Wissenswert. Jeder stirbt für sich allein die wahre Geschichte hinter Hans Falladas Roman. Von Juliane Ziegler , 08.

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Transkript:

Seite 1 Hessischer Rundfunk hr2-kultur Redaktion: Sylvia Schwab Wissenswert Jeder stirbt für sich allein die wahre Geschichte hinter Hans Falladas Roman Von Juliane Ziegler 22.09.2011, 08.40 Uhr, hr2-kultur Regie: Volker Bernius Zitator: : 11-115 Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der Empfänger darf es nur zu privaten Zwecken benutzen. Jede andere Verwendung (z.b. Mitteilung, Vortrag oder Aufführung in der Öffentlichkeit, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verteilung oder Zurverfügungstellung in elektronischen Medien, Übersetzung) ist nur mit Zustimmung des Autors/der Autoren zulässig. Die Verwendung zu Rundfunkzwecken bedarf der Genehmigung des Hessischen Rundfunks.

Seite 2 Zitator Zitator wird geht Nieder mit der Hitler-Regierung! Arbeitet langsamer, noch langsamer! Tut Sand in die Maschinen! Jeder Handschlag weniger getan, hilft diesen Krieg früher beenden! Gebt diese Karte weiter, dass viele sie lesen! Fehlerhaft, in ungelenken Buchstaben stehen diese Appelle auf Postkarten, geschrieben unter Todesgefahr. Die Verfasser: Anna und Otto Quangel, Figuren in dem Roman Jeder stirbt für sich allein von Hans Fallada. Mutter! Der Führer hat mir meinen Sohn ermordet. Mutter! Der Führer auch deine Söhne ermorden! Die Hitlerei bedeutet in der Welt: Gewalt vor Recht! Berlin, 1940. Die Quangels sind unauffällige, ordentliche Menschen. Otto war vier Jahre arbeitslos, doch jetzt, unter den Nazis, hat er wieder eine Stelle als Tischler. Und Anna ist in der NS-Frauenschaft. Sie leben zurückgezogen, Sohn Ottochen kämpft an der Westfront. Doch dann kommt ein Brief, der die Quangels aufrüttelt. O-Ton Hörspiel: CD 1, Track 1, 03 52 04 34 ZIEGLER Fallada_O-Ton01_01 Schrei Annas Anna, ist etwas mit Ottochen? Ist er verwundet? Schwer? Er legt seine schwere Hand auf ihren Scheitel, der so dünn geworden ist in den Jahren, seit sie verheiratet sind. Er zwingt sanft ihren Kopf hoch, seinem Gesicht entgegen. Was haben sie denn geschrieben? Sag schon, Anna. Was ist mit Ottochen? Mit Ottochen? Was soll mit ihm sein? Nichts ist mit ihm. Es gibt kein Ottochen mehr, das ist es. 00 29 Die Trauer über den Tod ihres einzigen Sohnes treibt die Quangels in den Widerstand. Sie beginnen, gegen die Nationalsozialisten zu kämpfen. Ihre Waffen: Postkarten, die sie heimlich in Treppenhäusern und Fluren großer Häuser ablegen. Sie wollen warnen, aufrütteln, und hoffen, mit ihren Botschaften etwas ausrichten zu können. Sie riskieren ihr Leben. Dieses Arbeiterpaar gab es tatsächlich. In Wirklichkeit hießen sie Hampel, Otto und Elise Hampel. An sie erinnert Hans Fallada mit

Seite 3 seinem Roman Jeder stirbt für sich allein. Fallada gilt heute als Volksschriftsteller, als Dichter der kleinen Leute. Ein großer Erfolg war 1932 der Roman Kleiner Mann was nun? über die Folgen der Weltwirtschaftskrise, hier in einer Aufnahme aus dem Frankfurter Volkstheater. Musik der Revue Kleiner Mann was nun? ab 00 11 oder 00 48 einblenden / ZIEGLER Fallada_O-Ton01_02 Viele Geschichten Falladas wurden auch auf die Bühne gebracht, einige Romane sogar verfilmt. Er schrieb über die Nöte der Mittelschicht und über die Schicksale gescheiterer Existenzen. Hans Fallada, 1893 geboren, war kein politisch denkender und handelnder Mensch. Mit den Verhältnissen im Dritten Reich war er zwar nicht einverstanden, doch er schien sich zu arrangieren. Innere Emigration so nennt das der Germanist Manfred Kuhnke. O-Ton Manfred Kuhnke: ZIEGLER Fallada_O-Ton01_03 Fallada hatte durchaus mit den Büchern, die er schreiben wollte, die er schreiben musste, in diesem Land seine Schwierigkeiten. Er hatte immerhin solche großartigen Romane geschrieben. Großartige, sozialkritische Romane, Zeitgemälde. Und das ging nun in der Nazizeit eigentlich nicht mehr. Er musste sich nach den Verhältnissen richten. Und das wollte er nicht, er wollte keine Nazibücher schreiben. So wich er aus und schrieb relativ belanglose Sachen. 00 28 Viele Autoren waren emigriert. Sie hatten aus dem Exil eine andere Sicht auf die Jahre unter Hitler als einer, der diese Zeit hautnah miterlebt hatte. Falladas Roman Jeder stirbt für sich allein erscheint 1947. Es ist das erste antifaschistische Buch eines Schriftstellers, der während des Nazi-Terrors in Deutschland geblieben war. O-Ton Manfred Kuhnke: ZIEGLER Fallada_O-Ton02 Als die Nazizeit zu Ende ging, fühlte er sich befreit und empfand durchaus auch die Verpflichtung in sich, etwas zu tun, um dieses Naziregime zu beschreiben und damit auch zu entlarven in seiner Unmenschlichkeit. 00 14 Falladas Freund, der Parteifunktionär und Kulturpolitiker Johannes R. Becher, schlug ihm vor, einen Roman über den Widerstand der Hampels zu schreiben und gab ihm Akten der Gestapo über den Fall des Paares. Zuerst war Fallada dagegen. Denn er hatte sich selbst nicht

