WELT- ONLINE Interview mit Anselm Grün "Sich zu verlieben ist etwas Wunderschönes" Von Margita Feldrapp 24. Dezember 2009

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Transkript:

WELT- ONLINE Interview mit Anselm Grün "Sich zu verlieben ist etwas Wunderschönes" Von Margita Feldrapp 24. Dezember 2009 Egal ob Ehemann oder Mönch - beide kennen erotische Gefühle und unerfüllte Sehnsucht. Glücklich ist, wer geniessen und wieder loslassen kann, findet Pater Anselm Grün. Mit ihm sprach Margita Feldrapp. Mönche reden kaum öffentlich über Liebe und Partnerschaft, noch weniger über Sexualität. Wenn sie es tun, sind sie meist in Bedrängnis, müssen sich rechtfertigen, entschuldigen, erklären. Bei Anselm Grün ist das anders. Der katholische Priester hat nichts dagegen, ja sieht es gar mit Wohlwollen, wenn es in seiner Biografie auch um seine erotischen Gefühle geht. Ohne Not. Als junger Benediktinermönch verliebte er sich in eine Ordensschwester. Mehr als eine zarte Berührung habe es nie gegeben, nicht einmal einen Kuss, schreibt sein Biograf Freddy Derwahl. Mit 50 fühlte sich der Pater erneut zu einer Frau hingezogen. Sie war zehn Jahre jünger und fand schließlich einen anderen. Anselm Grün wollte sie aber nicht erobern, hatte keinen sexuellen Kontakt, schreibt Derwahl. DIE WELT: Pater Anselm, was ist geblieben von den Begegnungen? Pater Anselm: Die Sehnsucht nach dem Zusammensein mit einer Frau, die Erinnerung an Umarmungen. Sich zu verlieben ist etwas Wunderschönes. DIE WELT: Nun sind Sie nicht nur Mann, sondern auch Mönch... Pater Anselm: Trotzdem habe ich Träume und Fantasien. Die Frage ist, wie ich damit umgehe. Natürlich kann ich als Mönch nicht heimlich irgendwo eine Liebschaft leben. Verheiratete Paare stehen aber vor dem gleichen Problem. Die spüren auch nicht immer große Gefühle für den eigenen Partner, aber manchmal für einen anderen.

DIE WELT: Das ist aber etwas anderes als das Leben in Keuschheit. Pater Anselm: Keuschheit ist Liebe ohne Gier. Egal, ob Mönch oder Ehepartner, jeder kann sich verlieben. Wenn ich mich in einen Menschen verliebe, entdecke ich an ihm oder ihr Eigenschaften, die ich auch habe, aber nicht auslebe. Es ist die Herausforderung, diese verborgenen Eigenschaften selbst zu leben. Und wenn ich verliebt bin, bringt mich das näher an die Quelle der Liebe. DIE WELT: Was ist die Quelle der Liebe? Pater Anselm: Ich spüre sie, wenn ich die Hände vor meiner Brust kreuze, meditiere. Da spüre ich Geborgenheit, Wärme. DIE WELT: Zuerst einmal die eigene Körperwärme. Pater Anselm: Genau. Die hilft mir, zur Ruhe zu kommen. So komme ich an den Grund der Seele. Und da sind nicht nur Leere und Angst, sondern auch eine Qualität von Barmherzigkeit, eine starke emotionale Kraft, wahre Liebe, Gottes Liebe. DIE WELT: Woher wissen Sie, dass es Gottes Liebe ist, die Sie da spüren? Pater Anselm: Woher weiß ich bei einem Menschen, ob es wirklich Liebe ist? Liebe ist etwas Faszinierendes, nicht fassbar und trotzdem da. DIE WELT: Und was hat die Meditation mit der Liebe zwischen Menschen zu tun? Pater Anselm: Menschliche Zuneigung ist die Erfahrung von Verzauberung und Verletzung, von Erfüllung und Enttäuschung. Man träumt davon, die große Liebe des Lebens zu finden, eine Liebe, die für immer satt macht. Doch egal, wie glücklich eine Beziehung ist: Die Sehnsucht bleibt immer größer als die Erfüllung. Das will mich an den Grund der Seele führen, in der die Quelle der Liebe ist. Platon spricht vom Eros, der alles verbindet. Wenn Paulus von der Liebe spricht, spricht er nicht von der Liebe zu Gott, zu einer Frau oder zum Nächsten, sondern von der Liebe als Qualität des Lebens.

