Vorlesung Rechtsvergleichung Sommersemester 2016 1
1 Gegenstand der Vorlesung Wiederholung 2
Französische Kolonien (Nahe Osten, Maghreb-Staaten und Afrika) 1. Ägypten Mitte des 18 Jh.: nahezu der gesamte Nahe Osten stand unter türkischer (osmanischer) Herrschaft 1850 Handelsgesetzbuch 1861 Handelsprozessordnung (beides nach französischem Vorbild) Kern des materiellen Zivilrecht bestimmte sich nach der Scharia (kaum kodifiziert, zersplittert) ab 1876: sog. gemischte Gerichte in Ägypten ganz überwiegend europäische Richter zuständig für alle zivil- und handelsr. Fälle mit Ausländerbezug Anwendung gemischter Gesetzbücher (Kurzfassungen des Code civil mit Ausnahme des Familien- und Erbrechts)
1883 für Streitigkeiten unter Ägyptern einheimische Gerichte es galten die gemischten Gesetze (Codes mixtes) mit einigen Anpassungen im Obligationen- und Sachenrecht Scharfe Trennung zwischen vermögensrechtlichen sowie familien- und erbrechtlichen Streitigkeiten Vermögensrechtliche Streitigkeiten: staatliche Gerichte, Recht frz. Ursprungs familien- und erbrechtlichen Streitigkeiten: religiöse Gerichte, Scharia nach der Unabhängigkeit: Ausarbeitung eines ägyptischen Zivilgesetzbuch
1949: ägyptisches Zivilgesetzbuch tritt in Kraft stark am französischen Recht orientiert wenige Regeln islamischen Ursprungs berücksichtigt französisch-italienischen Entwurf eines Obligationenrechts (1928) sowie italienisches Zivilgesetzbuch von 1942 Familien und Erbrecht ist ausgeklammert (hier gilt die Scharia) wurde von fast allen Staaten der Arabischen Liga rezipiert: Irak (1951), Libyen (1953), Quatar (1971), Sudan (1971), Somalia (1973), Algerien (1972), Jordanien (1976), Kuweit (1980) seit 1955: religiöse Sondergerichtsbarkeit abgeschafft, familien- und erbrechtliche Streitigkeiten obliegen den staatlichen Gerichten
2012 Reislamisierung: Art. 2 der Verfassung: Islam is the religion of the State, Arabic is its official language and the principles of the Islamic Sharia are the main source of legislation. 2. Libanon ab 1923 nach Zusammenbruch des osmanischen Reiches unter französischer Mandatsverwaltung Scharia blieb in Kraft, jedoch im Vermögensrecht schrittweise Ablösung des islamischen Rechts durch moderne Kodifikationen 1932 Code des obligationes et des contrats (von französischen Juristen verfasst) 1933 Zivilprozessordnung 1944 Handelsgesetzbuch (beide nach französischem Vorbild)
3. Syrien französischer Einfluss zunächst geringer nach dem Zweiten Weltkrieg traten eine Reihe von Gesetzbüchern in Kraft, die stark an das ägyptische Zivilgesetzbuch angelehnt sind 4. Maghreb-Staaten (Tunesien, Algerien, Marokko) seit dem 19. Jahrhundert beherrschender politischer Einfluss Frankreichs Schuld- und Handelsrecht weitgehend französisch Algerien: Code civil und code de commerce en bloc eingeführt (1834) Tunesien (1916) und Marokko (1913) Code des obligations et des contrats eingeführt (beruht auf dem Schuldrecht des Code civil, jedoch an lokale Erfordernisse angepasst)
Zivilrecht blieb nach Ende der französischen Herrschaft in Kraft, wurde jedoch häufig reformiert Familien- und Erbrecht wurden dagegen ausschließlich durch die Scharia bestimmt 5. Afrika (frankophone Länder)
in allen Kolonialgebieten galt französisches Recht (Code civil und Code de commerce) gelegentlich Anpassung einzelner Vorschriften an die örtlichen Verhältnisse sowie Übernahme der Reformen in Frankreich Personaler Anwendungsbereich: Franzosen und ihre Abkömmlinge Keine Geltung für Einheimische afrikanischer Abstammung, auch wenn sie nach Art. 80 der französischen Verfassung das französische Bürgerrecht erhalten haben sie galten als citoyens françaises de statut local = keine Anwendung des Code civil für Einheimische galt afrikanisches Gewohnheitsrecht oder die Scharia
