Predigt am Karfreitag (18.04.2014), Dreifaltigkeitskirche Bobingen Pfarrer Peter Lukas Liebe Gemeinde! Dies wird eine Predigt für alle Unscheinbaren. Eine Predigt für alle, die zu wenig Beachtung finden. Für alle, die das Leben grau und resignativ gemacht hat, die sich still durch ihr Leben mogeln. Dies wird eine Predigt für alle, die sich selber hässlich finden oder unter den Blicken der anderen zu leiden haben. Für alle, die sich für ihr Aussehen oder ihre Lebens-Verhältnisse schämen, die sich am liebsten verkriechen möchten. Es wird auch eine Predigt für alle, die nicht mehr so mit können wie früher. Für alle, die eine schlimme Krankheit lähmt und manchmal vom Leben ausschließt. Für alle, die Schmerzen haben und sich nicht trauen, davon zu reden. Für alle, die sich irgendwie von Gott bestraft fühlen. Es wird eine Predigt für alle, die sich verlaufen haben im eigenen Leben. Für alle, die ganz viel bedauern, was gewesen ist / was sie selber gemacht haben - und es nun nicht mehr rückgängig machen können. Für alle Unzufriedenen, Abgehetzten, müde Gewordenen, für alle Versager und alle Schuldigen. Und schließlich wird es eine Predigt für alle, die geduldig und auf bewundernswerte Weise ihr Schicksal ertragen, das nicht zu ändern ist. Und für alle, die sich aufopfern für ihre Mitmenschen und dabei manchmal fast verzehren. Eine Predigt für alle Selbstlosen und grenzenlos Liebevollen. Mit anderen Worten: Es wird eine Predigt für alle, die nicht dem entsprechen, was die Gesellschaft im stillen Konsens zum Ideal des Menschseins und eines gelingenden Lebens erklärt hat. Ein Abend mit der Fernbedienung oder ein Blick in die entsprechenden Zeitungen bestätigt dies auf beeindruckende Weise. Diese Predigt halte nicht eigentlich ich. Sie hält der Prophet Jesaja, der von einem Menschen erzählt - oder ist es mehr als ein Mensch - der all das auf sich vereinte, was wir am liebsten gar nicht kennen und weit von uns weisen. Es ist das letzte und zugleich tiefste seiner Gottesknechtslieder: Aber wer glaubt dem, was uns verkündet wurde, und wem ist der Arm des HERRN offenbart? 2 Er schoss auf vor ihm wie ein Reis und wie eine Wurzel aus dürrem Erdreich. Er hatte keine Gestalt und Hoheit. Wir sahen ihn, aber da war keine 1
Gestalt, die uns gefallen hätte. 3 Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet. 4 Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. 5 Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt. 6 Wir gingen alle in die Irre wie Schafe, ein jeder sah auf seinen Weg. Aber der HERR warf unser aller Sünde auf ihn. 7 Als er gemartert ward, litt er doch willig und tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird; und wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer, tat er seinen Mund nicht auf. 8 Er ist aus Angst und Gericht hinweggenommen. Wer aber kann sein Geschick ermessen? Denn er ist aus dem Lande der Lebendigen weggerissen, da er für die Missetat meines Volks geplagt war. 9 Und man gab ihm sein Grab bei Gottlosen und bei Übeltätern, als er gestorben war, wiewohl er niemand Unrecht getan hat und kein Betrug in seinem Munde gewesen ist. 10 So wollte ihn der HERR zerschlagen mit Krankheit. Wenn er sein Leben zum Schuldopfer gegeben hat, wird er Nachkommen haben und in die Länge leben, und des HERRN Plan wird durch seine Hand gelingen. 11 Weil seine Seele sich abgemüht hat, wird er das Licht schauen und die Fülle haben. Und durch seine Erkenntnis wird er, mein Knecht, der Gerechte, den Vielen Gerechtigkeit schaffen; denn er trägt ihre Sünden. 