Thomas von Aquin. In diesem Leben kann ein Mensch nicht restlos glücklich sein. Summe gegen die Heiden [Summa contra gentiles], Buch III, Kapitel 48

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Transkript:

Lieferung 16 Thomas von Aquin In diesem Leben kann ein Mensch nicht restlos glücklich sein Summe gegen die Heiden [Summa contra gentiles], Buch III, Kapitel 48 48. Kapitel DIE LETZTE GLÜCKSELIGKEIT DES MENSCHEN FINDET SICH NICHT IN DIESEM LEBEN Wenn also die letzte menschliche Glückseligkeit, wie oben dargelegt wurde (III 38 ff.), nicht in einer Gotteserkenntnis besteht, durch welche Gott gemeinsam von allen oder mehreren gemäß einer unsicheren Meinung erkannt wird; noch weiterhin in einer Gotteserkenntnis, durch welche er auf dem Wege eines Beweisverfahrens in den betrachtenden Wissenschaften erkannt wird; auch nicht in einer Gotteserkenntnis, in welcher er durch den Glauben erkannt wird, es ist aber nicht möglich, in diesem Leben zu einer höheren Erkenntnis Gottes zu gelangen, so daß er in seiner Wesenheit erkannt werde, oder auch nur so, daß man andere getrennte Substanzen erkenne, so daß aus diesen Gott wie aus größerer Nähe erkannt werden könnte, wie bereits dargelegt wurde (III 4), doch muß in irgendeiner Gotteserkenntnis die letzte Glückseligkeit bestehen, wie vorhin erwiesen wurde (III 37) : dann ist es unmöglich, daß in diesem Leben die äußerste Glückseligkeit des Menschen sei. Ebenso. Das letzte Ziel des Menschen beendet [terminat] sein natürliches Verlangen, so daß er nichts 1. Wie läuft die Logik der Argumentation in diesem Absatz?

2 Thomas von Aquin 2. Unter welcher Bedingung würde das stets wachsende Verlangen eines Menschen nach Erkenntnis aufhören? 3. Warum ist die Tatsache, daß es in diesem Leben Krankheiten und Unglückfälle gibt, ein Hinweis, daß wir in diesem Leben nicht glücklich sein können? 2 3 4 anderes mehr begehrt, wenn er es erreicht hat. Solange er nämlich zu etwas anderem bewegt wird, hat er noch nicht das Ziel erreicht, in dem er ruhen könnte. Es ist aber unmöglich, daß es in diesem Leben soweit kommt. Je mehr nämlich jemand erkennt, desto mehr wächst in ihm das Verlangen nach Erkenntnis, das den Menschen naturgegeben ist, es gäbe denn einen, der alles erkennt. Dies ist in diesem Leben niemandem jemals widerfahren, der nur Mensch war, und kann auch nicht widerfahren, weil wir in diesem Leben die getrennten Substanzen, die ein Höchstmaß von Erkennbarkeit für sich darstellen, nicht erkennen können, wie dargelegt wurde (III 4). Es ist also nicht möglich, daß in diesem Leben die letzte Glückseligkeit des Menschen sei. Zudem. Alles, was zu einem Ziel bewegt wird, verlangt von Natur aus, in diesem Ziel Bestand zu finden [desiderat naturaliter stabiliri] und zu ruhen. Daher kehrt ein Körper von dem Ort, zu dem er von Natur aus bewegt wird, nur durch eine gewaltsame Bewegung zurück, die dem Streben zuwiderläuft. Die Glückseligkeit aber ist das letzte Ziel, das der Mensch von Natur aus begehrt. Das natürliche Verlangen des Menschen geht also darauf, daß er in der Glückseligkeit Bestand finde. Wenn er also nicht zugleich mit der Glückseligkeit unverrückbaren Bestand erlangt, ist er noch nicht glücklich, da sein natürliches Verlangen noch nicht zur Ruhe gekommen ist. Erlangt also jemand die Glückseligkeit, so wird er zugleich auch Bestand und Ruhe erlangen. Daher ist dies die Auf- fassung aller von der Glückseligkeit, daß sie ihrem Begriff nach Bestand fordert; deswegen sagt Aristoteles im ersten Buch der Ethik, daß wir nicht «den Glücklichen für eine Art Chamäleon» halten. In diesem Leben aber gibt es keinen sicheren Bestand. Denn jedem, so glücklich man ihn preisen mag, können Krankheiten und Unglücksfälle zustoßen, durch die er in seinem Tätigsein gehindert wird, welche Tätigkeit es auch sei, in der er seine Glückseligkeit sucht. Es ist also nicht möglich, daß in diesem Leben die letzte Glückseligkeit des Menschen sei. Weiter. Es erscheint unangemessen und unvernünftig, daß die Zeit der Erzeugung einer Sache lang, die Zeit ihres Fortdauerns aber kurz sei. Denn daraus würde folgen, daß der Natur in der überwiegenden Zeit ihr Ziel fehlen würde; wir sehen ja, daß Lebewesen, die kurze Zeit leben, auch nur kurze Zeit zu ihrer

