnen in 2050? Werden wir uns also demnächst tatsächlich vom Wachstum verabschieden, weil die Ressourcen auszugehen drohen? Noch scheint das Wachstum ungebremst. So warnt etwa das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) davor, dass die Menschheit bis 2050 mit einem jährlichen Verbrauch von 140 Milliarden Tonnen Mineralien, Erze, fossiler Brennstoffe und Biomasse mehr als doppelt so viel wie derzeit verbrauchen könnte (S.82). Der Grund ist der Anstieg der Weltbevölkerung um 2,3 Mil liarden Menschen und die Zunahme des Mittelstandes in vielen einstigen Schwellenländern mit all den einhergehenden Bedürfnissen nach Computern, Pkw, Kleidung und Energie. Doch zugleich weist Dr. Mathis Wackernagel, Präsident der internationalen Denkfabrik Global Footprint Network im kalifornischen Oakland, im Interview mit Pictures of the Future (S. 84) darauf hin, dass der Mensch schon heute längst auf Pump lebt: Zwar hat sich auch die Biokapazität dank Technologie und Energieeinsatz vergrößert, jedoch viel langsamer als der menschliche Anspruch. Wir schätzen, dass wir heute 50 Prozent schneller die Natur der Welt nutzen, als sie sich regenerieren kann. Die Frage wird daher sein, ob der gewaltige Schub neuer Güter und Dienstleistungen einen ökologischen Kollaps verursacht oder in 78 Pictures of the Future Herbst 2011 Pictures of the Future Herbst 2011 79

Bagger unter Strom nachhaltige Bahnen gelenkt werden kann, schreibt Ralf Fücks, Vorstand der Heinrich-Böll- Stiftung, in der deutschen Wochenzeitung Die Zeit. Letztlich geht es also darum, Wirtschaftswachstum und Ressourcenverbrauch zu entkoppeln und die Wirtschaft möglichst grün Die Rohstoffverknappung ist für Unternehmen wie Siemens Herausforderung und Chance. und nachhaltig wachsen zu lassen. Um das zu schaffen, bedarf es laut dem Ökoexperten zum einen von der Politik definierte ökologische Leitplanken, die von den Belastungsgrenzen der Ökosysteme abzuleiten sind, und zum anderen ein aktives Handeln von Unternehmen, die mit neuen technologischen Lösungen und lung spezieller, heute noch nicht existenter Recyclingmethoden, um etwa Seltene Erden oder Wolfram zurückzugewinnen. Zusätzlich identifizieren die Experten stets neue Optimierungspotenziale: Etwa Konzepte, wie man Hochleistungsmagnete für Windturbinen oder Elektroautos ohne Seltene Erden herstellen kann, wo sich teures Kupfer gegen kostengünstigeres Aluminium austauschen lässt, oder wie man konventionelle Rohstoffe durch nachwachsende Biopolymere ersetzen kann, ohne dass Qualität und Leistung darunter leiden. Während die Forscher der CT es sich zum Ziel gesetzt haben, Siemens in Zukunft möglichst unabhängig von der Verknappung der Rohstoffe zu machen, beschäftigt sich das Supply Chain Management des Unternehmens damit, schon heute drohende Preissteigerungen ranten ein probates Mittel des nachhaltigen Wirtschaftens. Wenn wir versuchen, unsere Lieferanten an der einen oder anderen Stelle besser zu machen, sinken ihre Produktionsund somit unsere Einkaufskosten, erklärt Kux. Während Siemens mit dem Programm EEP4S bei seinen Lieferanten Energieeinsparpotenziale identifiziert und umsetzt (S.99), möchte das Unternehmen mit SPS@Suppliers das Produktionssystem entlang der gesamten Wertschöpfungskette schlanker gestalten (S.98). Nicht zuletzt um die Lieferanten für die Teilnahme an den Programmen zu motivieren, vergibt das Sustainability Office an besonders effizient arbeitende Lieferanten jährlich spezielle Nachhaltigkeitspreise. Dabei sollten die Programme an sich schon Motivation genug sein, an ihnen teilzunehmen, meint Kux. Denn wer Energie spart, kürzere Durchlaufzeiten und gleichzeitig eine höhere Qualität, Produktivität und Nachhaltigkeit 1 0,5 0-0,5 Umweltnutzen Referenz Getriebelos, Wechselstrommotor: 22 % bessere Umweltverträglichkeit, 22,2 % niedrigere Kosten Kundennutzen -1-1 -0,5 0 0,5 1 Öko-Schürfer: Der Bagger mit Wechselstrommotor platziert sich rechts oberhalb des Referenzpunktes. Der Nutzen steigt also bei sinkender Umweltbelastung. Ressourcenschonendes Wachstum Umweltanalysen Alles im grünen Bereich Im Zeitalter von Klimawandel und Ressourcenknappheit sind grüne Lösungen gefragter denn je. Doch was ist grün und wann ist grün auch ökonomisch sinnvoll? Siemens hat hierfür ein eigenes Prüfverfahren entwickelt: die Eco-Care-Analyse. Sparsamkeit ohne Verzicht: Hocheffiziente Gasturbinen (links) nutzen den Primärenergieträger Erdgas effizienter. Das Recycling von Zügen hilft, Ressourcen zu schonen. umweltfreundlichen Kreislaufprozessen die Abhängigkeit von den verknappenden und teurer werdenden Rohstoffen minimieren. Siemens beispielsweise tut dies seit Jahren, zum einen mit den Produkten und Systemen seines Umweltportfolios, die von den erneuerbaren Energien über intelligente Stromnetze bis zu energiesparenden Zügen, Industrieanlagen oder Hausgeräten reichen und den Kunden helfen, nachhaltig zu wirtschaften. Zum anderen ist das Unternehmen sehr aktiv darin, auch selbst Ressourcen einzusparen. Wie dies geht, erarbeiten unter anderem die Forscher des Clusters Materials, Hardware Design and Manufacturing Technologies (MHM) bei Siemens Corporate Technology (CT). Einer von ihnen ist Dr. Thomas Scheiter, der das globale Technologiefeld Materialsubstitution und Recycling leitet. Sobald Rohstoffe in punkto Verfügbarkeit als kritisch zu betrachten sind, ist es unsere Aufgabe, technologische Alternativen zu entwickeln, erklärt Scheiter den Auftrag seines Feldes (S.100). Dazu gehört auch die Entwickund Engpässe bei den weltweit rund 90.000 Siemens-Lieferanten zu vermeiden. Ein wesentliches Tool hierfür ist die Marktbeobachtung, berichtet Barbara Kux, Mitglied des Konzern-Vorstands, Chief Sustainability Officer und als Leiterin des Supply Chain Managements verantwortlich für die Lieferkette bei Siemens. So haben wir eine Abteilung für Marktanalysen und Prognosen, die die Marktentwicklung permanent bewertet. Das hilft uns, im Voraus zu planen und Liefer- und Produktionsmengen rechtzeitig vor einem weiteren Preisanstieg abzusichern. Um Lieferengpässen entgegenzusteuern, schließt sich Siemens auch mit anderen Unternehmen in Konsortien zusammen, um im starken Verbund Rohstoffrechte auszuhandeln. Erst jüngst haben wir uns durch Gespräche mit Förderern in Australien einen Zugang zu Seltenen Erden sichern können, sagt Kux. Lieferanten ins Boot holen. Darüber hinaus ist die Effizienzsteigerung der eigenen Liefe- erreicht, produziert nicht nur umweltfreundlicher, sondern auch günstiger und ist damit wettbewerbsfähiger. Im Grunde genommen ist die Rohstoffverknappung für Unternehmen wie Siemens nicht nur eine Herausforderung, sondern auch eine Chance, resümiert Barbara Kux. Denn sie ist ein wichtiger Antrieb, um Lösungen zu entwickeln, die zugleich unabhängiger von Lieferengpässen und Preissteigerungen machen und auch der Umwelt nützen, weil sie ein effizienteres Wirtschaften ermöglichen und den Resourcenverbrauch deutlich reduzieren. Letztlich bedeutet das in einer Welt, die an die Grenzen des Wachstums stößt, einen nicht zu unterschätzenden Wettbewerbsvorteil. Völlig aufheben ließen sich die Grenzen des Wachstums nur durch eine ausgeklügelte Kreislaufwirtschaft: Züge, die zu 95 Prozent recycelbar sind wie sie Siemens in Wien baut (S.88) sind ein Aufsehen erregendes Beispiel dafür, dass so etwas einst durchaus möglich sein könnte. Sebastian Webel Fast jedes Unternehmen bietet heute grüne Lösungen an. Doch wann ist dieses Label wirklich zutreffend? Um diese Frage zu beantworten, setzen die meisten Firmen heute auf Analysemethoden wie den CO 2 -Fußabdruck oder die Ökobilanz, die alle Umweltwirkungen während des Lebensweges eines Produkts berücksichtigen: von der Rohstoffgewinnung über Konstruktion und Nutzung bis zur Entsorgung. Auch bei Siemens Industry Solutions ist die Ökobilanzierung fester Bestandteil des Product- Lifecycle-Managements (PLM), bei dem alle Daten eines Produkts von der Wiege bis zur Bahre zentral gespeichert und verwaltet werden. Doch Dr. Dieter Wegener, Technologie-Chef bei Siemens Industry Solutions, reichte das nicht. In meinen Augen muss eine echte grüne Lösung nicht nur ökologisch sein, sondern auch bei der Wirtschaftlichkeit punkten, sagt Wegener, Umweltverträglichkeit und ökonomischer Kundennutzen sind kein Widerspruch. Zum Beweis für diese These benötigte er ein standardisiertes, wissenschaftliches Verfahren, das die Methoden der Ökobilanzierung mit einer Analyse der Kapital- und Betriebskosten verbindet. Wegener fand hierfür an der Technischen Universität Dänemark (DTU) in Kopenhagen einen kompetenten Partner. Die dortige Expertise auf dem Feld der Umweltbewertung ist beeindruckend. Noch am Tag meines Besuchs habe ich das Projekt in die Wege geleitet, schwärmt der Siemensianer. Auf dem Prüfstand. Das Ergebnis der Kooperation, die Eco-Care-Analyse, ist eine komplexe Bewertungsmethodik. Unsere Aufgabe war es, den Faktor Umweltverträglichkeit in die Analyse zu imple mentieren, sagt Dr. Stig Irving Olsen von der DTU, also wie ändert sich zum Beispiel der Schadstoffausstoß einer Anlage, wenn man andere Materialien nutzt oder eine elektronische Steuerung einbaut? Im Gegenzug fügte Siemens den Faktor Produktivität hinzu. Wie wirken sich die Änderungen auf die Materialkosten aus? Sinkt der Energieverbrauch? Sinken die Kosten für Personal und Entsorgung? Am Ende steht die Eco-Care-Matrix: eine grafische Darstellung der Ergebnisse. Sie fügt beide Seiten Ökologie und Ökonomie zusammen und macht die Analyse auf einen Blick erfassbar. Im Zentrum steht immer eine Referenz als Vergleich, zumeist die traditionelle Technologie. Auf der y-achse wird die Umweltverträglichkeit der neuen Lösung relativ zur Referenz aufgetragen. In diesem kombinierten Wert enthalten sind unter anderem der CO 2 -Ausstoß, Emissionen von Schwefeldioxid, Stickoxiden und Staub, Verbrauch von Wasser, Energie und natürlichen Ressourcen. Auf der x-achse lässt sich der Kundennutzen als Veränderung der Systemkosten ablesen. Platziert sich das neue Produkt rechts oberhalb vom Referenzpunkt, so ist klar: Der Kundennutzen steigt bei gleichzeitiger Reduktion der Umweltbelastung. Die Innovation ist wirklich grün im Sinne von Wegener. Seit 2009 ist die Eco-Care-Analyse bei Industry Solutions im Einsatz und heute in der Division für alle grünen Lösungen vorgeschrieben, sagt der Cheftechnologe. Beispiele gibt es viele. Einer der ersten Musterschüler war der Simetal Corex-Prozess, ein innovatives Verfahren zur Herstellung von 80 Pictures of the Future Herbst 2011 Pictures of the Future Herbst 2011 81

Der Musterschüler 1 0,5 0-0,5 Umweltnutzen Referenz Umweltfreundliche Lösung Corex (EU): 28 % bessere Umweltverträglichkeit, 5 % geringere Kosten Kundennutzen -1-1 -0,5 0 0,5 1 Doppelter Vorteil: Beim Corex-Prozess sinken die Kosten um 5 % und die Umweltverträglichkeit steigt zugleich um 28 %. Roheisen, das von Siemens VAI Metals Technologies entwickelt wurde. Dabei wird Roheisen direkt aus Kohle und Eisenerz hergestellt. Kokereien und Sinteranlagen, die bei der konventionellen Hochofenroute Kohle und Erz erst zu Koks und Sinter weiterverarbeiten, sind überflüssig. So entfallen zwei enorm energiehungrige und emissionsreiche Prozessschritte. Die Eco-Care-Matrix bescheinigt dem Prozess eine um 30 Prozent verbesserte Umweltverträglichkeit und mindestens 5 Prozent geringere Kosten. Eine Vorhersage, die sich in der Realität bestätigte und wie: Die Shanghai Baosteel Group, Chinas zweitgrößter Eisen- und Stahlmulti, hat im März 2011 bereits ihre zweite Corex-Anlage in Betrieb genommen. Beide Anlagen sind Teil eines Hüttenwerks in Luojing nahe Shanghai. Nur dank des Corex-Verfahrens konnte Baosteel die strengen Emissionsrichtlinien der Stadt Shanghai erfüllen. Im Vergleich zu konventionellen Hochöfen sanken die CO 2 -Emissionen um knapp ein Drittel und die von Stickoxiden und Staub auf ein Zehntel. Der Ausstoß von Schwefeldioxid nahm sogar um 97 Prozent ab zugleich sanken die Betriebskosten um fast zehn Prozent. Auch im Bergbau gibt es gute Beispiele: Trucks für den Tagebau verbrauchen enorme Mengen Diesel, und größere Bagger werden mit Strom aus nahegelegenen Kraftwerken betrieben. Doch die Abgase aus den Motoren und die Emissionen der Kraftwerke stellen eine große Umweltbelastung dar. Zugleich sind Treibstoff und Strom für eine Mine der Hauptkostenfaktor ein idealer Ansatzpunkt für eine Eco-Care-Analyse und für Siemens, denn hier sind alle Lösungen für Trucks und Bagger unter einem Dach vereint: dem Simine-Konzept. So ist Simine TR ein Antriebskonzept für Muldenkipper, gigantische Lkw mit über 300 Tonnen Gewicht. Über eine Leistungselektronik wird der Wechselstrommotor des dieselelektrischen Antriebs optimal angesteuert, was Leitungs- und Schaltverluste stark reduziert. Im Vergleich zur Referenz mit einem Dieselmotor ergab die Analyse eine um 11,6 Prozent bessere Umweltverträglichkeit. Zugleich sanken die Betriebskosten um sieben Prozent. Statt wie bisher 400 verbraucht der neue Antrieb nur 350 Liter Treibstoff pro Stunde. Noch besser fällt das Urteil der Eco-Care- Matrix für Simine DRAG aus. Das ist ein Konzept für getriebelose Wechselstrommotoren bei Schürfkübelbaggern. Diese Fahrzeuge ziehen einen frei an einem Ausleger hängenden Kübel über Erde oder Gestein und bauen so Material ab. Die Siemens-Lösung ist wegen ihres höheren Wirkungsgrades 22 Prozent umweltverträglicher als der Gleichstrommotor der Referenz und kommt auch mit 22 Prozent weniger Stromkosten aus. Eco-Care für Alle. Es gibt eine lange Reihe weiterer Produkte, die von der Eco-Care-Matrix als grün identifiziert wurden: etwa effiziente diesel-elektrische Antriebe für Fracht- und Passagierschiffe oder energieoptimierte Steuerungen für Elektrofilter zur Abgasreinigung bei Industrieanlagen oder Kraftwerken. Für Industry Solutions hat sich die Matrix als wichtiges Instrument bewährt, den Kunden nicht nur die Umweltverträglichkeit sondern auch den ökonomischen Nutzen vor Augen zu führen. Wegener arbeitet nun daran, dass sich die Eco- Care-Matrix auch siemensweit durchsetzt. Die Stärke von Eco-Care ist ganz klar die Vielseitigkeit, sagt er, ob Glühbirne, Auto oder Stahlwerk die Matrix kann überall angewendet werden. Selbst ein Logistikweg von A nach B lässt sich damit analysieren. Es gibt keine Grenzen. Dafür hat Wegener selbst gesorgt: Wir hätten Eco-Care markenrechtlich schützen lassen können. Ich habe mich schließlich dagegen entschieden. Wer es haben will, kann es auch bekommen. Auch viele Interessenten von extern fragen mich nach Eco-Care, und ich helfe ihnen dann bei der Theorie und deren Umsetzung. Nils Ehrenberg Ressourcenschonendes Wachstum Fakten und Prognosen Materialverbrauch und Wirtschaftswachstum lassen sich entkoppeln Bis 2050 wird die Weltbevölkerung nach UN-Schätzungen nochmals um 2,3 Milliarden Menschen auf dann 9,3 Milliarden zunehmen der weitaus größte Teil dieses Wachstums wird in Entwicklungs- und Schwellenländern stattfinden. Wie lässt sich dies gewährleisten, ohne die Ressourcen der Welt über Gebühr zu beanspruchen? Denn fast immer gingen bislang Bevölkerungswachstum und steigender Wohlstand mit einer Zunahme des Energie- und Ressourcenverbrauchs einher. Doch nach dem Konzept des ökologischen Fußabdrucks übersteigt der Verbrauch der Menschen die Tragfähigkeit der Erde bereits heute um etwa 20 Prozent (S.84). Das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) warnt daher in seinem Bericht von 2010 davor, dass die Menschheit bis 2050 mit einem prognostizierten jährlichen Verbrauch von 140 Milliarden Tonnen Mineralien, Erze, fossile Brennstoffe und Biomasse mehr als doppelt so viel wie derzeit verbrauchen wird, wenn das Wirtschaftswachstum weiterhin im selben Ausmaß wie bisher den Ressourcenverbrauch bestimmt. Künftig liegt die Herausforderung darin, Wirtschaftswachstum und Ressourcenverbrauch zu entkoppeln, letzteren insgesamt zu reduzieren. Eine Lebens- und Wirtschaftsweise, die dem Überverbrauch von Gütern, Rohstoffen und Energie ein Ende setzt, ist unter dem Begriff Öko-Suffizienz bekannt. Der Suffizienzbegriff, also die Frage nach dem rechten Maß, wurde von Prof. Dr. Wolfgang Sachs, dem Leiter des Berliner Büros des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie, eingeführt. Leicht wird dieser Umstieg allerdings nicht. Einige Beispiele: Der Bedarf an Öl ist nach wie vor ungebremst. Nach Angaben der Internationalen Energieagentur dürfte sich allein der Ölverbrauch Chinas bis 2015 um 70 Prozent gegenüber 2009 erhöhen und dann 42 Prozent des weltweiten Ölbedarfs betragen. Ähnlich bei Stahl: Nach einer aktuellen Analyse der Beratungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers (PwC) dürfte die Stahlerzeugung bedingt durch zunehmende Urbanisierung und Industrialisierung der Schwellenländer bis 2020 um rund eine auf 2,3 Milliarden Tonnen pro Jahr zunehmen, bevor sich das Wachstum abschwächt. Trinkwasser gilt eben - falls als knappe Ressource. Nach einer Analyse des Zentralverbands der Elektrotechnik- und Elektronikindustrie (ZVEI) wird sich allein der Wasserverbrauch Chinas bis 2030 verdoppeln. Die Grundwasservorräte im Norden Chinas werden in 30 Jahren bereits erschöpft sein. Obwohl also der weltweite Verbrauch von Ressourcen weiterhin wächst, gibt es erste Anzeichen einer relativen Entkopplung von Rohstoffverbrauch und Bruttoinlandsprodukt (BIP). Das bedeutet nach einer Definition der Europäischen Kommission, dass die Wirtschaft rascher wächst als der Rohmaterialverbrauch. Bleibt dieser dagegen stabil oder nimmt er bei expandierender Wirtschaft sogar ab, spricht man von einer absoluten Quelle: OECD, basierend auf SERI (2006), MOSUS MFA Datenbank, Sustainable Europe Research Institute, Wien. Quelle: Pedro Díaz Muñoz Eurostat (2011), Measuring Resource Efficiency. Entkopplung. Nach Berechnungen der OECD weisen die G8-Staaten bereits seit 1980 eine relative Entkopplung auf. Kanada, Deutschland, Japan und Italien ist es sogar gelungen, den Ressourcenverbrauch in absoluten Größen vom BIP-Wachstum zu entkoppeln. Die relative Entkopplung beruht vor allem auf einer höheren Ressourcenproduktivität also das BIP bezogen auf den inländischen Rohmaterialverbrauch (domestic material consumption, DMC). Dieser Quotient misst die Menge an Rohmaterial, die direkt von einer Wirtschaft Vielfalt der EU: Viele Länder zeigen eine relative, manche eine absolute Entkopplung. genutzt wurde. So stieg zum Beispiel nach Angaben der Europäischen Kommission die Ressourcenproduktivität der EU-27 von 2000 bis 2007 von 1,21 Euro auf 1,31 Euro per Kilogramm (kg). Es wurde also weniger Rohmaterial wie fossile Brennstoffe, Biomasse oder Erze verbraucht, um einen Euro des BIP zu produzieren. Die USA haben eine vergleichbare Produktivität wie die EU mit 1,19 Euro pro kg in 2000 und 1,32 Euro in 2005. In Asien ist laut dem Sustainable Europe Research Institute (SERI) die Ressourcenproduktivität sehr unter- Hunger nach Rohstoffen: Zwischen 1980 und 2020 könnte sich die Rohstoffgewinnung verdoppeln Milliarden Tonnen 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0 Metallerze sehr gefragt: Die BRIICS-Länder haben hier den größten Bedarf 2020 auch bei Öl, Gas und Kohle. EU beweist: Entkopplung ist möglich Durchschnittliche jährliche Wachstumsrate des DMC (%) 12 10 1980 2002 2020 BRIICS = Brasilien, Russland, Indien, Indonesien, China und Südafrika OECD = die 34 OECD-Staaten, RoW = restliche Welt Keine Entkopplung % Veränderung 1980-2020 Anteil in 2002 (%) Anteil in 2020 (%) Metallerze + 81% + 68% + 114% + 200% Fossile Energieträger Biomasse Nichtmetallische Mineralien DMC: inländischer Rohmaterialverbrauch BIP: Bruttoinlandsprodukt Beispiel Rumänien: DMC steigt um 10%, BIP um 6% 8 LT MT Beispiel Litauen: BIP steigt um 9%, 6 DMC um 5%, also weniger als das BIP SI IE LV BG 4 ES CY SK FI Relative Entkopplung 2 PT DK AT SE GR PL EU-27 CZ FR 0 BE NL UK HU Beispiel Luxemburg: DMC sinkt um 2% pro Jahr DE -2 IT LU Absolute Entkopplung -4 BIP (%) 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 RO RoW 32 30 OECD EE 38 BRIICS RoW 27 38 OECD BRIICS 35 RoW 33 29 OECD 38 BRIICS RoW 19 OECD 55 26 BRIICS RoW 34 27 OECD schiedlich. Während 2005 in Singapur 0,87 Euro und in Korea 0,65 Euro pro kg Rohmaterialverbrauch erwirtschaftet wurden, zählen China, Indien, Malaysia und Indonesien zu den weniger ressourceneffizienten Ländern (unter 0,29 Euro/kg). In diesen Messgrößen ist die EU also 4,5-mal ressourceneffizienter als China. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass Schwellenländer material- und energieintensive Infrastrukturen und Industrien auf-gebaut haben. Industrienationen dagegen haben vor allem weniger ressourcenintensive Industrien wie die Elektronikindustrie oder den Servicesektor stärker forciert. Die EU will bis 2020 das Wirtschaftswachstum von der Ressourcennutzung entkoppeln. Dies wurde in einer EU-Initiative innerhalb der Strategie Europa 2020 festgelegt. Ziel ist umweltverträgliches Wachstum. Dies soll beispielsweise erreicht werden durch Anreize für einen effizienteren Einsatz von Ressourcen, Schaffung neuer Märkte über die Ankurbelung der Nachfrage nach umweltfreundlichen Technologien, Produkten oder Dienstleistungen sowie durch Instrumente wie die Besteuerung von Rohstoffeinsatz oder Umweltbelastungen. Grundsätzlich gibt es allerdings kein Patentrezept für die Umsetzung von Strategien für umweltverträgliches Wachstum. An erster Stelle steht hierbei sicherlich eine Wirtschaftspolitik, die ein solches Wachstum ermöglicht. So hat sich China im zwölften Fünfjahresplan von 2011 bis 2015 zum Ziel gesetzt, vermehrt in effizientere Technologien, Recycling und Abfallmanagement zu investieren. Außerdem soll der Energieverbrauch um 16 Prozent und der CO 2 -Ausstoß um 17 Prozent pro Einheit des BIP sinken. Erreicht werden soll dies vor allem durch den verstärkten Einsatz erneuerbarer Energien, die im Jahr 2015 elf Prozent und 2020 dann 15 Prozent der Energie in China erzeugen sollen. Sylvia Trage Die Reichsten verbrauchen am meisten Ressourcenverbrauch in Tonnen pro Kopf u. Jahr 100 39 BRIICS RoW 31 29 OECD 40 BRIICS RoW 33 23 OECD RoW 20 BRIICS 36 39 44 BRIICS OECD Afrika Asien / Pazifik Europa Lateinamerika und Karibik Nordamerika Westasien Chile Australien Katar Neuseeland Kanada R Kuwait 2 = 0.60 Uruguay USA Paraguay Saudi- Span. Dänemark Südafrika Deutschland Arabien 10 Japan Weißrussl. Mexiko Somalia Ukraine China Panama Malta Großbritannien Ghana Ägypten Puerto Rico Mali Marokko Äthiopien India Myanmar Georgien Haiti Kongo Afghanistan Jemen Äquatorialguinea (US-Dollar, Jahr 2000) Einkommen pro Kopf 1 50 100 1.000 10.000 100.000 Auch wenn die Streuung groß ist mehr Wohlstand bedeutet oft mehr Verbrauch. Quelle: Bericht UNEP (2011), Decoupling natural resource use from economic growth 82 Pictures of the Future Herbst 2011 Pictures of the Future Herbst 2011 83