Zweiteilung der Gerichtsbarkeit und des materiellen Rechts Franzosen: eigenes Gericht nach französischem Vorbild mit Cour de Cassation und Conseil d'etat in Paris als letzter Instanz Einheimische: lokale Gerichte mit Stammeshonoratioren, islamischen Richtern, französischen Kolonialbeamten als Richtern Assimilierung als ideologischer Grundansatz anders als in den von England beeinflussten Kolonialgebieten (dort: Prinzip der indirect rule, Verwaltung durch lokale Machteliten) war die französische Kolonialpolitik vom Grundsatz der Assimilation geprägt einheimische Bevölkerung sollte auf die höhere zivilisatorische Stufe Frankreichs gehoben werden (egalitäre Ideale der französischen Revolution, Glaube an die Überlegenheit der Civilisation française)
daher: Option für französisches Recht für Einheimische aus diesem Grund hatten auch Einheimische, für die das französische Recht zunächst nicht galt, stets die Möglichkeit, bestimmte zivilrechtliche Akte dem französischen Recht zu unterstellen einschließlich der Möglichkeit der Anrufung französischer Gerichte Erleichterte Voraussetzung zum Erwerb des französischen Bürgerrechts und damit der Option für das das französische Recht allerdings: Versuche der rechtlichen Assimilierung blieben im Ergebnis weitgehend erfolglos Französisches Recht hat afrikanisches Gewohnheitsrecht und die Scharia als Personalstatut kaum ersetzt nach der Unabhängigkeit: Abschaffung der Zweiteilung des Gerichtssystems und Ausdehnung der Anwendung französischen Rechts auf Einheimische, lediglich im Familien- und Erbrecht gilt afrikanisches Gewohnheitsrecht sowie die Scharia weiters
Ausarbeitung neuer Zivilgesetzbücher (französische Terminologie und Kodifikationstechnik, häufig auf der Grundlage des Code civil) 6. Süd- und Mittelamerika Anfang des 19. Jahrhunderts nach blutigen Kämpfen Unabhängigkeit von spanischer Kolonialherrschaft einheitliche nationale Zivilgesetzbücher nach französischem Vorbild Spanisches Recht kam nicht in Betracht Recht der ehemaligen Kolonialmacht kaum kodifiziert, wegen lokaler Gewohnheitsrechte selbst im Mutterland zersplittert und uneinheitlich Code civil dagegen: war selbst Frucht einer Revolution Geschlossenheit, Prägnanz und Kompaktheit, basiert auf überlieferten römischen Begriffen und Vorstellungen: Erleichterte die Rezeption für spanisch- und portugiesischstämmige Bevölkerung (kein Bruch mit gewohnter Tradition)
7. Nordamerika Französische Rechtstradition lediglich in zwei Gebieten: Lousiana (USA) Québec (Kanada) als Exklaven des Civil Law in einem vom Common Law geprägten Rechtsgebiet für die Rechtsvergleichung von höchstem Interesse (gegenseitige Beeinflussung und Befruchtung, zentrale Frage: Wird das Civil Law den Einflüssen des Common Law standhalten können?) Louisiana: Seit Ende des 17. Jahrhunderts französische Kolonie (es galt französisches Recht: Königliche Verordnungen und Coutumes von Paris) kurzzeitige spanische Herrschaft änderte daran nichts (spanisches Recht wurde zwar eingeführt, konnte sich aber nicht durchsetzen) nach Rückgabe von Spanien an Frankreich im Jahr 1800 verkaufte Napoleon Louisiana 1803 an die Vereinigen Staaten
bereits kurz nach Anschluss an die USA Pläne zum Entwurf eines Zivilgesetzbuches sollte ursprünglich geltendes, d.h. spanisches Recht kodifizieren tatsächlich aber stark am französischen Recht orientiert (mit einigen dem spanischen Recht entnommenen Änderungen) auf anderen Rechtsgebieten dagegen Übernahme des Common law Insolvenz-, Patent- und Markenrecht: einheitliche Bundesgesetze Wechsel,- Scheck-, Börsen-, Bank-, Versicherungs- und Aktienrecht: Common Law, Angleichung an Recht der Nachbarstaaten Handelsrecht: Uniform Commercial Code vielfache Einflüsse des Common Law (in Louisiana tätige Juristen wurden häufig auch in den Nachbarstaaten ausgebildet)