Seite 4 aktiv gegen Hitler engagiert und wollte durch diesen Roman nicht mutiger erscheinen, als er sich tatsächlich verhalten hatte. Doch dann änderte er seine Meinung, erklärt der Fallada-Forscher Manfred Kuhnke: O-Ton Kuhnke: ZIEGLER Fallada_O-Ton03 Als er begriff, dass da zwei einfache Leute, zwei einfache Berliner aus dem Wedding auftreten gegen die ganze Kriegsmaschine Hitlers und das ganze System und seine furchtbaren Machtinstrumente, da begriff er: Das ist doch eigentlich mein Thema. 00 17 Es hatte ihn gepackt: Fallada schrieb die fast neunhundert Seiten des Originalmanuskripts in Rekordzeit. Und unter Drogen seit seiner Jugend war Fallada süchtig nach Nikotin, Morphium, Alkohol, Kokain. Knapp vier Wochen brauchte er für das Buch. Drei Monate später starb er an Herzversagen. Das Erscheinen des Romans erlebte Hans Fallada nicht mehr. Im März 2011, vierundsechzig Jahre nachdem das Buch das erste Mal gedruckt wurde, hat der Berliner Aufbau Verlag den Roman Jeder stirbt für sich allein neu herausgegeben. Ein wichtiger Grund für die erstmals ungekürzte deutsche Auflage: Der überraschende Erfolg im Ausland. Alone in Berlin ist der englische Titel. Bereits mehr als 300.000 Exemplare wurden seit dem Erscheinen ein Jahr zuvor in Großbritannien verkauft. Doch warum hat der Roman plötzlich einen solchen Erfolg? Der Londoner Buchhändler Brad Bolstencroft: O-Ton Buchhändler Brad Bolstencroft, aus Please, mention the war! von Torsten Huhn, 00 24-00 51 / 00 26: ZIEGLER Fallada_O-Ton04 Durch das ganze Buch baut sich eine Spannung auf, es passiert eigentlich wenig, aber es verbreitet eine authentische Atmosphäre, so dass jeder nachvollziehen kann, was es heißt, in einem totalitären System zu leben, in dem, im Leben der Menschen, die Angst dominiert. Die Angst davor, von jemandem denunziert zu werden. Diese Authentizität, die ja in großen Teilen aus Falladas eigener Erfahrung herrührt, die macht das Buch so erfolgreich. 00 26 Jeder stirbt für sich allein liefert ausländischen Lesern eine neue Sicht auf die Zeit unter Hitler. Er zeigt die normalen Bürger, die zwar nicht mit den Nazis sympathisieren, aber auch nicht im organisierten Widerstand kämpfen.

