Dr. T. Hergert 1,2, Dr. O. Heidbach 3, 1. Einleitung

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Transkript:

Seismische Gefährdung von Istanbul - 3D Simulation der Deformationsraten und des Spannungszustandes des geologischen Störungssystems in der Marmara See Dr. T. Hergert 1,2, Dr. O. Heidbach 3, 1 Geophysikalisches Institut, Universität Karlsruhe, 2 Insitute de Physique du Globe de Paris, 3 Helmholtz-Zentrum Potsdam, Deutsches GeoForschungsZentrum GFZ 1. Einleitung Das Magnitude 7.4 Erdbeben im August 1999 in Izmit in der Türkei ist das jüngste einer Erdbebenserie die 1939 im Osten der Türkei begann und sukzessiv die Plattengrenze zwischen der Anatolischen und der Eurasischen Platte von Ost nach West zum Versagen brachte (Abbildung 1, Stein et al., 1997, Lorenzo-Martin et al., 2006). Das nächste Beben in dieser Serie wird nun westlich von Izmit erwartet und somit nur ~20 km südlich von Istanbul einer Mega-City mit über 12 Millionen Einwohnern (Parsons, 2004). Da etwa 50% des Brutto-Inlandsprodukts der Türkei im Großraum von Istanbul erwirtschaftet werden, kann das erwartete Erdbeben katastrophale Folgen haben. Istanbul ~1100 km 1999 Anatolische Platte 1939 Abbildung 1. Geodynamik des östlichen Mittelmeerraumes (modifiziert nach Heidbach, 2005). Farbige Pfeile zeigen die GPS Geschwindigkeiten relativ zur Eurasischen Platte (Kotzev et al., 2006, Reilinger et al., 2006, Hollenstein et al., 2006) und schwarze Pfeile die Plattenbewegungen relativ zur Eurasischen Platte. Die rote Linie markiert die Nord-Anatolische Blattverschiebung; die gelben Sterne zeigen die ungefähre Lage der einzelnen Beben der Sequenz von 1939-1999 an, die von Ost nach West migrierte. Schwarze Linien markieren die Plattengrenzen im östlichen Mittelmeerraum. Das nächste Erdbeben wird in der seismischen Lücke südlich von Istanbul an dem Störungssystem unter der Marmara See erwartet. Die schwarze Box markiert das Modellgebiet.

Das Center for Disaster Management and Risk Reduction Technology, kurz CEDIM, ist eine interdisziplinäre Forschungseinrichtung des Helmholtz-Zentrums Potsdam Deutsches Geoforschungszentrum (GFZ) und des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) im Bereich des Katastrophenmanagements. Ziel des Projektes Megacity Istanbul war die Entwicklung von Methoden zur Überwachung von Erdbebengefährdung, Fragilität und Vulnerabilität. Im Rahmen dieses Projektes ist diese Studie zur Untersuchung der Kinematik und Dynamik der Erdkruste in der Marmara Region durchgeführt worden. Ursache für die Bebensequenz ist die westwärts-gerichtete Bewegung der Anatolischen Platte mit etwa 25 mm/jahr relativ zur Eurasischen Platte entlang der Nord-Anatolischen Störung (Abbildung 1). Bei dieser handelt es sich um eine senkrechte rechts-laterale Blattverschiebung, die sich über ~1100 km erstreckt. Sie bildet die Plattengrenze zwischen der Anatolischen Platte und der Eurasischen Platte, die aufgrund der Konvergenz der Arabischen Platte mit Eurasien nach Westen extrudiert. Da in den oberen ~15 km die Temperaturen gering sind, deformiert sich die Kruste hier elasto-plastisch, d.h. in Form von Erdbeben. Hierbei werden entlang der Störung Scherspannungen bis zur Versagensgrenze aufgebaut und dann beim Überschreiten dieser Grenze durch Relativbewegung entlang der Störungsfläche (Erdbeben) abgebaut. Das letzte bekannte Starkbeben in der Region südlich von Istanbul ereignete sich im Jahr 1766, so dass sich ein Relativversatz von ~4-5 m auf einer Länge von ca. 150 km entlang der verhakten Störungssegmente akkumuliert hat. Da sich aber das Störungssystem westlich von Izmit in drei geometrisch komplizierte Äste verzweigt und zum größten Teil unterhalb der Marmara See liegt, ist eine Quantifizierung der Bewegungsraten mit Standardmethoden aus der Geologie (Störungsflächenanalyse) und der Geodäsie (InSAR, GPS) nicht möglich (Abbildung 2). Istanbul 0 10 20 km k k Tekirdak Basin 1912 Central Basin Cinarcik Basin 1999 Abbildung 2. Bathymetrie und Struktur der tektonischen Störungen (orange Linien) in der Marmara See (modifiziert nach Armijo et al., 2002). Schwarze Linien zeigen die Segmente, die vom Izmit-Beben 1999 und dem Ganos-Beben 1912 betroffen waren. Westlich des Izmit- Segmentes teilt sich die Nordanatolische Störung innerhalb der Marmara-See in ein komplexes System von Störungen mit variablen Neigungswinkeln und Streichrichtungen auf. Blaustufen und Konturen zeigen die Bathymetrie der Marmara See. Gleichzeitig ist eine genaue Bestimmung der Bewegungsraten von entscheidender Bedeutung für die seismische Gefährdungsabschätzung der Region um Istanbul (Parsons, 2004, Erdik et al., 2004). Die relativen Bewegungsraten bestimmen letztendlich die Widerholungsrate der Starkbeben. Somit ist die Quantifizierung der Bewegungsraten eine wichtige Eingangsgröße für die seismische Gefährdungsabschätzung. Um die Bewegungsraten in dem tektonisch komplizierten Störungssystem der Marmara See zu quantifizieren, ist ein 3D geomechanisches Modell der Region erstellt worden, das die inhomogenen Materialparameter und die Struktur des Störungssystem erfasst.