Ressourcenschonendes Wachstum Interview Wir zerstören unseren Reichtum schneller als wir ihn aufbauen Dr. Mathis Wackernagel (48) ist Gründer und Präsident der Denkfabrik Global Footprint Network mit Hauptsitz in Oakland, Kalifornien, und Niederlassungen in Genf und Brüssel. Im Rahmen seiner Dissertation entwickelte er mit seinem Doktorvater Prof. Dr. William E. Rees den Ökologischen Fußabdruck. 2007 erhielt Wackernagel den Ehrendoktor der Universität Bern und ist seit 2011 Gastprofessor an der Cornell University in Ithaca, New York. Zu seinen Auszeichnungen zählen der Skoll Award for Social Entrepreneurship (2007) und der Zayed International Prize for the Environment (2011). Fischgründe Bebaute Fläche Was beschreibt der ökologische Fußabdruck? Wackernagel: Das ist ein Buchhaltungssystem für den Naturkonsum des Menschen. Er misst, wie viel Hektar Land und Wasser ein Mensch, eine Stadt, ein Land oder die Menschheit braucht, um die Konsumbedürfnisse zu befriedigen. Diesen Wert vergleichen wir mit der vorhandenen Biokapazität also mit dem globalen oder regionalen Bauernhof mit Ackerland, Fischgründen, Grasland und Wäldern. Das Ergebnis: Seit etwa Mitte der 70er- Jahre leben wir auf Pump. Zwar hat sich die Biokapazität dank Technologie vergrößert, jedoch viel langsamer als der menschliche Anspruch. Wir schätzen, dass wir bereits 50 Prozent schneller die Natur der Welt nutzen, als sie sich regenerieren kann. Es gibt heute auf der Erde pro Mensch 1,8 Hektar ökologisch produktive Fläche, aber im Durchschnitt braucht jeder weltweit schon 2,7 Hektar. Sie sagen, ein US-Amerikaner braucht 8,0, ein Inder 0,9 und ein Chinese 2,2 Hektar. Was bedeuten diese Zahlen? Wackernagel: Konsumierten alle Bewohner der Welt so wie Amerikaner, bräuchten wir über vier Planeten Erde. Rechnen Sie selbst: 8 globale Hektar Footprint dividiert durch 1,8 globale Hektar Biokapazität. Auch wenn wir alle wie Chinesen konsumieren würden, würde der Planet nicht reichen. Inder stecken in einem Dilemma. Sie brauchen relativ wenig, aber in Indien gibt es auch nur halb so viel Biokapazität, wie sie eigentlich benötigen. Weideland Ackerland Quelle: Umweltministerium Neuseeland Waldfläche Carbon Footprint Außerdem: Wie viel Biokapazität wollen wir den Millionen Tier- und Pflanzenarten lassen? Wie gehen Sie bei der Berechnung vor? Wackernagel: Ganz einfach. Nehmen wir an, der Kaffee von George Clooney stammt aus Guatemala, der Weizen für seine Hühner aus Iowa und die Wolle für seine Kleidung aus Neuseeland. Er hinterlässt Spuren auf der ganzen Welt. Um seinen Footprint zu messen, fragen wir unter anderem: Wie groß sind die Felder für die Produktion seiner konsumierten Kaffeebohnen, Baumwolle und Getreidesorten? Letzteres nicht nur für sein Brot, sondern auch für die Fütterung der von ihm verzehrten Hühner. Wie viel Wald braucht es zur Kompensation seines CO 2 -Verbrauchs für das Heizen und Kühlen seiner Häuser, für seine Auto- und Flugreisen und so weiter? Wie viel Land benötigt sein Haus und seine Anteile am Verbrauch von Straßen oder Parks? Dann übertragen wir alle Flächen in globale Hektar und addieren. Voilà, der Clooney-Footprint! Was bedeutet denn bei Ihren Rechnungen der Ausdruck globaler Hektar? Wackernagel: Jeder Hektar ist anders. Denken Sie an einen dürftigen Taigawald oder einen hochproduktiven Ackerboden in Deutschland. Um zu vergleichen, müssen wir jeden Hektar in Hektar mit gleicher Produktivität übersetzen. So wie wir verschiedene Währungen in Dollar umrechnen. Unsere Währung ist der globale Hektar. Er entspricht einem Hektar bioproduktiver Fläche mit weltdurchschnittlichem Ertrag. Worin liegt die Stärke des Konzeptes? Wackernagel: Alle können sich Bauernhöfe und Wälder leicht vorstellen, man kann sie sehen, fühlen, riechen. Nachhaltigkeitsdiskussionen sind absurd ohne die Frage wie viel Natur haben wir, und wie viel beanspruchen wir? Zu viele Diskussionen finden im luftleeren Raum statt. Mit unseren 6.000 Datenpunkten pro Jahr und Land, die hinter den nationalen Berechnung stehen, können wir eine detaillierte Bilanzierung aufstellen. Und worin liegen die Schwächen? Wackernagel: Die Buchhaltung wurde schon von über zwölf Regierungen getestet. Unsere Resultate wurden bestätigt und sind reproduzierbar. Natürlich ist der Footprint wie das Bruttosozialprodukt (BSP) auch nicht ganz genau. Wenn Länder den Footprint so seriös anwenden würden wie das BSP, könnten wir die Rechnung um einiges verfeinern. In Frankreich arbeiten angeblich 7.000 Menschen am BSP. In unserer Organisation decken hingegen acht Forscher 200 Länder ab. Außerdem muss der Footprint mit weiteren Messgrößen komplementiert werden, etwa mit Daten zur Gesundheitssituation der Menschen, deren Zufriedenheit und zur wirtschaftlichen Dimension von Nachhaltigkeit wie Schulden oder Inflation. Was bedeutet es, wenn wir sagen, wir brauchen derzeit 1,5 Erden und im Jahr 2030 sogar zwei? Wie lange können wir mehr als eine Erde verbrauchen? Wackernagel: Nehmen wir die moderatesten Prognosen der Vereinten Nationen, also langsames Bevölkerungswachstum, große Produktionsgewinne in der Landwirtschaft, etwas Entkarbonisierung. Falls sich ein solch milderer Weg als der des Business as usual realisieren lässt, bräuchte es 2030 zwei Planeten. So lang und so hoch das Konto der Erde zu überziehen, ist keine realistische Option. Die Erde würde übernutzt, die Biokapazität signifikant reduziert. Klimawandel ist nur ein Teil davon, dazu kommen Entwaldung, Wassermangel, Bodenverlust. Die Folgen: Nahrungsmittelknappheiten, Energieunsicherheit, Unstabilitäten. Das Leben ginge zwar weiter, wie auch USA: Hohe Lebensqualität, größter Naturverbrauch Globale Hektar pro Person 10 8 6 4 2 0 HDI USA 0,90 Bebaute Fläche Fläche für Nahrung, Textilien, Holz Carbon Footprint verfügbare ökologisch produktive Fläche weltweit (1,8 ha / Mensch) Deutschland Weltdurchschnitt 0,88 China 0,64 HDI = Human Development Index der Vereinten Nationen Indien 0,50 heute in Haiti und Somalia. Doch welche Komfortstufe hätten wir denn gerne? Gibt es Lösungen für dieses Dilemma? Wackernagel: Ja, es gibt Lösungen. Da könn ten wir Bücher füllen. Doch die Frage ist: Wollen wir? Wir sitzen in einem Boot mit einem großen Loch und sagen: Solange Ihr anderen in euren Booten eure Löcher nicht flickt, flicken wir das unsere auch nicht. Müssen wir künftig Wohlstand und Lebensqualität anders definieren als über materielle Reichtümer? Wackernagel: Wirtschaftswachstum über der Regenerationsfähigkeit der Natur ist Raubbau, es macht uns ärmer. Es geht nicht um Beschrän - kung, sondern um den Erhalt oder den Ausbau unseres Reichtums. Heute zerstören wir unseren Reichtum schneller als wir ihn aufbauen. Wir stecken in der Klemme. Nähmen wir die 350-ppm-CO 2 -Schranke für den Klimawechsel ernst, müssten wir feststellen, dass wir schon weit drüber sind. Wir haben die besten Möglichkeiten die Trends umzudrehen verschlafen. Wie zum Beispiel? Wackernagel: Hätten wir 1972 angefangen, könnten wir unsere Energieversorgung heute wahrscheinlich schon ganz über Erneuerbare abdecken. Auch hätten wir die Bevölkerungsdynamik mit verstärkter Frauenförderung effektiver angehen können. Wir hätten Städte kompakter gestalten und Häuser energieeffizienter bauen und umbauen können. Quelle: Global Footprint Network 2010 National Footprint Accounts Wie reagieren Städte und Länder eigentlich auf Ihre Studien? Wackernagel: Einige begreifen es und werden aktiv. Die Vereinigten Arabischen Emirate zum Beispiel investieren ihr Ölgeld und geben es nicht einfach aus. Abu Dhabi hat sogar Dubai als Bedingung für die geleistete Finanzstütze kräftigere Energieeffizienzstandards vorgeschrieben. Andere, denen wir unsere Berechnungen vorlegen, sind defensiv und bekämpfen uns. Doch wenn ein Ingenieur berechnet, dass die Brücke zu schwach ist und mehr Balken braucht, sagt auch niemand: Seien Sie doch optimistisch. Und wie sieht Ihre Vision für 2050 aus? Wackernagel: Ich bin Ingenieur. Ich sehe Möglichkeiten. Der Ruf nach Städteverdichtung und Investition in Frauen ist immer noch aktuell. Die erste Strategie verringert den Konsum-, die zweite den Bevölkerungsdruck. Wir könnten auch die Steuern reformieren, mit stetig wachsenden, substantiellen Energiesteuern. Die Einnahmen könnten in Innovations- und Nachhaltigkeitsförderung fließen. Mit richtigen Innovationen könnten wir 2050 ein fabelhaftes Leben leben, innerhalb des Budgets der Natur. Dazu sollte der Footprint eine ebenso selbstverständliche Messgröße werden wie das BSP. Derzeit fliegen wir in einem Flugzeug, in dem der Pilot die Treibstoffanzeige auf dem Armaturenbrett überklebt hat, statt das Flugzeug zu betanken entscheiden Sie selbst, wie sinnvoll das ist. Das Interview führte Hülya Dagli. Treibhausgas-Emissionen machen einen Großteil des Fußabdrucks deutscher Haushalte aus Ökologischer Fußabdruck von Haushalten* 1.8 1.6 1.4 1.2 1.0 0.8 0.6 0.4 0.2 0 Nahrung Wohnen Transport Konsumgüter Dienstleistungen * in globale Hektar pro Person Bebaute Fläche Waldfläche Fischgründe Weideland Ackerland Carbon Footprint (d.h. die Waldflächen, die nötig sind, um das CO 2 aufzunehmen, das von fossilen Energieträgern emittiert wurde) Grafik links: Der ökologische Fußabdruck korreliert mit dem Wohlstandsindikator des Human Development Index (HDI). Ein HDI von mehr als 0,67 zeugt von einem hohen Grad menschlicher Entwicklung und bedeutet bislang auch einen großen Naturverbrauch. Grafik rechts: Zur Berechnung des Fußabdrucks deutscher Haushalte werden für jeden Konsumbereich die relevanten Flächenkategorien bestimmt. Quelle: Global Footprint Network 2010 National Footprint Accounts 84 Pictures of the Future Herbst 2011 Pictures of the Future Herbst 2011 85

Effizienzsteigerung: Mit Normen wie der SN 36350 gestaltet Siemens seine Produkte umweltfreundlich und leistungsstark zugleich etwa Computertomographen oder extrem emissionsarme Sinteranlagen (rechts). Ressourcenschonendes Wachstum Nachhaltige Entwicklung Grün von Anfang an Produkte und Anlagen von Siemens sollen die Umwelt möglichst wenig belasten. Eine interne Norm gibt seit 18 Jahren Leitlinien vor, an denen sich Entwickler bei Siemens orientieren müssen. Es zeigt sich: Was gut für die Umwelt ist, schont auch den Geldbeutel. Umweltschutz hat bei Siemens schon seit 40 Jahren einen hohen Stellenwert. Seit 1971 gibt es das Unternehmensreferat Umweltschutz, berichtet Abteilungsleiter Dr. Wolfgang Bloch. Der Auftrag: Produkte möglichst umweltfreundlich machen. Doch wie stellt man sicher, dass eine Anlage möglichst wenig Ressourcen verbraucht, dass ein Produkt keine schäd lichen Stoffe enthält und dass das Recy - cling klappt? Die Antwort liefert die interne Siemens- Norm (SN) 36350 Umweltverträgliche Produkte und Anlagen. Sie ist für alle Siemens-Entwickler verbindlich. Ihre erste Fassung wurde schon 1993 formuliert. Anlass war die deutsch - landweite Diskussion über die Rücknahme von Elektro-Altgeräten. Zunächst ging es in der SN vor allem um unerwünschte und verbotene Inhaltsstoffe. Doch schnell wurde klar, dass es beim Recycling auch auf eine möglichst einfache Konstruktion ankommt: Je weniger verschiedene Materialien und Bauteile ein Produkt enthält, desto einfacher ist es, Stoffe wiederzuverwenden. In den letzten Jahren ist auch die Ressourcen- und Energieeffizienz wichtiger geworden, erklärt Bloch. Die SN bildete sogar die Grundlage für die 2009 veröffentlichte Norm IEC 62430 (Environmentally Conscious Design for Electrical and Electronic Products) der Internationalen Elektrotechnischen Kommission. Diese Norm ist nicht verbindlich, spiegelt aber den weltweiten Stand der Technik wider, so Bloch. Vor 2009 gab es nichts Vergleichbares, heute wenden viele Firmen die Norm an. Siemens war ein Wegbereiter für umweltfreundliche Produktgestaltung. Die SN 36350 beinhaltet Grundsätze für den Umgang mit Gefahrgut, für umweltfreundliche Verpackungen und die Produkt- Umweltdeklaration. Wichtig sind auch eine 20- Punkte-Liste mit Leitlinien für umweltverträgliche Produktgestaltung und zwölf anlagenbezogene Regeln sie alle betrachten den gesamten Lebenszyklus. So sollen Entwickler darauf hinarbeiten, dass möglichst wenig Abfall anfällt und dass wieder verwendbare Materialien oder nachwachsende Rohstoffe genutzt werden. Produkte sollen zudem gut reparierbar, langlebig und leicht demontierbar sein. Auch Anlagen sollen aus umweltverträglichen Materialien bestehen, möglichst wenig Lärm, Abgase und Abfälle produzieren sowie nachrüstbar sein. Nur wenn Entwickler die Umwelt-Grundsätze verinnerlichen, können sie das Maximum herausholen, sagt Johann Russinger, Umweltschutz-Verantwortlicher bei Siemens Healthcare. Da Entwickler gleichzeitig noch an den Zeitplan, den Kostenrahmen, an Qualitätsanforderungen und die Funktion des Produktes denken müssen, hat Healthcare die SN an die spezifischen Anforderungen für Medizingeräte angepasst und voll in den Entwicklungsprozess integriert. Diese systematische Vorgehensweise zeigt erstaunliche Erfolge beispielsweise beim Com - putertomographen (CT) Somatom Definition Flash. Seit 2009 auf dem Markt verfügt er als einziges Gerät weltweit über zwei Röntgenstrahler und zwei Detektoren. Für die Patienten ist das Verfahren besonders schonend: So dauern etwa Herzuntersuchungen weniger als eine Sekunde. Das erleichtert Untersuchungen von Kleinkindern und Babys erheblich, da diese nicht wie sonst durch eine Vollnarkose betäubt werden müssen. Das Vorgängermodell Somatom Definition hatte bereits den Siemens-Um - weltpreis gewonnen, berichtet Russinger. Wir waren selbst erstaunt, dass es noch besser ging. Bereits bei der Planung wurden konkrete Umweltziele festgelegt. Beim Somatom Definition Flash ging es vor allem um Strahlendosis, Energieverbrauch und Schadstoffmengen. So sollte der Einsatz von Blei gegenüber dem Vorgängermodell deutlich reduziert werden. Alle drei Ziele erreichte das Team. Die Strahlendosis wurde etwa bei einer Herzuntersuchung um 70 Prozent verringert. Das gelang durch mehrere Tricks: Der Körper wird in blitzartiger Geschwindigkeit durchleuchtet. Mithilfe der beiden Röntgenquellen, die sogar mit unterschiedlichen Spektren betrieben werden können, verbessert sich die Bildqualität erheblich, ohne dass die Strahlendosis ansteigt. Das Gerät ist zudem EKG-getriggert es macht seine Aufnahmen genau dann, wenn sich das Herz für Sekundenbruchteile kaum bewegt. Die Strahlendosis wird zudem intelligent reguliert: Empfindliche Bereiche wie die Schilddrüse oder die weibliche Brust werden keiner direkten Strahlung ausgesetzt, und eine verbesserte Auswerte-Software senkt die Dosis nochmals. Der Energieverbrauch sank durch die Dosisreduzierung gleich mit: Je nach Untersuchung verbraucht der CT zwischen 45 und 85 Prozent weniger Energie als der Vorgänger. Auf eine Bleiabschirmung konnten die Entwickler zwar nicht ganz verzichten, da das Schwermetall nötig ist, um Patienten vor überflüssiger Röntgenstrahlung zu schützen. Es gelang ihnen jedoch, den Bleigehalt der Strahlerblende teils durch Messing zu ersetzen und ihn so von 5,26 auf 1,45 Kilogramm zu verringern. Auch das Recycling ist wichtig: 97 Prozent der Materialien können wieder verwendet werden, sagt Russinger. Um sie sortenrein zu trennen, werden Inhaltsstoffe erfasst und Plastikteile genau gekennzeichnet. Bis zu 60 Prozent werden sogar in neue Geräte eingebaut. Für die Kunden spielen derartige Umweltfaktoren zwar keine entscheidende Rolle, so Russinger, schließlich komme es in der Medizin zuallererst auf eine gute Diagnose an. Aber solche Dinge werden wichtiger. Bei ansonsten gleichwertigen Geräten kann etwa der Energieverbrauch ein Entscheidungskriterium sein. Ein geringerer Ressourcenverbrauch könne zu dem auch im Hinblick auf Transportkosten oder Platzbedarf ein Vorteil sein. 90 Prozent weniger Emissionen. Doch gut geplante Umweltschutzmaßnahmen bringen auch wirtschaftliche Vorteile wie etwa bei der neuen Abgasreinigungstechnologie von Siemens VAI Metals Technologies in Linz. Gemeinsam mit voestalpine Stahl hat es ein Team um Dr. Alexander Fleischanderl bei Industry Solutions geschafft, schädliche Emissionen einer Sinteranlage um mehr als 90 Prozent zu reduzieren und dabei noch Energie zu sparen. Dafür gab es 2011 den Siemens-Umweltpreis. Sinteranlagen sind ein wichtiger Bestandteil von Stahlwerken. Darin wird das fein gemahlene Eisenerz gebrannt und zu größeren Brocken verschmolzen gesintert, wie Fachleute sagen, bevor es in den Hochofen kommt. Die Abgase einer Sinteranlage enthalten zahlreiche Schadstoffe: Schwefeldioxid, Stickoxide, Feinstaub, Schwermetalle und organische Verbindungen. Um diese Emissionen zu reduzieren, kombinierten die Entwickler 2005 zwei bahnbrechende Technologien. Zunächst verminderten sie durch ein Abgasrückführungsverfahren die Abgasmenge um bis zu 40 Prozent. Dazu leiten sie den heißesten Teil der Abgase zurück in die Anlage. Darin enthaltenes Kohlenmonoxid und andere Schadstoffe wie Dioxine verbrennen beim zweiten Durchlauf, Schwefeldioxid und Staub bleiben teilweise in der Sinterschicht hängen. Durch die Abgasrückführung lässt sich zum einen Energie sparen, da die Abgase bereits heiß sind und nicht, wie üblich, mit Luft vorgewärmt werden müssen. Zum anderen sinkt die Abgasmenge, die anschließend in einem speziellen Reaktor von den verbleibenden Schadstoffen befreit wird. Dabei entschieden sich die Entwickler für trockene Verfahren, die im Gegensatz zu herkömmlichen Gasreinigungsverfahren ohne Was - ser auskommen. Das braucht nicht nur weniger Energie, sondern reinigt die Abgase auch wirkungsvoller, weil mehrere Verfahrensschritte wie Filtration, Adsorption und Staubrezirkulation kombiniert werden. Die Emissionen sind um den Faktor zehn geringer als bei Nassverfahren, erklärt Robert Neuhold, Produktlebenszyklus-Manager bei Siemens VAI. Für Kunden zahlt sich der Umweltschutz aus: Bei einer Anlage, die 2,8 Millionen Tonnen Sinter jährlich erzeugt, reduzieren sich die Energiekosten im Vergleich mit herkömmlicher Abgasreinigung um fünf Millionen Euro pro Jahr, ergab die Analyse mit der Eco-Care-Matrix Der Somatom Definition Flash benötigt bis zu 85 Prozent weniger Energie und reduziert die Strahlung erheblich. einem neuen Werkzeug beim produktbezogenen Umweltschutz, das gleichzeitig wirtschaftliche und ökologische Faktoren berücksichtigt (S.81). Bloch und seine Kollegen entwickeln die SN 36350 ständig weiter. Wir sind dabei, die Leitlinien der Norm fest in das Projektmanagement zu integrieren, sagt er. Zudem sollen Siemens-Entwickler in Zukunft durch ein webbasiertes Training unterstützt werden damit sich der Umweltschutz genauso tief in den Köpfen festsetzt wie die Kosteneffizienz und das Qualitätsmanagement. Ute Kehse 86 Pictures of the Future Herbst 2011 Pictures of the Future Herbst 2011 87