Seite 5 Nicht nur in Großbritannien ist der Roman ein Erfolg, auch in Frankreich oder in Israel ist das Interesse an der Geschichte plötzlich groß. Die New York Times nennt den Fallada-Roman sogar ein literarisches Großereignis. René Strien, Geschäftsführer des Aufbau- Verlags, beschreibt die Reaktionen in Israel: O-Ton Strien: ZIEGLER Fallada_O-Ton05_01 Ganz offensichtlich ist es eine Frage der Zeit und man ist gewillt und in der Lage, genauer auf eine Zeit zu schauen, die man vorher sehr klischeehaft gesehen hat. Die Zeit ermöglicht eine andere Art von Objektivität. Und das hat in Israel dann eine sehr starke, öffentliche Wirkung erzielt, dieses Buch. Bis hin zu Fragen: Muss man jetzt die Nazizeit völlig neu bewerten? Ist es natürlich überhaupt nicht, es wird gar nichts um bewertet. Es zeigt eigentlich im Gegenteil: Gerade, dass Leute etwas tun konnten. Das heißt also, am Ende weiß man mehr über die Gefühlslage und über die konkrete Situation der kleinen Leute, aber man glaubt nicht auf einmal, dass die Deutschen alle Widerständler gewesen wären. 00 41 : Hans Fallada zeichnet mit seinem Roman Jeder stirbt für sich allein ein dichtes Bild des Kriegsalltages in Berlin. Es herrscht eine Atmosphäre der Angst jeder muss vorsichtig sein, jeder kann bespitzelt und denunziert werden. Fallada schildert die Unmenschlichkeit des Faschismus, er beschreibt die brutalen und korrupten Handlanger des Terrorregimes - aber eben auch das Schicksal des Arbeiterpaares Quangel. Zwei Jahre lang geht es gut mit den Postkarten. Doch dann wird das Paar zu leichtsinnig, schließlich wird es verraten und gefasst. In der Haft muss Otto Quangel schmerzlich erfahren, dass nur wenige Karten im Umlauf blieben - die meisten wurden bei der Polizei abgegeben. O-Ton Hörspiel: CD 2, Track 5, ab 00 00; dann 02 02 03 12/00 48 ZIEGLER Fallada_O-Ton05_02 Berlin, Prinz-Albrecht-Straße acht, Sitz der Geheimen Staatspolizei, kurz Gestapo. Kommissar Escherich führt in seinem Zimmer den Werkmeister Otto Quangel vor einen Stadtplan von Berlin mit seinen roten Fähnchen. Otto Quangel: Das sind aber eine Menge Fähnchen. Kommissar Escherich: Sie bedeuten 259 Karten und acht Briefe. Alle diese Karten und Briefe wurden freiwillig bei uns abgeliefert. Haben Sie

Seite 6 je einmal darüber nachgedacht, wie viel Not und Angst Sie mit diesen Karten über die Menschen gebracht haben? Ich habe kein Verbrechen begangen, wenigstens nicht das, was Sie meinen. Mein Verbrechen ist es, dass ich mich für zu schlau hielt. Dass ich es allein machen wollte und ich weiß, Einer ist nichts. Nein, ich habe nichts getan, weswegen ich mich schämen muss. Aber wie ich es getan habe, das war falsch. Dafür verdiene ich die Strafe und darum sterbe ich gern. : Trotz quälender Schikane im Gefängnis und zermürbender Verhöre bis hin zu seinem Todesurteil bleibt Otto Quangel aufrecht und hartnäckig, genau wie seine Frau Anna: Sie verraten ihre Ideen nicht. Die Quangels und die Hampels - das literarische und das authentische Arbeiterpaar: Größtenteils hat sich Hans Fallada an die Vorlage aus den Gestapo-Akten über diesen ohnmächtigen Kampf der Hampels gegen das Nazi-System gehalten. Doch es gibt auch Unterschiede: So lebten die Hampels im Westberliner Wedding, während Fallada, der zu dieser Zeit im Ostteil Berlins lebte, die Quangels im Ostberliner Friedrichshain wohnen lässt. Viele Nebenfiguren kommen im Roman hinzu. In Wirklichkeit ist auch nicht der Sohn gefallen, sondern der Lieblingsbruder von Elise Hampel. Und während die Quangels auch nach ihrer Inhaftierung an ihrer antifaschistischen Einstellung festhalten, und somit über ihre Peiniger triumphieren, verhielten sich die Hampels wie Manfred Kuhnke weiß - anders: O-Ton Kuhnke: ZIEGLER Fallada_O-Ton06 Sie hatten sich gegenseitig vertraut und hatten das, was sie getan hatten, gemeinsam getan. Aber als das Todesurteil vom Volksgerichtshof ausgesprochen wurde, da änderte sich das. Die Hampels brachen zusammen, sie standen gegeneinander auf, sie beschuldigten sich gegenseitig. Sie hofften, dass sie durch diese Ergebenheit ihr Leben hätten retten können. 00 22 Das gelang ihnen nicht, auch die Gnadengesuche der Angehörigen waren nutzlos. Die Hampels wurden am 8. April 1943 hingerichtet. Warum aber hat Hans Fallada, der bekannt dafür ist, sich immer stark an die Wirklichkeit zu halten, warum hat er das Verhalten des Ehepaares in seinem Roman anders dargestellt? Kannte er den wahren Ausgang des Falles gar nicht? René Strien sieht einen Zusammenhang mit der damaligen Ausrichtung des ostdeutschen Aufbau-Verlages nach dem Zweiten Weltkrieg: O-Ton Strien: ZIEGLER Fallada_O-Ton07