2. Modellgeometrie, Vernetzung und Lösungsschema 2.1 Modellgeometrie und Vernetzung Das Modellgebiet hat laterale Abmessungen von 250 km in Ost-West Richtung, 100 km in Nord-Süd Richtung und 40 km in die Tiefe. Die Modellgeometrie wurde mit gocad erstellt, da hiermit ein Verschneiden von komplexen Störungsflächen mit den horizontalen Materialgrenzen möglich war. Die Diskretisierung der daraus resultierenden Volumina mit 670,000 linearen Tetraeder Elementen erfolgte mit HYPERMESH. Die Auflösung des Modells erzielt an den Störungen, an denen große Verschiebungen erwartet wurden liegt bei einigen hundert Metern; außerhalb zum Modellrand hin haben die Elemente eine Kantelänge von über einem Kilometer. Das Störungssystem wurde mit Kontaktelementen mit Coulomb'scher Reibung implementiert. Materialgrenzen sind Topographie bzw. Bathymetrie, Grundgebirgstopographie und die Grenzschicht zwischen Erdkruste und oberem Mantel. Abbildung 3. Ablaufschema der 3D geomechanischen Modellierung für die Marmara-See. Weiße Boxen zeigen den Modellinput, d.h. die Modellgeometrie und die Zuordnung der Modelleigenschaften (Dichte, elastische Moduln, Reibungskoeffizient) mit HYPERMESH. Graue Boxen zeigen die Anfangs- und Randbedingungen sowie die Lösung des numerischen Problems mit der Methode der Finiten Elemente unter Verwendung des impliziten Solvers des Finite Elemente Software-Paketes Abaqus. Orange Boxen markieren die Vorgehensweise der Kalibrierung des Modells mit modell-unabhängigen Beobachtungen, wie z.b. aus GPS- Beobachtungen abgeleiteten Bewegungsraten. Die linke Modellskizze zeigt die Störungen in Rot, die Fläche des Grundgebirges in Blau und die Grenzschicht zwischen Kruste und oberem Mantel in Grün. Auf der linken Skizze sieht man die Diskretisierung des gesamten Volumens. Gelb dargestellt sind die Sedimentbecken der Marmara See mit einer Tiefe von bis zu 6 km.