Nachhaltige Montage: In den Mobility-Hallen in Wien achtet Dr. Walter Struckl (ganz rechts) darauf, dass Fernzüge oder Metros auf eine hohe Recyclingfähigkeit ausgelegt sind. Etwa mit Dämm platten aus Kork oder einfach zu lösenden Schrauben. Ressourcenschonendes Wachstum Recycling von Zügen wiederverwerten, weitere zehn Prozentpunkte werden heute thermisch verwertet, also verbrannt. Wenn die Bahn in etwa 40 Jahren zum Abwracken fährt, kann der Wert auch deutlich höher liegen, falls gestiegene Rohstoffpreise die Wiederverwertung lohnender machen oder falls eine vergleichbare Bahn in Japan fährt, wo seit der Rohstoffknappheit im zweiten Weltkrieg akribische Wiederverwendung selbst einzelner Schrauben praktiziert wird. Im Prinzip lässt sich mit entsprechendem Aufwand nahezu jede Quote erreichen, entscheidend ist am Ende immer die Wirtschaftlichkeit zum Zeitpunkt des Recyclings. Die Quoten könnten sogar erst mal sinken, weil die Richtlinie keinen Raum mehr für unterschiedliche Interpretationen zulässt und man Quoten nicht mehr schönrechnen kann. Die neue Richtlinie wird uns einen Wettbewerbsvorteil verschaffen, weil wir jetzt schon realistisch rechnen, verspricht Struckl. Kaum ein Wettbewerber sei beim Thema Recycling so weit wie tung zu achten. Ernst Ille, Gruppenleiter Innenausbau im Wiener Werk, erläutert die Möglichkeiten des recyclinggerechten Konstruierens. Er zeigt einen Klotz, der als Muster für den Fußboden der neuen U-Bahn dienen soll, die ab 2013 in München fahren wird. Eine etwa drei Zentimeter dicke und 18 Meter lange Korkplatte so lang wie der Wagen dient als Trittschalldämmung. Sie ist oben und unten beklebt mit einer Aluminiumfolie, oben klebt der im bayerischen Nationalblau gesprenkelte Bodenbelag aus Kautschuk. Die aufgeklebten Schichten lassen sich beim Zerlegen wie eine Haut wieder abziehen. Nachwachsende Rohstoffe wie Kork zu verwenden, war eine Idee von Illes Abteilung gemeinsam mit BMW Designworks, einem kalifornischen Think-Tank des deutschen Automobilherstellers. Kreativität gefragt. Die neue Inspiro-Plattform (S.20) enthält viele Ideen für eine spätere leichte Wiederverwertung, die über die Oslo- Bahn, die sich leicht zerlegen lässt, lässt sich in der Regel auch leicht zusammenbauen wie die Karosserie des Peoplemovers für Uijeongbu. Das spart CO 2 und Arbeitskosten, sowohl beim Bau als auch beim Zerlegen. Das Recycling erzeugt zudem eine CO 2 -Gutschrift, weil Treibhausgas eingespart wird, wenn nicht neue Rohstoffe hergestellt werden müssen oder wenn nicht recyclingfähige Materialien wie etwa manche Kunststoffe verbrannt werden und Energie erzeugen. Die Metro Oslo verwendet Stahl, der zu 40 Prozent aus recyceltem Stahl besteht, beim Aluminium sind es sogar 60 Prozent. Die stammen vermutlich aber nicht aus ausrangierten Bahnen, sondern aus vielen verschiedenen Industrieprodukten, auch die Metro Oslo wird eines Tages größtenteils nicht wieder im Wiener Siemens-Werk landen. Unterschiede des Recyclings. Das Recycling ausrangierter Bahnen übernehmen im Allgemeinen Spezialfirmen. Der Fachmann unter- Zweites Leben für Waggons Die Bahnindustrie setzt auf Wiederverwertung. Vorreiter Siemens macht sich stark für eine Richtlinie, die für mehr Transparenz bei der Berechnung von Recyclingquoten und -verfahren sorgt. Denn eine hohe Wiederverwertungsrate spart enorme Kosten und schont die Umwelt. Eine riesige Werkshalle bei Siemens Mobility in Wien. Ein Labyrinth aus halbfertigen Zügen und Einzelteilen, die auf ihren Einbau warten, so etwa die Maske des Führerstands für einen Zug der Österreichischen Staatsbahn: eine Kunststoffwand mit Faserdämmplatte und einer Aluminiumfolie, die zu einem Sandwich verklebt sind. Verschiedene Materialien, die später kaum zu trennen sind der Albtraum jedes Recyclers, sagt Dr. Walter Struckl, Experte für umweltgerechte Produktentwicklung. Siemens setze auf Wiederverwertung, doch ältere Baureihen hätten da noch Nachholbedarf. Wie man es besser macht, zeigt Struckl nur wenige Schritte entfernt. Dort thront auf einem Gerüst ein sogenannter Peoplemover eine führerlose Straßenbahn für die südkoreanische Stadt Uijeongbu. Der Aluminiumrahmen wird von hochfesten Innensechskantschrauben zusammengehalten, die sich leicht wieder lösen lassen (Bild rechte Seite), die Dämmplatten gegen Vibrationen sind einfach nur zwischen Gerippe und Verkleidung gesteckt. Recycling und ein möglichst geringer Energieverbrauch sind die großen Themen, die die Bahnindustrie derzeit umtreiben. Kunden verlangen bei Ausschreibungen für die Anschaffung neuer Metros oder Straßenbahnen ein Entsorgungskonzept, das die verwendeten Materialien lückenlos aufzählt und Konzepte für deren spätere Verwertung macht. Siemens geht noch weiter: Auf Kundenwunsch liefert Siemens ein Entsorgungshandbuch mit, das Schritt für Schritt erklärt, wie der Zug zu zerlegen ist, angefangen vom Ablassen der Flüssigkeiten wie Bremsflüssigkeit bis zum Schreddern von Kunststoffen. Denn Siemens recycelt seine Züge nicht selbst, das machen Spezialfirmen im Auftrag des Besitzers. Paradebeispiel ist die Metro Oslo, die zurzeit wohl ressourcenschonendste Bahn der Welt. Viele der im Fahrzeug verbauten Metalle haben bereits eine Recyclingvergangenheit. Siemens hat die Recyclingphase erstmals in einem Konzept beschrieben diese Informationen werden in der Wartungsdokumentation berücksichtigt. Der Kunde in Oslo verwendet sie jetzt schon für die Verwertung von Reparaturteilen. Im Gegensatz zur Automobilindustrie, wo es mit der ISO 22628 eine Recyclingnorm gibt, ist die Bahnindustrie erst in den letzten Jahren auf den Recyclingzug aufgesprungen, vor allem weil die Kunden zunehmend die Wiederverwertbarkeit verlangen. Allerdings fehlte bisher eine Richtlinie, welche die Verfahren zur Wiederverwertung und die Berechnung von Re - cyclingquoten verbindlich für die ganze Branche definiert. Siemens ist Initiator einer einheitlichen Recyclingrichtlinie bei UNIFE, dem europäischen Dachverband der Bahnindustrie in Brüssel. Die 73 Vollmitglieder, darunter Siemens, Bombardier und weitere große Wettbewerber mit einem Marktanteil von 80 Prozent, wollen noch 2011 technische Empfehlungen vorlegen, die dann nach Zustimmung des Internationalen Eisenbahnverbandes UIC im kommenden Jahr in eine europäische Norm münden sollen. Diese könnte künftig vielleicht auch als Normungsvorschlag für weitere öffentliche Transportmittel wie Flugzeuge oder Schiffe dienen. Recyclingmeister. Die Metro Oslo, für die Siemens eine Rekordrecyclingquote von knapp 95 Prozent angibt, lässt sich mit heute wirtschaftlich sinnvollen Verfahren zu etwa 85 Prozent Siemens auch wenn Werbebroschüren anderes verkündeten. Was in 40 Jahren ist, kann aber auch die neue Richtlinie nicht vorhersehen. So kann es passieren, dass bestimmte Stoffe, die heute als unschädlich für die Umwelt gelten, vom Gesetzgeber verboten werden und damit nicht in die Wiederverwertung gelangen dürfen. Auch der gesundheitsschädliche Asbest galt einmal Die Metro Oslo lässt sich zu 85 Prozent wiederverwerten, weitere zehn Prozent werden thermisch recycelt. Metro hinausgehen. Eine Herausforderung ist es, wenn ein Kunde die Plattform deutlich verändert, wie die Stadt München, die zwar Züge mit Inspiro-Elementen bestellt hat, allerdings mit engen Vorgaben des eigenen Designers. Da muss man frühzeitig mit dem Kunden die Recyclingmöglichkeiten ausloten, um das Maximum herauszuholen, erläutert Ille. Manchmal stecken die Konstrukteure auch in einem Interessenkonflikt. Gewichtsersparnis geht vor Recyclingfähigkeit, sagt Ernst Ille. Denn der Löwenanteil des CO 2 -Ausstoßes fällt beim Betrieb der Bahn an und lässt sich am besten drücken, wenn man Gewicht spart. So wäre die eingangs erwähnte Frontmaske für den Führerstand aus Stahl viel leichter zu recyceln als aus dem verwendeten Faserverbundwerkstoff, wäre dann aber auch viele Kilogramm schwerer und würde mehr Energie beim Fahren verbrauchen. Zum Glück sind Recycling und CO 2 -Ausstoß trotzdem nicht komplette Gegensätze. Eine als unbedenklich und wiederverwertbar. Insbesondere die europäische Chemikalienverordnung REACH und die Richtlinie RoHS, die den Gebrauch von Schwermetallen in Elektronikbauteilen regelt, verbieten den Einsatz bestimmter Stoffe. Umso wichtiger ist es, schon bei der Entwicklung auf größtmögliche Wiederverwerscheidet dabei vier unterschiedliche Wertigkeiten des Recyclings: Wiederverwendung: Bestimmte Bauteile können ohne Aufbereitung im gleichen Verwendungszweck wiederverwendet werden, zum Beispiel Computerchips aus Altflugzeugen in der Luft- und Raumfahrt. Weiterverwendung: Ähnlich der Wiederverwendung, nur mit anderem Verwendungszweck, etwa wenn Mikrochips aus dem PC im Flugzeug eingesetzt werden. Wiederverwertung: Dabei wird das Produkt zu Granulat zerkleinert und als Ausgangsstoff für einen gleichwertigen Werkstoff genutzt. Weiterverwertung: Diese häufigste Variante zerlegt Bauteile wieder in Rohstoffe, die zu einfacheren Produkten wie Parkbänken oder Straßenbelag verarbeitet werden. Die Stadt New York hat sich noch eine fünfte Variante ausgedacht: Ein beliebtes Video auf Youtube zeigt, wie ausrangierte Metrowagen vor der Küste des US-Bundesstaats Virginia ins Meer versenkt werden. Dort dienen sie dann als künstliche Riffe zur Ansiedlung von Korallen und Fischen. Bernd Müller 88 Pictures of the Future Herbst 2011 Pictures of the Future Herbst 2011 89

Fast wie in echt: Im Virtual-Reality-Labor entwickelt und optimiert BSH unter Leitung von Robert Gotschy Hausgeräte umweltgerecht und in 3D, etwa Kaffeevollautomaten. spezieller Versteifungstechnik nur halb so schwer wie noch vor zehn Jahren. Neben der richtigen Materialauswahl ist auch die intelligente Elektronik für die Energieeffizienz entscheidend: Durch die elektronische Steuerung wird etwa in einer Wasch- oder Geschirrspülmaschine bestimmt, wie das Wasser verteilt wird, um mit möglichst wenig Reinigungsmittel und Spülgängen auszukommen. Entwicklung in 3D. Bei der Optimierung der Geräte nutzen die Konstrukteure der BSH Simulationsverfahren und seit Anfang 2011 sogar ein komplettes Virtual-Reality(VR)-Labor im bayerischen Traunreut. In einem Vorführraum werfen zwei leistungsfähige Projektoren auf eine fast elf Quadratmeter große Projektionsfläche Stereobilder, die aus den Konstruktions - daten beispielsweise eines Herdes errechnet wurden. Gleichzeitig wird dieses Herdinnenleben über Spiegel auch auf den Boden projiziert. Mit einer speziellen 3D-Brille können sich Momentan nutzen wir diese virtuelle Methode erst zu zehn Prozent für die technische Produktentwicklung, sagt Robert Gotschy, Verantwortlicher für das VR-Programm der BSH. Überwiegend wird sie eingesetzt, um in frühen Projektphasen Entscheidungen über das Design, die Bedienung und über verwendete Materialien gezielter treffen zu können. Ein weiteres Labor mit dem Schwerpunkt Produktdesign befindet sich am Hauptsitz der BSH in München. Zeit sparen und mit neuen Produkten schneller am Markt sein, lautet für Gotschy das oberste Ziel. Schöner Nebeneffekt: Auch für den Modellbau lässt sich enorm viel an Materialien einsparen, denn von einer Designidee bis zum fertigen Modell, das nicht mehr verändert wird, vergehen bis zu vier Wochen. Gebraucht werden dafür Silikone, Kunstschäume, Kunstholz, Harze, Lacke, Metalle und Elektronik, zählt Gotschy auf. Hingegen dauere die Erstellung einer Szene eines neuen virtuellen Ressourcenschonendes Wachstum Hausgeräte Energiespar-Champions im Haushalt Waschmaschinen, Wäschetrockner, Kühlschränke, Geschirrspüler und Herde der BSH Bosch und Siemens Hausgeräte GmbH des größten Hausgeräteherstellers Europas sind heute wahre Energiespar-Champions. Bei ihrer Entwicklung rückt immer stärker auch die Materialeffizienz in den Mittelpunkt. Die Liste der Energiespar-Innovationen der BSH Bosch und Siemens Hausgeräte GmbH ist lang. So ist seit 2009 der Geschirrspüler mit Zeolith-Trocknungstechnologie auf dem Markt, bei dem das natürliche Silikatmaterial Zeolith als Wasser- und Wärmespeicher während der Trocknung eingesetzt wird. (Pictures of the Future, Frühjahr 2010, S.80). Das neue Material hilft, viel Energie und Wasser zu sparen. Für besonders energiesparende Geräte ist es darüber hinaus vor allem wichtig, Technologien, Komponenten und Materialien so zu kombinieren, dass höchsteffiziente Geräte für den Verbraucher auch bezahlbar bleiben, erklärt Rudolf Walfort, Leiter der Zentralen Technik bei der BSH. Das Unternehmen hat heute in jeder Produktkategorie Geräte auf dem Markt, die das Energielabel der Europäischen Union mit den neuen Effizienzklassen A+, A++ und A+++ tragen. Dabei unterschreitet etwa ein Kühl- und Gefriergerät mit A+++ die Effizienzklasse A um 60 Prozent. Ihre Energiespar-Champions hat die BSH im sogenannten Supereffizienz-Portfolio zusammengefasst. Ihm entstammt jedes vierte von der BSH in Europa verkaufte Hausgerät. Unsere 2010 in Europa verkauften Geräte des Supereffizienz-Portfolios führen zu einer Stromeinsparung von rund 1,9 Milliarden Kilowattstunden, gerechnet über die durchschnittliche Nutzungsdauer der Geräte und verglichen mit dem Marktstandard aus dem gleichen Jahr, sagt Walfort. Dies entspreche dem durchschnittlichen Jahresstromverbrauch von 500.000 Haushalten in Deutschland. Umweltschutz-Leitfaden. Dieser Erfolg geht auf die von BSH entwickelte Produkt-Umweltbetrachtung zurück, die seit 1996 im Unternehmen als strenge Leitlinie für jedes neu entwickelte Gerät gilt. Die Konstrukteure betrachten dabei den gesamten Lebenszyklus neuer Geräteserien unter allen Umweltgesichtspunkten von der Produktion über die Nutzung bis hin zur Entsorgung: Wie hoch ist der Energieund Wasserverbrauch? Ist die Materialzusammensetzung umweltverträglich und recyclingfähig? Können Materialien eingespart werden? Bei all diesen Punkten geht es um kontinuierliche Verbesserungen verglichen mit dem Vorgängermodell, erläutert Dr. Arno Ruminy von der Fachabteilung Umweltschutz bei der BSH. Bislang entfallen auf die Phase, in der Verbraucher das Hausgerät nutzen, bis zu 95 Prozent der Umweltbelastungen wie etwa der Verbrauch an Energie, Wasser sowie Wasch- oder Spülmittel (Pictures of the Future, Frühjahr 2009, S.32). Bei den supereffizienten Geräten konnte dieser Anteil bis auf 81 Prozent gesenkt werden. Beim Energieverbrauch in der Nutzungsphase werden wir künftig allerdings keine solch großen Schritte wie in den vergangenen Jahren mehr machen können. Deshalb rückt das Thema Ressourceneffizienz in der Entwicklung nun stärker in den Mittelpunkt, sagt Ruminy. Zur Unwuchtkontrolle der Waschmaschine wird beispielsweise Spezialbeton anstelle von Eisen verwendet. Das ist kostengünstiger und umweltverträglicher, sagt Ruminy. Auch sind inzwischen die Behälter für die Spüllauge aus Polypropylen. Anders als Stahlbehälter können sie so optimal geformt werden, dass weniger Waschmittelrückstände zurückbleiben. Leichtbau auch beim Backofen: Dessen Innenleben ist heute dank dünnerer Bleche und Entwicklungsingenieure wie Franz Perschl, Leiter des VR-Labors, nun virtuell durch den übergroß dargestellten Herd bewegen. Gerade wird die Befestigung eines Backblechs simuliert. Wir testen hier, ob die Befestigung von 0,8 Millimeter auf 0,6 Millimeter reduziert oder durch eine veränderte geo - metrische Form optimiert werden kann, sagt Perschl. Auf diese Weise können die Ingenieure abschätzen, ob das dünnere Blech allen Stabilitätskriterien genügt. Bislang konnten wir dies nicht vorab betrachten, sondern hätten erst einmal Testwerkzeuge bestellt und einen Prototyp gebaut, betont Perschl. Im VR-Labor kann man nun aber schon vor der Herstellung der Stanzwerkzeuge testen, ob sich Ideen zur Einsparung von Material und Energie auch in die Realität umsetzen lassen. Produktes mit allen Reflexionen, Spiegelungen und Materialeigenschaften nur maximal zwei Tage. Natürlich brauchen wir auch weiterhin physische Modelle, können aber über die gesamte Entstehung eines Produktes ein Drittel und in bestimmten Projektphasen sogar zwei Drittel der Modelle einsparen, sagt der VR-Experte. Eine große Herausforderung steht den Entwicklern bei der BSH jedoch noch bevor: Wir müssen künftig mehr alternative Materialien, Recyclate und neue Materialien auf Basis von nachwachsenden Rohstoffen einsetzen, sagt Walfort. Denn auch dies ist für die BSH ein wichtiges Element, um die Umweltfreundlichkeit von Hausgeräten noch weiter zu erhöhen und den Verbrauch wertvoller und immer knapperer Ressourcen möglichst gering zu halten. Nikola Wohllaib 90 Pictures of the Future Herbst 2011 Pictures of the Future Herbst 2011 91

