Kurzgeschichte des Auschwitz-Prozesses



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Transkript:

Kurzgeschichte des Auschwitz-Prozesses Fünfzehn Jahre gingen ins Land der Täter, bis eine deutsche Staatsanwaltschaft erstmals systematische Ermittlungen gegen Angehörige der Lager-SS von Auschwitz einleitete. Obschon die Strafverfolgungsbehörden von Amts wegen (vgl. Strafprozessordnung (StPO) 152) verpflichtet waren, die von Deutschen begangenen Verbrechen aufzuklären, blieben die im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz verübten Massenmorde weitgehend außer Verfolgung. 965.000 Juden, 75.000 Polen, 21.000 Sinti und Roma, 15.000 sowjetische Kriegsgefangene, 15.000 sonstige Häftlinge wurden in Auschwitz ermordet. 1 Von Anfang 1942 bis November 1944, in rund 900 Tagen, kamen ca. 600»Sonderzüge«der Deutschen Reichsbahn in Auschwitz an. Auf der Rampe selektierte die SS, meist Ärzte, die Deportierten. Direkt ins Gas gingen Frauen mit Kindern, Alte und Kranke. 865.000 Juden wurden unmittelbar nach ihrer Ankunft in den Gaskammern ermordet, in Krematorien und Gruben verbrannt. Ins Lager verbracht, nummeriert und tätowiert und zu meist mörderischer Arbeit gezwungen wurden 200.000 Juden. Über die Hälfte der registrierten jüdischen Häftlinge überlebte das Lager nicht. Nach der Auflösung des Vernichtungslagers Auschwitz und seiner 40 Nebenlager im Januar 1945 kamen weitere Zehntausende von Häftlingen auf Todesmärschen oder in Lagern um. 1 Franciszek Piper: Die Zahl der Opfer von Auschwitz. Aufgrund der Quellen und der Erträge der Forschung 1945 bis 1990. Aus dem Polnischen von Jochen August. Oświęcim: Verlag des Staat- lichen Museums Auschwitz-Birkenau, 1993, S. 202.

8000 SS-Angehörige, darunter 200 Frauen (SS-Gefolge), taten von Mai 1940 bis Januar 1945 Dienst in Auschwitz. 2 Die meisten gehörten den Wachkompanien an, Hunderte aber waren Funktionsträger in der Lageradministration und leisteten einen kausalen Beitrag zum Vernichtungsgeschehen. Etwa 800 Auschwitz-Täter wurden in den ersten Jahren nach der Befreiung des Lagers abgeurteilt, nahezu 700 von polnischen Gerichten. 3 Vor deutschen Richtern standen nur 45 Angeklagte. 4 Nicht die Ahndungsbemühungen der Staatsanwaltschaften sondern Überlebende waren es gewesen, die die Ermittlungen im Falle Auschwitz in Gang brachten. Die Vorgeschichte des 1. Frankfurter Auschwitz-Prozesses ist exemplarisch für die justitielle Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in der Bundesrepublik Deutschland der fünfziger Jahre. In aller Deutlichkeit zeigt sie, wie defizitär in der Adenauer-Ära die juristische Verfolgung der NS-Täter gewesen war. Ein wegen Betrugs einsitzender ehemaliger Auschwitz-Häftling zeigte im März 1958 5 bei der Staatsanwaltschaft Stuttgart den vormaligen Angehörigen der Auschwitzer Lagergestapo, Wilhelm Boger, an. Boger lebte unbehelligt in der Nähe der baden-württembergischen Landeshauptstadt. Schleppend nur kamen die Ermittlungen in Gang. Erst der vom Internationalen Auschwitz-Komitee durch seinen Generalsekretär Hermann Langbein (Wien) 6 ausgeübte Druck veranlasste den Stuttgarter Sachbearbeiter, durch die Vernehmung von Zeugen 2 Aleksander Lasik:»Die Verfolgung, Verurteilung und Bestrafung der Mitglieder der SS-Truppe des KL Auschwitz. Verfahren. Fragen zu Schuld und Verantwortung«, in: Hefte von Auschwitz 21, 2000, S. 226 f. 3 Ebd., S. 238. 4 Vgl. C. F. Rüter und D. W. de Mildt, Die westdeutschen Strafverfahren wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945 1997. Eine systematische Verfahrensbeschreibung. Mit Karten und Registern. Amsterdam & Maarssen: APA-Holland University Press / München u.a.: K. G. Saur Verlag, 1998. 5 Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Frankfurt/M. (fortan: StA F), 4 Ks 2/63, Bd. 1, Bl. 1 2R: Schreiben von Adolf Rögner vom 1.3.1958 an StA Stuttgart. 6 Langbein (1912 1995) war nur bis Mitte 1960 Generalsekretär des IAK, Mitte 1961 legte er alle Funktionen im IAK nieder.