DIE WELT: Weise Worte. Sie klingen aber auch ein wenig nach dem Versuch, sich den Verzicht schönzureden. Pater Anselm: Finden Sie? Wenn ich unterwegs bin, höre ich Radio. Ich wundere mich sehr, was für ein Verständnis von Liebe viele Menschen haben. Sie erwarten absolute Liebe, Halt, Geborgenheit, und dann sind sie unglücklich, weil kein Mann, keine Frau so viel geben kann. Menschliche Gefühle sind wechselhaft. Aber die Liebe ist eine Qualität in mir selbst. Sie gilt nicht nur diesem einen Menschen. Die Liebe macht lebendig, wühlt auf. Sie kann in Kreativität fließen. Oder zu anderen Menschen strömen. DIE WELT: Pater Anselm, mit Verlaub, aber das legt nicht nur karitative und kreative Tätigkeiten nahe. Sie liefern auch eine gute Begründung dafür, es mit der Treue nicht allzu genau zu nehmen. Pater Anselm: Ja, viele sehen das so. Aber auch in der neuen Partnerschaft haben sie nicht die heile Welt, bestenfalls am Anfang. Dann kommt die Sehnsucht nach mehr, das alte Spiel mit Erfüllung und Enttäuschung. Liebe zerbricht an ihren Erwartungen. DIE WELT: Sie haben ein ziemlich pessimistisches Bild von Liebe... Pater Anselm: Realistisch, würde ich sagen. Ich spreche mit sehr vielen Paaren. Wir Ehelosen müssen betrauern, dass wir keinen Partner haben. Verheiratete müssen betrauern, dass sie diesen einen Partner samt all seiner Schwächen haben. Enttäuschung ist aber kein Jammern, sondern ein Akzeptieren, dass man selbst und der Partner begrenzt sind. So geht man durch den Schmerz hindurch und kann dankbar sein für das Schöne, das man erlebt, für die Zärtlichkeit, statt einander anzuklagen. So ähnlich ist es auch für mich als Mönch: Ich nehme das schöne Gefühl des Verliebtseins wahr, betrauere, dass ich es nicht ausleben kann, und dann lasse ich es wieder. Genießen und Lassen, ein Geheimnis des Lebens. DIE WELT: Es mehren sich die Stimmen, dass die katholische Kirche vom Zölibat Abstand nehmen sollte. Wie stehen Sie dazu?

Pater Anselm: Ehelosigkeit ist auch heute lebbar und ist für viele Priester ein guter Weg. Sie zwingt, einen spirituellen Weg zu gehen. Aber es wäre für mich realistischer und ehrlicher, wenn die Kirche verschiedene Zugänge zum Priesteramt zuließe. Und da wäre eben auch der Weg des verheirateten Priesters. Natürlich zeigen die Ehen evangelischer Pfarrer, dass es da neue Probleme gibt. Aber es wäre für mich ehrlicher, beide Wege zuzulassen. Für das Mönchtum steht Ehelosigkeit außer Zweifel. Denn der Mönch ist ja gerade der, der allein lebt und der sich an eine Gemeinschaft bindet. DIE WELT: Sie nannten Genießen und Lassen ein Geheimnis des Lebens. Woran denken Sie noch außer an Liebe? Pater Anselm: An das Alter. Altwerden bedeutet, milder zu werden, die Früchte des Lebens zu genießen. Aber Altwerden bedeutet auch loszulassen. Man darf nicht krampfhaft versuchen, im Mittelpunkt zu stehen. Mir hat neulich eine Frau erzählt, dass ihr Vater mit 75 beim Skifahren immer noch beweisen muss, dass er schneller fährt als die Enkeltochter. Das ist krankhaft. Man hat im Alter eine andere Qualität von Kraft, man muss sich nicht unter Druck setzen. DIE WELT: Eine alternde Gesellschaft muss also nicht zum Totenhaus werden? Pater Anselm: Auf keinen Fall. Senioren tun viel für die Gesellschaft, ohne Geld dafür zu verlangen. Sie sind auch für ihre Enkelkinder wichtig. Sie geben Geborgenheit, ohne wie die Eltern herauszufordern. Beziehungen bekommen im Alter auch eine neue Qualität. Es wächst die Bereitschaft, andere Menschen zu tragen, wenn sie nicht mehr können, die Geduld, die Treue, die Zuverlässigkeit. DIE WELT: "Altwerden ist ein herrlich Ding, wenn man nur nicht verlernt, was Anfangen heißt", sagt der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber... Pater Anselm:... Und das ist vor allem für Männer wichtig. Ich habe den Eindruck, dass Frauen länger in einer inneren Entwicklung sind. Männer neigen dazu zu erstarren. Die meisten identifizieren sich so mit ihrer Arbeit, dass sie nicht mehr klarkommen, wenn sie in Rente gehen.