Ästhetik mit Sinn: Die leichte Krümmung senkt die Belastung des neuen Rotorblattes und erhöht dessen Lebensdauer. Das ist vor allem bei Offshore-Windparks wichtig: Hier kostet die Reparatur im Vergleich zu Onshore-Anlagen etwa das Zehnfache. Luftschwerter für mehr Strom Strom aus Windkraft soll noch in diesem Jahrzehnt vielerorts billiger sein als Strom, der im Kohlekraftwerk erzeugt wird. Ein ehrgeiziges Ziel, das nur erreicht werden kann, wenn die Energieausbeute neuer Anlagen steigt und gleichzeitig die Produktionskosten sinken eine große Herausforderung für die Material- und Fertigungsexperten. Bei Siemens Wind Power soll deshalb in den USA ab 2012 eine neue Generation von Rotorblättern in Serie gehen. Sie basieren auf der sogenannten Aeroelastic Tailored Blade(ATB) Technologie. Dabei sind die Rotorblätter leicht geschwungen wie ein arabisches Schwert. Durch die Krümmung wird folgender Effekt erreicht: Biegt sich das Blatt unter der Windlast, verdreht es sich gleichzeitig. Mithilfe hoch entwickelter Modellierungs-Methoden konnte erreicht werden, dass die Verdrehung so beschaffen ist, dass die Belastung auf den Rotor reduziert wird. Diese Eigenschaft ist ein wesentlicher Vorteil verglichen mit den heutigen starren Blättern: Treffen beispielsweise auf offener See Winde mit Luftmassen von mehr als 100 Tonnen je Sekunde aus unterschiedlichen Richtungen auf die Rotoren, reagieren die neuen Blätter elastisch und können sich besser und flexibler dem Wind anpassen. Die Druckbelastung wird deutlich reduziert das Material verschleißt weniger, und die Lebensdauer steigt. Oder die andere Alternative: Ohne dass die aerodynamische Belastung wesentlich zunimmt, können Rotorblätter dank dieser neuen Form größer werden und damit mehr Energie produzieren. Unser neues Rotorblatt ist mit 53 Metern vier Meter länger als das Vorgängermodell, dies bedeutet fünf Prozent mehr Energieausbeute, erklärt Henrik Stiesdal, der Cheftechnologe der Windsparte. Beim Design der neuen Rotoren legte Stiesdal viel Wert darauf, weniger Material einzusetzen, um damit das Eigengewicht zu verringern und die Belastungen durch den Wind so gering wie möglich zu halten. Gegenüber seinem Vorgänger ist das neue Rotorblatt je nach Materialauswahl länger und gleichzeitig bis zu 500 Kilogramm leichter. Dabei war die größte Herausforderung, trotz geringerem Gewicht und Materialeinsparung, die notwendige Stabilität zu gewährleisten. Es hat uns einige Entwicklungsarbeit gekostet, ein Verfahren zu entwickeln, mit dem wir die Blattstabilität unter sämtlichen Windbedingungen berechnen und so den Rotor optimieren konnten, sagt Stiesdal. Die verbesserten aerodynamischen Eigenschaften sind daher vor allem der computerbasierten Optimierung der äußeren Form der Rotorblätter und vielen Tests unter realen Bedingungen zu verdanken. Parallel dazu wird derzeit der Herstellungsprozess verbessert. Bislang werden zahlreiche Lagen aus Glasfasergewebe noch in Handarbeit ausgelegt, geformt, verklebt und in riesigen Schalen, die Sandkastenformen ähneln, gebacken. In Zukunft soll dies verstärkt automatisiert werden. Damit sollen die Produktionskosten der Flügel um 40 Prozent sinken die Windanlage wird kostengünstiger und der Preis pro Kilowattstunde Windstrom sinkt. Darüber hinaus beschäftigen sich die Windexperten auch mit der Frage des Recyclings, die sich in etwa fünf Jahren stellen wird, denn heute werden noch mehr Windkraftanlagen auf- als abgebaut. Rotorblätter könnten geschreddert und als Zusatzstoff für Beton verwendet werden, schlägt Stiesdal vor. Auch einen Pyrolyseprozess hat das dänische Unternehmen ReFiber, das eng mit Siemens Wind Power zusammenarbeitet, bereits entwickelt. Dabei werden bei 700 Grad Celsius große Stücke der Rotorblätter über thermochemische Spaltung zersetzt. So entsteht ein Gas, das zum Heizen verwendet werden kann. Als Reststoff bleibt das Fiberglas, das sich als Glaswolle und damit Dämm- und Isoliermaterial für Gebäude einsetzen lässt. Auch neue Materialien, die auf pflanzlicher Basis beruhen, stehen schon auf der Agenda. Wir forschen zusammen mit Universitäten in Dänemark und den USA an Faserverbundstoffen für die Rotorblätter aus Pflanzenfasern sowie Bio-Kunststoffen aus pflanzlichen Ölen, sagt Stiesdal. Er rechnet mit solchen Bio- Rotorblättern jedoch erst in etwa zehn Jahren. Doch spätestens dann werden Windkraftanlagen auch hinsichtlich ihrer Materialien endgültig zu grünen Riesen. Nikola Wohllaib Energiequellen schlummern manchmal an Orten, wo man sie am allerwenigsten vermutet. Zum Beispiel knapp unter der Erdoberfläche: Dort, ab etwa zehn Metern Tiefe, herrscht das ganze Jahr über eine relativ konstante Temperatur. In Deutschland sind es ungefähr zehn Grad Celsius ein riesiges Reservoir an Wärmeenergie, das nur darauf wartet, genutzt zu werden. Aber wie kann man mit einer Ausgangstemperatur von nur zehn Grad ein Haus auf 20 Grad heizen? Hier kommen Wärmepumpen ins Spiel. In ihnen zirkuliert ein Medium mit sehr niedriger Siedetemperatur. Meist sind das Fluor - kohlenwasserstoffe, die schon zwischen -47 und -26 Grad Celsius verdampfen und dabei dem Wärmereservoir Energie entziehen. Ein Kompressor verdichtet das Gas und erhitzt es dadurch auf eine deutlich höhere Temperatur er pumpt sozusagen die Wärmeenergie aus dem Boden auf ein höheres Niveau. Vorsicht, heiß: Eine solche Wärmepumpe generiert bei Siemens genug Wärme für mehrere Gebäude. Jetzt ist das Gas so warm, dass es seine Energie über Wärmetauscher an die Heizung oder den Warmwasserkreislauf abgeben kann. Dabei kühlt es ab und kondensiert. Schließlich wird die Flüssigkeit zur Druckverringerung durch ein Expansionsventil gepresst, strömt zurück zum Wärmereservoir und verdampft dort erneut der Kreislauf beginnt von vorn. Das Wärmereservoir in diesem Fall das Erdreich hat dabei zwar Energie verloren. Es ist aber so groß, dass seine Temperatur nicht spürbar sinkt. Wärmepumpen sind ökonomisch und ökologisch interessant, denn sie benötigen nur wenig Antriebsenergie für den Kompressor, um eine große Menge an Wärme zu erzeugen theoretisch können Geräte mit einer Kilowattstunde (kwh) elektrischer Energie deutlich mehr als vier kwh Wärme liefern. Wie gut eine Anlage in der Praxis arbeitet, beschreibt die Jahresarbeitszahl: Das ist das Verhältnis von gewonnener Wärme zum eingesetzten Strom, bezogen auf ein Jahr. Je höher die Jahresarbeitszahl, desto effektiver das System. Die Wärmepumpe nutzt das Erdreich zum Heizen 1 Die Erde erwärmt kaltes Wasser, das durch Kollektor oder Erdwärmesonde strömt, ein wenig. 2 Eine Wärmepumpe entzieht dem Wasser die Wärme und verdichtet sie zu höheren Temperaturen. 3 Die Wärme wird gespeichert und steht zum Heizen und zur Warmwasseraufbereitung zur Verfügung. 1 Kollektor Tiefe 80-160 cm Temperatur ca. 10 C A Stromanschluss 1 kwh Strom liefert 3-5 kwh Wärme Wärmepumpe 2 Erdwärmesonde Tiefe 100 m Temperatur ca. 13 C B Erdboden Warmwasser Fußbodenheizung Wasseranschluss Pufferspeicher Erdwärme wird entweder mit großen Kollektoren in der Nähe der Oberfläche gewonnen A oder mit einer Erdwärmesonde aus großer Tiefe gefördert B. Ressourcenschonendes Wachstum Wärmepumpen Heizen fast zum Nulltarif Man nehme Wärmeenergie der Umgebung, gebe etwas Strom hinzu und bringe diese Zutaten in einer Wärmepumpe zusammen. So lassen sich Häuser CO 2 -frei heizen und mit warmem Wasser versorgen. Dabei sollte die Temperatur des Wärmereservoirs hoch und die Vorlauftemperatur des Heizungssystems möglichst niedrig sein das ist diejenige Temperatur, mit der das warme Wasser in die Heizung strömt, erklärt Reinhard Imhasly von Siemens Building Technologies im schweizerischen Zug. Weil Fußbodenheizungen mit nur 35 Grad Vorlauftemperatur auskommen, sind sie für Wärmepumpen besser geeignet als herkömmliche Heizkörper, die heute noch mindestens 50 Grad brauchen. Eine niedrige Vorlauftemperatur setzt aber auch eine gute Dämmung voraus darum lassen sich Wärmepumpen in modernen Niedrigenergie- und Passivhäusern besonders effektiv einsetzen. Kein Wunder also, dass sich ihr Marktanteil in Deutschland bei neuen Wohnungen von unter einem Prozent im Jahr 2000 auf rund 23 Prozent im Jahr 2010 deutlich erhöht hat. Auch Altbauten kommen infrage, wenn sie zuvor umfassend modernisiert wurden. Es macht aber keinen Sinn, einfach die kaputte Ölheizung durch eine Wärmepumpe zu ersetzen und sonst alles beim Alten zu lassen, warnt Imhasly. Bei Renovierungen haben 3 Wärmepumpen einen Marktanteil von sechs Prozent. Insgesamt wurden vergangenes Jahr in Deutschland rund 51.000 Wärmepumpen installiert, ihre Gesamtzahl stieg auf 400.000. Richtige Dimensionierung. Wichtig ist auch, dass die Regelung der Heizung bedarfsabhängig arbeitet, zum Beispiel mit Temperatursensoren in jedem Raum. Siemens hat entsprechende Produkte für alle Gebäudetypen im Programm, erklärt Imhasly. Bei der Planung kommt es darauf an, dass die Anlage richtig dimensioniert wird ist sie zu schwach, muss der Nutzer zusätzlich heizen. Ist sie zu leistungsfähig, schaltet sich die Wärmepumpe ständig ein und aus das verschlechtert ihren Wirkungsgrad. Am besten sind Modelle, deren Leistung sich dynamisch an den Heizbedarf anpassen lässt. Entscheidend für die Jahresarbeitszahl ist die Wärmequelle, denn Wärmepumpen können nicht nur das Erdreich, sondern auch das Grundwasser und die Luft anzapfen. Erd-Wärmepumpen nutzen dazu entweder eine Sonde im Schnitt in rund 100 Metern Tiefe oder einen Flächenkollektor, der anderthalb Meter unter der Oberfläche verlegt wird. Wasser-Wärmepumpen verwenden die Wärme des Grundwassers, während Luft-Wärmepumpen ihre Energie aus der Umgebungsluft beziehen. Luft-Wärmepumpen sind einfach zu installieren, da sie nur einen Wärmetauscher für die Umgebungsluft benötigen das macht sie preiswert, aber auch wenig effektiv, weil die Außentemperatur im Winter stark fallen kann. Grundwasser- und Erd-Wärmepumpen erfordern höhere Investitionen, liefern aber auch mehr Wärme bei gleichem Stromeinsatz. Erd-Wärmepumpen haben bei unseren Untersuchungen im Schnitt eine Jahresarbeitszahl von 3,9 erreicht, berichtet Marek Miara vom Fraunhofer- Institut für Solare Energiesysteme in Freiburg. Luft-Wärmepumpen kamen nur auf 2,9. Beim aktuellen Strommix in Deutschland vermeiden Wärmepumpen laut dem Umweltbundesamt im Vergleich zu Gas-Brennwertkesseln CO 2 -Emissionen, wenn ihre Jahresarbeitszahl drei oder mehr beträgt. Bei weiter steigendem Anteil erneuerbarer Energien ist der Effekt noch stärker: In einer Studie für den Bundesverband Wärmepumpe (BWP) kommt die TU München zum Ergebnis, dass Wärmepumpen mit einer Jahresarbeitszahl von 3,0 im Jahr 2030 rund 40 Prozent Primärenergie im Vergleich zu konventionellen Systemen wie Gas-Brennwertkesseln einsparen könnten. Bei einer Jahresarbeitszahl von 4,5 soll die Einsparung sogar 60 Prozent betragen. Wer eine Wärmepumpe betreibt, tut aber nicht nur etwas für die Umwelt er spart auch bares Geld: Zwar können die Investitionskosten für eine Wärmepumpe einige tausend Euro über denen konventioneller Gas-Brennwertkessel liegen, aber nach zehn bis 20 Jahren hat sich die Investition amortisiert. Manchmal geht es auch wesentlich schneller: Vor fünf Jahren hat Siemens am Forschungsstandort München-Neuperlach zwei Wärmepumpen installiert, die erwärmtes Kühlwasser mit einer Temperatur zwischen 14 und 17 Grad als Energiequelle nutzen. Schon nach einem Jahr hatten wir die Kosten durch Einsparungen wieder hereingeholt, freut sich Thomas Braun von Siemens Real Estate. Heute liefern die beiden Wärmepumpen ein Viertel des Wärmebedarfs von 30 Gebäuden, in denen bis zu 10.000 Menschen arbeiten. Wie die Zukunftsperspektiven für den breiten Einsatz von Wärmepumpen aussehen könnten, zeigt ein Blick in die Schweiz: Dort haben sie bei neuen Einfamilienhäusern bereits einen Marktanteil von rund 90 Prozent. Dank viel Wasser- und Kernkraft ist der Strommix der Eidgenossen mit 127 Gramm pro Kilowattstunde (g/kwh) sehr CO 2 -arm in Deutsch land sind es 563 g/kwh, so dass Wärmepumpen-Heizungen dort schon heute sehr umweltfreundlich Wärme produzieren. Christian Buck 92 Pictures of the Future Herbst 2011 Pictures of the Future Herbst 2011 93

Ressourcenschonendes Wachstum Virtuelle Fertigung Virtuell zum Ziel: Viele erfolgreiche Anwender nutzen bereits PLM-Software, etwa das Gerätewerk Amberg oder der Formel-1-Rennstall Red Bull Racing. Mitte: ein Beispiel für den Mechatronics Concept Designer. Auch hier setzt man deshalb auf eine durchgängige virtuelle Produktentwicklung, die den gesamten Lebenszyklus eines Zuges umfasst (Pictures of the Future, Herbst 2007, S.30). Da alle an der Produktentwicklung beteiligten Mitarbeiter auch standortübergreifend auf dieselbe, stets aktuelle Datenbasis zugreifen, lassen sie sich noch effektiver als bisher in die Konstruktion einbinden. Zusätzlich setzt man bei der Zusammenarbeit in Krefeld, München, Wien, Prag und Moskau auf Virtual Reality: Damit lassen sich Entwicklungsmodelle in einer vom Rechner erzeugten räumlichen Umgebung maßstabsgetreu betrachten und besprechen. Hier kommt die Software Teamcenter Visualisation von Siemens PLM zum Einsatz, die die dreidimensionalen Daten realitätsnah darstellt. Ein weltweit einmaliges Entwicklungswerkzeug von Siemens PLM-Software ist der sogenannte Mechatronics Concept Designer, den entwickeln. Das Programm simuliert das Maschinenverhalten in Echtzeit im 3D-Modell, und wie in einem Computerspiel kann der Entwickler in eine laufende Simulation eingreifen. Einmal erstellte Objekte lassen sich mitsamt ihren mechatronischen Daten beispielsweise Greifer, Bewegungsabläufe, Sensoren und Motoren in einer Bibliothek ablegen. Das Verfahren spart bis zu 20 Prozent Entwicklungszeit und erhöht die Qualität der Ergebnisse. Tool für Weltmeister. Heute arbeiten weltweit rund 6,7 Millionen lizenzierte Anwender der unterschiedlichsten Branchen mit PLM- Software von Siemens so auch der Formel-1- Rennstall Red Bull Racing. Schließlich müssen in keiner anderen Industrie Produkte so schnell weiterentwickelt, modifiziert und gefertigt Heute arbeiten rund 6,7 Millionen lizenzierte Anwender mit der PLM- Software etwa Red Bull Racing. lungschef bei Red Bull Racing. Wird beispielsweise die Nase des Rennautos verschoben, passen sich automatisch alle relevanten Variablen an. So ist es sehr schnell und einfach möglich, verschiedene Designideen auszuprobieren und zu testen, wie die einzelnen Komponenten auf Faktoren wie Hitze oder Vibration reagieren, sagt Neil Dunsmuir, Marketingleiter bei Siemens PLM Software für Eu ro pa, den Mittleren Osten und Afrika. Um die Rennautos für einen bestimmten Parcours vorzubereiten, gibt es eine spezielle Software für die Rennsimulation: Kommt diese Von der virtuellen in die reale Welt Ob Schaltanlagen, Hochgeschwindigkeitszüge oder Rennwagen: Paralleles, digitales Arbeiten in 3-D und in Echtzeit minimiert Zeitaufwand und Kosten, spart Energie und Ressourcen. Möglich macht dies eine einheitliche Software für das Product Lifecycle Management (PLM) von Siemens. Vom Fahrstuhl über die Achterbahn auf dem Münchner Oktoberfest bis zum Automobilwerk: Lösungen aus dem Siemens-Gerätewerk in Amberg sind dort im Einsatz, wo Bewegungen und Abläufe elektrisch erzeugt und gesteuert werden. Rund 2.500 Mitarbeiter stellen in der ostbayerischen Stadt elektromechanische Geräte für die industrielle Fertigungstechnik her. Die Vielfalt der Produkte hat in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen mit erheblichen Auswirkungen auf die Produktionsabläufe. Bestellungen müssen schneller abgearbeitet werden, zusätzlich steigt die Zahl der Varianten und damit die Komplexität der Produktionsabläufe rasant, sagt Peter Biersack, Leiter für Fertigung und Prüfplanung. Beispielsweise umfasst allein das Standardprogramm der Schaltgerätereihe 40.000 Artikel. Um trotzdem effizient kostenoptimale Produktionskonzepte aufbauen zu können, planen die Ingenieure im Gerätewerk Amberg den Produktionsprozess komplett digital mithilfe der PLM-Lösung Tecnomatix. Damit lassen sich Prozess- und Layoutplanungen sowie Kapazitätsanalysen bestens aufeinander abgestimmt ausführen. Die Planer können verschiedene Fertigungsvarianten ausarbeiten, bis ins kleinste Detail kalkulieren und anhand von Kenngrößen vergleichen bereits in der Frühphase der Konzeptplanung. So lassen sich die Entwicklungszeit eines neuen Produktes verkürzen, spätere Änderungen vermeiden und die Abstimmung von Entwicklung und Produktion insgesamt verbessern. Schneller zur Marktreife. Das Erfolgsgeheimnis ist eine einzige gemeinsame Datenbasis, auf die nicht nur die Planer, sondern auch die Entwickler Zugriff haben. Um diesen Prozess noch weiter zu verbessern, werden wir in Zukunft alle Daten in die PLM-Lösung Teamcenter integrieren, die den kompletten Produktlebenszyklus digital verwaltet, erläutert Biersack. Teamcenter ist der Kern der Produktfamilie für das PLM von Siemens, mit dem das Unternehmen eine weltweit führende Marktposition erreicht hat. Die Lösung fasst alle produktbezogenen Informationen zusammen, die während der Lebenszeit des Produktes erzeugt werden von der Planung über die Entwicklung und Fertigung bis zu Vertrieb, Service und Wartung. Als Datenquellen dienen dabei Konstruktionsprogramme, Enterprise-Resource-Planning-Systeme zur Unternehmenssteuerung, aber auch Office-Anwendungen, mit denen Handbücher oder Marketing-Unterlagen erstellt werden. Die Datendurchgängigkeit, die Teamcenter schafft, bringt enorme Vorteile: So lässt sich die Zeit bis zur Marktreife eines Produktes deut lich reduzieren, was nicht nur einen Wettbewerbsvorteil bringt, sondern auch Kosten, Energie und Ressourcen spart. Auch lassen sich mit der Software mög liche Produkt-Auswirkungen auf die Umwelt erkennen. Bei Entwicklung und Bau von Schienenfahrzeugen liegt die Herausforderung sicherlich nicht wie im Amberger Elektronikwerk in der hohen Anzahl der Produktvarianten. Aber auch hier fordern die Kunden immer kürzere Lieferzeiten, während gleichzeitig die Qualitätsanforderungen und die technische Komplexität steigen. Daher müssen auch bei Zügen Entwicklung und Produktion heute weitgehend gleichzeitig ablaufen. Das hat einen enorm hohen Abstimmungsaufwand zur Folge, sagt Reinhard Belker, Abteilungsleiter für Engineering am Mobility-Fertigungsstandort in Krefeld. Experten von Siemens Corporate Technology in Princeton mitentwickelt haben. Damit lassen sich Werkzeugmaschinen einfacher und schnel - ler planen, weil ihre Funktionen schon in frühen Entwicklungsphasen simuliert werden können. Das Besondere ist, dass das Werkzeug die Technologie der Physik-Engine der Spiele- Software NVIDIA nutzt. Diese Technologie wird in Videospielen benutzt, um komplexe physikalische Prozesse nachzuahmen und damit eine realistische Umgebung zu vermitteln, beispielsweise Explosionen, die Staub aufwirbeln oder Charaktere mit komplexer Geometrie und realistischen Gelenken für lebensechte Bewegungen. Entsprechend lassen sich mit dem Mechatronics Concept Designer Konstruktionskonzepte für Maschinen in einer äußerst realistisch anmutenden Umgebung regelrecht spielerisch werden wie in der berühmten Rennserie. Deswegen setzte Red Bull Racing seit seiner ersten Formel-1-Saison im Jahr 2005 auf Teamcenter sowie auf die Lösung NX, mit der sich äußerst komplexe Produkte interaktiv entwickeln sowie gleichzeitig die Fertigungsprozesse intelligent steuern lassen. Rund 180 Ingenieure arbeiten bei Red Bull Racing tagtäglich unter Hochdruck daran, die Rennboliden der Piloten Sebastian Vettel und Mark Webber um die entscheidende Kleinigkeit schneller zu machen. Wir arbeiten mit 15 Hauptbaugruppen und etwa 4.000 Teilen. Das Wichtigste ist, dass unsere Ingenieure und Techniker auf dieselben aktuellen Daten zugreifen und dass die Konstrukteure schnellstmöglich erkennen, wenn Kollegen etwas geändert haben, erklärt Steve Nevey, der kaufmännische Leiter und technische Entwickzum Ergebnis, dass das Auto beispielsweise beim Monaco Grand Prix mehr Anpresskraft benötigt, geht diese Information sofort an die NX-Entwickler, die das Design des Frontflügels dann entsprechend anpassen. So können die Ingenieure die Boliden auf die individuellen Gegebenheiten eines jeden Rennkurses zuschneiden. Anschließend reicht ein Mausklick, um neue Teile sofort fräsen und stanzen zu lassen. Dabei müssen keine Daten von Hand eingegeben oder in andere IT-Systeme übertragen werden. Innerhalb weniger Stunden können die Teile gefertigt und am Auto angebracht werden. Bei Red Bull Racing trägt die PLM-Lösung ihren Teil zum Erfolg des Teams bei: In der Saison 2010 hat der britische Rennstall den Weltmeistertitel nicht nur in der Fahrer-, sondern auch in der Konstrukteurswertung gewonnen. Gitta Rohling 94 Pictures of the Future Herbst 2011 Pictures of the Future Herbst 2011 95

Ressourcenschonendes Wachstum Kraftwerk Irsching Pure Effizienz: Mehrere Jahre dauerte die Entwicklung der Weltrekordturbine SGT5-8000H. Rechts: die 60- Hertz-Variante für den Einsatz in Florida. Großes Bild: Feier zum Testbetrieb der US-Turbine im Berliner Werk. brauchen, das sind 20 bis 30 Prozent der heute hierzulande installierten Kraftwerksleistung. Flexible Gaskraftwerke sind dazu sehr gut geeignet, da die Investitionskosten gering sind und Gas die beste CO 2 -Bilanz der fossilen Energieträger hat, erklärt Lothar Balling, Geschäftsleiter für diese Kraftwerke. Mehr als 750 Mitarbeiter, davon 250 Ingenieure, hatten an der Entwicklung, dem Bau und der Erprobung der SGT5-8000H und des GuD-Kraftwerks mitgearbeitet (Pictures of the Future, Herbst 2007, S.54). Siemens hat über 500 Millionen Euro in die Prototypanlage investiert, bis sie an E.ON übergeben wurde. Um die Spitzenwerte bei Wirkungsgrad und Flexibilität zu erreichen, wurden vor allem die Gasturbine und der Gesamtaufbau konsequent neu durchdacht. So haben Ingenieure unter anderem die Betriebstemperatur der Turbine erhöht, Material und Form der Verdichter- und Turbinenschaufeln optimiert, Verluste in der Luftkühlung reduziert und Dampfkessel, Dampfturbine und Generator präzise auf die Gasturbine abgestimmt. sammenpassen. So wurde die Dampfturbine (Pictures of the Future, Frühjahr 2008, S.32) passend auf die Abgastemperatur der Turbine ausgelegt. Der zwischengeschaltete Dampf kessel muss die große Abgasmenge der Gasturbine effizient in Dampf umwandeln daher seine enorme Größe: Er wiegt 7.000 Tonnen und enthält Wärmetauscher mit einer Fläche von 510.000 Quadratmetern. Fischer betont: Ein GuD-Kraftwerk muss bis ins kleinste Detail perfekt abgestimmt sein. Das ist wie bei Autos: Würde man den besten Automotor ohne passendes Fahrwerk entwickeln, wäre er nichts wert. Hohe Ingenieurskunst. Die kurzen An- und Abfahrzeiten erreichen Entwickler, indem sie die Gasturbine vollständig durch Luft kühlen und den Spalt zwischen Laufschaufeln und Gehäuse hydraulisch optimieren. Dies wird durch die Bewegung des Rotors um drei Millimeter erreicht. Gleichzeitig wird dadurch ein Anstreifen von Gehäuse und Schaufeln beim Schnellstart verhindert. Die Luftkühlung ist für die angestrebte Flexibilität günstiger als eine vollständi- Druck und Temperatur, Schwingungen der Laufschaufeln, das Spiel an der Laufschaufelspitze, Strömungen, mechanische Spannungen und Drehzahlen messen. Mit den Ergebnissen wurde die SGT5-8000H feinjustiert und optimiert. Weltweite Nachfrage. Schon gibt es weitere Kunden für die Rekordturbine: Südkorea hat eine GuD-Anlage bestellt, die ab 2012 ausgeliefert wird, und ein Energieversorger in Florida hat sechs der neuen Gasturbinen in der 60- Hertz-Version bestellt, mit denen er über den Lebenszyklus der Turbinen rund eine Milliarde Dollar an Betriebs-, Wartungs- und Investitionskosten einsparen wird. Derzeit haben in den USA GuD-Kraftwerke einen Wirkungsgrad-Durchschnitt unter 40 Prozent. Würden alle diese Anlagen auf die neue Gasturbine von Siemens setzen, entstünde pro Jahr so viel zusätzlicher Strom, wie ihn 25 Millionen Amerikaner verbrauchen ohne zusätzliche CO 2 -Emissionen zu verursachen. Um auch die 60-Hertz-Turbinen ausgiebig tes- Das Weltrekord-Kraftwerk Ein Gas- und Dampfturbinen-Kraftwerk (GuD) setzte dank Siemens-Technologie 60,75 Prozent der im Gas enthaltenen Energie in Strom um Weltrekord. Zudem kann es in etwa 30 Minuten an- und abgefahren werden. Das ist nötig, um schwankende Netzeinspeisungen erneuerbarer Energien auszugleichen. In der stahl-blauen Kraftwerkshalle wurde im Mai 2011 Effizienz-Geschichte geschrieben. Einen Eintrag ins Guinnessbuch der Rekorde sowie zahlreiche Umwelt- und Innovationspreise hatte der Riese bereits vorher eingeheimst. Unter anderem arbeitet er hier, im Kraftwerk Irsching Block 4 nahe Ingolstadt, das nach jahrelangem Testbetrieb seit dem 22. Juli 2011 vom Energieversorger E.ON kommerziell betrieben wird. Die Rede ist von der weltweit größten und effi zientesten Gasturbine im kombinierten Betrieb dreizehn Meter lang, fünf Meter hoch und 444 Tonnen schwer. Sie erzielt bei einer Leistung von 375 Megawatt (MW) 40 Prozent Wirkungsgrad, in Kombination mit der Dampfturbine und dem von Siemens speziell entwickelten Abhitzedampferzeuger erreichte die Anlage im Mai 2011 den Weltrekord von 60,75 Prozent bei einer Nettoleistung von 578 MW mehr als ursprünglich geplant war. Damit kann das Kraftwerk die 3,4 Millionen Einwohner einer Stadt wie Berlin mit Strom versorgen. Gegenüber den bislang modernsten Kraftwerken wurde der Wirkungsgrad um 2 Prozentpunkte verbessert, was etwa 43.000 Tonnen CO 2 pro Jahr einspart das entspricht den Emissionen von über 10.000 Mittelklassewagen mit einer Laufleistung von jeweils 20.000 Kilometern pro Jahr. Im Vergleich mit dem weltweiten Durchschnitt der installierten GuD-Kraftwerke sind es pro erzeugter Kilowattstunde sogar ein Drittel Erdgas und CO 2 weniger. Auch die Geschwindigkeit, mit der die Gasturbine an- und abgefahren wird, erreicht bisher ungekannte Dimensionen. Nach einem Stillstand von mehreren Stunden kann die Anlage in etwa dreißig Minuten wieder auf volle Leistung hochgefahren werden. Diese Flexibilität ist neben der Umweltfreundlichkeit der zweite Trumpf des neuen GuD-Kraftwerks. Willibald Fischer, Produktmanager der Gasturbine, erklärt: Bei Anlagen für erneuerbare Energien, die derzeit zunehmend ans Netz gehen, reicht eine Wolke oder eine kleine Windflaute, um Fluktuationen im Netz zu verursachen. Solche Schwankungen müssen in Zukunft sehr schnell ausgeglichen werden, etwa mit GuD-Kraftwerken als Backup-Lösung. Und damit diese in ihrer Bereitschaft nicht ständig im Leerlauf fahren, ist ein schnelles Anfahren aus dem Stillstand notwendig. Rückgrat für Erneuerbare. Fischers Szenario ist zum Teil schon aktuell: Photovoltaik-Anlagen liefern in Bayern an sonnigen Tagen bereits über die Hälfte des benötigten Stroms und künftig ist ein noch stärkerer Ausbau von Anlagen für erneuerbare Energien zu erwarten. Laut Fischer könnte bereits im Jahr 2020 an windigen Sommertagen mehrere Stunden lang der gesamte in Deutsch land benötigte Strom aus erneuerbaren Energien kommen. Bei einer schnellen Wetteränderung müssten dann schnellstmöglich fossile Kraftwerke einspringen. 2020 werden wir eine zusätzliche Kraftwerks-Reserve von etwa 30 bis 50 Gigawatt Den wohl wichtigsten Beitrag zum Rekordwirkungsgrad leisteten die Siemens-Ingenieure mit der Erhöhung der Verbrennungstemperatur von rund 1.400 Grad Celsius im Vorgängermodell auf etwa 1.500 Grad in der neuen Turbine. Da die Temperatur an der Oberfläche der Turbinenschaufeln entsprechend höher ist, ist ein noch besserer Hitze-Schutz notwendig. Die Schaufeln bestehen aus einer Nickelbasislegierung, die in Belastungsrichtung als Einkristall erstarrt was sie besonders bruchfest macht. Hinzu kommt eine thermische Schutzschicht aus zwei Lagen für die Wärmeisolierung. Zusätzlich wurden die Luftkühlungseigenschaften verbessert. Auch optimierten die Entwickler die Schaufelprofile, um Verluste durch Turbulenzen am Ende der Verdichter schaufeln zu reduzieren. Dazu simulierten sie die dreidimensionale Strömungsdynamik innerhalb des Verdichters was eine besondere Herausforderung für Computersimulationen darstellt. Für eine hohe Effizienz des Kraftwerks müssen außerdem alle Komponenten optimal zuge oder teilweise Dampfkühlung, da man beim Hochfahren nicht auf die Dampfpro duktion warten muss. Ein Erfolgsgeheimnis ist auch die Kombination der jeweils besten Technologien von Siemens und der 1998 mit Siemens fusionierten US- Firma Westinghouse. So wurde etwa das bessere Siemens-Design des Turbinenläufers übernommen. Bei der Brennkammer hingegen setzten die Ingenieure auf das System von Westinghouse, da es sich im Prüfstand einfacher testen ließ, als die von Siemens entwickelte Brennkammer. Überhaupt charakterisierten ausführliche Tests die Entwicklung der SGT5-8000H. Die Kooperation mit E.ON ermöglichte die Testphase unter realen Bedingungen von 2007 bis 2009 in Irsching. Um das Verhalten der Anlage genau zu analysieren, wurden für die Probeläufe 3.000 Sensoren eingebaut, die Größen wie ten zu können, hat Siemens das Prüffeld im Berliner Gasturbinenwerk für über 17 Millionen Euro erneuert und vergrößert. Dort wird seit Juli 2011 eine Turbine für den Kunden aus Florida intensiv geprüft. Über den Lebenszyklus von sechs Rekord-Turbinen spart ein US-Energieversorger rund eine Milliarde US-Dollar. Die Weltrekordjäger von Siemens sind fest entschlossen, ihre Trophäe auch in Zukunft im eigenen Unternehmen behalten zu können: Ich erwarte, dass wir in fünf Jahren mit einer noch heißeren und größeren Turbine den Wirkungsgrad der GuD-Anlage nochmal um einen weiteren Prozentpunkt verbessern können, um die Technik noch wirtschaftlicher und umweltfreundlicher zu machen, erklärt Balling. Fenna Bleyl 96 Pictures of the Future Herbst 2011 Pictures of the Future Herbst 2011 97

