ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE, SWR2 DIE BUCHKRITIK Daniel Pennac: Der Körper meines Lebens. Aus dem Französischen von Eveline Passet. Kiepenheuer & Witsch Verlag 442 Seiten 22,99 Euro Rezension von Dina Netz Dienstag, 24.Juni.2014 (14:55 15:00 Uhr)
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Von Dina Netz Die Familie Malaussène, das war ein durchgeknallter Haufen Geschwister, die im Pariser Stadtteil Belville wohnten. Sie gerieten immer wieder in abstrusen Kriminalfällen unter Verdacht, mit denen sie gar nichts zu tun hatten, und sie ermittelten den wahren Täter auf eigene Faust mit gesundem Menschenverstand, Mut, Loyalität und viel Humor. Daniel Pennac hat diese Familie Malaussène geliebt, das merkte man den Romanen an. In den späteren war der Autor nicht mehr so nah bei seinen Figuren. Der neue Roman Der Körper meines Lebens ist nun keine Fortsetzung der Malaussène- Romane, aber er hat deren Charme. Pennac hat seinen unvergleichlich charmanten Tonfall aus Witz, Melancholie und Menschenliebe wiedergefunden. Daniel Pennac hat wirklich eine geniale Idee gehabt: Der Körper meines Lebens sind die Aufzeichnungen eines Mannes, der von 1923 bis 2010 gelebt und das Tagebuch seines Körpers geführt hat. Als kleiner Junge wird er von einer immensen Angst beherrscht, Resultat seiner
Familiengeschichte: Der Vater kehrt halb tot aus dem Ersten Weltkrieg zurück, nur noch eine Körper-Hülle, stirbt wenige Jahre darauf. Die Mutter reagiert sich am Sohn ab, kritisiert und demütigt ihn. Denn der Junge ist schmächtig, blass und unsportlich. Sein Geist hingegen ist rege, und so beschließt er, seinen Körper, der ihm so fremd ist, künftig genau zu beobachten. Er verzeichnet Alter, Datum und: sein Ziel: Zitat/Sprecher: 12 Jahre, 11 Monate, 18 Tage Montag, 28. September 1936 Ich werde keine Angst mehr haben, ich werde keine Angst mehr haben, ich werde keine Angst mehr haben, ich werde keine Angst mehr haben, nie mehr.
Autorin: Pennacs Erzähler notiert einzig seine Körperbetrachtungen: Er entdeckt seine Sexualität, bekommt Wachstumsschmerzen, kriegt keinen hoch, kann nicht tanzen, wird doch noch entjungfert, hat Angst vor Krankheiten, verliebt sich, bekommt zwei Kinder, bekommt eine Brille, bekommt wirklich Krankheiten, die Kinder bekommen eigene Kinder, der eine Enkel stirbt, der Erzähler selbst macht sich ans Sterben. Wenn man fast 80 Jahre überwiegend aus der Sicht der körperlichen Erlebnisse erzählt, fällt notwendigerweise vieles andere weg. Die berufliche, offenbar sehr erfolgreiche Karriere kommt zum Beispiel überhaupt nicht vor außer wenn die geplatzte Harnblase auch einen Vortrag platzen lässt. Die nicht-körperliche Existenz, die soziale Person, scheint nur wie ein Schatten durch die körperliche hindurch. Die Tagebuchaufzeichnungen sind Momentaufnahmen, in denen der Erzähler an die ihm nahestehenden Menschen und ihre Körperlichkeit denkt oder seinen mal tiefsinnigen, mal komischen Gedanken über den menschlichen Körper nachhängt:
Zitat/Sprecher: 79 Jahre Donnerstag 10. Oktober 2002 Mein Herz, mein treues Herz. Weniger kräftig als früher, ja, aber doch sagenhaft treu! Letzte Nacht habe ich mich einer kindlichen Übung hingegeben, nämlich zu errechnen versucht, wieviel Mal mein Herz seit meiner Geburt geschlagen hat. Also: im Schnitt 72 Schläge pro Minute, multipliziert mit 60 Minuten pro Stunde, dies wiederum mit 24 Stunden pro Tag, dann mit 365 Tagen pro Jahr und das Ganze noch einmal mit 79. Klappt natürlich nicht mehr, das Kopfrechnen. Folglich: Taschenrechner. Rund drei Milliarden Schläge! Ohne Berücksichtigung der Schaltjahre und der gefühlsbedingten Beschleunigungen! Ich legte meine Hand auf die Brust und fühlte mein Herz schlagen, ruhig, regelmäßig, die Schläge, die mir noch verbleiben. Alles Gute zum Geburtstag, mein Herz! (S. 388)
Autorin: Pennacs Erzählstil ist einem Tagebuch gemäß: sehr mündlich, zum Teil verkürzt, die Stimmungen von Tag zu Tag wechselnd, immer aber sprachlich sehr sorgfältig und mit viel Wortwitz, gern auch mal derb. Seine langjährige Übersetzerin Eveline Passet sorgt dafür, dass Pennacs Sprache auch auf Deutsch blitzt und funkelt. Durch die Beschäftigung mit Körperäußerungen, die wir alle kennen, kommt einem Pennacs Erzähler näher, als es die Geschichte eines Mannes Jahrgang 1923 vielleicht sonst täte. Der Körper meines Lebens ist eine wunderschöne, komische und traurige Meditation über das Aufblühen eines Körpers und seinen Verfall.