allesamt von dem Anzeigeerstatter Adolf Rögner und auch Hermann Langbein benannt Beweismittel herbeizuschaffen. Im Oktober 1958 wurde endlich vom Amtsgericht Stuttgart der Haftbefehl erlassen und Boger in Untersuchungshaft genommen. Im Januar 1959 übergab der Holocaust-Überlebende Emil Wulkan 7 dem Frankfurter Journalisten Thomas Gnielka 8 Auschwitz-Dokumente aus dem Jahr 1942, Schreiben der Auschwitzer Kommandantur sowie des SS- und Polizeigerichts XV in Breslau. In der Korrespondenz 9 waren SS-Männer aufgelistet, die Häftlinge angeblich»auf der Flucht«erschossen hatten, sowie die Namen der getöteten Lagerinsassen. Gnielka erkannte die Bedeutung der Schriftstücke und leitete sie an den hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer (1903 1968) 10 weiter. Zuständig für das in Auschwitz begangene Menschheitsverbrechen war die Frankfurter Staatsanwaltschaft freilich nicht. Um in der Sache tätig werden zu können was die erklärte Absicht des hessischen Generalstaatsanwalts war musste der Bundesgerichtshof (BGH) das Landgericht Frankfurt am Main für zuständig erklären. Mit Beschluss vom 17. April 1959 11 übertrug der BGH auf Antrag der Frankfurter Staatsanwaltschaft die Untersuchung und Entscheidung in der angestrengten Sache gegen Auschwitz-Täter dem Frankfurter Gericht. 7 Siehe die Vernehmung Wulkans (1900 1961) vom 21.4.1959 durch die Sonderkommission der Zentralen Stelle/Ludwigsburg (StA F, 4 Ks 2/63, Bd. 1a, Bl. 24 25). 8 StA F, 4 Ks 2/63, Anlageband Ia, Bl. 72: Schreiben von Thomas Gnielka vom 15.1.1959 an Generalstaatsanwalt Fritz Bauer. 9 Vgl. StA F, 4 Ks 2/63, Anlageband Ia, Bl. 73 80. Es handelte sich um vier Schreiben der Kommandantur KL Auschwitz vom 23.6., 15.8. und 8.10.1942 sowie drei Schreiben des SS- und Polizeigerichts XV Breslau vom 29.6., 20.8. und 27.8.1942. In den Schreiben der Kommandantur von Auschwitz werden 37 SS-Angehörige genannt, die Häftlinge»auf der Flucht«erschossen hatten. 10 Zu Bauer vgl. Fritz Bauer: Die Humanität der Rechtsordnung. Ausgewählte Schriften. Hrsg. Von Joachim Perels und Irmtrud Wojak. Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 1998 und Matthias Meusch: Von der Diktatur zur Demokratie. Fritz Bauer und die Aufarbeitung der NS-Verbrechen in Hessen (1956 1968). Wiesbaden: Historische Kommission Nassau, 2001, 431 S. 11 StA F, 4 Ks 2/63, Bd. 1a, Bl. 15 19: Zuständigkeitsbeschluss des BGH vom 17.4.1959.

