Anwaltskammer 6 / 2013 Disziplinaraufsicht / Sorgfältige und gewissenhafte Berufsausübung (Art. 12 lit. a BGFA) / Zeugenkontakt des Anwalts - Unzulässigkeit eines anwaltlichen Zeugenkontakts, wenn er die Gefahr der Beeinflussung birgt; eine Kontaktnahme des Anwalts mit einem parteinahen Zeugen kann wenn sie notwendig ist, um den Sachverhalt zu erheben zulässig sein, solange der Anwalt bloss Informationsempfänger ist (E. 2.1.). - Dass der Anwalt zudem indirekter Vorgesetzter der Zeugin ist, entlastet ihn nicht, sondern bringt erst recht die Gefahr einer Beeinflussung mit sich (E. 2.1 in fine). - Der (potentiellen) Zeugin bei der Besprechung Prozessunterlagen vorzulegen, war unzulässig; ebenso wurde unterlassen, das erfolgte Gespräch mit der Zeugin gegenüber dem Gericht offenzulegen (E. 2.2.). 1. Verfahren 1.1. Mit Schreiben vom 4. Mai 2012 liess A der Anwaltskammer eine Aufsichtsanzeige zukommen, in welcher er zusammengefasst Folgendes ausführte: RA B habe im Rahmen eines arbeitsrechtlichen Zivilprozesses vor dem Richteramt Bucheggberg-Wasseramt, in welchem er die Arbeitgeberin vertreten habe, gegen das Bundesgesetz über die Freizügigkeit der Anwälte (BGFA; SR 935.61) verstossen. [...] Anlässlich der Hauptverhandlung [...] vom 7. März 2012 habe die von RA B angerufene Zeugin C zu Protokoll gegeben, dass sie vor der Hauptverhandlung mit ihrem Vorgesetzten und dem Rechtsvertreter ihres Arbeitgebers (RA B) zusammengesessen sei und den Prozess besprochen habe. Während diesem Gespräch seien C auch Rechtsschriften zum Durchlesen vorgelegt worden. C sei die Vorgesetzte der entlassenen Arbeitnehmerin gewesen, RA B sei der Vizepräsident des Stiftungsrats der Beklagten und damit C s Vorgesetzter. Die Zeugin sei damit gewaltig unter Druck gestanden. Das Gespräch unter Überlassung von Prozessunterlagen habe einzig dazu gedient, die Zeugin zu instruieren. [...] 1.2. RA B [...] führte zusammengefasst aus, er sei ehrenamtliches Mitglied des Stiftungsrates der X-Stiftung. Als RA B am 1. September 2011 für eine ehemalige Arbeitnehmerin der X-Stiftung eine arbeitsrechtliche Klage eingereicht habe, habe er die anwaltliche Vertretung der X-Stiftung übernommen. In der Klage sei behauptet worden, dass die Klägerin durch den Heimleiter und die direkte Vorgesetzte, C, gemobbt worden sei. Als Mitglied des Stif- 1
GER 6/2013 Staatskanzlei tungsrates und als Anwalt des Betriebes habe er mit diesen beiden Personen einen Besprechungstermin zur Klärung der Frage, ob die behaupteten Mobbingzustände der tatsächlichen Situation entsprechen, vereinbart. Ziel der Unterredung sei nicht die Beeinflussung der künftigen Zeugin sondern die Klärung des Sachverhaltes gewesen. [...] 2. Erwägungen 2.1. Bei Artikel 12 litera a BGFA handelt es sich um eine Generalklausel. Das Bundesgericht hielt dazu fest, die in Artikel 12 litera a BGFA statuierte Pflicht zur sorgfältigen und gewissenhaften Berufsausübung beziehe sich nicht nur auf das Verhältnis zwischen Anwalt und Klient, sondern auch auf das Verhalten des Anwalts gegenüber Behörden, der Gegenpartei und der Öffentlichkeit, ja sogar auf die gesamte Berufstätigkeit des Anwalts (Fellmann, in: Fellmann/Zindel [Hrsg.], Kommentar zum Anwaltsgesetz, 2. Auflage, Zürich 2011, N. 12 zu Art. 12; vgl. dazu auch Urteil des Bundesgerichts