12 Darum will ich ihm die Vielen zur Beute geben und er soll die Starken zum Raube haben, dafür dass er sein Leben in den Tod gegeben hat und den Übeltätern gleichgerechnet ist und er die Sünde der Vielen getragen hat und für die Übeltäter gebeten. Jesajas Worte erreichen die Menschen aus dem Volk Israel in einer Zeit, in der Hoffnung für sie ein Fremdwort ist: Im Sande verlaufen hat sich die einst so große Geschichte ihres Volkes. Und, wer im Volk ehrlich ist, weiß, dass diese Geschichte nur zum kleinen Teil eine glorreiche Erfolgsgeschichte war; zum viel größeren Teil aber eine Geschichte von Überheblichkeit, Fehlern, Schuld und Gottvergessenheit. - Fern ist die Erinnerung an bessere Zeiten. Fern ist die Heimat im Exil. Und die Sehnsucht der Menschen damals sehnt sich wie selbstverständlich nach dem, was die anderen Völker haben und Israel nicht mehr: Nach Reichtum, nach Macht, nach einem König. Und im Privaten: Nach Gesundheit und Wohlstand, nach Arbeit, die gut bezahlt 2
wird, nach einem eigenen Haus im eigenen Land, mit Garten, in dem die Kinder spielen können, nach einer sicheren Zukunft für die Familie... Wir Menschen sehnen uns, wenn es uns schlecht geht, immer nach dem Gegenteil der momentanen Erfahrung / nach einem Ideal, ob es das in Wirklichkeit geben kann, oder nicht: Die Kranken sehnen sich nach totaler Heilung. Die vermeintlich Hässlichen sehnen sich nach perfekter Schönheit. Die Armen sehnen sich nach Reichtum. Die Einsamen sehnen sich nach Gemeinschaft. Die Unsicheren sehnen nach absolutem Selbstvertrauen... Der Prophet Jesaja aber macht da nicht mit! Er stellt den Menschen in Israel und auch uns heute einen Hoffnungsträger vor Augen, der so ganz anders ist, als wir uns Hoffnung vorstellen. Einer, der dort anknüpft, wo wir am liebsten gar nicht anknüpfen wollen, an unsere Schattenseiten / unsere Ängsten / unsere bitteren Erfahrungen / unser Versagen. Einer, der so ist, wie wir gar nicht sein wollen! Doch genau darin liegt sein Trost und seine Hoffnung für uns! Die Frage ist nur, ob wir das sehen können, und annehmen und glauben? Ich nehme fast an, das Volk Israel konnte mit Jesajas Botschaft vom leidenden Gottesknecht damals nur wenig anfangen. Ja, manche haben sich und ihre Erfahrungen ganz bestimmt in Jesajas Worten wiedererkannt. Manche Theologen haben den Gottesknecht sogar auf das Volk Israel hin gedeutet. Aber aus dem eigenen Leiden Hoffnung ziehen, wie sollte das gehen? Nein, Jesaja spricht hier von einem, der für die Anderen leidet. Und genau in diesem für die Anderen liegen der Sinn und die Hoffnung. Aber wieder. Wie soll man das Glauben, dass im Leiden eines Menschen die Hoffnung für Alle liegt? Sind Jesajas Worte nicht einfach nur Worte, fern jeder Wirklichkeit? Nein, liebe Gemeinde, zumindest für uns heute nicht: Der Blick auf den Gekreuzigten, dessen Tod am Kreuz unter den Römern eine historisch feststellbare Realität ist, müsste uns Jesajas Worte ganz anders hören lassen. Aber nicht deswegen, weil wir auf den leidenden Gekreuzigten blicken, sondern deswegen, weil wir von Ostern herkommen! Es gäbe diese Kirche in Bobingen nicht, es gäbe uns Christen auf der ganzen Welt nicht. Keiner von uns wäre getauft, wenn es Ostern nicht gegeben hätte. Wenn dieser Gekreuzigte nicht auferstanden wäre am Ostermorgen. Der Blick auf den Gekreuzigten ist nur auszuhalten, weil die neue Osterkerze schon in der Sakristei steht und darauf wartet, in der Osternacht entzündet zu werden. 3
Erst von Ostern her gesehen, bekommt das Leiden des Gottesknechtes Jesus von Nazareth seinen Sinn und seine tiefe Bedeutung. Erst am Ostermorgen können wir richtig verstehen, dass dies alles für uns geschehen ist. Aber können wir das wirklich begreifen und glauben? Nein, nicht einfach so! Nur dann, wenn wir uns verabschieden von Hoffnungen und Sehnsüchten, die wir zu brauchen meinen und die uns doch den Blick für das Hauptsächliche verstellen: Die Gestalt des Gerichteten und Gekreuzigten bleibt einer Welt, in der der Erfolg das Maß und Rechtfertigung aller Dinge ist, fremd und im besten Fall bemitleidenswert... Die Gestalt des Gekreuzigten setzt alles am Erfolg ausgerichtete Denken außer Kraft, schreibt Dietrich Bonhoeffer. Sie haben es sicher gelesen unter dem Lied, das wir eben gesungen haben. Genau das ist es, liebe Gemeinde! Der gekreuzigte