Umfangreiche Ermittlungen gegen über 1.200 Beschuldigte wurden eingeleitet, über 1.000 Zeugen (Überlebende und vormalige SS-Angehörige) wurden im Rahmen des Vorverfahrens (Ermittlungssache und gerichtliche Voruntersuchung) vernommen. Als nach vierjähriger intensivster Arbeit der Staatsanwälte Georg Friedrich Vogel und Joachim Kügler sowie des Untersuchungsrichters Heinz Düx 12 die Staatsanwaltschaft die Anklageschrift 13 gegen 24 Angeschuldigte beim Landgericht Frankfurt am Main im April 1963 eingereicht, mit Beschluss des LG Frankfurt am Main vom 7.10.1963 14 das Hauptverfahren eröffnet wurden und sodann Ende Dezember 1963 die Hauptverhandlung gegen nunmehr 22 Angeklagte 15 begann, war die»strafsache gegen Mulka u. a.«(4 Ks 2/63) mehr als nur ein Strafprozess wegen Mordes bzw. wegen Beihilfe zum Mord. Neben dem Nachweis von Tatumfang und Schuld der einzelnen Angeklagten war es das Ziel der Strafverfolger, über die menschheitsgeschichtlich präzedenzlose Massenvernichtung in Auschwitz im Rahmen eines Sammelverfahrens gegen Holocaust-Täter aufzuklären, das Gesamtgeschehen in Auschwitz zum Gegenstand des Verfahrens zu machen. Durch das Verfahren wollten die Ankläger einen Beitrag zur Bildung eines neuen, durch den Nazismus und die»verstrickung«der Tätergeneration so schwer beschädigten Rechtsbewusstseins leisten. Der Auschwitz-Prozess dauerte 20 Monate. Angeklagt waren zwei Adjutanten, ein Schutzhaftlagerführer, drei SS-Ärzte, ein SS-Apotheker, ein Rapportführer, 12 Sowohl die Staatsanwälte als auch der Untersuchungsrichter wurden von Hermann Langbein, vom Direktor des Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau, Kazimierz Smole ń, und dem Be- vollmächtigten des polnischen Justizministers, Jan Sehn (1909 1965), tatkräftig unterstützt. 13 StA F, 4 Ks 2/63, Bd. 78 80, Bl. 14.605 15.304: Schwurgerichtsanklage vom 16.4.1963. 14 StA F, 4 Ks 2/63, Bd. 88, Bl. 17.069 17.103. 15 Der Hauptangeklagte Richard Baer, letzter Kommandant von Auschwitz, war Mitte 1963 in Untersuchungshaft verstorben; das Verfahren gegen den Angeklagten Hans Nierzwicki, Sanitätsdienstgrad in Auschwitz, war aus Krankheitsgründen abgetrennt worden.

Angehörige der Lagergestapo (Politische Abteilung), Sanitätsdienstgrade. Auch ein Funktionshäftling stand vor Gericht. Historiker trugen zu Beginn der Beweisaufnahme umfassende, von der Anklagebehörde in Auftrag gegebene Gutachten 16 vor, stellten die Terrorherrschaft der SS, das KZ-System, die nationalsozialistische Polen- und Vernichtungspolitik sowie die Verbrechen an Angehörigen der Roten Armee (Kommissarbefehl) dar. 360 Zeugen wurden vernommen, darunter 211 Auschwitz-Überlebende und 54 vormalige Angehörige der Auschwitzer SS. Die davongekommenen Opfer konfrontierten die deutsche Gesellschaft mit Taten, die zu verdrängen und zu vergessen die Wohlstandsbürger so erfolgreich bemüht gewesen waren. Täter standen vor einem Schwurgericht (drei Berufsrichter und sechs Laienrichter/Geschworene), die sich nach 1945 umstandslos in das Nachkriegsdeutschland hatten integrieren können. Die Angeklagten leugneten nahezu gänzlich jegliche Beteiligung an den Verbrechen. Den Massenmord in Auschwitz stellten sie allerdings nicht in Abrede, die Massenvernichtung insbesondere von Juden stritten sie keineswegs ab. Eigene Tatbeiträge gestanden sie aber nur selten ein. Hatten sie mitgemacht, dann nur auf Befehl und gezwungenermaßen. Mitverantwortung an den Verbrechen wiesen sie weit von sich. Urkunden (Dokumente), die die individuelle Schuld der Angeklagten hätten beweisen können, gab es in dem Verfahren so gut wie keine. Die Zeugen waren das Beweismittel, auf das sich die Tatrichter in ihrer Schuldfeststellung stützen mussten. Obgleich der Zeitabstand zur Tat ungewöhnlich groß, die Beweisvergänglichkeit mithin genauestens zu berücksichtigen war, konnte sich das Gericht bei seiner»erforschung der Wahrheit«(StPO 244) auf eine Vielzahl von glaubwürdigen, verlässlichen Zeugen stützen. 16 Abgedruckt in: Hans Buchheim, Martin Broszat, Hans-Adolf Jacobsen, Helmut Krausnick: Anatomie des SS-Staates. 2 Bde. Olten u. a. 1965. Der Sachverständige Jürgen Kuczynski (Berlin) wurde gehört, jedoch nach Befragung durch das Gericht abgelehnt.