2.2 Lasten, Randbedingungen und Lösung des Problems Das Modell wird lateral durch kinematische Randbedingungen angetrieben, die konsistent mit der großräumigen Plattentektonik sind und aus einem großräumigen Modell durch die Sub- Modelling-Technik für das kleinräumige Modell der Marmara See abgeleitet werden. Weiterhin werden im Modell die Schwerebeschleunigung und die hydrostatische Auflast des Wassers auf die Bathymetrie der Marmara See berücksichtigt (Abbildung 3). 3. Modellergebnisse im Vergleich mit GPS-Daten 3.1 Kinematik: Vergleich mit GPS-Daten Die Modellergebnisse werden unter anderem mit Beobachtungen des Spannungsfeldes und mit Geschwindigkeiten aus GPS Stationen an der Küste und von einigen Inseln kalibriert. Die beste Anpassung der Modellbewegungen an die Beobachtungen zeigt eine mittlere Abweichung gegenüber den GPS-Daten von weniger als 2 mm/jahr und ist somit innerhalb der Fehlergrenzen der GPS-Beobachtungen. Gegenüber den bisherigen Modellen von Flerit et al. (2004), Meade et al. (2002) und Reilinger et al. (2006), die auf Dislokationsmodellen im elastischen Halbraum basieren und die gleichen GPS-Daten anpassen, zeigt unser Modell 10-45% geringere Bewegungsraten entlang des Störungssystem der Marmara See. Weiterhin zeigt unser Modell eine hohe laterale Variabilität der Bewegungsraten (Abbildung 4). Dies könnte zu einer Segmentierung des zukünftigen Bebens in zwei oder drei kleinere Erdbeben führen. Obwohl sich aus beiden Ergebnissen eine vermeintlich geringere seismische Gefährdung für Istanbul ableiten ließe, zeigen die akkumulierten Spannungen im Vergleich zu empirischen Untersuchungen ähnlicher Störungssysteme, dass ein zukünftiges Beben in der Marmara See nach unserer Modellrechnung im Magnitudenbereich von größer 7 liegen kann. Mit Istanbul in einer Entfernung von weniger als 20 km ist und bleibt Istanbul daher nach wie vor eine Mega-City mit höchster seismischer Gefährdung. Abbildung 4. Vergleich zwischen beobachteten (GPS) und modellierten horizontalen Geschwindigkeiten zeigt eine sehr gute Übereinstimmung. Die aus dem best-fit Modell abgeleitete Bewegungsrate an den Störungen in der Marmara See weist eine hohe Variation in Streichrichtung auf.

Die großen Diskrepanzen zwischen den Modellergebnissen dieser Studie und den bisherigen Modellergebnissen der oben genannten Autoren haben zwei Ursachen: (1) Bisherige Modelle berücksichtigen keine Dichte- und Steifigkeitskontraste (elastischer Halbraum) und verwenden eine stark vereinfachte Modellgeometrie mit senkrechten Störungen und vernachlässigen kleinerer Störungen. Durch die Berücksichtigung von kleinen Störungen in unserer Modellgeometrie werden von diesen zwischen 1-7 mm/jahr der Gesamt- Relativbewegung zwischen der Anatolischen Platte und der Eurasischen Platte aufgenommen (Abbildung 4). (2) Ein weiterer wesentlicher Unterschied ist die Deformation zwischen den Störungen, die in den bisherigen Modellansätzen vernachlässigt wurde. 3.2 Dynamik: Vergleich mit krustalen Spannungsdaten Ein weiteres Ziel des Modells ist es, den aktuellen absoluten Spannungszustand unter der Marmara See zu simulieren, um zukünftige Bebenszenarien rechnen zu können. Zur Validierung der Modellergebnisse vergleichen wir die modellierten Orientierungen der maximalen horizontalen kompressiven Spannung S H mit den Daten des World Stress Map Datenbank Release 2008 (Heidbach et al., 2008). Der Vergleich in Abbildung 5 zeigt innerhalb der Genauigkeit der Beobachtungen die Beobachtungen geben die S H Orientierung mit ± 25 an eine gute Übereinstimmung. Die mittlere Abweichung zwischen modellierten und beobachteten S H Orientierungen beträgt 22. Die starke Variation der S H Orientierung, insbesondere in der Nähe von Störungen, weist darauf hin, dass die Spannungsorientierungen nur durch ein detailliertes Modell beschrieben werden können. Ursache der Variabilität sind die Bewegung an den Störungen selbst, da dort Scherspannungen abgebaut werden und die Dichte- und Steifigkeitskontraste durch Topographie, Bathymetrie und interne Materialgrenzen. Abbildung 5. Vergleich mit Daten aus dem World Stress Map Project, in dem krustale Spannungsdaten global kompiliert werden (Heidbach et al., 2009). Linien mit Symbolen zeigen die maximale horizontale kompressive Spannungsorientierung an. Die Farbe kennzeichnet dabei das tektonische Regime (grün Blattverschiebung, rot Abschiebung, blau Aufschiebung). Graue Linien auf dem regelmäßigen Gitter zeigen die maximale horizontale kompressive Spannungsorientierung aus dem Modell an. Die mittlere Abweichung zwischen Modell und Beobachtungsdaten beträgt 22 und ist somit innerhalb der Genauigkeit der beobachteten Daten aus dem World Stress Map Projekt.

