Alte Hüte mit neuen Krawa0en: Das Ra5onal der Klassifika5onssysteme und was darin vergessen wurde. Harald J. Freyberger A. Warum eigentlich das ganze Theater? B. Die Klassiker und ihr Kontext C. Die Krise der Psychiatrie und die Krisen der psychiatrischen DiagnosDk D. Entwicklung operadonalisierter Systeme E. Die Schwächen heudger DiagnosDk
Warum eigentlich das ganze Theater? Relevanz einer reliablen und validen Diagnos5k psychischer Störungen Beschreibung der Erkrankungen zur - klinischen und wissenschajlichen KommunikaDon - AdministraDon (z.b. Gesundheitsplanung und Abrechnung von Leistungen) - Konzept-, ÄDologie- und Pathogenesebildung IndikaDve Therapieentscheidungen (Was für wen in welcher Dosierung?) PrognosenbesDmmung (z.b. Verlauf und Chronifizierungsrisiko) mit indikadven Behandlungskonsequenzen Nichterkennen und FehldiagnosDk führt zu teureren und komplizierteren Krankheitsverläufen Falsche Diagnosen führen zur Benachteiligung
Die Symptome ersten und zweiten Ranges (Kurt Schneider 1887-1967) in der Anstaltspsychiatrie Erstrangsymptome: Gedankenlautwerden, Gedankenentzug, Gedankenausbreitung, dialogische und kommenderende SDmmen, leibliche Beeinflussungserlebnisse, Wahnwahrnehmung, Gefühl des Gemachten
Eingangskriterien schizophrener Störungen in der ICD-10 Mindestens 1 Symptom wie 1. Gedankenlautwerden, -eingebung, -entzug oder -ausbreitung 2. Kontroll- oder Beeinflussungswahn, Gefühl des Gemachten, Wahnwahrnehmungen 3. KommenDerende oder dialogische SDmmen, SDmmen aus Körperteilen 4. anhaltender bizarrer (völlig unrealisdscher) Wahn oder mindestens 2 Symptome wie 5. Anhaltende HalluzinaDonen mit flüchdgem Wahn oder überwerdgen Ideen 6. Gedankenabreissen, Zerfahrenheit, Danebenreden, Neologismen 7. Katatone Symptome 8. NegaDve Symptome wie Apathie, Sprachverarmung, verflachter, inadäquater Affekt, sozialer Rückzug
Demen5a praecox vs. manisch-depressives Irresein (Emil Kraepelin, 1856-1926): einmal = immer Schizophrenie
Eugen Bleuler (1857-1967): Demen5a praecox oder die Gruppe der Schizophrenien: Psychoanalyse und Funk5onalität Grundsymptome: AssoziaDonsstörungen, Ambivalenz, AuDsmus, Störungen des Willens und Handelns, Störungen der Person
Psychiatrie 1930: Depriva5on und Zwang: Schizophrenia simplex als Artefakt?
Psychiatrie 1930 Chestnut Lodge: Frieda Fromm-Reichmann und die ersten systema5schen Psychotherapien
Neurosen vs. Psychosen = konflikt- vs. strukturorien5erte Psychotherapie
Posi5v- und Nega5vsymptoma5k (Nancy Andreasen, 1938-) als Grundlage für neurobiologische Forschung Wahn, HalluzinaDonen, Ich-Störungen u.a. vs. Affektverflachung, Alogie, sozialer Rückzug, Anhedonie u.a.