Das Gericht verurteilte diejenigen Angeklagten, denen unbefohlene, also eigenmächtige, aus niedrigen Beweggründen begangene Tötungen nachgewiesen werden konnte, wegen Mordes zu lebenslangem Zuchthaus. Hofmann, Boger, Kaduk, Klehr, Baretzki und Bednarek wurden wegen Mordes (jeweils in mehreren Fällen), Hofmann, Boger und Kaduk auch wegen gemeinschaftlichen Mordes (jeweils in mehreren Fällen) zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt, Stark ausschließlich wegen gemeinschaftlichen Mordes (in mehreren Fällen) in Anwendung von 105 JGG, da der Anegklagte zur Tatzeit noch unter 21 Jahren gewesen war, zu zehn Jahren Jugendstrafe. Die Morde hatten die Angeklagten (Hofmann, Kaduk, Boger, Klehr, Baretzki und Bednarek) nach Erkenntnis des Gerichts eigenmächtig begangen. Die Beteiligung von Hofmann, Kaduk und Stark an der von der verbrecherischen Staatsführung befohlenen Massenvernichtung von Juden und Sinti und Roma wertete das Gericht auch als Mittäterschaft. Diese drei Angeklagten hatten nach Auffassung des Gerichts die angeordneten Taten als eigene gewollt, sie hatten sich mit den Vernichtungszielen des NS-Regimes identifiziert, hatten mit Täterwillen gehandelt. Die Lager-SS war Teil der Waffen-SS und unterstand nach einer Verordnung aus dem Jahre 1939 der Militärgerichtsbarkeit. Nach dem Militärstrafgesetzbuch ist bei Befehlen in Dienstsachen, die ein Strafgesetz verletzen, der Vorgesetzte zur Verantwortung zu ziehen, nicht der ausführende Befehlsempfänger. Im Falle aber, wenn ein erteilter Befehl ein allgemeines oder militärisches Verbrechen oder Vergehen bezweckt und dem Untergebenen und Befehlsausführenden dies bekannt ist, trifft ihn die Strafe des Teilnehmers. Für die in Auschwitz auf Befehl verübten Verbrechen waren mithin auch die Befehlsausführenden zur Rechenschaft zu ziehen. Die Teilnahme von den (ansonsten wegen eigeninitiativer Tötungen aus niedrigen Beweggründen als Mörder abgeurteilten) Angeklagten Klehr, Boger und Baretzki an auf Befehl durchgeführten Vernichtungsaktionen beurteilte das

Gericht hingegen als Beihilfehandlungen. Nach Würdigung aller Beweise gelangte das Gericht in Bewertung ihrer»inneren Einstellung«zu den Taten, ihrer»willensrichtung«, zu dem Urteil, dass Klehr, Boger und Baretzki im Falle der befohlenen Massenmorde die Taten nicht als eigene, vielmehr als fremde gewollt hatten. Sie hatten dem Gericht zufolge nur mit Gehilfenwillen gehandelt. Die übrigen Angeklagten (Mulka, Höcker, Capesius, Frank, Lucas 17, Dylewski, Broad, Schlage, Scherpe und Hantl) hatten nach Auffassung des Schwurgerichts ausschließlich auf Befehl und ohne eigenen Willen an den Verbrechen mitgewirkt, es verurteilte die Angeklagten in Übereinstimmung mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung 18 als bloße Gehilfen. Die verhängten zeitigen, meist milden Zuchthausstrafen (dreieinviertel bis vierzehn Jahre) waren keine Sühne für ihre Teilnahme an dem vom deutschen Verbrecherstaat angeordneten Völkermord. Einen gerechten Schuldausgleich stellten die milden Strafen nicht dar. Das Rechtsempfinden der Opfer der nationalsozialistischen Verfolgungspolitik und ihrer Angehörigen ist durch das geringe Strafmaß fraglos verletzt worden. Zur Frage der Verbüßung der ergangenen Strafen lassen sich auf der Grundlage nicht vollständig erhaltener Strafvollstreckungsakten folgende Feststellungen treffen: Hofmann (geb. 1906, U-Haft seit 1959, Strafhaft in anderer Sache seit 1962) und Boger (geb. 1906, U-Haft seit Oktober 1958) sind 1973 bzw. 1977 in Strafhaft verstorben. Klehr (geb. 1904, U-Haft seit September 1960) wurde 1988, Kaduk (geb. 1906, U-Haft seit Juli 1959) 1989 entlassen. Klehr verstarb 1988, Kaduk 1997. Baretzki (geb. 1919, U-Haft seit April 1960) beging 1988 in Strafhaft Selbstmord. 17 Das Urteil gegen Lucas hob der BGH mit Urteil vom 20.2.1969 (Az.: 2 StR 280/67, StA F, 4 Ks 2/63, Bd. 128, Bl. 20.761 20.826) auf. In der Neuverhandlung vor dem LG Frankfurt/M. wurde der ehemalige SS-Arzt mit Urteil vom 8.10.1970 (StA F, 4 Ks 2/63, Bd. 128, Bl. 20.959 20.993) freigesprochen. 18 Zur fragwürdigen Gehilfenrechtsprechung der bundesdeutschen Justiz vgl. Kerstin Freudiger: Die juristische Aufarbeitung von NS-Verbrechen. Tübingen: Mohr Siebeck Verlag, 2002.