Glückseligkeit nicht in diesem Leben 3 2 3 4 Vervollkommnung haben. Sollte aber die Glückseligkeit in vollkommenem Tätigsein im Sinne einer vollkommenen Tugend, einer geistigen oder sittlichen, bestehen, dann kann sie dem Menschen nur nach einer langdauernden Zeit zukommen. Und dies zeigt sich am ehesten in der Betrachtung, in der die äußerste Glückseligkeit des Menschen gesehen wird, wie aus dem bereits Gesagten erhellt (III 37): denn der Mensch kann kaum im hohen Alter zu vollendeter Betrachtung der Wissenschaften gelangen. Dann aber verbleibt meist nur eine geringe Weile menschlichen Lebens. Es ist also nicht möglich, daß in diesem Leben die letzte Glückseligkeit des Menschen sei. Außerdem. Alle geben zu, daß Glückseligkeit ein vollkommenes Gutes ist, sonst würde sie das Verlangen nicht stillen. Das vollkommene Gute aber entbehrt überhaupt der Beimischung eines Schlechten. So ist das ein vollkommen Weißes, was überhaupt nicht mit Schwarz vermischt ist. Es ist aber nicht möglich, daß der Mensch im Stande dieses Lebens gänzlich frei von Schlechtem ist: nicht nur von körperlichem wie Hunger, Durst, Hitze und Kälte und anderem dieser Art, sondern auch von Schlechtem der Seele. Niemand nämlich findet sich, der nicht zuweilen von ungeordneten Leidenschaften in Unruhe versetzt würde; der nicht irgendwann das Mittelmaß verließe, in dem die Tugend besteht, entweder zum Mehr oder zum Weniger hin; der sich nicht auch einmal in irgend etwas täuschte oder wenigstens etwas nicht wüßte, das er zu wissen verlangt, oder auch nur mit einer unsicheren Meinung auffaßte, wovon er Gewißheit haben wollte. Niemand also in diesem Leben ist glücklich. Zudem. Der Mensch flieht von Natur aus den Tod, und er ist über ihn betrübt, nicht nur in dem Au- genblick, wo er ihn fühlt und flieht, sondern auch, wenn er ihn bedenkt. Daß er aber nicht sterbe, kann der Mensch in diesem Leben nicht erreichen. Es ist also nicht möglich, daß der Mensch in diesem Leben glücklich sei. Weiter. Die letzte Glückseligkeit besteht nicht im Habitus, sondern im Wirken, denn die Habitus sind um der Akte willen da. Es ist aber unmöglich, in diesem Leben ununterbrochen tätig zu sein, welche Tätigkeit es auch sein mag. Unmöglich ist es also, daß der Mensch in diesem Leben völlig glücklich sei. Ebenso. Je mehr etwas begehrt und geliebt ist, de- 4. Warum kann man Glückseligkeit nicht bescheiden definieren und sich mit dem kleinen Glück abfinden?. Schließt Thomas aus dem Wissen über den eigenen Tod, daß die Glückseligkeit nur in Augenblicken zu erleben ist? 6. Was folgert Thomas aus der Tatsache, daß die Seligkeit in diesem Leben nur in Augenblicken, d. h. zeitlich begrenzt, vorkommt?