DIE WELT: Wie schafft man es, immer wieder neu anzufangen? Pater Anselm: Man muss sich fragen, was man noch tun kann, worauf man noch Lust hat. Man muss Dinge suchen, die einen lebendig halten. Und die Gesellschaft muss Wege finden, alte Menschen einzubinden, etwa in Mehrgenerationenhäusern. Altwerden braucht Fantasie. DIE WELT: Man redet heute viel mehr über Depressionen als vor zehn Jahren - nicht nur, wenn sich ein Fußballer das Leben nimmt. Ist das Problem drängender oder sind die Deutschen offener geworden? Pater Anselm: Beides. Natürlich gibt es Tiefendepressionen, die mit Medikamenten behandelt werden müssen. Die leichteren Formen sind positive Hilfeschreie der Seele gegenüber den maßlosen Ansprüchen an sich selbst. C. G. Jung sagt: Die Depression ist eine schwarz gekleidete Dame. Wenn sie an der Tür klopft, dann lass sie eintreten. Sie hat dir Wichtiges zu sagen. DIE WELT: Was denn? Pater Anselm: Zum Beispiel, dass Traurigkeit zum Menschen gehört. Ein Problem unserer Zeit ist, dass wir Trauer und Angst pathologisieren. Wer melancholisch ist, gilt gleich als krank. Im Mittelalter sah man Melancholie als wichtige Quelle der Kreativität. Wir müssen lernen, Traurigkeit wieder zuzulassen. Und wir müssen unsere Wurzeln suchen. Pater Anselm: Mir hat eine Familie erzählt, dass an Weihnachen all die alten Traditionen gefeiert werden, wenn die erwachsenen Kinder nach Hause kommen. Das klingt nostalgisch, aber so spürt man, wo die eigenen Wurzeln sind. Eltern und Großeltern sind Teil der eigenen Lebenskraft. DIE WELT: Warum endet dann die Suche nach weihnachtlicher Idylle in vielen Familien im Desaster?

Pater Anselm: Frieden entsteht nicht, wenn man zusammenklebt. Da wachsen die Aggressionen. Weihnachten braucht ein gutes Maß an Gemeinschaft und Alleinsein. Und man muss die Frage für sich beantworten, wo man selbst seinen Frieden findet. Wenn Weihnachten keine religiöse Grundlage hat, kommen die Gefühle auch nicht. DIE WELT: Sie sind Seelsorger durch und durch. Warum haben Sie sich beim Eintritt ins Kloster ausgerechnet nach Anselm von Canterbury benannt, einem großen Scholastiker? Pater Anselm: Die logische Durchdringung des Glaubens hat Anselm bekannt gemacht. Ihm war aber auch die spirituelle Dimension wichtig, wie mir. Das eine gehört zum anderen. Und Anselm von Canterbury war der liebenswürdigste Mensch seiner Zeit