Effizient: Clemens Schmees (rechts) und seine Mitarbeiter sind mit den Siemens Production System sehr zufrieden. Ob in der mechanischen Fertigung (rechts unten) oder in der Großformerei (rechts oben): Es gibt viele Verbesserungen in den Betriebsabläufen. Ressourcenschonendes Wachstum Optimierte Lieferkette Hilfe zur Selbsthilfe Jede Kette ist nur so stark wie ihr schwächstes Glied. Bekommt ein Zulieferer Probleme mit Qualität und Liefertreue, beeinträchtigt das die gesamte Produktionskette. Siemens hat ein Programm aufgelegt, das strauchelnden Lieferanten wieder auf die Beine helfen soll. Gießen mit Herz und Verstand. So lautet der Wahlspruch der Edelstahlwerke Schmees GmbH, eines 1961 gegründeten Unternehmens, aus dem binnen kurzem eine erfolgreiche, große Gießerei geworden war. 1993 verlegte sie ihren Hauptfirmensitz aus Nordrhein-Westfalen nach Sachsen. Die Auftragslage stimmte vor allem für gegossene Edelstahlteile für Pumpen und Turbinen. 2008 investierte die Firma, die 360 Mitarbeiter beschäftigt, rund zehn Millionen Euro in neue Fertigungshallen an den Standorten Langenfeld und Pirna. Doch mit den Boomjahren 2007 und 2008 kamen die Probleme. Wegen der erhöhten Auftragslage verschlechterte sich die Liefertreue, und die Produktqualität sank. Da haben wir keine optimale Leistung abgeliefert, räumt Inhaber Clemens Schmees offen und selbst - kritisch ein. Auch bei Siemens sah man das mit Sorge, denn Schmees ist ein wichtiger strategischer Partner: Die Firma liefert bis zu sieben Tonnen schwere Gussteile für Gasturbinen und ist auf diesem Gebiet Preisführer. Da Schmees für einige Projekte als einzige Quelle fungiert und Siemens an langfristigen, nachhaltigen Lieferanten-Partnerschaften interessiert ist, wurde reagiert. Barbara Kux, als Leiterin des Supply Chain Managements im Siemens-Vorstand verantwortlich für den weltweiten Einkauf des Konzerns, war entschlossen, etwas zu unternehmen. Wir gehören zu den Besten im Markt und wollen unseren Wettbewerbsvorteil auch in Zukunft weiter steigern, sagt die Schweizerin. Dieses Ziel können wir nur mithilfe einer flexiblen und leistungsfähigen Lieferkette erreichen. Dazu müssen alle Partner kontinuierlich an der Verbesserung ihrer Lei stungsfähigkeit und an der Optimierung des Gesamt prozesses arbeiten. Schlanke Lieferanten. Daher entschloss sich Siemens, das hauseigene Siemens Production System (SPS) erstmals auch bei einem Lieferanten einzusetzen. Mit dem System verbessert der Konzern bereits seit Jahren die Performance seiner Werke (Pictures of the Future, Frühjahr 2009, S.30). SPS stellt das Konzept der schlanken Produktion in den Fokus, wobei jeder Produktionsschritt so effektiv wie möglich gestaltet werden soll. Zeiten, in denen sich das Produkt nicht weiterentwickelt oder stillsteht, werden als nicht wertschöpfend und somit als Verschwendung angesehen. Dies geschieht, wenn etwa Werkstücke lange auf ihre Weiterverarbeitung warten, oder wenn sie auf langen Wegen zum nächsten Arbeitsschritt gebracht werden müssen. In Pirna kam der Vorschlag von Siemens gut an. Wir haben sofort zugestimmt, sagt Schmees. Wir wussten, dass wir uns verbessern können, also konnten wir von einem solchen Angebot nur profitieren. Das Stahlwerk habe das Projekt sehr positiv aufgenommen, meint auch Dr. Bernd Müssig, Leiter der Abteilung Siemens Operations Development, bei der die Koordination des Projektes lag. Im August 2010 reisten SPS-Experten nach Pirna, analysierten das Produktionsgeschehen und machten Vorschläge zur Prozessoptimierung. Wir geben nur Hilfestellung, erklärt Müssig, Umgesetzt werden muss das Konzept vor Ort. Nach Implementierung der Leuchtturmprojekte waren auch die Mitarbeiter begeistert und arbeiteten sehr motiviert mit. Inzwischen hat Schmees zum Beispiel Elemente des sogenannten Kanban-Systems eingeführt. Dieses Produktionssystem richtet sich immer nach der letzten Stufe des Fertigungsprozesses und liefert der vorangegangenen Einheit bei Unterschreitung eines zuvor definierten Mindestbestandes die Information, dass Nachschub benötigt wird. So wird in allen vorhergehenden Schritten nur so viel produziert, wie im letzten Schritt tatsächlich fertiggestellt werden kann. In speziellen Pufferlagern werden die Werkstücke angeliefert und sehr schnell zur Weiterverarbeitung abgeholt. Heute liegen bei Schmees keine unfertigen Gussteile mehr auf Halde. Die Produktion ist effektiv und die Durchlaufzeiten sind deutlich geringer. Zudem wurden Engpässe bei den Werkzeugen für die Arbeiter beseitigt und die Maschinensteuerung optimiert. Und auch auf dem Außengelände, wo früher Teile lagerten, wurde aufgeräumt. Im Mai 2011 fruchteten die von Schmees eingeführten Maßnahmen. Die Liefertreue stieg auf über 80 Prozent, freut sich Müssig. Die Zahl der Reklamationen ist laut Schmees spürbar zurückgegangen: Durch den schnelleren Durchsatz können wir heute zudem mehr Aufträge annehmen und den Umsatz steigern. So ist auch die Zusammenarbeit mit Siemens für die Zukunft gesichert. Wir wünschen uns eine Verbesserung der Liefertreue auf über 90 Prozent, sagt Bernd Müssig, wenn der Preisvorteil erhalten bleibt, könnte dann auch das Einkaufsvolumen von Siemens deutlich steigen. Angesichts der positiven Resultate hat Siemens ein ganzes Programm namens SPS@Suppliers aus der Taufe gehoben, das künftig auch auf andere Lieferanten ausgedehnt werden soll. Langfristig soll SPS@Suppliers zu einem festen Bestandteil der Lieferantenentwicklung werden. Und auch Schmees gibt sich mit dem bisher Erreichten noch nicht zufrieden: Im Jahr 2020 wollen sie die beste Stahlgießerei Euro pas sein. Nils Ehrenberg Ein grünes Rezept für Lieferanten Siemens bemüht sich in seinen Fertigungsstätten schon seit langem um einen sparsamen Energie-Verbrauch. Dazu wurde ein Energieeffizienz-Programm (EEP) ins Leben gerufen, mit dem seit 2006 an den Produktionsstandorten gezielt Einsparpotenziale identifiziert und umgesetzt werden (Pictures of the Future, Herbst 2007, S.37). Bis 2010 konnte durch das EEP die Effizienz beim Stromverbrauch im Schnitt um 11 Prozent und die Effizienz im Bereich Primärenergie und Fernwärme sogar um 23 Prozent gesteigert werden. Energieeffizienz ist der wirkungsvollste Beitrag zum Klimaschutz, meint Barbara Kux, die im Siemens- Vorstand für Supply Chain Management und Nachhaltigkeit zuständig ist. Mit dem Programm EEP for Suppliers (EEP4S) holt sie nun auch die Lieferanten mit ins Energiespar-Boot. In unseren Produkten steckt ein erhebliches Maß an Wertschöpfung unserer Lieferanten, daher ist es nur konsequent, diese in unser EEP einzubinden, erklärt sie. Profitieren sollen dadurch beide Seiten, denn wer Energie spart, produziert günstiger und ist wettbewerbsfähiger. Die Strukturen bei den Lieferanten unterscheiden sich allerdings zum Teil stark. Deshalb ist EEP4S auch ein von Level 1 bis Level 4 abgestufter, bisher einzigartiger Beratungsansatz, der diesen Unterschieden Rechnung trägt, sagt die Gesamtprojektleiterin Birgit Heftrich. Entscheidet sich der Lieferant für Level 1 des Programms, sind zertifizierte Umweltberater von Siemens mehrere Tage bei ihm vor Ort. Sie führen umfangreiche Standortbegehungen durch, analysieren bauliche Strukturen, messen Verbräuche, untersuchen Betriebs- und Wartungsroutinen und bewerten die Einkaufsverträge des Lieferanten. Alles wird in einem ausführlichen Bericht dokumentiert. Das ist eine ganz konkrete Anleitung, um den Energiebedarf zu senken, sagt Heftrich. Tatsächlich listet das Papier nicht einfach nur die Ergebnisse auf, sondern schlägt Maßnahmen vor, gibt an, welche Investitionssummen dafür nötig sind und wie schnell sie sich dank der Energieeinsparungen wieder amortisieren können. Die Beratungskosten trägt der Lieferant. Für Unternehmen mit kleinerem Einkaufsvolumen bietet EEP4S aber auch kostenfrei ein webbasiertes Tool für eine Selbstbewertung mit optionaler Fernberatung durch Siemens-Experten an. Dass EEP4S funktioniert, zeigt etwa die Schmolz + Bickenbach Guss GmbH mit ihrem Werk in Krefeld. Der Gießereibetrieb beliefert Siemens mit Stahlgussteilen für Gas- und Dampfturbinen, die in einem energieintensiven Prozess hergestellt werden. Schmolz + Bickenbach ist mit den Ergebnissen des EEP4S sehr zufrieden. Die Hälfte der bisherigen Investitionen können wir im ersten Jahr wieder reinholen, freut sich Geschäftsführer Hans Schlickum (Bild oben). Schon durch eine einzige Maßnahme das individuell angepasste Vorheizen der Pfannen zum Transport des Gussstahls spart Schlickum 14.000 Euro pro Jahr ein. Zudem wurde ein Energieverantwortlicher benannt, der direkt an die Geschäftsleitung berichtet, und alle unternehmensweiten Prozesse wurden auf ihre Umweltverträglichkeit hin untersucht und klassifiziert. Außerdem wurde ein Energiesparprogramm aufgelegt, mit dem das Bewusstsein der Mitarbeiter für Energie- und Umwelteffizienz geschult werden soll. Das ist eine schöne Bestätigung unseres Programms, freut sich Kux. Sie hat mit EEP4S noch Großes vor. Nachdem wir im Geschäftsjahr 2010/2011 bereits 160 Lieferanten mit energieintensiven Produktionsprozessen eingebunden haben, wollen wir 2012 weitere 840 Lieferanten vornehmlich an unser kostenfreies Selbstbewertungs-Tool anbinden, sagt sie. Langfristig soll es sogar ein Qualitätssiegel für Energieeffizienz geben: Das EEP4S soll fester Bestandteil des siemensweit einheitlichen Lieferantenmanagements werden. Nils Ehrenberg 98 Pictures of the Future Herbst 2011 Pictures of the Future Herbst 2011 99

Ressourcenschonendes Wachstum Rohstoff-Alternativen Unabhängigkeit entwickeln: Siemens forscht an leistungsfähigen Permanentmagneten, die möglichst ohne Seltene Erden auskommen, etwa für Windturbinen oder Elektrofahrzeuge (rechts). Im Bild analysiert eine CT-Forscherin die magnetischen Eigenschaften. dym-eisen-bor-magneten auszustatten, die in diesen Spulen das elektrische Feld induzieren. In konventioneller Ausführung wandelt ein massives Getriebe in Windenergieanlagen die relativ langsame Umdrehung in eine schnelle um, die dann im Generator den Strom erzeugt. Die neuen Konzepte sehen hingegen vor, dass mithilfe von Permanentmagneten auf Basis von Seltenen Erden aus der langsamen Drehung unmittelbar Strom erzeugt wird. Die Vorteile: Das Getriebe entfällt, es wird Gewicht eingespart, und auch der Wartungsaufwand verringert sich, wovon insbesondere der Offshore- Bereich profitiert. Solche getriebelose Turbinen von Siemens existieren bereits für ei ne 3-Megawatt- und auch für eine 6-MW-Anlage. All dies führt dazu, dass der Bedarf an Seltenen Erden stetig steigen wird. Hinzu kommt, dass auch China bei Windturbinen und Elektrofahrzeugen eine immer größere Rolle spielt und künftig verstärkt auf die eigenen Ressourcen zurückgreifen wird. Siemens widmet sich der neuen Herausforderung im Rahmen eines Um etwa Dysprosium effizienter als bisher zu nutzen, wollen wir es künftig nicht mehr im gesamten Material verteilen, sondern eine Struktur schaffen, bei der dieses Element nur an den Kristallitgrenzen von Neodym-Eisen- Bor-Magneten angereichert ist, erläutert Rieger. Dies kann erreicht werden, indem eine dünne Dysprosium-Schicht auf den fertigen Magneten aufgebracht wird und durch Temperaturbehandlung entlang der Korngrenzen ins Innere eindiffundiert. Dadurch redu ziere sich der Verbrauch drastisch, wobei die Eigenschaften gleichbleiben oder sich sogar verbessern würden. Siemens-Wissenschaftler arbeiten auch daran, seltene Erden aus gebrauchten Elektromotoren zu recyceln. Alternativen finden. Andere Konzepte sehen vor, Motoren gänzlich ohne Seltene Erden zu entwerfen. Heute schon existieren Dauermagnete auf Basis von Eisenoxiden mit Zusätzen von anderen Oxiden. Das Problem: Diese geaufbau, um derartige neue Magnetwerkstoffe zu synthetisieren und zu untersuchen. Ist das ein Zurückrudern in die Eisenzeit? Im Prinzip ist Eisen ein hervorragender Magnetwerkstoff, argumentiert der Experte. Ob das Energieprodukt dieser Werkstoffe einmal an das der Selten-Erd-Magnete heranreichen oder dieses gar übertreffen könnte, lässt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht absehen. Eine weitere Möglichkeit des nachhaltigen Umgangs mit Seltenen Erden ist das Recycling dieser Materialien aus Elektromotoren. Doch stehen hierfür noch keine Verfahren zur Verfügung. Vielmehr kommen Motoren gewöhnlich in den Schmelzofen. Man verwendet das Ma- Die Rohstoff-Detektive Die weltweite Nachfrage nach leistungsfähigeren Materialien etwa den Metallen der Seltenen Erden wächst. Da viele Rohstoffe jedoch zugleich immer knapper werden, arbeiten Siemens-Experten an Strategien zur effizienteren Nutzung, Wiederverwertung und Substitution dieser Materialien. Grüne Produkte sind so stark im Vormarsch, dass Werkstoffwissenschaftler Alarm schlagen wie etwa bei Dauermagneten für Generatoren in Windturbinen. Sie basieren auf Metallen der Seltenen Erden wie Neodym, Praseodym und Dysprosium. Wenn sie optimal kombiniert werden, erreicht ihr Energie - produkt, das Maß für die speicherbare magnetische Energie, über 400 Kilojoule pro Kubikmeter (kj/m 3 ). Das ist ein so hoher Wert, dass Magnetsysteme, verglichen mit herkömmlichen Magnetwerkstoffen, wesentlich kleiner gestaltet oder mit erheblich höheren magnetischen Energien ausgestattet werden können. Der Name Seltene Erden ist etwas irreführend, denn etliche der Metalle wie Neodym sind nicht wirklich selten. Sie kommen in der Erdkruste sogar häufiger vor als etwa Blei, doch sind erst wenige größere Lagerstätten entdeckt worden. So gibt es in der Inneren Mongolei, in Westaustralien, Grönland, Kanada und USA Vorkommen. Derzeit wird allerdings die Weltproduktion der Seltenen Erden zu 97 Prozent von China dominiert. Da droht ein Res- sourcenproblem, warnt Dr. Thomas Scheiter, Leiter des globalen Technologiefeldes Materialsubstitution und Recycling bei Siemens Corporate Technology (CT). Nicht genug der Lieferschwierigkeiten bei Neodym: Mit einem Anteil von vier Prozent verleiht das silbergraue Schwermetall Dysprosium den Magneten eine Temperaturstabilität, wie sie etwa in Windenergieanlagen erforderlich ist. Doch Dysprosium findet man in den Lagerstätten nur in geringen Mengen. Da alternative Vorkommen wohl erst in fünf oder mehr Jahren erschlossen werden können, sind Lieferengpässe fast unvermeidlich. Ein ähnlicher Zeitrahmen gilt für eine Wiederinbetriebnahme der 2002 stillgelegten Mountain Pass Mine in Kalifornien. Und in noch weiterer Ferne liegt die Erschließung Seltener Erden, die Mitte 2011 im Pazifischen Ozean unweit Hawaii und Tahiti auf dem Meeresboden entdeckt wurden. Starke Abhängigkeit. Der Kern des Problems liegt darin, dass viele Hightech-Produkte wie Elektromotoren, Handys, Laser oder LCD-Fernseher derzeit noch auf Seltene Erden angewiesen sind. Die Einführung von Energiesparlampen, deren Leuchtstoffe ebenfalls Seltene Erden benötigen, hat die Nachfrage weiter verstärkt. Wegen der guten Eigenschaften dieser Stoffe sind neue Produkte entwickelt worden, die den Markt nochmals angeheizt haben, erläutert Dr. Ulrich Bast, zuständig für Technologieinnovation bei CT in München. Beispielsweise können elektrische Maschinen entweder mit zwei Spulensystemen oder mit einer Spule und einem Dauermagneten betrieben werden. Mit Permanentmagneten ausgestattete Synchronmaschinen stellen eine besondere Klasse von Motoren oder Generatoren dar. Sie können bei Windturbinen zu erheblicher Gewichteinsparung führen. Mit herkömmlichen Werkstoffen wie Eisen und Kupfer muss hingegen ein hohes Gewicht in Kauf genommen werden, erklärt Dr. Gotthard Rieger, Leiter der Magnetwerkstoffentwicklung bei CT. Wesentlich eleganter sei es, die für das Abgreifen der Rotationsenergie zuständigen Außenläufer solch einer Turbine mit dünnen Neo- Leuchtturmprojekts: Die Forscher um Thomas Scheiter stellen anhand von Statuserhebungen zunächst fest, welche Materialien im Unternehmen in welcher Menge verwendet werden. Auf Basis aktueller Marktdaten wird dann ermittelt, ob es Rohstoffe gibt, die im Hinblick auf ihre Verfügbarkeit als kritisch zu betrachten sind. Falls ja, sind die rund 200 Materialwissenschaftler bei CT gefordert, technologische Alternativen zu entwickeln. Aufgrund der sich abzeichnenden Verknappung der Seltenen Erden wurde bereits im Vorfeld ein Projekt für neuartige leistungsfähige Permanentmagnete gestartet. Diese sollen entweder ganz ohne oder nur noch mit geringen Mengen an Seltenen Erden auskommen. sinterten Keramikmagnete weisen ohne weitere Vorbehandlung zunächst im Durchschnitt ein um den Faktor zehn kleineres Energieprodukt auf als Selten-Erd-Magnete. Sie sind daher in vielen Motor- und Generatoranwendungen nicht einsetzbar. Um trotzdem ohne Seltene Erden auszukommen, arbeitet ein Siemens-Team an einem neuartigen Material auf Basis einer Eisen-Kobalt-Verbindung, in der nanometerkleine magnetische Stäbchen wie an einer Perlenschnur aufgereiht in einer Matrix fixiert sind. Aus solchen Nanostrukturen könnten wir gezielt einen optimierten Dauermagneten herstellen und längerfristig eine Alternative zu Seltenen Erden schaffen, glaubt Rieger. Bei Siemens in München gibt es bereits einen ersten Laborterial zwar wieder, aber Seltene Erden vermischen sich mit dem Rest und gehen einfach unter, beklagt Bast. Daher haben Siemens- Forscher damit begonnen, ein Verfahren zu entwickeln, das bei der Demontage der Magnete aus den Motoren beginnt und verschiedene Stufen der Wiederaufarbeitung beinhaltet. Im einfachsten Fall baut man Magnete aus einem alten Motor aus und in einen neuen wieder ein, sagt Bast. Das werde aber nicht immer funktionieren, weil die Magnete meist nicht passen. Man arbeitet deshalb daran, die Produkte von Anfang an so zu konstruieren, dass man beim Recycling ohne große Probleme die Permanentmagnete aus dem Motor separie - ren kann. In dem vom deutschen Forschungsministerium geförderten Projekt werden mit 100 Pictures of the Future Herbst 2011 Pictures of the Future Herbst 2011 101