vom 22. Januar 2004, 2A191/2003, E. 5.2). Gemäss Lehre und Rechtsprechung ist ein anwaltlicher Zeugenkontakt bereits dann unzulässig, wenn er zumindest die Gefahr einer Beeinflussung birgt (Fellmann, in: Fellmann/Zindel [Hrsg.], Kommentar zum Anwaltsgesetz, 2. Aufl., NN. 22 und 23d zu Art. 12). Die selbständige Kontaktaufnahme mit einer Person, die als Zeuge in Frage kommt, erscheint problematisch, da mit einem solchen Vorgehen stets eine zumindest abstrakte Gefahr einer Beeinflussung verbunden ist (BGE 136 II 551, E. 3.2.1 und 3.2.4; Urteil Bundesgericht 2C_909/2010 vom 12. April 2011, E. 2.1). Damit eine Kontaktaufnahme ausnahmsweise als zulässig gelten kann, darf diese nur mit Zurückhaltung und Vorsicht vorgenommen werden. Es bedarf erstens eines sachlichen Grundes. Zu solchen Gründen zählen z.b. die Instruktion über den Prozessstoff, die Ermöglichung der Abschätzung der Prozessrisiken oder die Suche nach möglichen Informationen über Tatsachen, von denen das künftige rechtliche Vorgehen abhängt (vgl. Fellmann, a.a.o.., N. 23). Zweitens muss die Kontaktaufnahme und Befragung im Interesse des Klienten liegen. Drittens muss die störungsfreie Sachverhaltsermittlung durch die Behörde gewährleistet bleiben, weswegen der Kontakt so auszugestalten ist, dass jede Beeinflussung vermieden wird (Fellmann, a.a.o.; Nater, Zur Zulässigkeit anwaltlicher Zeugenkontakte, in SJZ 102/2006, Nr. 11, S. 256 ff.). Zum im konkreten Fall vor allem diskutablen Kriterium der bestmöglichen Vermeidung der Beeinflussungsgefahr wird in der Lehre festgehalten, eine Kontaktaufnahme solle möglichst in einem frühen Stadium erfolgen (vgl. dazu Schiller, Schweizerisches Anwaltsrecht, Zürich 2009, N. 1543). Ferner wird in Lehre und Rechtsprechung postuliert, dem blossen Anschein einer unzulässigen Beeinflussung sei entgegenzuwirken und deshalb in der Regel verlangt, dass der Anwalt den Zeugen schriftlich um ein Gespräch ersuchen und ihn dabei darauf hinweisen soll, dass keine Verpflichtung zur Aussage bestehe. Ferner habe er offen zu legen, im wessen Interesse er das Gespräch sucht. Schliesslich habe das Gespräch nach Möglichkeiten in den Räumlichkeiten des Anwalts 2
und allenfalls unter Beizug eines (unbeteiligten) Zeugen zu erfolgen. Der Anwalt darf den Zeugen in keiner Art zu irgendwelchen Aussagen drängen (vgl. BGE 136 II 551 E. 3.2.2 und E. 3.3.2; BJM 2006 S. 46 ff., S. 52). Einschränkend ist anzufügen, dass im Bereich eines Kontakts mit sogenannt parteinahen Zeugen in der Lehre z.t. ein milderer Massstab postuliert wird. Bei parteifernen Zeugen soll ein direkter Kontakt die Ausnahme bilden (Müller, DIKE-Kommentar ZPO, Art. 169 N. 11), nicht aber bei parteinahen Zeugen. Insbesondere bei der Vertretung juristischer Personen müsse unter gewissen Voraussetzungen der direkte Austausch mit ihr angehörenden Personen, die zwar nicht Organstellung haben und damit für eine Parteibefragung nicht in Frage kommen (vgl. Müller, a.a.o., N. 3; Weibel/Nägeli, in: Sutter-Somm /Hasenböhler/Leuenberger, ZPO Komm., Art. 169 N. 2), aber vielleicht einzig zuverlässig Auskunft geben können zu den aus Sicht der vertretenen Partei einzunehmenden Standpunkten, möglich sein. Dieses Postulat folgt offenbar auch der Überlegung, dass die Voraussetzung des sachlichen Grundes sowie die Voraussetzung, dass