Rede des Bundespräsidenten zur Ausstellungseröffnung Heiß umfehdet wild umstritten am 21. April 2005, in Villach (Es gilt das gesprochene Wort!) Meine Damen und Herren! Menschen haben Geburtstage, Ehrentage und feiern Jubiläen. Das gilt auch für Organisationen, für Institutionen, für Gebietskörperschaften und natürlich auch für einen Staat: Jubiläumsjahr 2005. In diesem Sinne verstehe ich auch das Jubiläums- und Gedenkjahr 2005. Die Gestalter der Jubiläumsausstellung hier in Villach haben einen besonderen Ansatz gesucht und gefunden. Es wird auf unsere Geschichtsmythen verwiesen und ein Zitat aus der Bundeshymne verwendet: Heiß umfehdet wild umstritten. Was sind Geschichtsmythen? Warum sind sie so heiß umfehdet? Zwar kenne ich den Inhalt der Ausstellung noch nicht, aber der Zeitraum, der hier behandelt wird, ist mir sehr gut vertraut.
Ich meine, dass wir zwei Arten von Mythen unterscheiden können. Zum einen Mythen, die bewusst inszeniert, in Szene gesetzt werden also symbolische Handlungen, Gesten, Formulierungen, die eine ganz bestimmte Botschaft vermitteln sollen, die auch für künftige Generationen als Orientierungspunkt, als Kurzformel, als Brennpunkt des Ereignisses dienen sollen. Z.B. der Gang von Karl Renner vom Rathaus zum Parlament am 29. April 1945, um den Wiederbeginn des Parlamentarischen Systems in Österreich zu versinnbildlichen. Oder die berühmte Staatsvertrags-Szene vom 15. Mai 1955 auf dem Balkon vom Schloss Belvedere, die mit den kurz zuvor von Figl gesprochenen Worten Österreich ist frei verbunden wird. Oder die berühmte Szene an der österreichisch-ungarischen Grenze aus dem Jahr 1989, als Alois Mock und Gyula Horn einträchtig und symbolisch den Stacheldraht zwischen Ungarn und Österreich als Symbol der Teilung Europas durchschneiden. Solche symbolische Handlungen ermöglichen eine Verankerung des Wesentlichen im kollektiven Gedächtnis und sollen auch identitätsstiftend wirken.
Eine ganz andere Art von Mythen sind jene, wo bestimmten historischen Abläufen und Ereignissen im Nachhinein eine bestimmte Intention, eine bestimmte Lesart, eine bestimmte politische Philosophie unterlegt wird. Denken wir an den Mythos von der Rot-Weiß-Roten Fahne, bzw. vom Rot-Weiß-Roten Bindenschild, wo überliefert wird, dass das Waffenkleid von Herzog Leopold dem V. nach der Schlacht um Akkon während des Dritten Kreuzzuges derart von Blut getränkt war, dass nach Abnahme seines Schwertgurtes nur unter seinem Gürtel ein weißer, nicht blutgetränkter Streifen sichtbar wurde, darüber und darunter aber alles rot und blutbefleckt, insgesamt also rot weiß rot war. Ein berühmter Mythos aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die so genannte Dolchstoßlegende in Deutschland, wonach der 1. Weltkrieg von Deutschland nur deshalb verloren wurde, weil die Novemberrevolution 1918 der unbesiegbaren Deutschen Armee letztendlichen den Erfolg geraubt hätte. Auch der Anschluss Österreichs an Deutschland vom März 1938 wurde zunächst zum Mythos hochstilisiert, nämlich zum Mythos von der uneingeschränkten kollektiven und ungeteilten Begeisterung über die Heimkehr Österreichs ins Großdeutsche
Reich, dem Mythos der 100-prozentigen Zustimmung, dem dann einige Jahre später ein entgegen gesetzter Mythos folgte, nämlich der Mythos von Österreich als erstem und völligunschuldigen Opfer Hitlerdeutschlands und dass es nur Opfer und keine Täter gab. Die beiden zuletzt genannten Mythen können nicht beide in vollem Umfang wahr sein. Beide haben einen wahren Kern, aber die historische Wirklichkeit ist differenzierter als die Mythen. Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es gibt aber auch Fälle, wo man Versuchen zur Mythenbildung sehr energisch entgegentreten muss, wo man historische Fakten klar und eindeutig aussprechen muss. Ich denke z.b. daran, dass es Versuche zu gegeben hat, Parallelen zwischen 1938 und 1945 insoferne herzustellen, dass in einem Fall Österreich von deutschen Soldaten und im anderen Fall eben von alliierten Soldaten besetzt wurde, aber sonst kaum ein Unterschied bestünde. Logischerweise wurde dann die Zeit von 1938 bis 1955 als Phase der Besetzung beschrieben, wo nach sieben Jahren nur die Uniformen der Besatzungssoldaten gewechselt hätten, aber die Befreiung erst 1955 durch den Staatsvertrag erfolgt sei. Dieser Versuch einer Mythenbildung muss mit Entschiedenheit zurückgewiesen werden. In der Tat war der österreichische
Staatsvertrag vom 15. Mai 1955 eine historische Weichenstellung, deren Bedeutung weit über Österreich hinaus reichte. Erst der Österreichische Staatsvertrag hat uns die volle Souveränität und die volle Freiheit gebracht. Ich erinnere mich noch mit Deutlichkeit an die Begeisterung die ich damals als politisch interessierter 17jähriger in der 7. Klasse des Gymnasiums über den Abschluss des Staatsvertrages hatte. Der Staatsvertrag hat Österreich die volle Freiheit gebracht. Aber hinzugefügt werden muss, dass der Grundstein für den 15. Mai 1955 im April 1945 gelegt wurde. Das Ende des Krieges, das Ende der Hitlerdiktatur und die Wiedererlangung der österreichischen Selbständigkeit waren die Voraussetzungen dafür, dass überhaupt mit den Beratungen über einen Österreichischen Staatsvertrag begonnen werden konnte. Dass diese Verhandlungen solange dauern würden, konnte man im Jahr 1945 nicht voraussehen. Aber die Niederlage Hitlers war notwendig, um die Diktatur des Naziregimes zu beenden. Sie war notwendig, um den Anschluss rückgängig zu machen und aus der Ostmark wieder die Republik Österreich zu machen. Sie war notwendig, dass wir die Hakenkreuzfahnen durch die Rot- Weiß-Roten Fahnen ersetzen konnten.
