Psychosoziale Prozessbegleitung. Qualitätsstandards des Zeugenbegleitprogramms Schleswig-Holstein

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Transkript:

Psychosoziale Prozessbegleitung Qualitätsstandards des Zeugenbegleitprogramms Schleswig-Holstein

Impressum: Herausgegeben von der Frauenberatungs- und Fachstelle bei sexueller Gewalt Frauennotruf Kiel e.v. Text: Sigrid Bürner, Diplom-Psychologin Ansprechpartnerin bei der Staatsanwaltschaft Flensburg: Oberstaatsanwältin Ulrike Stahlmann-Liebelt Layout: gut.gemacht Druck: hansadruck Kiel Kiel, 04. April 2013

Inhalt Vorwort 1. Hintergrund und Ziele der psychosozialen Prozessbegleitung 2. Rechtliche Grundlagen 3. Ethische Grundlagen 4. Qualifikation der Begleiterinnen 5. Gestaltung des Begleitungsprozesses 5.1. Zugang zum Angebot 5.2. Begleitung vor der Hauptverhandlung 5.3. Begleitung während der Hauptverhandlung 5.4. Begleitung nach der Hauptverhandlung 5.5. Übersicht: Ablauf und Inhalt der psychosozialen Prozessbegleitung im Zeugenbegleitprogramm Schleswig-Holstein 6. Begleitende Institutionen in Schleswig-Holstein 3

Vorwort Mit dem zweiten Opferrechtsreformgesetz ist der Begriff der psychosozialen Prozessbegleitung erstmals im 406 h in die Strafprozessordnung aufgenommen worden. Opfer von Gewaltdelikten sollen nun frühzeitig auf die Möglichkeit einer psychosozialen Prozessbegleitung im Strafverfahren hingewiesen werden. In Schleswig-Holstein ist die psychosoziale Prozessbegleitung für besonders stark belastete Opfer von Sexualstraftaten, häuslicher Gewalt und Stalking bereits seit 1996 fester Bestandteil des Unterstützungssystems. Sie wird von qualifizierten Mitar beiterinnen aus den Fachberatungsstellen im Rahmen des Zeugenbegleitprogramms Schleswig-Holstein durchgeführt. Das Zeugenbegleitprogramm Schleswig-Holstein wurde von dem Institut für Rechts psychologie der Christian-Albrechts-Universität Kiel und der Generalstaatsanwalt schaft Schleswig-Holstein in Kooperation mit freien Trägern der Jugendhilfe zunächst für die Begleitung von Kindern und Jugendlichen entwickelt, die Opfer von Sexual straftaten geworden sind. Nach einer einjährigen Modellphase, während der das Be gleitprogramm durch das Institut für Rechtspsychologie evaluiert wurde, übernahm das Justizministerium die Finanzierung des Projekts. Der Erfolg bei der psychosozialen Prozessbegleitung von Kindern und 4

»Die psychosozialen Prozessbegleitung wird von qualifizierten Mitar beiterinnen aus den Fachberatungsstellen im Rahmen des Zeugenbegleitprogramms Schleswig-Holstein durchgeführt.«jugendlichen führte zur Ausweitung des Zeugenbegleitprogramms auf erwachsene Opfer von Sexualstraftaten, häuslicher Gewalt und Nachstellung (Stalking). Schleswig-Holstein ist seit vielen Jahren das einzige Bundesland, in dem allen Betroffenen von sexueller und häuslicher Gewalt bei Anklageerhebung eine freiwillige und kos tenlose psychosoziale Prozessbegleitung angeboten wird. Das Zeugenbegleitpro gramm dient dabei immer wieder auch als Orientierung für die Entwicklung von Mo dellen der Prozessbegleitung in anderen Bundesländern. Die Grundsätze der psychosozialen Prozessbegleitung im Zeugenbegleitprogramm Schleswig-Holstein sollen im Folgenden dargestellt werden. Die beschriebenen Standards richten sich an Polizei und Justiz, denen so transparente Informationen über dieses Angebot zur Verfügung gestellt werden, sowie an Einrichtungen der Jugendhilfe und andere Beratungsein richtungen, die mit Betroffenen von sexueller und häuslicher Gewalt oder von Nachstellung befasst sind. Die Standards richten sich zur Qualitätssicherung auch an die begleitenden Institutionen und an interessierte Nutzerinnen und Nutzer der psychosozialen Prozessbegleitung. 5

