1 Einleitung Die Fahrzeugdynamik ist ein Teilgebiet der Fahrzeugmechanik, das sich mit den zur Bewegung von straßengebundenen Fahrzeugen notwendigen Bewegungsvorgängen, den diese Bewegungsvorgänge verursachenden Kräften unter Beachtung der zugrundliegenden Naturgesetze befasst. Bezüge zur Fahrdynamik gibt es in vielen Bereichen der Entwicklung von Kraftfahrzeugen, Kraftfahrzeugsystemen und deren Komponenten. 1.1 Aufgabenstellung In diesem Kapitel werden daher im Überblick über Modellierungsverfahren, grundlegende Begriffe der Fahrzeugdynamik und die Einbettung der Fahrzeugdynamik in die Fahrzeugentwicklung gegeben. Der Einsatz von komplexen mathematischen Fahrzeugmodellen zur Simulation und zum Entwurf von Kraftfahrzeugsystemen und Anwendungen, wie z.b. von Fahrdynamikregelungen oder Bremssystemen hat in den letzten Jahren mehr denn je zuvor an Bedeutung gewonnen. Die Gründe dafür sind einerseits wirtschaftlicher Natur: Der Aufwand für Fahrversuche und Messungen steigt mit zunehmender Komplexität der Fahrzeugsysteme und der vorgeschriebenen Erprobungsbedingungen. Dies hat entsprechende Folgen für die Entwicklungsbudgets. Die Kraftfahrzeughersteller und -zulieferer müssen aufgrund des gestiegenen Marktdrucks die Kosten auch in der Entwicklungsphase soweit wie möglich beschränken, indem Prototypen und Versuche durch Simulationen und virtuelle Prototypen ersetzt werden. Andererseits sind viele Gründe auch auf die Technik der neuen Systeme zurückzuführen. Bei diesen Systemen handelt es sich häufig um sogenannte Mechatronische Systeme, s. z.b. (Isermann 2008), deren typischerweise stark erweiterte Funktionalität und optimierte Wertgestaltung auf der funktions- und hardwareorientierten Kombination von mechanischen, elektri- D. Schramm et al., Modellbildung und Simulation der Dynamik von Kraftfahrzeugen, DOI 10.1007/978-3-540-89315-8_1, Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010
8 Einleitung schen und elektronischen Komponenten und Teilsystemen sowie der entsprechenden Betriebs- und Funktionssoftware beruht. Das Zusammenwirken dieser Einzelsysteme, die aus unterschiedlichen technischen Domänen stammen, führt einerseits zu einer sonst nicht erreichbaren Funktionsvielfalt und -qualität und andererseits zu kosteneffizienten Lösungen, indem Mechanik und Elektrik- und Elektronikhardware in Modulen integriert werden. Die Auslegung und Erprobung derartiger Systeme mit ihrer enormen Funktionsvielfalt stellt hohe Anforderungen an Auslegungsmethoden und Erprobungsprogramme und daraus resultierend die Modellierungsund Simulationstechnik: Fahrzeugmodelle sind die Grundlage für die Auslegung und Entwicklung von Fahrzeugsystemen und -komponenten. Fahrmanöver lassen sich unter definierten Randbedingungen beliebig oft und reproduzierbar simulieren. Kritische Fahrmanöver können durch gefahrlose Simulationen ersetzt werden. Die immer kürzer konzipieren Entwicklungszyklen für neue Baureihen erfordern kürzere Entwicklungszeiten. Dies lässt sich nur durch den Einsatz von Simulationen und virtuellen Prototypen erreichen. Aus diesen Anforderungen lassen sich die Anwendungsbereiche der in diesem Buch angewandten Methode der Mehrkörpersysteme (MKS) bei der Fahrzeugentwicklung ableiten: Kinematik und Dynamik des Fahrwerks und der Lenkung. Fahrdynamik des Gesamtfahrzeugs. Fahrkomforts des Gesamtfahrzeugs. Analyse von Unfallvorgängen. Das Ziel ist in jedem Fall eine mathematische Beschreibung der relevanten Bereiche und Funktionen des Fahrzeugs, die für die Konzeption, Entwicklung und Beurteilung der Fahrdynamik flexibel eingesetzt werden kann. Die darauf aufbauende numerische Simulation des Fahrverhaltens hat in jüngster Zeit erheblich an Bedeutung gewonnen. Sie erlaubt eine einfache, rasche und kostengünstige Untersuchung von Fahrvorgängen, ohne dass aufwendige Versuche notwendig werden. Die Simulation ermöglicht die Variation von Parametern oder Anfangsbedingungen in einer Weise, die im Versuch nicht möglich ist. Da aber die Resultate einer numerischen Simulation nur Näherungen darstellen und somit ihre Qualität entschei-