4. Simulation zukünftiger Erdbebenszenarien Unter der Annahme, dass nun ein kinematisch-dynamisch konsistentes Modell mit ausreichender Zuverlässigkeit vorliegt, sollte folgendes numerisches Experiment gelingen: Zum einem Zeitpunkt, der das Jahr 1766 markiert, das Jahr des letzten großen Erdbebens, werden sämtliche Störungen im Bereich der oberen 15 km durch Heraufsetzten des Reibungskoeffizienten (μ= ) verhakt, so dass Scherspannung aufgebaut werden kann, hervorgerufen durch die Geschwindigkeitsrandbedingungen am Rand des Modells. Zum Zeitpunkt des Izmit Bebens 1999 wurde die Scherspannung auf dem entsprechenden Störungssegment abgebaut durch Herabsetzen des Reibungskoeffizienten (μ=0.05) und anschließend wieder verhakt (μ= ). Der Abbau der Scherspannung im Modell durch Versatz auf der Herdfläche des Izmit Bebens 1999 zeigt eine sehr gute Übereinstimmung mit Beobachtungen des Versatzes beim Erdbebens. Die Abweichung zwischen simuliertem und beobachtetem ko-seismischen Versatz liegt in Magnitude und Orientierung des koseismischen Versatzes unter 10 %. Dieses Ergebnis der Vorwärtsmodellierung des ko-seismischen Versatzes des Izmit Bebens 1999 erlaubt es uns zukünftige Bebenszenarien für das zentrale Störungssegment zu simulieren. Hierzu akkumulieren wir die Spannung bis zum Jahr 2010 unter Berücksichtung des Spannungsabbaus der historischen Beben und der Akkumulation durch die Plattenbewegung. Unter der a priori Annahme der Bebenfläche von 68.5 km Länge (Abbildung 6) erhalten wir aus dem Modell einen maximalen ko-seismischen Versatz von 2,36 m an der Oberfläche. Obwohl dieser Versatz deutlich geringer ist als die eingangs erwähnte Abschätzung von ~4-5 m Gesamtakkumulation der Relativbewegung zwischen der Anatolischen und Eurasischen Platte, so entspricht dieser simulierte ko-seismische Versatz gemäß der empirischen Relationen von Wells and Coppersmith (1994) immer noch einer Magnitude von 7.2. Istanbul max. 2.36 m [m] Abbildung 6. Ko-seismischer Versatz eines zukünftigen Bebens im Jahr 2010 zwischen den roten Markierungen. Der ko-seismische Versatz entspricht einem Beben mit Magnitude 7.2. 5. Schlussfolgerungen Das wichtigste Ergebnis dieser Studie ist, das nun erstmalig für die Region ein kinematischdynamisch konsistentes geomechanisches Modell der Marmara See vorliegt. Das kinematische Ergebnis zeigt eine erhebliche Abweichung zu den bisherigen Modellierungen, da in unserem Ansatz die 3D Komplexität der Strukturen berücksichtigt wird. Frühere einfachere Modelle vernachlässigen diese und resultieren somit in einer Überschätzung der Bewegung an der Hauptstörung. Die laterale Variabilität der Bewegungsraten entlang der Streichrichtung der Störungen weist dabei auf eine Segmentierung der Störungszone hin, so dass wir in Übereinstimmung mit Ambraseys und Jackson (2000) und Ambraseys (2006) einen Abbau der akkumulierten Scherspannungen in mehreren kleineren Beben postulieren.