Institutspartnern und Firmen auch Prozesse entwickelt, um Magnetmaterialien aus Schmel - zen in einer Schlacke gezielt anzureichern und aus dieser Seltene Erden zurückzugewinnen. Mit einem Einsatz des Verfahrens rechnen Forscher in wenigen Jahren. Ein sparsamerer Umgang mit Seltenen Erden oder deren Ersatz käme auch der Umwelt zu Gute. Es zeichnet sich bereits ab, dass man Magnete künftig nachhaltiger herstellen kann, versichert Dr. Ute Liepold, Projektleiterin im Bereich Materialsubstitution und Recycling bei Siemens. Heute sei der Abbau von Seltenen Erden vor allem in China sehr um - weltbelastend, da die Mineralien mit Säure aus Bohrlöchern ausgewaschen werden. Natürliche Lösung. Auch wenn Seltene Erden unter den kritischen Rohstoffen derzeit die höchste Priorität haben, geben noch weitere Materialien Anlass zur Sorge. Auch die besonders widerstandsfähigen Refraktärmetalle sind wegen möglicher Lieferengpässe problematisch, so Liepold. Dazu gehörten etwa Niob, Wolfram und Molybdän, die in Röntgenröhren, Schaltern und weiteren Anwendungen enthalten sind. Bei diesen Metallen ist eine hohe Hitzebeständigkeit gefordert, gleichzeitig wird aber noch eine gewisse Formbarkeit und Leitfähigkeit abverlangt. Liepold: Eine pauschale Lösung des Problems wird es sicher nicht geben, vielmehr wird man genau schauen müssen, für welches Material es welche Alternativen gibt. Ebenfalls als kritisch gelten Metalle wie Platin, Palladium, Indium, Gallium und Germanium. Weniger dramatisch ist die Versorgung mit Gold, Silber und Kupfer, bei denen allerdings mit einem weiteren Preisanstieg zu rechnen ist. Auch hierauf bereiten sich Siemens-Forscher vor. So gibt es bereits ein Projekt, um in elektrischen Leitern Kupfer durch Aluminium zu ersetzen. Rund 20 Prozent lassen sich im ersten Schritt durch Aluminium ersetzen, schätzt Liepold. In einem weiteren Projekt wird das Laserschweißen untersucht mit dem Ziel, künftig ohne Silberlot auszukommen (Pictures of the Future, Herbst 2008, S.22). Und schließlich erforscht Siemens auch Wege, Kunststoffe aus nachhaltigeren Quellen als Erdöl zu erzeugen. Untersucht werden zurzeit nachwachsende Biopolymere, die etwa aus Rizinuspflanzen oder anderen Ölfrüchten gewonnen werden. Bei Siemens werden herkömmliche thermoplastische Polymere zum Bei - spiel für Spezialleuchten, medizintechnische Anwendungen und für Sortierkörbe der Postautomatisierung verwendet. Für Liepold ist der Ersatz dieser Polymere durch Biokunststoffe nur ein konsequenter Schritt in die Zukunft: Als grünes Unternehmen müssen wir auf das Thema Rohstoffe besonderes Augenmerk legen, sagt die Expertin. Rolf Froböse Ressourcenschonendes Wachstum Natürliche Wasserfilter Oase im Betonbecken Wasser ist wertvoll, vor allem in Schwellenländern. Bei Siemens im indischen Kalwa recycelt eine Pflanzenkläranlage die Betriebs- Abwässer. Sie wurde zusammen mit anderen Umweltinitiativen mit dem Umweltpreis Vasundara Award 2011 ausgezeichnet. Wer die neue Kläranlage am Siemens-Produktionsstandort Kalwa nahe Mumbai besichtigt, glaubt in eine Oase geraten zu sein. Zwischen Werkhallen und Asphaltflächen schimmert ein Wassersammelbecken wie ein See: türkis und glasklar. Daneben wächst in kiesgefüllten Becken meterhohes Schilfgras neben rot blühenden Pflanzen. Hier recyceln wir auf rund 1.000 Quadratmetern das gesamte Abwasser aus unseren vier Teilwerken sowie dem Verwaltungsgebäude, berichtet Jeevan Rao, Leiter der Sicherheits- und Umweltabteilung des Siemens-Clusters Südasien. Die neue Pflanzenkläranlage ist ein wichtiger Teil der Siemens-Umweltinitiative, die im Juni mit dem Vasundara Award 2011 ausgezeichnet wurde. Es ist der bedeutendste Umweltpreis des südindischen Staates Maharashtra. Das Wasserrecycling in Kalwa funktioniert wie ein Sumpfgebiet. Statt Hightech befreit ein Team aus Pflanzen und Mikroorganismen das Abwasser von schädlichen Substanzen. Eine Kaskade aus 32 Becken wirkt mechanisch und biologisch zugleich. So halten Kiesel Schwebeteilchen im Wasser zurück wie ein Kaffeefilter das Pulver, während die Pflanzen Sauerstoff produzieren und mit ihren Wurzeln für eine gute Durchlüftung im Kiesgrund sorgen. Hier zerlegen Bakterien organische Substanzen, zum Beispiel Essensreste oder Schmutz vom Händewaschen, zu Kohlendioxid und Wasser. Stickstoffhaltige Verbindungen, etwa Eiweiße oder Harnstoff, werden letztlich in unschädliches Stickstoffgas verwandelt. Am Ende der mehr als 90 Meter langen Waschstraße lagert Wasser, so sauber, dass nicht einmal Mücken Interesse zeigen. Ein Rohrsystem schleust es zum Verwaltungsgebäude von Siemens, in Gartenanlagen und in Toilettenspülungen. Hier beginnt der Kreislauf von neuem. Vorteile der Natur. Die Anlage ist effektiv, kostengünstig und einfach zu warten und sieht auch noch idyllisch aus, betont Rajiv Säuberungs-Oase: Am Siemens-Standort im indischen Kalwa, wo 3000 Mitarbeiter Schaltanlagen und Trafos herstellen, werden die Abwässer rein pflanzlich wiederaufbereitet. Agaskar, Nachhaltigkeits-Beauftragter bei Siemens Real Estate in Indien. Wir können auf diese Weise im Jahr bis zu 12 Millionen Liter Wasser und damit wertvolle Ressourcen sparen. Mit dem natürlichen Wasserrecycling entfallen zudem Frischwasserkosten von bis zu 4.500 Euro jährlich. Und das aus gutem Grund: Der Bau der Anlage hat Agaskar zufolge weniger gekostet als ein vergleichbares technisches Pendant. Weil sich die Technik auf einige wenige Pumpen und Durchflussmesser beschränkt, entfällt darüber hinaus eine kontinuierliche Kontrolle wie in klassischen Kläranlagen. Bei all den Vorteilen verwundert es nicht, dass Pflanzenkläranlagen weltweit immer beliebter werden. Allerdings brauchen sie viel Platz. Für eine Großstadt mit 100.000 Einwohnern müsste eine Fläche von fast 60 Fußballfeldern zur Verfügung stehen. Mangels Steuerung taugt die Methode außerdem nicht für Abwässer, deren Zusammensetzung stark schwankt. Die neue Pflanzenkläranlage in Kalwa recycelt zwei Arten Abwässer, die zunächst getrennt gesammelt und vorbehandelt werden: Der größte Teil stammt aus Toiletten, Waschräumen und der Kantine und wird in einen Klärtank geleitet, wo sich feste, zum Teil übel riechende Feststoffe absetzen. Im Abwasser aus den Siemens-Produktionshallen wiederum stecken vor allem fein verteilte Öltröpfchen, die erst nach einer Vorbehandlung in die Pflanzenkläranlage geleitet werden. Wasser-Recycling nach Maß Die vorgereinigten Abwässer durchströmen dann gemeinsam die Pflanzenkläranlage, berichtet Agaskar. Die Betonbecken der Anlage sind gut einen Meter tief, unterschiedlich groß und abschüssig angelegt. Über Strömungsbleche wird das Wasser so gelenkt, dass es oben in ein Becken hinein- und unten wieder herausströmt. Unsere Anlage reinigt gleichzeitig horizontal und vertikal und mit einer Effizienz von 95 Prozent besser als technische Kläranlagen, die oft nur 90 Prozent erreichen, erklärt der Siemens-Experte. Der Bedarf ist enorm: In Indien leben 16 Prozent der Weltbevölkerung, und doch stehen ihnen nur vier Prozent des Wassers zur Verfügung. Der Grundwasserspiegel sinkt jedes Jahr um vier Zentimeter, berichtet Agaskar. Die dramatische Situation wird sich durch den Klimawandel voraussichtlich noch verschärfen. Natürlich werden Pflanzenkläranlagen allein diese Probleme nicht lösen. Aber jeder Baustein ist wichtig, sind sich Agaskar und Rao einig. Andrea Hoferichter Abwasser ist nie gleich Abwasser. Es kann trübe sein oder klar, organischen Schmutz enthalten, Krankheitserreger oder Schwermetalle. Siemens Water Technologies hält eine ganze Palette an maßgeschneiderten Produkten und Lösungen bereit, um die schädlichen Stoffe zu entfernen und das möglichst energiesparend. Neben den herkömmlichen Methoden sind bei Kommunen und Industrie zunehmend die besonders kompakten und energieeffizienten Technologien gefragt, zum Beispiel das Membran-Bioreaktor-System MemPulse MBR. Durch die winzigen Poren der Membranen schlüpfen nur die kleinen Wassermoleküle Biomasse, Bakterien und selbst Viren bleiben an den Porenwänden haften. Um zu verhindern, dass die Membranporen verstopfen, arbeitet das Siemens-System mit Luftstößen. Im Vergleich zu gängigen Reaktoren, die ihre Membranen kontinuierlich mit Luft durchpusten, senkt das den Strombedarf um mehr als ein Drittel. Das EcoRight MBR System, das derzeit entwickelt wird, ist auf die strengsten Abwasseraufbereitungsrichtlinien ausgerichtet. Das Abwasser aus dem MBR wird in einer Umkehrosmoseanlage weiter gereinigt und schließlich etwa als Kühl- oder Brauchwasser wieder genutzt. Das EcoRight-System wurde schon mit Erfolg in einer Raffinerie der weltgrößten Erdölfördergesellschaft Saudi Aramco bei der Reinigung von Abwasser aus einem Öl-Wassertrenner getestet. Auch die Anforderungen an die Qualität des recycelten Nass können sehr unterschiedlich sein. Einige Industrieanlagen setzen es als Kühlwasser ein, andere als Brauchwasser. Für zusätzliche Reinigung des Wassers, etwa für die Getränke- oder die Halbleiterproduktion, sorgen moderne Kohlenstofffilter, Ionenaustausch-, Destillations- und elektrochemische Technologien, sowie Chlorungsanlagen und UV-Desinfektionssysteme. Eine weitere Neuentwicklung ist das Siemens-System Micro Media Column MMC, das Wasser von Schwermetallen wie Quecksilber und Kupfer befreit. Das belastete Wasser strömt hier von oben nach unten durch eine Säule voller Mikrometer kleiner Teilchen, die die Schwermetalle chemisch binden. Eine Reinigung mit einem solch hohen Durchsatz ist in der Industrie bisher einzigartig zumal das Aufbereitungsergebnis weit über den Vorgaben der derzeitigen Umweltanforderungen liegt. Zu den Anwendungen des Micro Media Column gehören die Abwasserreinigung in der Energieerzeugung sowie die Reinstwasserreinigung in der Öl- und Gasindustrie. Andrea Hoferichter 102 Pictures of the Future Herbst 2011 Pictures of the Future Herbst 2011 103

Lichtermeer: Stromausfälle legten São Paulo im Jahr 2009 für mehrere Stunden lahm. Ein Weg, den wachsenden Energiebedarf zu stillen, ist die Stromerzeugung mithilfe von Zuckerrohr (rechte Seite). Ressourcenschonendes Wachstum Forschung in Brasilien Candido da Silva und zeigt auf eine haushohe Halde mit Bagasse. Wir verfeuern diese Abfälle inzwischen kontrolliert und gewinnen dabei mithilfe von zwei 35-Megawatt-Dampfturbinen Strom, den wir ins Netz einspeisen können. Wir bekommen rund 170 Reais pro Megawattstunde. Das entspricht 80 Euro, ein gutes Geschäft. Die Anfangsinvestition für Anlagen zur Stromerzeugung ließ sich durch die Einnahmen aus dem Stromverkauf binnen zwei Jahren wieder hereinholen. Der Großteil der nötigen technischen Ausstattung, darunter Um - spannstation und Frequenzkonverter, wie auch die Prozessautomatisierung in der Zucker- und Alkohol-Produktion, wurden von Siemens geliefert. Das Unternehmen entwickelte eigens für die Anwendung in Zuckerfabriken eine Dampfturbine in Brasilien nun weithin im Einsatz und brachte sie mit einem Kostenvor- Megacity São Paulo, ergänzt Schaefer. Ein fataler Blackout wegen Überlastung wie 2009 wäre damit so gut wie ausgeschlossen. Nicht weit von Schaefers Büro im Nordwesten São Paulos arbeitet Carlos Tiburcio bei Siemens Energy an einer weiteren Idee, wie sich die Stromnetze in Brasilien und anderen Schwellenländern stabilisieren lassen. Natürlich kann man das Stromnetz einfach erweitern. Aber das braucht seine Zeit und ist sehr teuer, sagt Tiburcio. Seine kostensparende Alternative sind mechanically switched capacitors (MSC), vereinfacht gesprochen ein Schrank voller Kondensatoren, die, sobald sie auf mechanische Weise zu- oder abgeschaltet werden, blitzschnell Energie aufnehmen oder abgeben können Strompuffer also. Diese können schnell Schwankungen ausgleichen, bevor sie die Netzstabilität gefährden. Die ersten MSCs von jektplan aufzusetzen. Und Tiburcio berichtet stolz: Wir werden für diese Lösung das gesamte internationale Geschäft von Brasilien aus managen. Weitere mögliche Märkte für MSCs sind der Mittlere Osten und sogar Nordamerika. Eine erste Bestellung aus dem Ausland ist bereits eingegangen; die MSCs sind eine brasilianische Innovation, die sich erfolgreich dem Weltmarkt stellt. Gefährliche Explosionen. Auch Schaefers Kollegen in Jundiaí, nördlich von São Paulo, arbeiten daran, die brasilianische Energieversorgung effizienter zu machen. Ihre Lösung verlängert die Lebensdauer von Transformatoren und reduziert Wartungskosten. Energieversorger in Brasilien müssen viel Geld für neue Kraftwerke ausgeben. Wenn sie bei den Wartungskosten sparen und die Ausfälle von Transformatoren minimieren können, dann bleibt Zucker, Öl und schlaue Köpfe Brasiliens Energiehunger macht die Ingenieure des Landes erfinderisch: Technische Innovationen erhöhen Effizienz und Stabilität der Energieversorgung. Und machen mithilfe von Siemens unkonventionelle Energiequellen nutzbar, auf den Äckern des Landes und tief unter dem Meeresgrund. Ulisses Candido da Silva junior lässt den Blick schweifen, über das grüne Meer um ihn herum. Wie Wellen steigen die Hügel im Norden des brasilianischen Bundesstaates Paraná an und fallen sanft ab, so weit das Auge reicht. Candido da Silva leitet die Zuckerfabrik Santa Inácio, eine von fünf Produktionsstätten der Gruppe Alto Alegre. Er wischt sich den Schweiß von der Stirn. Die Ernte hat begonnen, bald werden schwere Lastwagen tonnenweise Zuckerrohr liefern, sagt er. Sein Werk wird daraus Rohzucker und Alkohol herstellen, mit dem inzwischen fast alle brasilianischen Autos angetrieben werden. Mehr als die Hälfte der brasilianischen Zuckerrohr-Produktion wird zu Ethanol umgewandelt, der sich dann an den Zapfsäulen des Landes tanken lässt (Pictures of the Future, Frühjahr 2009, S.90). Alto Alegre ist im Familienbesitz, wie viele der Zuckerfabriken Brasiliens. Doch derzeit ändern sich die Dinge schnell, internationale Energieunternehmen kaufen sich in den Markt ein, bauen größere und effizientere Produktionsstätten mit viel Automatisierung und moderner Technik. Candido da Silva zeigt auf die andere Seite des Flusses Paranapanema, der die Bundesstaaten Paraná und São Paulo trennt: Ein paar Kilometer entfernt sind dort die Umrisse einer weiteren Zuckerfabrik zu erkennen. Dieses Werk wurde vor kurzem von einem norwegischen Unternehmen gekauft. Wenn wir nicht wachsen, passiert uns das auch, sagt der Werksleiter von Santa Inácio. Die Frage, ob Treibstoff aus eigens angebauten Energiepflanzen wirklich nachhaltig ist, wird mitunter heiß diskutiert. Fest steht jedenfalls: Nirgends auf der Welt wird derzeit so effizient Biosprit produziert wie in Brasilien wegen der starken Sonneneinstrahlung und effizienter Produktionsmethoden. Zucker allein wird allerdings den wachsenden brasilianischen Energiehunger nicht befriedigen können. Zum Vergleich: Ein US-Amerikaner verbraucht heute mehr als sechsmal so viel Energie wie ein Brasilianer. Sechs Stunden Blackout. Doch Brasilien wird aufholen, denn der Wohlstand und die Ansprüche der wachsenden Mittelschicht der inzwischen die Hälfte der Bevölkerung zugerechnet wird steigen stetig; für Schwellenländer gilt die Faustregel, dass der Energiebedarf jährlich um rund einen Prozentpunkt stärker zunimmt als das Wirtschaftswachstum. Die brasilianische Wirtschaft wuchs 2010 um rund 7,5 Prozent, der Stromverbrauch um knapp acht. Das Stromnetz ist schon jetzt überlastet, und Ausfälle wegen mangelnder Erzeugungskapazität sind keine Seltenheit. 2009 legte ein schwerer Blackout sechs Stunden lang São Paulo lahm, den volkswirtschaftlichen Schaden schätzt Gilberto Schaefer von Siemens Energy in Brasilien auf 2,5 Milliarden US-Dollar. Ein Jahr später gingen an Orten in über acht Bundesstaaten im Nordosten des Landes die Lichter aus. Doch auch beim Kampf gegen die Blackouts können die 333 Zuckerfabriken in São Paulo und Paraná helfen. Indem sie künftig, wie schon heute Santa Inácio, neben Zucker und Alkohol auch Strom produzieren. Die Idee ist ein Musterbeispiel für effiziente Ressourcennutzung. Dies beginnt bereits bei der Zuckerproduktion. In mehreren Schritten wird das Zuckerrohr zerschnitten, geschreddert und zerdrückt; die ausgepressten Hüllen, die Bagasse, waren traditionell Abfall und wurden auf den Werkshöfen unter freiem Himmel verbrannt. Doch diese Zeiten sind vorbei. Wir können es uns nicht länger erlauben, die Zuckerrohrhüllen einfach zu vergeuden, sagt teil von rund 30 Prozent auf den Markt (Pictures of the Future, Frühjahr 2009, S.88). Zuckerkraftwerke für São Paulo. Am nächsten Clou tüfteln Siemens-Ingenieure gerade: der Vernetzung der kleinen Zucker-Biomassekraftwerke zu Clustern, auch virtuelle Kraftwerke genannt. Wenn wir weitere Zuckerfabriken im Bundesstaat São Paulo zu Strom - produzenten machen und ans Netz anschließen, dann ließen sich zusätzlich 4,5 Gigawatt bereitstellen, erklärt Schaefer. Der Gesamtverbrauch von São Paulo beträgt rund 30 Gigawatt. Die Zusammenfassung mehrerer Kraftwerke zu Clustern hat Vorteile. Die meisten der Zuckerfabriken produzieren nämlich nur jeweils rund 30 Megawatt, die Investitionen, die beim Anschluss ans Netz entstehen, wären für sie alleine zu hoch. Verbindet man jedoch benachbarte Produktionsanlagen durch Mini-Grids, fallen die Kosten für den Anschluss der einzelnen Anlage geringer aus. Wenn wir zudem flexible, kleine Gaskraftwerke und kleine Wasserkraftwerke ins Netz einbeziehen, würde das die zusätzliche Kapazität auf fast neun Gigawatt erhöhen und das nahe dem Verbrauchszentrum, der Siemens gingen 2011 nahe Curitiba im Süden Brasiliens in Betrieb. MSCs sind ein gutes Beispiel für die sogenannten SMART-Produkte. Die Abkürzung steht für simple, maintenance friendly, affordable, reliable und timely to market. Produkte, die einfach zu bedienen, wartungsfreundlich, robust und kostengünstig sind also perfekt auf die Bedürfnisse bestimmter Marktsegmente im Einstiegslevel abgestimmt. Diese werden zunehmend in Schwellenländern entwickelt (Pictures of the Future, Frühjahr 2011, S.56). Im Falle der MSCs kommen in Brasilien besonders kostengünstige Kondensatoren zum Einsatz, die auch lokal produziert werden. Mitarbeiter von Corporate Technology in Deutschland halfen, die Kondensatoren für den Einsatz in MSCs zu optimieren: Bei gleicher Größe können sie nun mehr Energie aufnehmen. Die Prototypen wurden in Brasilien gebaut und getestet. Siemens Management Consulting, die Siemens-eigene Unternehmensberatung, half, einen Business- und einen Pro- Siemens-Kunden können ihre Transformatoren jetzt automatisch und rund um die Uhr überwachen lassen. mehr übrig, um beispielsweise in erneuerbare Energien zu investieren, erklärt David Scaquetti von Siemens Energy. Transformatoren gehen selten kaputt, aber wenn etwas schief geht, dann richtig, ergänzt der Ingenieur. Es könne nicht nur zu Netzausfällen kommen, sondern auch zu gefährlichen Explosionen. Statt in festgelegten Wartungsintervallen die einzelnen Transformatoren manuell zu prüfen, können Siemens-Kunden ihre Transformatoren jetzt automatisch und rund um die Uhr überwachen lassen: Temperatur und Leistung sind nur zwei der Messwerte, die übers Internet zu einem Siemens-Server übertragen werden und deren Auswertung zweimal täglich, etwa per E-Mail, an den Kunden weitergeleitet wird. Wir sind Online-Ärzte für Transformatoren, sagt Scaquetti. Wir können Kunden empfehlen, ihre Transformatoren, wenn sie gut in 104 Pictures of the Future Herbst 2011 Pictures of the Future Herbst 2011 105