1. Hintergründe und Ziele der psychosozialen Prozessbegleitung Ein Strafverfahren wegen sexuellen Missbrauchs, Vergewalti gung, sexueller Nö tigung und/oder körperlicher Gewalt und Stalking ist für die meisten Opfer mit erhebli chen Belastungen verbunden: Bereits vor der Hauptverhandlung bestehen Belastungen durch die lange Dauer des Ermittlungsverfahrens, wiederholte Befra gungen und fehlendes rechtliches Wissen. Wäh rend der Hauptverhandlung sind für viele Betroffene lange Wartezeiten bis zur Vernehmung, die kühle gerichtliche Atmo sphäre, die Be fragung durch fremde Per sonen, die Aussage vor Fremden und die Konfronta tion mit dem Ange klagten problematisch. Auch nach Abschluss des Verfah rens beste hen vielfach Belastungen durch unzurei chende Informationen über das Urteil, dessen Bedeutung und mögli che Folgen. Zu diesen Belastungsfaktoren kommen verfahrensbezogene Ängste, wie dem Ange klag ten zu begegnen, von ihm angegriffen zu werden und vor ihm aus sagen zu müssen sowie Befürchtungen, sich nicht richtig aus drücken zu kön nen, sich zu blamieren, Erinnerungslücken zu haben, der Lüge bezichtigt zu werden und die Verantwor tung für die Tat zugeschrieben zu bekommen. Über Ängste vor Rache durch den Angeklagten berichten nahezu alle Betroffenen während des gesamten Verfahrens und auch nach dem Ur teilsspruch. Diese Belastungsfaktoren und verfahrensbezogenen Ängste wurden Anfang der 90er Jahre in erster Linie bei Kindern in Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs empirisch erhoben. Die Frauenberatungseinrichtungen haben in der jahrzehntelangen Beratung und Begleitung betroffener erwachsener Frauen jedoch große Übereinstimmung sowohl hinsichtlich der Belastungsfaktoren als auch bezüglich der Ängste festgestellt. Ziel der psychosozialen Prozessbegleitung ist es, Be lastungen und Ängste im Zu sammenhang mit dem Strafver fahren abzubauen und damit die Gefahr ei ner sekundären Schädigung durch das Verfahren selbst zu reduzieren. Dies wird erreicht durch die sozi ale Unterstüt zung durch die Prozessbegleiterin, durch die Vermittlung von Bewältigungsstrategien für emotional belastende Situationen im Verfahren und durch die Vermittlung von Informationen, die falschen und oft angstauslösen den Vorstellungen entge genwirken. Gegenstand der auf die Hauptverhandlung vorbereitenden Gespräche ist aus drücklich nicht der angeklagte Sachverhalt. Dies ist für eine professio nelle Prozessbegleitung nicht notwendig und wird von den Betroffenen meist auch nicht ge wünscht. 6