Mit dem Modell ist es möglich, den aktuellen absoluten Spannungszustand in der Marmara- Region zu simulieren, so dass in einer quasi-statischen Vorwärtsrechnung der Versatz des Izmit Bebens 1999 sehr gut abgebildet werden konnte. Dieses Ergebnis erlaubt uns ein zukünftiges Erdbebenszenario zu rechnen. Trotz der geringeren Bewegungsraten die aus unseren Modell resultieren und der postulierten Segmentierung, zeigt das Ergebnis des Bebenszenarios für das zentrale Segment, dass ein Beben der Magnitude 7.2 zu erwarten ist. Nimmt man Ausbreitungseffekte wie z.b. Fokussierung und Verstärkung der seismischen Wellenamplitude und Standorteffekte hinzu, muss immer noch von einer extrem großen seismischen Gefährdung Istanbuls ausgegangen werden. Danksagung Dieses Projekt wurde im Rahmen von CEDIM - Center for Disaster Management and Risk Reduction Technology finanziert und durchgeführt. Außerdem danken wir der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, dem DFG Sonderforschungsbereich 461 Starkbeben und der Task Force VII des Internationalen Lithosphärenprogramms für die finanzielle Unterstützung dieses Projektes. Weiterhin danken wir den Firmen Altair und Simulia für die Bereitstellung der Softwarepakete HYPERMESH und ABAQUS in Form von Campus-Lizenzen. Ein besonderer Dank geht an Herrn Prof. Dr. Alfred Hirn und Frau Dr. Anne Bécel vom Institute de Physique du Globe de Paris (IPGP) für die Bereitstellung der Daten aus dem Seismarmara Experiment Leg-1 und hilfreiche Diskussionen. Referenzen 1. Ambraseys, N., 2006. Comparison of frequency of occurrence of earthqaukes with slip rates from long-term seismicity data: the cases of Gulf of Corinth, Sea of Marmara and Dead Sea Fault Zone, Geophys. J. Int, 165, 516-526. 2. Ambraseys, N.N. & Jackson, J.A., 2000. Seismicity of the Sea of Marmara (Turkey) since 1500, Geophys. J. Int., 141, F1-F6. 3. Erdik, M., Demircioglu, M., Sesetyan, K., Durukal, E. & Siyahi, B., 2004. Earthquake hazard in Marmara Region, Turkey, Soil Dynamics and Earthquake Engineering, 24, 605-631. 4. Flerit, F., Armijo, R., King, G.C.P. & Meyer, B., 2004. The mechanical interaction between the propagating North Anatolian Fault and the back-arc extension in the Aegean. Earth Planet. Sci. Lett., 224, 347-362. 5. Heidbach, O., 2005. Velocity Field of the Aegean-Anatolian Region from 3D Finite Element Models. in Perspectives in Modern Seismology, pp. 169-184, ed. Wenzel, F. Springer, Berlin. 6. Heidbach, O., Tingay, M., Barth, A., Reinecker, J., Kurfeß, D. & Müller, B., 2008. The World Stress Map database release 2008 doi:10.1594/gfz.wsm.rel2008. 7. Heidbach, O., Tingay, M., Barth, A., Reinecker, J., Kurfeß, D. & Müller, B., 2009. The World Stress Map based on the database release 2008, equatorial scale 1:46,000,000, Commission for the Geological Map of the World, Paris, doi:10.1594/gfz.wsm.map2009. 8. Hollenstein, C., Kahle, H., Geiger, A., Jenny, S., Goes, S. & Giardini, D., 2006. New GPS constraints of the Africa-Eurasia plate boundary zone in southern Italy, Geophys. Res. Lett., 30, 1935, doi:1910.1029/2003gl017554. 9. Kotzev, V., Nakov, R., Georgiev, T., Burchfiel, B.C. & King, R.W., 2006. Crustal motion and strain accumulation in western Bulgaria, Tectonophysics, 413, 127 145 doi:110.1016/j.tecto.2005.1010.1040.

10. Lorenzo-Martin, F., Roth, F. & Wang, R., 2006. Elastic and inelastic triggering of earthquakes in the North Anatolian Fault zone, Tectonophysics, 271-289. 11. Meade, B.J., Hager, B.H., McClusky, S.C., Reilinger, R., Ergintav, S., Lenk, O., Barka, A. & Özener, H., 2002. Estimates of Seismic Potential in the Marmara Sea Region from Block Models of Secular Deformation Constrained by GPS Measurements, Bull. Seism. Soc. Am., 92, 208-215. 12. Parsons, T., 2004. Recalculated probability of M>=7 earthquakes beneath the Sea of Marmara, Turkey, J. Geophys. Res., 109, doi:10.1029/2003jb002667. 13. Reilinger, R., McClusky, S., Vernant, P., Lawrence, S., Ergintav, S., Cakmak, R., Ozener, H., Kadirov, F., Guliev, I., Stepanyan, R., Nadariya, M., Hahubia, G., Mahmoud, S., Sakr, K., ArRajehi, A., Paradissis, D., Al-Aydrus, A., Prilepin, M., Guseva, T., Evren, E., Dmitrosta, A., Filikov, S.V., Gomez, F., Al-Ghazzi, R. & Karam, G., 2006. GPS constraints on continental deformation in the Africa-Arabia-Eurasia continental collision zone and implications for the dynamics of plate interaction, J. Geophys. Res., 111, doi:10.1029/2005jb004051. 14. Stein, R.S., Barka, A.A. & Dietrich, J.H., 1997. Progressive failure on the North Anatolian fault since 1939 by earthquake stress triggering, Geophys. J. Int., 128, 594-604. 15. Wells, D.L. & Coppersmith, K.J., 1994. New empirical relationship among magnitude, rupture length, rupture width, rupture area, and surface displacement, Bull. Seismol. Soc. Am., 84, 974-1002.