Schuss sind, länger im Einsatz zu lassen als geplant. Aber wir warnen auch: Wenn ihr jetzt nichts tut, wird es in den nächsten 30 Tagen Probleme geben. Bei über 120 Transformatoren kommt die kostengünstige Monitoring-Lösung inzwischen zum Einsatz. Dass sie ausgerechnet in Brasilien ersonnen wurde, sei kein Zufall, meint Scaquetti: Energieversorger müss - ten hier noch sparsamer wirtschaften als in den USA oder Europa und sie würden daher noch konsequenter alle Möglichkeiten nutzen, die sich bieten, Kosten zu reduzieren natürlich ohne Abstriche bei der Sicherheit. Dass Sparsamkeit im Umgang mit Ressourcen ein Schlüssel für die wirtschaftliche Entwicklung des ganzen Landes sein muss, darin sind sich immer mehr Brasilianer einig. Sustentabilidade Nachhaltigkeit ist beinah ein Modewort geworden, das immer mehr Politiker in den Mund nehmen (Pictures of the Future, Herbst 2010, S.47). Doch gleichzeitig muss Brasilien seit neuen Ölfunden im Jahr 2007 mit einem verführerischen Überfluss umgehen: Allein das Tupi-Ölfeld vor der Küste Rio de Janeiros könnte bis zu acht Milliarden Barrel Öl enthalten. Der Schatz liegt tief vergraben, teils fünf Kilometer unterhalb des Meeresgrunds. Wer zu ihm vordringen will, muss sich durch mehrere Gesteinsschichten und durch eine korrosive Salzschicht bohren. Wiederum ein Fall für erfinderische Ingenieure. Rio de Janeiro entwickelt sich derzeit zu einem globalen Zentrum für die Forschung an Technologien zur Öl-Gewinnung in der Tiefsee mithilfe von Förderanlagen am Meeresgrund (S.109). Siemens eröffnet 2012 ein eigenes Forschungszentrum, das sich auf dieses Gebiet spezialisiert: in Rio de Janeiro, in einem Technologiepark auf der Insel Ilha do Fundão. Prof. Segen Estefen hat hier bereits sein Büro. Er leitet COPPETEC, den privatwirtschaftlichen Arm der Hochschule Universidade Federal do Rio de Janeiro, der unter Ressourcenschonendes Wachstum Interview Innovation beginnt im Kopf Prof. Brito Cruz (55) ist seit 2005 wissenschaftlicher Direktor der FAPESP (Fundação de Amparo à Pesquisa do Estado de São Paulo), einer Innovationsagentur, die Forschung und Entwicklung im brasilianischen Bundesstaat São Paulo fördert. Von 2002 bis 2005 war der Physiker Präsident der angesehenen brasilianischen Universität UNICAMP, an der er auch promoviert hatte. Seinen Bachelor machte er am Instituto Tecnológico de Aeuronáutica. Er arbeitete unter anderem an den AT&T Bell Labs in New Jersey, USA. 2010 wuchs die brasilianische Wirtschaft um 7,5 Prozent. Mit so einem Wachstum könnte Brasilien in 20 Jahren zu den fünf größten Volkswirtschaften der Welt zählen. Heute ist vor allem der Export von Rohstoffen wichtig doch welche Rolle spielen Forschung und Entwicklung für die brasilianische Volkswirtschaft? Brito Cruz: Leider noch eine zu kleine. An den Universitäten leisten wir zwar gute Arbeit so werden pro Jahr an Brasiliens Hochschulen rund 12.000 Promotionen fertiggestellt, zudem erscheinen 30.000 wissenschaftliche Artikel brasilianischer Forscher in internationalen Publikationen. Woran es mangelt, sind wirtschaftlich relevante Innovationen und ihre konsequente Nutzung. Die akademische Welt und die Wirtschaft tauschen sich noch nicht konsequent genug aus und lassen daher ein erhebliches Potenzial brach liegen. Firmen und Universitäten müssen mehr und strukturierter miteinander sprechen. Ozires Silva: Das sehe ich genau so. Innovativ sind wir Brasilianer, kein Zweifel. Sehen Sie sich Industrien wie die erneuerbaren Energien oder den Flugzeugbau an, da leisten wir Arbeit auf Weltklasseniveau. Aber im Großen und Ganzen fällt es uns sehr schwer, Innovation in Produkterfolg zu überführen. Das hat auch mit den Rahmenbedingungen für Unternehmer zu tun. Im Doing Business -Index der Weltbank für das Jahr 2010 liegt Brasilien auf Platz 127 hinter Mosambik und vor Tansania. Es gibt in Brasilien einfach viel zu viele Regeln, Verbote und Pflichten. Geschäftsleute nennen das den custo Brazil, den brasilianischen Aufschlag. Warum ist der Weg von der Idee zum innovativen Produkt so mühselig? Brito Cruz: Das hat mit unserer Geschichte zu tun: Bis in die 1980er-Jahre war es oberstes volkswirtschaftliches Ziel, teure Importe durch lokale Produkte zu ersetzen. Hohe Importzölle und Einfuhrbarrieren verringerten den Wettbewerb und sollten es der heimischen Ware leichter machen. Das verhalf leider auch minderwertigen brasilianischen Produkten zum Erfolg. Kein Rezept für Spitzenqualität und kein Anreiz zur Innovation. In den 1980er-Jahren setzte dann eine Phase großer ökonomischer Un-sicherheit ein: Die Inflation galoppierte. Ein Unternehmen hatte in diesen Jahren mehr davon, einen pfiffigen Buchhalter einzustellen, der den Cash-flow plant, als einen innovativen Ingenieur. Viele Firmen lernen erst langsam, wie wichtig Innovationen sind. Ozires Silva: Es gibt aber auch ganz konkrete Hindernisse: Viele Unternehmer mit einer innovativen Technologie und einem brauchbaren Geschäftsplan haben keinen Zugang zu Kapital. Die extrem hohen Zinsen in Brasilien verschärfen das Problem. Und wer mit einer Geschäftsidee gescheitert ist, der bekommt in Brasilien oft keine zweite Chance. Wer dagegen in den USA einmal gescheitert ist, gilt nicht als gebranntes Kind, vielmehr wird ihm ein Bonus an Erfahrung zugeschrieben. Besonders problematisch ist auch die Einstellung vieler Brasilianer, gerade junger Menschen: Für viele ist es erstrebenswerter, einen angenehmen Job in einem Ministerium zu ergattern, statt ein eigenes Unternehmen zu gründen. Innovation beginnt im Kopf. Haben Sie die Hindernisse für Unternehmer in Brasilien selbst kennengelernt? Ozires Silva: Kürzlich versuchten wir, ein Unternehmen zu gründen, das sich auf Hautcremes und pharmazeutische Produkte aus Naturlatex konzentrieren sollte. Zwei Forscher einer Universität in São Paulo hatten mich 2002 angesprochen und auf besondere, in Latex enthaltene Proteine hingewiesen. Diese können die Hautalterung verzögern und die Wundheilung beschleunigen. Obwohl ich inzwischen mehrere internationale Patente habe, bekommen wir von den Banken kein Geld. Stattdessen müssen meine Freunde und ich unser Erspartes zusammenlegen und mit US-amerikanischen Investoren sprechen. Das größte Hindernis für unser Unternehmen ist der Mangel an Investitionskapital. Brito Cruz: Ich hatte eine kleine Firma, als ich 19 Jahre alt war. Meine Partner und ich waren die ersten kommerziellen Hersteller von Lasern in Brasilien und wir verkauften auch ein paar. Natürlich war das ein Stück weit Bastelei, und als ich studierte, war es vorbei damit. Aber ein eigenes Auto hatte ich mir auf diese Weise verdient. Wer weiß, wäre das wirtschaftliche Klima ein anderes gewesen, hätte ich vielleicht nicht die akademische Laufbahn eingeschlagen, sondern es als Unternehmer probiert. Was kann Brasilien tun, um seine Innovationskraft zu stärken? Brito Cruz: Es gibt sehr konkrete Dinge, die wir tun können: etwa gezielte Subventionen und Steueranreize. Es kann sinnvoll sein, brasilianischen Firmen auf Feldern, in denen sie einen Vorteil haben, durch Subventionen anfangs unter die Arme zu greifen. Ich denke hier zum Beispiel an die kommerzielle Nutzung der Biodiversität in der Amazonasregion, etwa für die pharmazeutische Industrie, oder an innovative Technologien im Zusammenhang mit Biotreibstoffen und für die effizientere Förderung von Offshore-Öl. Das Gleiche gilt für steuerliche Anreize wir sollten es Unternehmen leichter machen, sich für höhere Investitionen in Innovation zu entscheiden. Ozires Silva: Die Luftfahrt-Universität, an der ich studierte, ist ein Beispiel für erfolgreiche staatliche Investitionen in Bildung: Ohne diese Hochschule und ihre Absolventen hätte es Embraer eine der erfolgreichsten brasilianischen Firmen nie gegeben. Aber wir müssen das Übel an der Wurzel packen und die Ausbildung verbessern, von der Grundschule bis zur Universität. So haben wir zu wenige ausländische Professoren und Studenten im Land. Ob Sie es glauben oder nicht, eine Zeit lang war es vielen brasilianischen Hochschulen sogar verboten, ausländische Dozenten zu beschäftigen. Ein Auswuchs der protektionistischen Denkart. Welche Rolle spielen große internationale Unternehmen für Forschung und Entwicklung in Brasilien? Brito Cruz: Ausländische Unternehmen bringen ihre oft stark entwickelte Innovationskultur mit. Sie sind damit ein Vorbild für brasilianische Firmen auch indem sie zeigen, wie sich durch Investitionen in Innovation die Profite steigern lassen. Die Innovationskultur vermittelt sich beispielsweise durch die Zusammenarbeit internationaler Unternehmen mit lokalen Zulieferern oder indem Mitarbeiter ihren Arbeitgeber wechseln und viel informelles Wissen weitertragen. Mehr als die Hälfte der F&E-Ausgaben in Brasilien wird durch internationale Unternehmen wie Siemens getätigt. Ozires Silva: Unser Ziel muss es allerdings sein, selbst innovationsstarke Unternehmen hervorzubringen, die sich auf dem Weltmarkt behaupten. Und zwar nicht, indem sie Rohstoffe aus dem Boden holen und verschiffen. Wir brauchen mehr Wertschöpfung im Land, und das geht nicht ohne Innovation. Welche Industrien könnten nach dem großen Erfolg des Flugzeugbauers Embraer die nächsten brasilianischen Welterfolge hervorbringen? Ozires Silva: Ich würde sagen, die Informationstechnologie und der Gesundheitsbereich. Es wäre schon eine tolle Sache, wenn wir zu diesem Zweck unsere große Biodiversität noch stärker nutzen würden. Wo forscht es sich besser: in São Paulo oder in Rio de Janeiro? Brito Cruz: Rio, wo ich geboren wurde, ist eine der schönsten Städte der Welt. Wir Brasilianer scherzen gern: In Rio geht man zur Arbeit, um darüber nachzudenken, wo man sich nachher vergnügt. In São Paulo denkt man an die Arbeit, während man sich vergnügt. Doch Scherz beiseite: Beides sind starke Innovationsstandorte, die sich ergänzen werden. Das Interview führte Andreas Kleinschmidt. Prof. Ozires Silva (80) ist Rektor von Unimonte, einer renommierten Privatuniversität im Staat São Paulo. Er wirkte an der Gründung von Embraer mit, einem brasilianischen Flugzeugbauer, der sich seit Jahrzehnten erfolgreich am Weltmarkt behauptet. Er war Vorstandsvorsitzender des Energieunternehmens Petrobras sowie der Fluglinie Varig. Darüber hinaus war er brasilianischer Infrastrukturminister. Er studierte Luftfahrt-Ingenieurswesen am Instituto Tecnológico de Aeuronáutica und flog vier Jahre lang als Pilot der brasilianischen Luftwaffe. 106 Pictures of the Future Herbst 2011 Pictures of the Future Herbst 2011 107

anderem Projekte zwischen der Universität und Privatunternehmen ermöglicht; die Hochschule gilt als treibende Kraft hinter dem Technologiepark. Das Öl eröffnet uns einen Weg, sagt Estefen. Aber wir müssen auch die Abzweigungen nehmen. Konkret heißt das: Wir müssen jene Technologien, die mit der Öl-Förderung und Verarbeitung zu tun haben, weiterentwickeln, um daraus eigenständige Zukunftsindustrien aufzubauen zum Beispiel auf den Feldern Materialtechnik, Smart- Grid-Technologien und Robotertechnik. Das Interesse an Parzellen im Park war von Anfang an riesig. Wir haben zehn Prozent der Insel für die Forschungszentren von Unternehmen ausgewiesen, erklärt Maurício Guedes, Direktor des Technologieparks. Alles in allem sind das 350.000 Quadratmeter doch wir hatten schon in kürzester Zeit mehr Interessenten als Platz. Ein Teil des Geländes wird für ein Hochhaus reserviert, in dem kleine, innovative Unternehmen sich einmieten können. Für ein ausreichend diverses Innovationsklima brauchen wir Räume für die kleinen und großen Projekte. Letzteren widmet sich Siemens. In Rio de Janeiro und in ganz Brasilien. Siemens-Zentrum für F&E in Rio. Bis 2016 wird das Unternehmen im Land 600 Millionen US-Dollar investieren. 50 Millionen US-Dollar beträgt allein die Investition in das Siemens- Zentrum in Rio. Mindestens 800 Mitarbeiter werden dort arbeiten. Binnen drei Jahren sollen 150 von ihnen in Forschung und Entwick- Ein Schatz in der Tiefe: Öl-Funde unter dem Meer Ozean Post-salt -Schicht Salz-Schicht Pre-salt -Schicht 0 m 1000 m 2000 m 3000 m 4000 m 5000 m 6000 m 7000 m Bohren mit Köpfchen: Die Ausbeutung unterseeischer Ölfelder in extremer Tiefe, etwa der Tupi-Lagerstätte (oben rechts), erfordert neue Technologien. Petrobras entwickelt sie mit Partnern in Rio (unten rechts). lung tätig sein. Manch einer aus der künftigen Mannschaft ist heute bei Chemtech beschäftigt, einer 100-prozentigen Tochter von Siemens. Chemtech wurde 2009 als das innovativste Unternehmen Brasiliens ausgezeichnet und ist seit vielen Jahren bei Projekten von Petrobras beteiligt (S.111). Chemtech-CEO Daniel Moczydlower erklärt: Wir haben viel Expertise in der Software-Entwicklung, bei der Planung von Raffinerien und bei der Ausrüstung von Offshore-Projekten, zum Beispiel in der Instrumentierung oder dem Monitoring von Ölplattformen. Sein Team wird künftig in einem internationalen Innovationsnetzwerk mit Siemens-Kollegen, etwa in Norwegen und Houston, zusammenarbeiten, um Subsea-Lösungen zu entwickeln (S.108). Die größte Herausforderung vor Ort in Rio dürfte allerdings sein, ausreichend geeignete Arbeitskräfte für die neuen Aufgaben zu finden. Die Gehälter junger Forscher und Ingenieure steigen stetig und betragen in der Privatwirtschaft schon jetzt das Fünffache der Einkommen von Doktoranden. Statt zu promovieren gehen daher viele direkt in Unternehmen. Giovanni Fiorentino, Chairman für Lateinamerika für die Beratungsfirma Bain, beschreibt den Kampf um Talente, der in Rio entbrannt ist, so: Es ist eine große Herausforderung, denn alle suchen die gleiche Ressource. Und er meint damit weder Zucker noch Öl, sondern gut ausgebildete Fachkräfte die vielleicht wertvollste Ressource Brasiliens. Andreas Kleinschmidt Schwarzes Gold: Subsea-Anlagen sind nicht nur sicherer als bisherige Öl- und Gas-Förderverfahren sie sind auch effektiver. So können etwa mehrere Bohrstellen auf einmal genutzt werden. Die Tiefsee ist ein ferner, entrückter Ort. Dunkel ist es dort und kalt. Blinde, bleiche Krebse huschen über den Meeresboden, gespenstisch transparente Fische schweben durchs Wasser. In mehreren Tausend Meter Tiefe herrscht ein enormer Wasserdruck von einigen Hundert bar. Doch langsam wagt sich die Menschheit hinab, denn unter dem Meeresgrund locken große Mengen von Erdöl und Erdgas. Nach Schätzungen der Internationalen Energieagentur wird der Energieverbrauch weltweit bis zum Jahr 2035 noch einmal um mindestens ein Drittel zunehmen, vor allem durch das Wachstum in China und den Schwellenländern. Die regenerativen Energien allein werden diesen Bedarf nicht decken können. So wird die Tiefe in dem Maße interessant, wie die Gas- und Ölreserven an Land schwinden. 2007 wurden weltweit 1,4 Milliarden Tonnen Öl aus dem Meer gefördert, was etwa 37 Prozent der jährlichen Produktion entspricht. Damit ist der Offshore-Anteil schon heute relativ groß. Beim Gas sieht es ähnlich aus. Allerdings erfolgt die Offshore-Förderung meist in relativ flachen Gebieten wie der Nordsee mit einer durchschnittlichen Tiefe von nur knapp 100 Metern. In den vergangenen Jahren Ressourcenschonendes Wachstum Öl- und Gasförderung Die Tiefsee lockt Mit dem wachsenden Bedarf an fossilen Rohstoffen drängen Gas- und Ölfirmen zunehmend in die Tiefsee. Anlagen direkt auf dem Meeresgrund fördern die Energieträger effizienter und sicherer als Bohrinseln. Siemens will dafür zuverlässige Stromversorgungssysteme und Fördertechnik liefern. aber hat sich die Branche immer weiter hinab unter die Meeresoberfläche gewagt. Bislang werden die unterseeischen Lagerstätten zumeist von oben angezapft. Verdichter und Pumpen auf dem Deck der Plattformen und Förderschiffe saugen das Gas und das Öl aus den Lagerstätten, pumpen es über Tausende Meter lange Leitungen vom Grunde herauf, wo es gereinigt und verarbeitet wird. Nach Einschätzung von Experten wäre es allerdings viel lohnender und auch sicherer, die Fördertechnik nicht auf Bohr- und Förderinseln, sondern direkt am Meeresboden zu verankern. Zum einen weil man die Lagerstätten besser ausbeuten kann, wenn Pumpen und Verdichter näher an der Quelle sind das heißt am Meeresboden, und zum anderen kann man dann das Öl-Wasser-Sand-Gemisch bereits vor Ort reinigen und aufbereiten. Zudem kommt man dank der Unterwassertechnik in größeren Arealen mit weniger Fördertechnik aus. Bohrt man von einer Förderinsel aus, ist der Radius, aus dem man fördern kann, beschränkt. Setzte man die Pumpen und Verdichter hingegen an den Meeresgrund, könnte das Öl aus vielen Bohrstellen in weitem Umkreis zu einer gemeinsamen Förderstation, dem sogenannten Christmas-Tree, gepumpt und von dort an die Meeresoberfläche gedrückt werden. Ein solches System würde die Zahl der benötigten Förderstationen und damit die Gefahr von Lecks erheblich reduzieren. Die Verarbeitung von Öl und Gas in der Tiefe erwirtschaftet heute schon gut 20 Milliarden US-Dollar. Bis 2020, schätzt Siemens, könnte sich der Markt verdoppeln. Ein Stromnetz für den Meeresboden. Als Spezialist für Stromversorgung und -transport entwickeln wir derzeit ein komplettes Stromnetz, ein sogenanntes Subsea-Powergrid, mit dem man die Unterwasser-Produktionstechnik versorgen und steuern kann, sagt Atle Strømme, Leiter der Sparte Subsea Solutions bei Siemens Energy. Zudem will Siemens tiefseetaugliche Verdichter liefern. Bei einer solchen Tiefseestromversorgung säßen sämtliche elektrische Anlagen für die Steuerung der Pumpen und Verdichter dicht nebeneinander direkt am Grund. Das macht die Montage und Wartung der Anlage viel einfacher und damit billiger. Zu so einem System gehören vor allem Trans - formatoren, Frequenzumrichter und Schaltanlagen. Noch ist dieses untermeerische Komplettpaket nicht vollständig entwickelt. Zwar hat Siemens bereits einzelne Komponenten für den Unterwassereinsatz geliefert, beispielsweise seit Ende der 1990er-Jahre Transformatoren für den Einsatz in 1000 Meter Tiefe vor der brasilianischen Küste sowie Schaltanlagen für das norwegische Unternehmen Statoil. Doch bislang sind die Stromversorgungssysteme je nach Lage der Vorkommen in aller Regel auf Plattformen oder Stationen an Land verteilt. Nur einzelne Komponenten sitzen am Grunde des Ozeans. Eine kompakte Anlage für den Meeresboden hätte aber deutliche Vorteile. Es genügt eine ein zige Versorgungsleitung, über die Strom in das Gebiet transportiert wird. Die Komponenten werden auf einem gemeinsamen Gerüst am Meeresboden fixiert, sagt Strømmes Kollege Bjørn Einar Brath. So werden sie zentral versorgt und überwacht. Über ein optisches Datenkabel wiederum ließe sich der Betrieb der Subsea-Anlage außerdem von einer Service-Station an Land kontrollieren und steuern. Auch zahl - reiche Überwachungssensoren könnten ihre Daten über die Leitung verschicken. Damit wäre eine permanente Hightech-Überwachung mög - 108 Pictures of the Future Herbst 2011 Pictures of the Future Herbst 2011 109