4 Thomas von Aquin 7. Wieso kommt es, daß gerade die Glückseligkeit die Ursache des größten Leidens ist? 8. Warum ist die Seligkeit, die in diesem Leben möglich ist, von Trauer durchsetzt? 9. Wie beantwortet Thomas das sich auf Aristoteles berufende Gegenargument, nach dem die Glückseligkeit, die einem Menschen wirklich möglich ist, von vornherein keine vollendete sein kann was zur Folge hätte, daß man nicht an einem Leben nach dem Tode festhalten müßte? 2 3 4 sto mehr Schmerz oder Trauer bereitet sein Verlust. Die Glückseligkeit aber wird am meisten begehrt und geliebt. Also zieht ihr Verlust am meisten Trauer nach sich. Sollte aber die letzte Glückseligkeit in diesem Leben sein, so würde sie sicher verloren, wenigstens im Tode. Und es ist nicht gewiß, ob sie bis zum Tode dauern würde, denn in diesem Leben können jedem Menschen Krankheiten zustoßen, durch die er völlig an der Ausübung der Tugend gehindert wird, wie Wahnsinn oder andere solche Leiden, durch die der Gebrauch der Vernunft behindert wird. Immer also wird eine solche Glückseligkeit von Natur aus Trauer in sich haben. Eine vollkommene Glückseligkeit also wird es nicht geben. Es könnte aber jemand einwenden: Da die Glück- seligkeit ein Gutes der geistigen Natur ist, haben vollkommene und wahre Glückseligkeit jene, bei denen sich eine vollkommene geistige Natur findet, nämlich die getrennten Substanzen. Bei den Menschen aber findet sie sich unvollkommen, auf die Weise ei- ner Teilhabe. Zu einer vollen Erkenntnis der Wahrheit nämlich können sie nur durch eine Bewegung des Forschens [per quendam inquisitionis motum] gelangen; und bei dem, was seiner Natur nach am höchsten geistig erkennbar ist, versagen sie gänzlich, wie aus dem bereits Gesagten (III 4) erhellt. Daher kann Glückseligkeit nach ihrem vollkommenen Begriff nicht den Menschen zu eigen sein: gleichwohl haben sie auch in diesem Leben an ihr teil. Und dies scheint auch die Lehre des Aristoteles von der Glückseligkeit gewesen zu sein. Im ersten Buch der Ethik, wo er untersucht, ob Unglück die Glückseligkeit aufhebe, folgert er daher, nachdem er bewiesen hat, daß die Glückseligkeit in den Werken der Tugend [in operibus virtutis] besteht, die das Dauerhafteste in diesem Leben zu sein scheinen, daß jene, die eine solche Vollkommenheit in diesem Leben besitzen, «glückselig als Menschen» seien, die gleichsam nicht schlechthin die Glückseligkeit erlangen, sondern auf menschliche Weise. Es ist aber darzulegen, daß der genannte Einwand die vorausgeschickten Gründe nicht ungültig macht. Denn wenn auch der Mensch in der Ordnung der Natur tiefer steht als die getrennten Substanzen, so steht er doch höher als die unvernünftigen Geschöpfe. Er erreicht also sein letztes Ziel auf eine vollkommenere Weise als jene. Sie aber erreichen ihr letztes Ziel so vollkommen, daß sie nichts anderes begehren: das