2. Rechtliche Grundlagen Gemäß 406 h Abs. 1 Ziff. 5 StPO sind die Strafverfolgungsbehörden gehalten, von Gewalttaten betroffene so genannte verletzte Zeuginnen/ Zeugen unter anderem auf die Möglichkeit der psychosozialen Prozessbegleitung hinzuweisen. Die psychosoziale Prozessbegleitung ist unter anderem in der StPO geregelt. Nach 406f III StPO kann eine verletzte Zeugin/ein verletzter Zeuge während der Verneh mung eine Vertrauens person hinzuziehen. Dies ist bereits bei der polizeilichen Vernehmung im Ermitt lungsverfahren möglich. Die Prozessbegleiterin1 selbst verfügt über keine prozessualen Rechte oder Vertretungsbefugnisse. Die Zulassung der Ver trauensperson liegt seit Inkrafttreten des Opferrechtsreform gesetzes nicht mehr im Ermessen der vernehmungsleitenden Beamten und Richter/Richterinnen. Der verletzten Zeugin/dem Zeugen steht auf Antrag zwingend das Anwesenheitsrecht einer Vertrauensperson zu, bei Ableh nung müssen die Gründe aktenkundig gemacht wer den. Gemäß 175 Abs. 2 S.1 GVG kann eine Vertrauensperson auch bei Ausschluss der (übrigen) Öffentlich keit zugelassen werden. Die Prozessbegleiterin besitzt kein Zeugnisverweigerungsrecht im Sinne des 53 StPO (Zeugnis verweigerungsrecht der Be rufsgeheimnisträger) und ist ver pflichtet, in einem Strafverfahren eine wahrheitsgemäße Aussage über Gesprächsinhalte zu machen. Über diesen Umstand werden die Zeuginnen/Zeugen im Erstge spräch aufgeklärt. Die Prozessbegleiterin unterliegt der Verschwiegenheitspflicht gegen über Dritten ( 203 StGB). Sie kann von der Schweigepflicht entbunden werden. Ausge nommen von der Schweigepflicht sind kollegiale Fallbesprechungen und Supervisionen. Es besteht keine Verpflichtung zur Dokumentation der vorbereitenden Gespräche. Eine Dokumentation wird jedoch empfohlen. Nach 28 BDSG besteht die Er laubnis zur Erhebung, Verarbei tung und Nutzung personenbezogener Daten für eigene Zwe cke gemäß 28 BDSG. 1 Im Folgenden wird durchgängig von Begleiterinnen gesprochen, da diese in der überwiegenden Mehrzahl weiblich sind. Männliche Prozessbegleiter mögen sich genauso angesprochen fühlen. 7

3. Ethische Grundlagen Die Bezie hung zwischen der Prozessbegleiterin und der begleiteten Person ist eine durch Respekt und Wertschätzung getragene Arbeitsbeziehung, die private Beziehungen ausschließt. Sie ist aus drücklich nicht freundschaftlicher, ge schäftlicher oder sexuel ler Natur, letzteres kann gemäß 174 c StGB strafrechtlich verfolgt werden (sexueller Missbrauch unter Ausnutzung eines Beratungs-, Behandlungs- und Betreuungsverhältnisses). Zur Prävention eines sexuellen Missbrauchs bei der Prozessbegleitung von Kindern ist dem Arbeitgeber ein erweitertes Führungszeugnis vorzulegen. Dies ist in der psychosozialen Arbeit mittlerweile üblich. Eine Be einflussung der Zeugin/des Zeugen durch die Prozessbegleiterin muss vermieden werden. Zu keinem Zeitpunkt der Begleitung wird eine Zeugenaussage oder Teile davon bespro chen. Die Glaubwürdigkeit der Zeugin/des Zeugen darf zu keinem Zeitpunkt un ter der Prozessbegleitung leiden. Die Prozessbegleiterin ist nicht gleichzeitig die Beraterin oder Therapeutin der begleiteten Person. Benötigt eine begleitete Person auch eine längerfristige Beratung, so wird dies von einer anderen Mitarbeiterin der Einrichtung übernommen.»die Prozessbegleiterin ist nicht gleichzeitig die Beraterin oder Therapeutin der begleiteten Person.«8

4. Qualifikation der Begleiterin Eine professionelle psychosoziale Prozessbegleitung stellt folgende Anfor de rungen an die Qualifikation der Mitarbeiterinnen: Studienabschluss in Sozialpädagogik, Sozialarbeit, Päda gogik oder Psychologie oder eine vergleichbare Qualifika tion gute Kenntnisse im Bereich des materiellen Straf rechts und Strafverfahrensrechts fundiertes Wissen über sexuelle und häusliche Gewalt und Stalking sowie über Psychotraumatologie Erfahrungen in der Beratung oder Betreuung von Menschen mit Gewalterfahrun gen und traumati sierten Menschen/Kindern umfassende Kenntnisse über das Hilfeangebot vor Ort Gesprächsführungskompetenz, Kommunikationsfähigkeit und Kooperationsbe reitschaft mit den an der Straf verfolgung beteiligten Behörden Sicherheit im Umgang mit Polizei und Justiz; Vertrautheit mit den Abläufen in den Strafverfol gungsbehörden und vor Gericht flexible Arbeitsgestaltung emotionale Belastbarkeit Wenngleich eine Prozessbegleitung keine therapeutischen Interventionen beinhaltet, haben alle Prozessbegleiterinnen in ihren Einrichtungen die Mög lichkeit eines kollegialen Austau schs und einer Supervision. 9