Druckbeständig: Damit Subsea-Anlagen in der Tiefsee lange funktionieren, bedarf es hoher Ingenieurskunst, etwa mit dem Verdichter STC-ECO (oben) oder einer Kühltechnik des Siemens-Erfinders Wolfgang Zacharias. lich. Und sollten wir doch einmal Komponenten austauschen müssen, dann kommt uns das Konzept der gemeinsamen Plattform zupass, sagt Brath. Tiefseeroboter können dann die einzelnen Komponenten auf dem Standard- Gerüst sicher demontieren. In den nächsten Jahren will Siemens das Subsea-Grid zur Einsatzreife weiterentwickeln. Der erste Praxistest des kompletten Systems soll bis Anfang 2013 erfolgen. Von 2014 an soll es kommerziell verfügbar sein. Bis dahin müssen die einzelnen Komponenten vor allem gegen das Wasser und den enormen Wasserdruck abgedichtet werden. Ein Beispiel ist der Frequenzumrichter, der in einem Kooperationsprojekt mit den Energiekonzernen Statoil und Chevron fit für den Einsatz in der Tiefsee gemacht wird. Dieser versorgt die Ölpumpen oder Gasverdichter mit der richtigen Betriebsspannung. Das Gehäuse des neuen Umrichters wird mit Öl gefüllt, was den enormen Wasserdruck ausgleicht. Bislang ist es üblich, Frequenz umrichter und andere Bauteile an Land in ein Gehäuse einzubauen und dieses dann abzusenken. In geringen Tiefen mag das funktionieren. Bei mehreren Tausend Metern Tiefe aber müsste so ein herkömmlicher luftgefüllter Container besonders groß ausgelegt sein. Der ölgefüllte Frequenzumrichter im kompakten Gehäuse ist da deutlich einfacher zu handhaben. Tiefsee als Markt. Für Siemens ist die Tiefseeproduktion ein Markt der Zukunft. Daher hat das Unternehmen vor wenigen Monaten die mittelständischen Subsea-Spezialfirmen Bennex im norwegischen Bergen und Poseidon in Stavanger gekauft. Bennex stellt seit Jahren elektrische Komponenten, Kabel und Anschlüsse für den Einsatz in großer Tiefe her. Poseidon ist eine auf Subsea-Einsätze spezialisierte Ingenieurfirma, die unter anderem Technik für den Einsatz im Meer umrüstet. Gemeinsam plant man jetzt das Subsea-Grid im Detail. Dabei geht es nicht nur um große Komponenten. In großer Tiefe kommt es auf jedes Detail an. Und damit kennen sich die Experten von Bennex bestens aus. Zu ihrem Portfolio gehören wasserdichte Anschlüsse aus Titan, robuste Stromkabel mit Kupferherz und glasfaserverstärkter Epoxidharz-Ummantelung so wie doppelt gesicherte Kontakte mit Gummidichtung und Edelstahlschutzkappe. Doch nur mit einer Stromversorgung lassen sich keine Rohstoffe fördern. Siemens hat mit dem sogenannten STC-ECO bereits vor einiger Zeit einen Verdichter für den Gastransport hergestellt, der ausgesprochen robust ist. Das Gerät war zunächst für den Einsatz an Land konzipiert worden. Seit 2006 pumpt es Gas aus einem Vorkommen in Holland in das niederländische Versorgungsnetz. Tatsächlich aber bringt die Maschine etwas mit, das sie für den Tiefsee-Einsatz prädestiniert: Sie kommt ohne Dichtungen aus. Anders als bei herkömmli- Der Tiefseeverdichter STC-ECO muss unter Wasser mindestens fünf Jahre lang wartungsfrei funktionieren. chen Verdichtern sitzen der Antriebsmotor und die Verdichtereinheit, in der das Gas komprimiert wird, in einer gemeinsamen Kapsel. Für gewöhnlich ist beides voneinander getrennt. Normalerweise ist der Motor über eine Antriebswelle mit dem Verdichtergehäuse verbunden. An der Stelle, an der die Welle das Gehäuse durchstößt, muss also zuverlässig abgedichtet werden. Der STC-ECO kommt ohne Dichtung aus. Damit eignet er sich hervorragend für die Tiefsee. Unter Wasser kommt es vor allem auf Zuverlässigkeit an, sagt Brath. Einsätze von Spezialschiffen sind teuer. Die Komponenten müssen deshalb nonstop und ohne Störungen arbeiten. Der STC-ECO zum Beispiel ist für einen 24-Stunden-Betrieb ausgelegt und muss für den Einsatz unter Wasser mindestens fünf Jahre lang wartungsfrei funktionieren. Die Maschine in Holland hat das bereits geschafft und noch etwas prädestiniert sie für die Tiefe: Ihre Lager kommen ohne Ölschmierung aus. Das ist wichtig, denn am Meeresgrund ist ein Ölwechsel unmöglich. Stattdessen kommen elektrisch geregelte Magnetlager zum Einsatz, in denen die Welle quasi berührungslos schwebt. Für die Arbeit in der Tiefsee soll die elektrische Regelung der Lager künftig noch zuverlässiger arbeiten. Das gleiche gilt für die zusätzlich installierten Fanglager aus kleinen keramischen Kugeln, die die Welle auffangen, wenn die magnetische Steuerung einmal aussetzt. Auch diese sollen weiter optimiert werden. Das gesamte System wird daher noch harten Belastungstests unterzogen werden, ehe es in der Tiefsee dauerhaft seinen Dienst tun kann. Bis zum Einsatz am Meeresboden werden noch mindestens drei Jahre vergehen. Natürlich ist die Ölförderung in so großen Tiefen teurer als an Land. Doch Subsea-Anlagen, mit denen sich die Gas- und Ölfelder besser nutzen lassen, können den Gewinn steigern und die Kosten reduzieren. Grund genug, in diesem Bereich auch die Forschungsaktivitäten auszubauen. In Singapur und Brasilien gibt es Kooperationen mit staatlichen Forschungseinrichtungen, und in Houston und im norwegischen Trondheim wurden eigens Labors ausgebaut. Dabei geht es keineswegs nur um die Technik, sagt Strømme. Es gibt bislang nur wenige Subsea-Spezialisten unter den Ingenieuren weltweit. Für uns ist deshalb auch die Ausbildung von besonderem Interesse. Tim Schröder Ressourcenschonendes Wachstum Interview Wie ein Wettlauf zum Mond Carlos Tadeu da Costa Fraga (53) leitet seit 2003 in Rio de Janeiro das Forschungs- und Entwicklungszentrum von Petrobras, einem der größten Mineralölkonzerne weltweit mit einem Umsatz von 151 Milliarden US-Dollar im Jahr 2010. Er ist seit rund 30 Jahren für das Unternehmen tätig und verantwortete unter anderem die Förderaktivitäten im Golf von Mexico. Er erwarb an der Universidade Federal do Rio de Janeiro einen Bachelor in Bauingenieurswesen und mehrere Postgraduate Qualifikationen, unter anderem von der London Business School, INSEAD in Fontainebleau, Frankreich, und der Columbia University in New York. Welche Rolle spielen Innovationen bei der Ausbeutung der kürzlich entdeckten Ölfelder vor der Küste Rio de Janeiros? Fraga: Ohne technische Innovation könnten wir einen Großteil des dort lagernden Öls gar nicht fördern. Wir müssen durch kilometerdicke Gesteinsschichten bohren, unter denen wiederum mehrere Kilometer an Salzschichten liegen, durch die wir durch müssen, um an das Öl zu kommen. Daher nennen wir es auch presalt oil das Öl liegt unter der Salzschicht. Wir werden die Fördereinrichtungen dafür tausende Meter unter der Meeresoberfläche installieren. Wir haben also einen erheblichen Anreiz, in Innovationen zu investieren. Eine starke Innovationskultur hatten wir aber schon vor den jüngsten Ölfunden. Wir sind per Gesetz verpflichtet, ein Prozent der Bruttoerlöse großer Ölfelder in Forschung und Entwicklung (F&E) zu investieren. Rückblickend muss ich sagen, das hat uns als Unternehmen gut getan. Kleinere brasilianische Firmen haben aber weniger Möglichkeiten und Anreize, in F&E zu investieren Fraga: Das sehe ich anders, jedenfalls was unsere Zulieferer betrifft: Die mussten schon immer hohen technischen Anforderungen genügen, die zudem im Hinblick auf die pre-salt - Förderung noch anspruchsvoller werden. Wer Petrobras helfen will, dieses Öl zu fördern, ist gezwungen, neue Lösungen zu entwickeln. Zudem verlangt der brasilianische Staat, dass ein hoher Anteil an den Produkten und Dienstleistungen, die wir bei Petrobras nutzen, aus Brasilien stammt. Im Ergebnis bedeutet das: Auch kleinere brasilianische Firmen werden vom anstehenden Ölboom profitieren. Will Brasilien die Ölfelder ganz ohne ausländische Partner erschließen? Fraga: Das geht gar nicht. Petrobras ist der fünftgrößte Energiekonzern der Welt, und die pre-salt -Felder sind riesig. Im Jahr 2020 rechnen wir damit, sechs Millionen Barrel pro Tag zu fördern. Wir brauchen also internationale Partner, die wir mit solchen Größenordnungen nicht überfordern. Langfristiges Ziel ist aber, dass ein immer größerer Anteil der Wertschöpfung in Brasilien selbst stattfindet: von der F&E bis hin zur Fertigung der Ausstattung für die Öl- und Gasfelder. Gibt es Beispiele dafür, wie diese Zusammenarbeit in der Praxis funktioniert? Fraga: Das zeigt sich gerade auf beeindruckende Weise bei uns in Rio de Janeiro, wo sich unser Forschungszentrum befindet. In unmittelbarer Nähe, auf dem Gelände der größten Universität Brasiliens, bauen einige unserer wichtigen internationalen Partner ihre eigenen, erstklassigen F&E-Einrichtungen auf unter anderem Siemens. So können wir gemeinsam mit anderen Unternehmen, aber auch mit brasilianischen Studenten und Forschern der Universitäten zusammenarbeiten. Wie funktioniert die Arbeit mit so vielen unterschiedlichen Partnern? Fraga: Das ist keine kleine Herausforderung. Wir arbeiten ja nicht nur mit unseren Lieferanten an Entwicklungsprojekten. Wir finanzieren auch gemeinsame Projekte mit Universitäten. Teilweise unterstützen wir sogar Forschungsinitiativen, an denen Petrobras gar nicht direkt beteiligt ist. Letztlich bedeutet das, dass wir zum Manager offener Innovationsprozesse werden. Open innovation ist das Schlüsselwort. Jede gute Idee, die von außen kommt, ist uns willkommen. Häufig werden uns die besten Ideen von Leuten angetragen, die nicht einmal in der Öl- und Gas-Industrie tätig sind. Entsteht damit in Rio de Janeiro nicht eine Innovations-Monokultur: Spitzenforschung zur Ausbeutung eines Energieträgers, den viele für ein Auslaufmodell halten? Fraga: Das Gegenteil ist der Fall. Der Ölboom ist eine einmalige Chance, Fähigkeiten zu entwickeln, die auch in anderen Industrien wertvoll sind. Für die Tiefseebohrungen denken wir über kostensparende Laserbohrer nach sowie über neue Materialien für herkömmliche Bohrer. Nanopartikel werden eine Rolle spielen, etwa bei Beschichtungen für Metallrohre. Die hochautomatisierten Fördereinrichtungen am Meeresgrund brauchen Sensoren und Datenmanagementsysteme. Es ist ein bisschen wie beim Wettlauf zum Mond: Die Technologien, die wir jetzt zur Ölförderung entwickeln, werden uns auch in anderen Gebieten weiterbringen. So hilft uns die Forschung an effizienterer Subsea-Förderung, uns auf die Herausforderungen der Zeit nach dem Öl vorzubereiten. Interview: Andreas Kleinschmidt 110 Pictures of the Future Herbst 2011 Pictures of the Future Herbst 2011 111

Grüne Küche: In Indonesien erproben Bauern einen Pflanzenölkocher von BSH, der mit Jatropha-Öl funk tioniert. Den Brennstoff bauen sie selbst an in einem nachhaltig bewirtschafteten Agrarwald. Ressourcenschonendes Wachstum Alternative Pflanzenöl Kochen mit Brechnüssen In Indonesien erprobt BSH Bosch und Siemens Hausgeräte GmbH den weltweit ersten Pflanzenölkocher. Das Gerät soll helfen, die Abholzung der Wälder zu vermindern. nen Schlauch mit einem kleinen Tank verbunden ist. Darin befindet sich Jatropha-Öl, ein geruchloses Pflanzenöl, das aus den Samen des Brechnuss-Strauches gewonnen wird. Seit Mai 2010 baue ich Jatropha an zusammen mit anderen Pflanzen wie Mais und Gewürzen. Auf der gleichen Fläche pflanze ich zudem Bäume, erzählt er. Davor habe ich nur Mais geerntet. Für seinen Verzicht auf Monokulturen und den Umstieg auf das Agro-Forresting, bei dem die Bauern auf ihren Äckern eine Art Agrarwald mit Bäumen und Nutzpflanzen schaffen, zahlt ihm der niederländische Pflanzenöl-Produzent Waterland rund 15 US-Cent pro Kilogramm seiner Jatropha-Nüsse. Liefert er mehr als 50 Kilogramm, bekommt er zwei Liter Jatropha-Öl umsonst, ansonsten kostet ihn der Liter Öl rund 70 Cent das reicht für zwei Wochen. Den Pflanzenölkocher von BSH gab es gratis oben drauf. Insgesamt verdient er 120 Dollar im Monat, bislang bringen Bauern wie Suwarto nur etwa 30 Dollar nach Hause. Das Projekt von Waterland, BSH und der nationalen Forstbehörde soll den Bauern nicht nur mehr Wohlstand bescheren. Es ist auch der Versuch, den Schwund der grünen Lunge zu verringern und Ackerbau, Bevölkerungswachstum sowie Wiederaufforstung unter einen Hut zu bringen. Das Problem: Rund 50 Millionen Menschen kochen in Indonesien mit Holz. Dafür rodet eine Familie pro Jahr durchschnittlich einen Hektar wertvollen Wald und das zumeist illegal nur um Mahlzeiten zu erhitzen. Hier könnte der kleine Kocher eine echte Alternative sein, glaubt Samuel Shiroff, Protos- Projektmanager bei BSH. 25 Liter Pflanzenöl liefern soviel Energie wie 230 Kilo Feuerholz, sagt er. Studien hätten ergeben, dass der illegale Holzeinschlag in Gebieten, in denen Protos genutzt wird, um 90 Prozent gesunken ist. In Konkurrenz zu Nahrungsmitteln würde der Anbau der Ölpflanze nicht stehen. Der Anbau erfolgt hier nur auf speziellen Flächen, die von der Forstbehörde freigegeben wurden, erklärt Shiroff. Zudem wächst Jatropha auch auf Böden, die für den Anbau von Nahrungsmitteln schlecht oder überhaupt nicht geeignet sind. Suwarto hockt vor dem kleinen Kocher. Er füllt ein wenig Spiritus in die Vorheizschale unterhalb des Brenners und zündet ihn an. Nach wenigen Minuten hat der Spiritus das Öl soweit erhitzt, dass es sich in ein brennfähiges Gas-Gemisch verwandelt. Suwarto dreht einen Knopf, und der Öl-Dampf entzündet sich. Aus dem Gerät sprießt eine kräftige, hellblaue Flamme. Heute gibt es Süßkartoffeln, freut er sich und überlässt das Feld seiner Frau. Früher hätten sie mit Holz gekocht, erzählt er. Das hat viel Zeit gekostet und die Hütte verräuchert. Über dem offenen Feuer würden sie jetzt nur noch selten kochen, meist zu größeren Anlässen, wenn der Protos alleine nicht ausreicht. Außerdem sei die Luft besser. Kleiner Allesschlucker. In der Tat enthält der Rauch eines Holzfeuers giftige Stoffe wie Stickoxide, Benzole, Formaldehyd sowie mikrofeine Ruß- und Schwebeteilchen. Die Grenzwerte für diese Teilchen liegen in Europa und den USA bei 50 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft, in Kochhütten werden jedoch bis zu 10.000 Mikrogramm erreicht. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation sterben jedes Jahr mehr als 1,6 Millionen Menschen an der sogenannten Indoor Air Pollution. Mangels Alternati- Suwartos Leben ist arm an Luxus, aber reich an Kontinuität. Jeden Morgen um fünf beginnt sein Arbeitstag in Purwodadi, einem kleinen Dorf in Indonesien. Dann bestellen Bauer Suwarto und seine Frau ihre Felder. Nach zwei Stunden Siesta am Mittag geht es weiter, bis halb sechs Uhr abends, wenn die Tropensonne hinter den Bananenstauden versinkt. Seine Hütte teilt sich der 43-Jährige mit seiner Frau, zwei Kindern, einer Kuh, ein paar Ziegen und Hühnern, die den sauber gestampften Lehmboden von Ungeziefer freihalten. In einer Ecke des Raums steht ein alter Fernseher, daneben das Bett, auf dem die Familie die Nacht verbringt. Von der Decke baumelt eine nackte Glühbirne. Viel ist es nicht, was sich Suwarto leisten kann, doch er lächelt zufrieden denn es war schon einmal wesentlich weniger. Ich habe heute viel mehr Geld übrig als noch vor einem Jahr, freut sich Suwarto. Zu verdanken hat er dies einem unscheinbaren Kocher von Bosch und Siemens Hausgeräte GmbH (BSH) sowie dem Brennstoff, mit dem das Gerät funktioniert. Suwarto weist auf die improvisierte Küche der Familie hinter einer geflochtenen Zwischenwand: ein Hackbrett, ein paar Töpfe und eine alte Feuerstelle. Direkt daneben steht der Kocher Protos, der über eiven setzen aber viele Menschen weiter auf Feuerholz oder verwenden Kerosinkocher, die teuer und buchstäblich brandgefährlich sind. So gewöhnlich der kleine Kocher in Suwartos Küche aussieht, so schwer war er zu entwickeln. Wir haben acht Jahre mit unzähligen Labor- und Feldversuchen gebraucht, um ihn zur Serienreife zu bringen, sagt Horst Kutschera, bei BSH für die Entwicklung zuständig. Protos ist der erste Kocher weltweit, der mit Pflanzenöl funktioniert. Derzeit haben wir 1.200 Geräte in verschiedenen Projekten im Einsatz. Dabei sei man nicht auf Jatropha beschränkt, das Gerät würde auch viele andere Planzenöle und selbst gebrauchtes Frittieröl schlucken. Genau das war die Herausforderung bei der Entwicklung, erklärt Kutschera. Pflanzenöle haben ganz andere Eigenschaften als konventionelle Brennstoffe. Zudem entzünden sie sich nur sehr schwer Jatropha gibt erst ab 260 Grad Celsius ein brennfähiges Gemisch, Kerosin brennt bereits bei 60 Grad. Zusammen mit dem Karlsruher Institut für Technologie mussten die BSH-Ingenieure die ideale Betriebstemperatur herausfinden ist sie zu niedrig, geht der Brenner aus, ist sie zu hoch, bildet das Öl betonharte Ablagerungen. Am besten brennt der Kocher bei 720 bis 800 Grad, erklärt Kutschera. Damit wir diese Energiedichte bekommen, haben wir einen neuen Brenner mit einer speziellen Geometrie entwickelt. Künftig soll der Kocher noch kompakter und effizienter werden derzeit verbraucht er rund ein Viertel Liter pro Stunde und auch die Feldversuche sollen weitergehen. Entscheidend ist, die Bedürfnisse der Menschen vor Ort mitzubekommen, sagt Kutschera. Auch Suwarto hat Pläne für die Zukunft gefasst. Während ein Topf mit Wasser auf dem Kocher brodelt und seine Frau das Essen zubereitet, sinniert der findige Bauer, wie er sein Einkommen künftig weiter erhöhen könnte. Mit dem Gerät könnten wir zusätzliches Essen kochen und es dann verkaufen, schlägt er vor. Seine Frau blickt ihn über die Schulter an. Sie sieht wenig begeistert aus. Florian Martini Ressourcenschonendes Wachstum Auf den Punkt Im Zeitalter von Klimawandel und Ressourcenknappheit sind grüne Lösungen gefragter denn Eco-Care-Matrix: LEUTE: je. Ressourcenschonendes Wachstum ist das Gebot der Stunde, um den ökologischen Fußabdruck dieter.wegener@siemens.com Dr. Dieter Wegener, Industry der Menschheit gering zu halten. (S.78, 83, 84) Umweltrichtlinien: Dr. Wolfgang Bloch, CHR Seit 18 Jahren sorgt eine interne Norm bei Siemens dafür, dass Produkte und Anlagen des Un- Zug-Recycling: wolfgang.bloch@siemens.com ternehmens die Umwelt möglichst wenig belasten. An diesen Umweltrichtlinien müssen sich die walter.struckl@siemens.com Dr. Walter Struckl, Industry Entwickler orientieren. Um herauszufinden, was Produkt-Design Hausgeräte: grün ist und wann grün auch ökonomisch sinnvoll ist, hat Siemens mit der Eco-Care-Matrix ein arno.ruminy@bshg.com Dr. Arno Ruminy, BSH eigenes Prüfverfahren entwickelt. (S.81, 86) Produkt-Design Rotorblätter: Henrik Stiesdal, Energy Wahre Energiespar-Champions sind beispielsweise Waschmaschinen, Wäschetrockner, Kühl- Wärmepumpen: henrik.stiesdal@siemens.com schränke, Geschirrspüler und Herde der BSH Reinhard Imhasly, Industry Bosch und Siemens Hausgeräte GmbH. Bei reinhard.imhasly@siemens.com ihrer Entwicklung rückt immer stärker auch die PLM-Software: Materialeffi zienz in den Mittelpunkt etwa mithilfe der virtuellen 3D-Entwicklung. (S.90) peter.biersack@siemens.com Peter Biersack, Industry Reinhard Belker, Industry Paralleles Arbeiten in 3D und in Echtzeit minimiert auch bei Schaltanlagen, Hochgeschwindig- Gasturbine Irsching: reinhard.belker@siemens.com keitszügen oder Rennwagen Zeitaufwand, Kosten, Energie- und Ressourcenverbrauch. Möglich lothar.balling@siemens.com Lothar Balling, Energy macht das eine einheitliche Software für das Product Lifecycle Management von Siemens. (S.94) willibald.fischer@siemens.com Willibald Fischer, Energy Supply Chain Management: Jede Kette ist nur so stark wie ihr schwächstes Dr. Bernd Müssig, CSCM Glied. Bekommt ein Zulieferer Probleme mit Qualität und Liefertreue, beeinträchtigt das die ganze Knappe Rohstoffe: bernd.muessig@siemens.com Produktionskette. Siemens hat ein Programm aufgelegt, das Lieferanten hilft, ihre Prozesse zu opti- thomas.scheiter@siemens.com Dr. Thomas Scheiter, CT mieren und auch Energie zu sparen. (S.98) Wasserfilter Kalwa: Jeevan Rao, Siemens India Die weltweite Nachfrage nach leistungsfähi - jeevan.rao@siemens.com geren Materialien wächst. Da viele Rohstoffe jedoch zugleich immer knapper werden, arbeiten Bjoern Einar Brath, Energy Subsea: Siemens-Experten an Strategien zur effizienteren bjoern.brath@siemens.com Nutzung, Wiederverwertung und sogar Substitution von Materialien wie beispielsweise den Me- Samuel Shiroff, BSH Pflanzenölkocher: tallen der Seltenen Erden. (S.100) protos@bshg.com Auch weitere Ressourcen drohen knapp zu LINKS: werden. Mit dem wachsenden Bedarf an fossilen Nachhaltigkeit bei Siemens: Roh stoffen drängen Gas- und Ölfirmen daher zunehmend in die Tiefsee. Mit Förderanlagen direkt www.siemens.de/sustainability www.siemens.com/sustainability/de/index.php auf dem Meeresgrund lassen sich die Lagerstätten Global Footprint Network: effizienter und sicherer nutzen als über Bohrinseln. www.footprintnetwork.org Siemens will hier zuverlässige Stromversorgungssysteme und Fördertechnik liefern. (S.108) Formel 1-Team Red Bull Racing: www.redbullracing.com 112 Pictures of the Future Herbst 2011 Pictures of the Future Herbst 2011 113

Pictures of the Future Feedback Pictures of the Future Vorschau Wollen Sie mehr über Siemens und unsere neuesten Entwicklungen erfahren? Wir schicken Ihnen gern weiteres Informationsmaterial. Bitte kreuzen Sie die entsprechende Publikation und die gewünschte Sprache an und schicken Sie die Seite per Fax an +49 (0)9131 9192-591 oder per Post an: Publicis, Publishing, Susan Grünbaum-Süß Postfach 3240, 91050 Er langen, Deutschland oder per E-Mail an publishing-address@publicis.de. Bitte geben Sie als Betreff Pictures of the Future, Herbst 2011 an. Bücher: Zukunft 2050 Wie wir schon heute die Zukunft erfinden ( 17,95) und Innovatoren und Innovationen ( 34,90). Mehr Informationen: www.siemens.de/innovation/zukunft2050 oder über den Buchhandel Hefte der Zeitschrift Pictures of the Future (kostenlos): Pictures of the Future, Frühjahr 2011 (Deutsch, Englisch) Pictures of the Future, Herbst 2010 (Deutsch, Englisch) Pictures of the Future, Frühjahr 2010 (Deutsch, Englisch) Pictures of the Future, Herbst 2009 (Deutsch, Englisch) Pictures of the Future, Frühjahr 2009 (Deutsch, Englisch) Pictures of the Future, Herbst 2008 (Deutsch, Englisch) Pictures of the Future, Special Edition Green Technologies (Englisch) German Green City Index, Umweltanalyse von 12 Großstädten (Deutsch) European Green City Index, Analyse wichtiger Städte Europas (Englisch) US and Canada Green City Index, 27 Städte Nordamerikas (Englisch) Weitere Informationen zu Siemens-Innovationen finden Sie im Internet unter: www.siemens.de/innovation (F&E-Seiten von Siemens) www.siemens.de/innovationnews (wöchentlicher Medienservice) www.siemens.de/pof (Pictures of the Future im Internet, mit Downloads auch in Chinesisch, Französisch, Spanisch, Portugiesisch, Russisch, Türkisch) Pictures of the Future ist nun auch als kostenlose App im App-Store erhältlich. Ich möchte Pictures of the Future kostenlos kennen lernen Ich möchte Pictures of the Future abbestellen Meine Adresse ist nicht korrekt Die Zeitschrift bitte an einen weiteren Interessenten schicken (bitte jeweils ankreuzen und Anschrift eintragen): Titel, Vorname, Nachname Firma Straße, Hausnummer PLZ, Stadt Land Telefonnummer, Fax oder E-Mail Abteilung Die neue Weltwirtschaft Die Welt, so scheint es, dreht sich immer schneller. In Entwicklungs- und Schwellenländern wächst eine Mittelschicht heran, die sich immer mehr leisten will und kann. Produktion und Innovation finden zunehmend in diesen Teilen der Welt statt. Die globalen Strukturen der Wertschöpfung verschieben sich drastisch und schnell. Manch sicher geglaubte Annahme darüber, was Globalisierung in unterschiedlichen Teilen der Welt bedeutet, muss wieder in Frage gestellt werden. Wie werden in der Welt von morgen Logis tik - netzwerke aussehen, wie können Produktionsanlagen in unterschiedlichen Regionen zusammenwirken? Lässt sich der Anspruch an umweltschonendes Wachstum in diesem dynamischen Umfeld einlösen? Fragen, auf die Siemens-Experten versuchen, nachhaltige Antworten zu finden sei es im Hinblick auf industrielle Produktivität, ressourcenschonende Energieerzeugung oder die Infrastruktur für Städte, die sich immer mehr als die entscheidenden Zentren der neuen Weltwirtschaft etablieren. Komplexität beherrschen Neue Technologien erobern weite Bereiche unseres Lebens und erleichtern den Alltag. Doch zugleich wird die Welt komplexer und es wird schwieriger, zu durchschauen, wie sich die Systeme gegenseitig beeinflussen und wie sie bestmöglichst gesteuert werden können. Wie lässt sich Software so schreiben, dass sie zuverlässig, sicher und fehlerfrei funktioniert? Wie kann das Energiesystem ganzer Länder so umgebaut werden, dass viele dezentrale Kleinkraftwerke mit schwankenden Stromeinspeisemengen optimal mit großen, grundlastfähigen Kraftwerken zusammenwirken? Wie müssen in Zukunft Städte organisiert werden, um den Bewohnern gut funktionierende, nachhaltige Infrastrukturen vom Verkehr bis zur Wasserversorgung zur Verfügung stellen zu können? Solche komplexen Systeme zu entwerfen, umzusetzen und zu optimieren gehört zu den schwierigsten Aufgaben für Forscher und Entwickler. Bei Siemens stellen sich Tausende von Ingenieuren dieser Herausforderung: ob bei den einzelnen Sensoren und Motoren, den Simulationswerkzeugen oder der Gesamtsystemplanung und -optimierung. Neue Bausteine für mehr Effizienz Nahezu jedes Produkt, jede Dienstleistung und jeder Prozess lässt sich effizienter gestalten. So gehen trotz großer Effizienzgewinne, die in den vergangenen Jahren erreicht wurden, im Durchschnitt immer noch über 50 Prozent der Primärenergie in Form von Wärme verloren, ob bei der Stromerzeugung, in Industrieprozessen oder im Verkehr. Durch ein intelligentes Abwärme-Management könnten weltweit über ein Fünftel der CO 2 -Emissionen vermieden werden. Auch das Treibhausgas Kohlendioxid könnte kommerziell verstärkt genutzt werden, etwa für Chemikalien, Biosprit oder Biokunststoffe. Und Gebäude, die für 40 Prozent des weltweiten Energieverbrauchs verantwortlich sind, könnten ihren ökologischen Fußabdruck verbessern und sogar selbst Energie produzieren. Weltweit arbeiten Siemens-Wissenschaftler daran, diese Effizienzschätze zu heben mithilfe der Materialforschung ebenso wie mit Simulationen und Optimierung, Bioengineering, vernetzten Sensorsystemen oder der Nutzung von Niedertemperatur-Abwärme. 114 Pictures of the Future Herbst 2011 Pictures of the Future Herbst 2011 115