Glückseligkeit nicht in diesem Leben 2 3 4 Schwere nämlich ruht, wenn es in seinem Wo (angekommen) ist; auch wenn die Tiere das sinnlich Angenehme genießen, wird ihr natürliches Verlangen gestillt. Um so mehr muß also, wenn der Mensch zu seinem letzten Ziel gelangt ist, sein natürliches Verlangen gestillt werden. Aber dies kann nicht in diesem Leben geschehen. Der Mensch erlangt also nicht in diesem Leben die Glückseligkeit, sofern sie das ihm eigene Ziel ist, wie dargelegt wurde. Notwendig erlangt er es also nach diesem Leben. Zudem. Es ist unmöglich, daß das natürliche Verlangen vergeblich sei: «denn die Natur tut nichts umsonst» (Aristoteles). Es wäre aber ein vergebliches Begehren der Natur, wenn es niemals erfüllt werden könnte. Also ist das natürliche Begehren des Menschen erfüllbar, jedoch nicht in diesem Leben, wie dargelegt wurde. Folglich muß es nach diesem Leben erfüllt werden. Die letzte Glückseligkeit des Menschen liegt also nach diesem Leben. Weiter. Solange etwas auf Vollendung hin in Bewegung ist, ist es noch nicht an seinem letzten Ziel. Aber alle Menschen verhalten sich in der Erkenntnis der Wahrheit immer wie auf Vollendung hin Bewegte und Strebende; denn diejenigen, die nachfolgen, finden etwas über das hinaus, was von Früheren gefunden wurde, wie es auch im 2. Buch der Metaphysik heißt. Die Menschen verhalten sich also in der Erkenntnis der Wahrheit nicht so, als ständen sie am letzten Ziel. Da in der Betrachtung, durch welche die Erkenntnis der Wahrheit gesucht wird, am ehesten die letzte Glückseligkeit des Menschen in diesem Leben zu bestehen scheint, wie es auch Aristoteles selbst im. Buch der Ethik beweist, so kann man unmöglich sagen, daß der Mensch in diesem Leben sein letztes Ziel erreiche. Außerdem. Alles, was in der Potenz ist, strebt in den Akt zu treten. Solange es also nicht gänzlich aktuell [ex toto factum in actu] geworden ist, ist es nicht an seinem letzten Ziel. Unser Verstand aber ist in Potenz, alle Formen der Dinge zu erkennen; er wird in den Akt überführt, wenn er eine von diesen erkennt. Also wird er erst gänzlich aktuell [ex toto in actu] und an seinem letzten Ziel sein, wenn er alles, wenigstens das Materielle hier, erkennt. Aber das kann der Mensch nicht durch die betrachtenden Wissenschaften [scien- tias speculativas] erreichen, durch welche wir in diesem Leben die Wahrheit erkennen. Es ist also nicht. Welche Eigenschaft eines natürlichen Verlangens führt dazu, daß die Erfüllung die vollendete Glückseligkeit gerade nach diesem Leben geschehen muß? 11. Worin scheint die letzte Glückseligkeit des Menschen in diesem Leben zu bestehen? 12. Inwiefern argumentiert Thomas gegen die Lehre des Aristoteles, daß die letzte Glückseligkeit eines Menschen in der Betrachtung der Wahrheit besteht? 13. Warum kann die Vollendung der theoretischen Wissenschaften nicht die letzte Glückseligkeit des Menschen sein?

6 Thomas von Aquin 14. Wie erklärt Thomas die Tatsache, daß Aristoteles annahm, daß der Mensch die Glückseligkeit nicht vollkommen, sondern nur auf menschliche Weise erlange? 2 möglich, daß die letzte Glückseligkeit des Menschen in diesem Leben sei. Aus diesen und ähnlichen Gründen haben Alexander und Averroes behauptet, daß die letzte Glückseligkeit nicht in der menschlichen Erkenntnis liege, welche durch die betrachtenden Wissenschaften geschieht, sondern durch eine unmittelbare Verbindung mit der getrennten Substanz, die, so glaubten sie, dem Menschen in diesem Leben möglich sei (III 42 f.). Weil hingegen Aristoteles einsah, daß es in diesem Leben keine andere Erkenntnis des Menschen gibt als durch die betrachtenden Wissenschaften, nahm er an, daß der Mensch die Glückseligkeit nicht vollkommen, sondern nur auf seine Weise erlange. Es ist hierbei genügend deutlich, in welche große Bedrängnis [angustiam] ihr hervorragender Geist daher geriet. Aus dieser Bedrängnis werden wir befreit werden, wenn wir gemäß den vorausgeschickten Beweisen annehmen, daß der Mensch zur wahren Glückseligkeit nach diesem Leben gelangen kann, da die Seele des Menschen unsterbliches Sein hat [anima hominis immortali existente], und daß die Seele in diesem Zustand [nach dem leiblichen Tode] auf die Weise erkennen wird, auf welche die getrennten Substanzen erkennen, wie im 2. Buch dieses Werkes (II 81) dargelegt worden ist. Es wird also die letzte Glückseligkeit des Menschen in der Erkenntnis Gottes bestehen, die der menschliche Geist nach diesem Leben auf jene Weise hat, nach der die getrennten Substanzen ihn erkennen. Deswegen verspricht der Herr uns Mt, 12 «Lohn im Himmel» und sagt Mt 22,, daß die Heiligen «sein werden wie die Engel», die Gott «im Himmel immer schauen», wie es Mt 18, heißt.