5. Gestaltung des Begleitungsprozesses 5.1 Zugang zum Angebot Die Kriminalpolizei weist nach der polizeilichen Vernehmung auf die Möglichkeit einer psychosozialen Prozessbegleitung bzw. das Zeugenbegleitprogramm Schleswig-Holstein hin. Die Vermittlung einer psychosozialen Prozessbegleitung unmittelbar nach der polizeilichen Vernehmung dient dem Ziel, die Betroffenen möglichst früh im Verfahren mit Informationen zu versorgen und eine Chronifizie rung von belastenden, verfahrensbezogenen Ängsten zu verhindern. Die Staatsanwaltschaft weist im Falle einer Anklageerhebung erneut schriftlich auf das kos tenlose und freiwillige Angebot der psychosozialen Prozessbegleitung und die zu ständige Einrichtung hin. Eine Wiederholung des Angebots bei Bekanntgabe des Hauptverhandlungstermins empfiehlt sich, da es Betroffene gibt, die es vor lauter Angst vermeiden, sich frühzeitig mit der Hauptverhandlung zu befassen. Regional haben sich zusätzliche Zugangswege auch vor der Anklageerhebung etabliert, etwa über Anwältinnen und Anwälte, das Amt für soziale Dienste, die Ge richtshilfe und andere Beratungseinrichtungen. 5.2 Begleitung vor der Hauptverhandlung In einer telefonischen Terminabsprache für ein Erstgespräch informiert die Prozessbegleiterin über den Inhalt, die Kostenlosig keit und Freiwilligkeit des Angebotes. Im persönlichen Gespräch stellt die Prozessbegleiterin sich vor, informiert über den Inhalt des Angebots und klärt darüber auf, dass sie kein Zeugnisverweigerungsrecht besitzt. Bei der Prozessbegleitung von Kindern und Jugendlichen erfolgt meist zunächst ein Gespräch mit den Sorgeberechtigten. Kinder und Jugendliche werden in der Regel von der Prozessbegleiterin zuhause in ihrem gewohnten Umfeld aufgesucht, was kindgerechter ist und die Kontaktaufnahme erleichtert. 10

Zur Vorbereitung auf die Hauptverhandlung werden altersgemäß folgende Informationen vermittelt: bisheriger Verlauf des Strafverfahrens Ablauf der Hauptverhandlung Prozessbeteiligte, deren Aufgaben und die Sitzordnung in der Hauptverhandlung Zeugenrolle: Funktion von Zeugin/Zeugen, Notwendigkeit einer Aussage, Erscheinens- und Wahrheitspflicht, Zeugnisund Aussageverweigerungsrecht Nebenklage Ablauf einer Zeugenvernehmung mögliche Opferschutzmaßnahmen in Absprache mit der Nebenklagevertretung Neben der Informationsvermittlung und Klärung von Fragen steht die Bearbeitung verfahrensbezogener Ängste und von Befürchtungen im Hinblick auf die Hauptver handlung im Mittelpunkt, und es werden Handlungsmöglichkeiten in potenziell schwierigen oder belastenden Situationen während der Hauptverhandlung vermittelt. Je besser die Umgebung der Zeugin/dem Zeugen vor der Hauptverhandlung vertraut ist, umso weniger Verwirrung und Stress ist während der Hauptver handlung zu erwarten. Des halb ist es ausgesprochen sinnvoll, vor der Verhandlung gemein sam An fahrtswege und Parkmöglichkei ten durchzuspre chen sowie das Gerichtsge bäude, Toiletten-, Aufenthalts- und Warte räume und den Ge richtssaal zu besichtigen bzw. ei nen Warteraum zu organisieren, zu dem der Angeklagte und seine Angehöri gen keinen Zutritt haben. Bei kindlichen Zeuginnen/Zeugen hat es sich bewährt, vor der Hauptverhand lung ein kurzes Treffen mit dem Vorsitzenden Richter/der Vorsitzenden Richterin und ggf. der Staatsanwaltschaft zu organisieren. Ein kurzes Kennenlernen vor der Hauptver handlung kann für Kinder viele Ängste reduzieren. 11