Aufgabenstellung 9 dend von der Exaktheit der Modellierung des Systems und von der Zuverlässigkeit der Systemdaten abhängt, ist ein besonderes Augenmerk auf die Modellbildung zu legen. Das Fahrverhalten von Personenwagen wird von mehreren Faktoren beeinflusst. Eine besonders wichtige Rolle spielt die Führung der Räder, die relativ zum Fahrgestell vorgegebene Bewegungen beschreiben sollen. Durch eine günstige Wahl von geometrischen Parametern bei der Konstruktion einer Radaufhängung wird beispielsweise die Stabilität in der Kurve oder beim Spurwechsel gewährleistet. Die heute eingesetzten Einzelradaufhängungen stellen in der Regel Mehrkörpersysteme mit geschlossenen kinematischen Schleifen dar. Zudem kann das Fahrverhalten durch elastische Lagerungen in den Radaufhängungen gezielt beeinflusst werden. Hierzu gehört zum Beispiel die Längsnachgiebigkeit der Radführung, die durch eine weiche Lagerung des Querlenkers erreicht werden kann. Die komplizierten Systeme und der Wunsch nach einer möglichst genauen Nachbildung der realen Vorgänge machen die Entwicklung eines Simulationsmodells zu einer umfangreichen und anspruchsvollen Aufgabe. Hierbei kommt es insbesondere auf eine effiziente Aufstellung der Gleichungen an, um einerseits den Modellierungsaufwand zu begrenzen und andererseits die für die Simulation benötigte Rechenzeit zu minimieren. Ziel dieses Buches ist es daher, einen effizienten Weg zur Erstellung eines realitätsnahen Simulationsmodells eines Fahrzeugs aufzeigen. Hierzu wird zunächst ein Überblick über die grundlegenden Verfahren der Mechanik und der Mathematik geboten, wobei die topologische Struktur des Fahrzeugs aufbauend auf bereits bekannten Grundlagen, wie dem Verfahren der kinematischen Differentiale und des charakteristischen Gelenkpaares näher beschrieben wird. Darauf aufbauend wird die Modellierung der Teilsysteme und Komponenten Fahrgestell, Radaufhängungen, Reifen, Kraftelemente, und Antriebsstrang und schließlich des Gesamtsystems behandelt.
10 Einleitung 1.1.1 Modellierung technischer Systeme Um das dynamische Verhalten eines realen Prozesses mittels mathematischer Modelle dem Untersuchungsziel entsprechend beschreiben zu können, lassen sich zwei grundsätzlich verschiedene Wege beschreiten: Bei der theoretischen Modellbildung werden mathematische Modelle aus physikalischen Gesetzen abgeleitet. Bei der experimentellen Modellbildung wird eine bestimmte in der Regel ebenfalls mathematisch formulierte Modellstruktur zugrunde gelegt. Auf der Basis dieser Modellstruktur werden dann parametrisierte Modelle durch die Auswertung gemessener Ein- und Ausgangssignale bestimmt. Eine spezielle Ausprägung dieser Methode wird als (Modell-) Identifikation bezeichnet. Dieses Buch befasst sich nahezu ausschließlich mit der theoretischen Modellbildung. Physikalische Parameter werden dabei in der Regel als bekannt oder zumindest schätzbar vorausgesetzt. Typische Quellen für Parameter in der Fahrzeugtechnik sind: CAD-Modelle für Abmessungen, Massen und Trägheitsmomente. Direkte Messung von Massen, Trägheitsmomenten, Feder- und Dämpferkennlinien, ggf. Reibungsparameter. Annahmen, Schätzungen und ggf. Identifikationsverfahren für weitere schwer bestimmbare oder unscharfe Größen. Hierzu gehören insbesondere Reibungseffekte, Elastizitäten in Lagerungen, etc. Berechnung von Parametern und Kennfeldern durch andere Berechnungs- und Simulationsmethoden, wie z.b. die Methode der Finiten Elemente, Methoden zur Berechnung elektrischer und magnetischer Felder, etc. Die Identifikationstechnik wird in diesem Zusammenhang häufig benutzt, um unbekannte oder schwer zu messende Parameter der theoretischen Modelle messtechnisch zu bestimmen. Beispiele hierfür sind Reifenmodelle (Kapitel 7) oder Kennlinien von Kraftelementen (Kapitel 9), wie z.b. Gummilager oder Dämpfer. Ziel der Modellbildung ist es, eine mathematisch-analytische Beschreibung des interessierenden Systems zu erhalten, die es gestattet, die relevanten Aspekte des Systemverhaltens und des Einflusses der Systemkomponenten zu untersuchen, s. Abb. 1.1. Hierbei besteht die Möglichkeit, Modelle unterschiedlicher Komplexität und Aussagekraft zu entwickeln. Je komplexer ein Modell ist, desto genauer lässt sich mit ihm einerseits das
http://www.springer.com/978-3-540-89313-4