Seite 7 Der Verlag ist gegründet im Kontext des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands. So eine Initiative, die unter anderem von Johannes R. Becher ausgegangen war. Und es ging um Volkserziehung. Und das merkt man auch diesem Buch an. Man wollte ein positives Beispiel zeigen, wie sich Menschen verhalten konnten. 00 18 Jeder stirbt für sich allein musste also ein Roman werden, der heldenhafte Protagonisten zeigt. Nicht die Hampels, die sich dem Druck beugten. Manfred Kuhnke ist sich sicher, dass dem Schriftsteller ein Teil der Akten vorenthalten wurde: O-Ton Kuhnke: ZIEGLER Fallada_O-Ton08 Fallada hat nicht gewusst, dass die Ehe der Hampels doch sehr kaputt war, sehr zerrüttet war. Er wollte aber zeigen, dass die Quangels als Ehepaar wieder zusammen finden. Das hätte er nicht tun können, wenn er den vierten Aktenbestandteil gesehen hätte. Auch über das Ende ist in dem Roman anderes mitgeteilt als das, was in Wirklichkeit geschehen war. Die Hampels waren im Abstand von sechs Sekunden unter dem Fallbeil von Plötzensee gestorben. Hans Fallada hat das nicht gewusst. Er hat deshalb einen anderen Todesgang gezeigt. Er hat den Otto Quangel hinrichten lassen, aber seine Frau stirbt bei einem Bombenangriff. Alles das sind Widersprüche zur Wirklichkeit, die Fallada nicht zustande gebracht hätte, wenn er die Akte gekannt hätte. Man wollte ein anderes Buch haben, als das was Fallada vielleicht der Wirklichkeit folgend geschrieben hätte. Vielleicht hätte er auch gar keines geschrieben. 00 56 Doch Hans Fallada hat dieses Buch geschrieben. Zwar geriet die Geschichte trotzdem nicht ganz so, wie der Kulturbund sich das vorstellte - an manchen Stellen passte Falladas Darstellung nicht in das Konzept der sozialistischen Volkserziehung. Deshalb strich der Aufbau-Verlag kurzerhand ein paar Stellen aus dem Originalmanuskript. René Strien erklärt, worum es Fallada in erster Linie ging: O-Ton Strien: ZIEGLER Fallada_O-Ton09 Es ehrt ihn, würde ich sagen, dass er nicht ganz schlichte Heldenfiguren geschaffen hat, sondern dass er schon auch gezeigt hat, dass es nicht einfach Scherenschnitt-artig geht, sondern bei ihm hatten sogar Kommunisten kleine Fehler und bei ihm gab es sogar Nazis, die nicht einfach nur schwarz-weiß, in diesem Falle braun, gezeichnet waren. 00 19

Seite 8 Zum Beispiel Kommissar Escherich, der trotz seiner Position bei der Gestapo menschliche Züge zeigt, der seine ganz eigenen Erfahrungen mit dem System machen muss und sich schließlich umbringt. Oder Trudel Baumann, die Verlobte des gefallenen Ottochen: Sie ringt mit sich, eigentlich müsste sie mutiger gegen die Nazis vorgehen. Allerdings möchte sie auch eine Familie gründen und hat schlichtweg Angst, sich gegen das System zu engagieren. Hans Fallada zeigt in Jeder stirbt für sich allein die verzweifelte Lage, in die viele Menschen durch das Hitlerregime gedrängt wurden. Und auch wenn die wahren Hampels nicht durchhielten in ihrem Kampf, haben sie doch viel Courage bewiesen, gibt René Strien zu bedenken: O-Ton Strien: ZIEGLER Fallada_O-Ton10 Wer will denn jetzt über die realen Helden dieser Geschichte, die wirklich Helden waren, die haben all das getan, wer will über die urteilen? Also ich glaube, dass man das schon sehr differenziert sehen muss. Ich glaube, dass die Hampels in der Wirklichkeit Helden waren, die man nicht mit Pathos verehren muss, waren einfach echte Figuren, und dass Fallada dafür die adäquate literarische Form gefunden hat. Am wichtigsten war es für Hans Fallada, ein Hoffnungszeichen zu setzen, meint der Germanist Manfred Kuhnke: O-Ton Kuhnke: ZIEGLER Fallada_O-Ton11 Er wollte ja doch zeigen, dass der Kampf gegen Hitler eben möglich gewesen war. Und er setzt ihnen, diesen stillen Helden, er setzt ihnen ein Denkmal und schreibt in einem Aufsatz, der noch vor dem Roman entstanden ist, doch die wichtige Zeile: Ich will, dass ihr Sterben nicht umsonst war, sondern dass man daraus doch Schlüsse zieht und dass man das Schlimme, Böse, Schlechte bekämpfen muss, und dass man sich am Beispiel dieser einfachen Leute orientiert und zu ihnen aufschaut.00 35