Ist noch keine Nebenklage erhoben worden, klärt die Prozessbegleiterin über die Vorteile einer Nebenklage auf. Dabei wird deutlich gemacht, dass die psychosoziale Prozessbeglei tung keine anwaltliche Vertretung ersetzt und nicht in Konkurrenz zur Nebenklage steht. Die Prozessbegleiterin steht im Kontakt zur Nebenklagevertretung. Dabei werden organisatorische Abspra chen hinsichtlich der Hauptverhandlung getroffen, z.b. wo die Zeugin/der Zeuge sich vor der Vernehmung aufhalten kann. Ist keine Nebenklagevertretung beteiligt, infor miert die Prozessbegleiterin das Gericht, dass sie als Begleitperson anwesend sein wird und trifft entsprechende Absprachen. 5.3 Begleitung während der Hauptverhandlung Die psychosoziale Prozessbegleitung während der Hauptverhandlung umfasst die Begleitung während mögli cher Warte zeiten, während der Ver nehmung und eine direkte Nachbespre chung des Erlebten. Während der Hauptverhandlung kommt insbesondere dem Aspekt der sozialen Un terstützung Bedeutung zu. Diese ist während der Vernehmung für die Zeugin/den Zeugen nur dann hilfreich, wenn die Begleitperson ihr hinreichend vertraut ist, ein positiver Kontakt besteht und die Prozessbegleiterin im Hinblick auf die Situation als kompe tent erlebt wird, das heißt, sich z. B. mit dem Ablauf der Verhandlung aus kennt, sich sicher im Gericht bewegt und die Räumlichkeiten kennt. Wichtig ist, dass die Prozessbegleiterin zwar empathisch aber nicht emotional involviert ist. Bei fehlender emotionaler Distanz wird eine Prozessbegleiterin eher zu einer zusätzlichen Belastung und riskiert die Akzeptanz durch die Prozessbeteiligten. Ein großer Nutzen der Prozessbegleitung während der Hauptverhandlung besteht darin, dass die Zeugin/der Zeuge direkt nach der Vernehmung die Mög lichkeit hat, das Erlebte zu be sprechen sowie unverstandene Abläufe und Fragen mit der Prozessbegleiterin zu klä ren, während die Nebenklagevertretung meist im Sitzungssaal verblei ben muss. Um eine Beeinflussung der Zeugin/des Zeugen zu vermeiden, äußert sich die Prozessbegleiterin auch zu diesem Zeitpunkt nicht zu einzelnen Inhalten der Aussage. 12

5.4 Begleitung nach der Hauptverhandlung Nach Beendigung des Verfahrens findet in der Regel mindes tens ein Nachgespräch statt. Inhalt ist die Er klärung des Urteils und der Urteilsbegründung sowie die Be sprechung von damit möglicherweise ver bundenen Befürchtun gen. Hier stehen häu fig Ängste vor Begegnungen mit dem Täter im Falle eines Frei spruches oder einer Bewährungsstrafe sowie die Angst vor Rache im Vordergrund. Erscheint es sinnvoll oder notwendig, werden Möglichkeiten weitergehender Bera tungs- oder Therapieange bote bespro chen und vermittelt. Werden gegen das Urteil Rechtsmittel eingelegt und steht dadurch eine Berufungs verhandlung an, ent steht eine erneute Belas tung für die Betroffenen. In diesem Fall wird eine weitergehende Begleitung angeboten.»die psychosoziale Prozessbegleitung während der Hauptverhandlung umfasst die Begleitung während mögli cher Warte zeiten, während der Ver nehmung und eine direkte Nachbespre chung des Erlebten.«13