Die konzep5onelle Krise der Psychiatrie und der psychiatrischen Diagnos5k und zurück in die 70er und 80er Jahre - Labeling-Ansatz auch als ReakDon auf falsche Schizophreniediagnosen und jahre- bis jahrzehntelange Unterbringungen in psychiatrischen Kliniken u.a. in den USA - Grauenvolle Therapiebedingungen in totalen InsDtuDonen - AnDpsychiatriebewegung zur DeinsDtuDonalisierung mit Abspaltung der Psychotherapie - InternaDonale Vergleichbarkeit von Studien und PaDenten und der KommunikaDon von Klinikern durch reliablere Diagnosen (US-UK Schizophreniestudie)
Reliabilität von Diagnosen psychischer Diagnosen vor (nach) Einführung opera5onalisierter Diagnosensysteme (Spitzer u. Fleiss, 1974) Ebene Bezeichnung Kappa Störungsgruppen Organische Psychosen.77 (.91) Intellektuelle Minderbegabung.72 (.88) Alkoholismus.71 (.93) Schizophrenie.57 (.78) AffekDve Erkrankungen.41 (.82) Neurosen.40 - neurodsche Depression.26 (.77) - Angstneurose.29 (.81) - Hysterie.28 (.78) Persönlichkeitsstörungen.32 (.91) Kappa: zufallskorrigierte ÜbereinsDmmung zwischen Ratern
Diagnos5sche Varianzquellen Subjekt- bzw. Situa5onsvarianz (Untersuchung zu zwei Zeitpunkten mit unterschiedlichen Krankheitszuständen bzw. stadien) Informa5onsvarianz (unterschiedliche InformaDonen zum PaDenten stehen zur Verfügung) Beobachtungsvarianz (unterschiedliche Urteile und Bewertungen über Vorhandensein und Relevanz der Symptome) Kriterienvarianz (Verwendung unterschiedlicher Kriterien für die Diagnose derselben Störung)
Psychiatrische Klassifika5onssysteme: Historische Entwicklung Jahr Systembe- Anmerkungen zeichnung 1948 ICD-6 erste offizielle KlassifikaDon der WHO 1955 ICD-7 keine grundlegenden Änderungen geg. der ICD-6 1952 DSM-I DefiniDon der Kategorien, Beschreibung der Syndrome 1965 ICD-8 Erweiterung um neue Krankheitsgruppen; internadonale KooperaDon bei Entwicklung 1968 DSM-II 1972 SLK St. Louis Kriterien 1975 RDC Research DiagnosDc Criteria 1977 ICD-9 1978 ICD-9-CM ICD-9 klinische ModifikaDon 1980 DSM-III erste offizielle OperaDonalisierung psychiatrischer Störungen, muldaxiale KlassifikaDon; Feldstudien vor Einführung 1987 DSM-III-R offizielle Einführung des Komorbiditätsprinzips 1992 ICD-10 klinisch-diagnosdsche Leitlinien (deutsch), Feldstudien 1994 ICD-10 Forschungskriterien (deutsch), Feldstudien DSM-IV 1996 DSM-IV deutsche Bearbeitung ICD: DSM: InternaDonal ClassificaDon of Diseases der WeltgesundheitsorganisaDon (WHO) DiagnosDc and StaDsDcal Manual of Mental Disorders der American Psychiatric AssociaDon (APA)
DSM-5 Konzep5on Schizophrenie-Spektrums-Störungen: - Schizotype Persönlichkeitsstörung - WahnhaJe Störung - Kurze psychodsche Störung - Schizophreniforme Störung - Schizophrenie - SchizoaffekDve Störung Aufgabe der Erstrangsymptome und der klassischen Subtypen, Schweregradindikatoren (z.b. katatone Symptome) in allen Kategorien
Die Schwäche der Diagnos5k: Die Funk5onalität von Symptoma5k - Die ProblemaDk des Strukturmodells mit der Reihe: Anpassungsstörung Neurose Persönlichkeitsstörung - Psychose - Komorbidität und ihre Bedeutung für die Entstehung und Aufrechterhaltung der SymptomaDk (z.b. PTSD) - HalluzinaDonen als Externalisierung eigener Gedanken und Vorstellungsinhalte - Ich-Störungen als Korrelate früher unzureichender Bindungserfahrungen - Wahn in seiner interpersonellen Dimension und als Konstrukt zur Beschreibung der eigenen Realität
Die Schwäche der Diagnos5k: Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz: Was ist normal?
Die Diagnos5kerin/der Diagnos5ker - Die Reliabilität sinkt mit höherem Lebensalter und Zunahme der Berufserfahrung in Jahren - Die Reliabilität steigt mit den Trainingsanstrengungen, wobei die Halbwertszeit etwa bei 2 Jahren liegt ( booster-sessions ) - Es kommt zu individualisierten systemadschen Verzerrungen ( Lieblingsdiagnose vs. aversive Diagnosen, labeling therapiewidrigen Verhaltens, z.b. Hysterie) - Komorbidität wird überzufällig häufig nicht idendfiziert ( ganzheitliches Bild )
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