Christus lässt uns unser menschliches Leben in einem anderen Licht sehen. Er bewertet unser Leben neu. Aber diese Neubewertung hat zwei Seiten: Eine schonungslos ehrliche und darum für uns alle bittere Seite. In den tieftraurigen Augen des Sterbenden am Kreuz von Golgatha spiegeln wir uns selbst. Dort können wir über uns lesen, was wir so ungern lesen wollen: Wo wir enttäuscht haben andere oder uns selbst. Wo wir versagt haben - Menschen oder Gott gegenüber. Wo wir groß getönt haben - und nichts getan. Wo wir vieles versucht haben - und doch gescheitert sind. Wo wir den leichten Weg vorgezogen haben - und andere Menschen dabei auf der Strecke geblieben sind. Wo wir nur uns gesehen haben - und das Leid der anderen war uns egal. Kurz: Du bist Schuld daran, Mensch! Das war die protestantische Botschaft des Karfreitags über Jahrhunderte hinweg: Ein zutiefst ernster Gottesdienst in schwarzen Anzügen, die Beichte, das Urteil über den Sünder Mensch, ein dunkler Tag! Noch heute kommen deswegen manche Menschen nicht am Karfreitag. Weihnachten ist definitiv besser besucht! Aber und das wird oft vergessen da gibt es ja noch das zweite, was wir in den Augen Jesu lesen können: Ja, Mensch, Du bist schuldig, aber ich habe dich trotzdem und immer noch und immer wieder lieb und ich will dir vergeben und dir eine gute Zukunft schenken! Darum siehst Du mich hier am Kreuz hängen und leiden. Weil ich dir zuliebe aushalte, für dich! Damit Du begreifst, dass Du niemals alleine bleibst, nicht im Leben, nicht im Sterben, nicht im Tod und nicht danach, niemals! Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt. 4
Ich habe eine Predigt versprochen für die, die am Rande des Lebens stehen. Für sie fehlt - neben der Schuld und der Vergebung - noch ein wichtiger Aspekt des Karfreitags. Wie oft sagen Kritiker des Christentums: Wenn Gott schon so viel Macht hat, wie ihr behauptet, warum konnte er sie dann nicht anders erweisen als durch den grausamen Tod des unschuldig leidenden Sohnes am Kreuz? Die Antwort auf diese Frage geben die Menschen, die Momente seines Leidens aus dem eigenen Leben kennen. Menschen, die wissen, wie es ist, verspottet und verachtet zu werden. Menschen, die schuldlos leiden. Menschen, die Schmerzen ertragen müssen physisch oder psychisch, die sie kaum aushalten können. Menschen, für die das Sterben zum Kampf wird... Jesus geht seinen Weg, um ihren Weg zu gehen. Er geht seinen Weg, um diesen Menschen zu zeigen, dass er ganz genau weiß, was sie durchmachen müssen, dass er bei ihnen ist, auch in der tiefsten Tiefe und Hoffnungslosigkeit: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Und so, wie Jesus den Weg der Verachteten, der Unschuldigen, der Leidenden und der Sterbenden mitgeht, so nimmt er sie alle mit auf seinen Weg. Und dieser Weg endet nicht in der Dunkelheit, sondern im Licht des Ostermorgens. Sein Weg und ihr Weg endet nicht in der Unterwelt, sondern im Himmel, in der Ewigkeit Gottes. Weil seine Seele sich abgemüht hat, wird er das Licht schauen und die Fülle haben. Und durch seine Erkenntnis wird er, mein Knecht, der Gerechte, den Vielen Gerechtigkeit schaffen; denn er trägt ihre Sünden. Das, liebe Gemeinde, ist die zunächst so erschreckende und dann so tröstliche Botschaft des Karfreitags: Gottes Liebe zu uns Menschen bleibt: Durch das Leiden hindurch, durch die Sünde hindurch und am Ende auch durch den Tod hindurch! Eine unglaubliche Liebesbotschaft Gottes an uns alle: Aber zugleich ein Auftrag: Lasst die Menschen nicht alleine, die an ihrem Leben leiden. Setzt euch ein für die Kranken, die Schwachen, die ungerecht Behandelten! Überdenkt euer eigenes Leben und lebt es niemals auf Kosten anderer, sondern zu ihren Gunsten! Hört auf, Andere ins Abseits zu stellen! Lebt jeden Tag aus der grenzenlosen Liebe, die euch von Jesus Christus am Kreuz geschenkt worden ist. Lebt jeden Tag aus der Hoffnung auf seine Vergebung und seinen Trost! Amen! 5