5.5 Ablauf und Inhalt der psychosozialen Prozessbegleitung im Zeugenbegleitprogramm Schleswig-Holstein Kontaktaufnahme Vermittlung der Begleitung über die Staatsanwaltschaft Vermittlung über Kriminalpolizei, AnwältInnen, Beratungsstellen, Jugendamt usw. Erstkontakt Bei der Begleitung von Kindern: ggf. zunächst Gespräch mit Eltern/Betreuungspersonen ohne Kind Kontaktaufbau Information über das Angebot der Zeugenbegleitung Besprechung vorrangiger Fragen und Befürchtungen Vorbereitungstermin Vermittlung altersangemessener Informationen Vermittlung von Handlungsmöglichkeiten Besprechung von Ängsten und Befürchtungen Gerichtsbesuch Besichtigung des Gerichts, des Gerichtssaals und des Warteraumes Bei der Begleitung von Kindern: Treffen mit dem Vorsitzenden Richter/ der Vorsitzenden Richterin Planung des Gerichtstages (Treffpunkt, bei Kindern: Auswahl von Spielzeug für Wartezeiten) Hauptverhandlung Betreuung während der gesamten Dauer der Hauptverhandlung Überbrückung von Wartezeiten Begleitung während der Vernehmung Nachbesprechung direkt nach der Hauptverhandlung; Besprechung des Erlebten Bei der Begleitung von Kindern: gemeinsame Unternehmung (z. B. Eis essen) Nachbesprechung Altersangemessene Erklärung des Urteils Besprechung damit verbundener Gefühle und ggf. Befürchtungen Ggf. Vermittlung weiterführender Beratungsangebote 14

6. Adressen begleitender Institutionen in Schleswig-Holstein Folgende Einrichtungen bieten psychosoziale Prozessbegleitung nach dem Zeugen begleitprogramm Schleswig-Holstein an: Landgerichtsbezirk Flensburg Wagemut pro familia Beratungsstelle gegen sexuelle Gewalt an Mädchen und Jungen Marienstr. 29-31, Eingang Lilienstr. 24937 Flensburg Tel.: 0461 / 9092630 info@wagemut.de www.wagemut.de Landgerichtsbezirk Itzehoe Beratungsstelle Wendepunkt Gärtnerstr. 10-14 25335 Elmshorn Tel.: 04121 / 475730 info@wendepunkt-ev.de www.wendepunkt-ev.de Kinderschutzzentrum Westküste Bahnhofstr. 2a 25746 Heide Tel.: 0481 / 6837307 Landgerichtsbezirk Kiel Frauenberatungs- und Fachstelle bei sexueller Gewalt Dänische Straße 3-5 24103 Kiel Tel: 0431 / 911 44 Frauennotruf-kiel@t-online.de www.frauennotruf-kiel.de Autonomes Mädchenhaus Holtenauer Straße 127 24118 Kiel Tel.: 04 31 / 805 88 81 kontakt@maedchenhaus-kiel.de www.maedchenhaus-kiel.de Kinderschutz-Zentrum Kiel Sophienblatt 85 24114 Kiel Tel.: 04 31 / 12 21 80 info@kinderschutz-zentrum-kiel.de www.kinderschutz-zentrum-kiel.de Landgerichtsbezirk Lübeck Frauennotruf Lübeck Musterbahn 3 23552 Lübeck Tel.: 04 51 / 70 46 40 kontakt@frauennotruf-luebeck.de www.frauennotruf-luebeck.de Für Frauen und Mädchen ab 14 Jahren Kinderschutz-Zentrum Lübeck An der Untertrave 77 23552 Lübeck Tel.: 04 51 / 788 81 kinderschutz-zentrum-luebeck@ awo-sh.de www.awo-sh.de Für Mädchen bis 16 Jahre und Jungen jeden Alters 15

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