Bednarek (geb. 1907, U-Haft seit November 1960) ist nach einer Gnadenentscheidung 1975 aus der Haft entlassen worden (Todesdatum unbekannt). Stark (geb. 1921, U-Haft von April 1959 bis Oktober 1963 sowie ab Mai 1964) erhielt 1968 Haftverschonung. Er verstarb im Jahre 1991. Mulka (geb. 1895, U-Haft von November 1960 bis März 1961, Mai bis Dezember 1961, Februar bis Oktober 1964 und ab Dezember 1964) kam wegen Haftunfähigkeit im Jahre 1968 aus der Untersuchungshaft frei und verstarb ein Jahr später. Höcker (geb. 1911, U-Haft ab März 1965) ist 1970 bedingt aus der Strafhaft entlassen worden und 2000 verstorben. Capesius (geb. 1907, U-Haft seit Dezember 1959) wurde 1968 aus der Untersuchungshaft entlassen, Tod im Jahr 1985. Frank (geb. 1903, U-Haft seit Oktober 1964), 1970 aus Strafhaft entlassen, verstarb 1989. Lucas (geb. 1911, U-Haft seit März 1965), März 1968 aus der Untersuchungshaft entlassen, Oktober 1970 vom LG Frankfurt am Main freigesprochen, ist 1994 verstorben. Broad (geb. 1921, U-Haft von April 1959 bis Dezember 1960, November 1964 bis Februar 1966) erlangte 1966, Dylewski (geb. 1916, U-Haft von April bis Mai 1959, Dezember 1960 bis März 1961 und ab Oktober 1964) 1968 die Freiheit. Broad verstarb 1994, Dylewski lebte im Jahr 2004 noch. Schlage (geb. 1903, U-Haft seit April 1964) erhielt 1969 Strafaufschub und verstarb 1977. Scherpe (geb. 1907, U-Haft seit August 1961) und Hantl (geb. 1902, U-Haft seit Mai 1961) wurden am 19. August 1965 nach der Urteilsverkündung auf freien Fuß gesetzt. Hantl verstarb 1984, Scherpe 1997. Die Periode der Verfolgung und Ahndung der NS-Verbrechen ist weitgehend abgeschlossen. Die NSG-Verfahren 19 sind heute Gegenstand der historischen 19 Siehe die Studie von Michael Greve: Der justitielle und rechtspolitische Umgang mit den NS- Gewaltverbrechen in den sechziger Jahren. Frankfurt am Main u. a.: Peter Lang Verlag, 2001.

Forschung. Zieht man Bilanz, so müssen die Anstrengungen der deutschen Justiz, den Holocaust, das deutsche Verbrechen an der Menschheit (Karl Jaspers) auf der Grundlage des zur Tatzeit geltenden Strafrechts (Strafgesetzbuch von 1871) zu ahnden, als gescheitert gelten. Der Bonner Gesetzgeber 20 vermied alle rechtspolitischen Schritte, eine den Verbrechen angemessene Verfolgung der Täter zu ermöglichen. Die höchstrichterliche Judikatur in Karlsruhe erschwerte jegliche Rechtsschöpfung. So konnten auch die Richter im Auschwitz-Prozess Gerechtigkeit nicht walten lassen. Das deutsche Strafrecht und die herrschende Rechtsprechung standen dagegen. Fritz Bauer-Institut, Frankfurt am Main 20 Noch Mitte der sechziger Jahre forderte Karl Jaspers den Gesetzgeber dazu auf, für die neue Art von Verbrechen, die der vergangene Verbrecherstaat verübt hatte, das Strafgesetzbuch zu erweitern, Ausnahmegesetze zur Ahndung der NS-Verbrechen zu erlassen. Vgl. Karl Jaspers: Wohin treibt die Bundesrepublik? München: Piper Verlag, 1966, S. 60 ff.