Sie war notwendig, dass wir wieder freie Wahlen in ganz Österreich durchführen konnten, dass Karl Renner zum Bundespräsidenten aller Österreicher gewählt werden konnte und Figl ein Bundeskanzler des ganzen Landes sein konnte. Meine Damen und Herren! Die Zeit vor 60 Jahren war schmerzlich und in den letzten 6 Monaten des Krieges waren mehr Opfer zu beklagen als in den vorhergehenden 5 Jahren zusammen. Aber die Niederlage Hitlers konnte eben nur eine militärische sein, weil der Weg des friedlichen Machtwechsels, wie er in einer Demokratie praktiziert werden kann, in der NS-Diktatur unmöglich war. Die Niederlage Hitlers war identisch mit dem Sieg der Alliierten und der Sieg der Alliierten war identisch mit der militärischen Besetzung des Machtbereiches von Hitler. Diese Besetzung erforderte viele Opfer. Aber sie war die Voraussetzung für die Befreiung aus der Geiselhaft des Nationalsozialismus. Eine unblutige Geiselbefreiung war damals nicht möglich.
Und so bedeutet für mich das 60-Jahre-Jubiläum der Zweiten Republik die dankbare Erinnerung daran, dass damals das Fundament für das Österreichische Haus gelegt wurde. Meine Damen und Herren! Was ich an den Tagen und Wochen zwischen April und November 1945 so faszinierend finde ist was in diesen 8 Monaten alles geleistet werden konnte: Die Unabhängigkeitserklärung vom April 1945, die Bildung demokratischer Parteien, die Schaffung eines überparteilichen Österreichischen Gewerkschaftsbundes, die Wiederaufnahme der Verwaltung in den Ländern und Gemeinden, der Konsens über die neue, alte Österreichische Bundesverfassung, der Konsens zwischen den einzelnen Bundesländern. Die Vorbereitung und Durchführung demokratischer Wahlen im November 1945. Der Beginn neuen Lebens etc. Die folgenden Jahre waren hart. Sie waren besonders hart in der sowjetischen Besatzungszone. Fast täglich gab es Übergriffe von unbekannter Seite. Das Agieren der sowjetischen Besatzungsmacht reflektierte die Tatsache, dass die Sowjetunion ein totalitär geführter Staat war. Aber jede Diktatur hat ihr
Ablaufdatum. Das Ablaufdatum der sowjetischen Diktatur wurde in mehreren Etappen erreicht. Die erste Etappe war der Tod Stalins im Frühjahr 1953. Im Anschluss daran kam es zu einer Neuorientierung der sowjetischen Außenpolitik. Österreich hatte Glück, denn Österreich eignete sich als Objekt für die Demonstration einer neuen Politik. Molotow wird gezwungen, von seiner starren Linie abzuweichen und in der Folge kommt es zum so genannten Moskauer Memorandum. Es ergeht eine Einladung an die österreichische Regierungsdelegation, nach Moskau zu kommen. Zu diesem Zeitpunkt war auch den österreichischen Verhandlern bei aller verständlichen Vorsicht klar, dass der Abschluss des Staatsvertrages unmittelbar bevor stand. Sie sollten recht behalten. Das alles liegt 50 Jahre und länger zurück. Es war ein weiter Weg. Aber Alles in Allem ein guter Weg.
Die Auseinandersetzung mit der Geschichte ist wichtig und notwendig. Diskussionen über die Geschichte betreffende Fragen dürfen nicht verhindert, sondern gefördert werden. In allen Ländern. Freilich muss diese Auseinandersetzung mit Augenmaß, mit Wahrhaftigkeit betrieben werden und zum Kern der Probleme vordringen. Ich danke der Stadt Villach für die Bereitschaft, eine Ausstellung zum heurigen Gedenkjahr organisiert zu haben, danke den Gestaltern und erkläre die Ausstellung Heiß umfehdet wild umstritten für eröffnet.