die Befragung im Klienteninteresse erfolgt, in solchen Fällen zumeist selbstredend gegeben sind. Entsprechend spielt bei solchen Kontakten erst recht das dritte Kriterium der bestmöglichen Vermeidung (des Anscheins) der Beeinflussungsgefahr eine Rolle. Wichtig ist dabei, wie ein Gespräch abgelaufen ist und auf wessen Veranlassung hin es stattfand (vgl. Müller, a.a.o., Art. 172 N. 8-10). Somit ist danach zu fragen, ob der Kontakt so gestaltet wurde, dass eine unerlaubte Beeinflussung bestmöglich vermieden wurde; diesfalls namentlich unbedenklich sollen Kontakte zu parteinahen Zeugen zu Instruktionszwecken sein, bei welcher der Anwalt bloss Informationsempfänger ist (vgl. dazu Weibel/Nägeli, a.a.o., N. 12; Valticos, in: Valticos/Reiser/Chappuis [Hrsg.], Loi sur les avocats, Basel 2010, N. 68 zu Art. 12). Dass schliesslich ein Anwalt nicht nur die anwaltliche Vertretung einer Partei wahrnimmt, sondern auch als Organ und wie hier indirekter Vorgesetzter einer Zeugin fungiert, entlastet ihn nicht. Im Gegenteil: Soweit Massnahmen, die er eher mit Blick auf seine Eigenschaft als Organ trifft (z.b. die kritische Abklärung von betriebsinternen Vorgängen und die Beurteilung der Handlungen seiner Untergebenen sowie der Tauglichkeit der Organisationsstrukturen), mit Berufspflichten kollidieren, die ihn als anwaltlicher Mandatar zeitgleich treffen, muss er von einer (weiteren) Mandatsführung Abstand nehmen (vgl. dazu Valticos, a.a.o., N. 98f. zu Art. 12). Die Wahrnehmung einer Doppelfunktion kann insofern belastend wirken, als sie erst recht die Gefahr mit sich bringt, dass sich ein Zeuge bewusstseinsnah oder fern beeinflussen lässt. 2.2. Zu prüfen ist, ob RA B im Sinne der Anzeige die Zeugin durch das fragliche Gespräch und durch die Vorlegung der Klageschrift (oder Auszügen derselben) unzulässig beeinflusst hat oder zumindest die Gefahr geschaffen hat, die Zeugin unzulässig zu beeinflussen, was nach Lehre und Rechtsprechung bereits genügt. Aufgrund der Akten und der heutigen Befragung ist erstellt, dass das Gespräch von RA B mit der Zeugin am 12. Dezember 2011, al- 3
GER 6/2013 Staatskanzlei so vor Erhalt der Vorladung des Gerichts und im Zug der letzten Erörterung der Sache vor definitiver Abfassung der Klageantwort erfolgt ist. Somit handelte es sich bei C zum Zeitpunkt des Gespräches um eine von der Klägerin angerufene Zeugin und, für RA B erkennbar, auch um eine potentielle Zeugin der Beklagten. RA B hätte das Gespräch mit der Zeugin wohl schon nach dem Eingang der Klage oder gar zuvor suchen können, wenn die Kontaktnahme wie behauptet nur aus dem Grund der Sachverhaltsabklärung und der Abschätzung der Prozessaussichten stattgefunden hätte. Durch den langen Zeitraum zwischen Klageeinreichung und Gespräch vom 12. Dezember 2011 liegt der Eindruck einer Beeinflussungsgefahr näher als bei einer frühen Kontaktaufnahme. Der Zeitpunkt des Kontakts mit der potentiellen Zeugin reicht aber noch nicht aus, um von einer Berufspflichtverletzung auszugehen. Dies um so weniger, als im Sinne der vorstehenden Lehre und Rechtsprechung auch im Hinblick auf die in der Klageantwort vorzubringenden Darstellungen weiterhin ein nachvollziehbares und im Klienteninteresse liegendes Informationsbedürfnis bestand und damit ein sachlicher Grund für das Gespräch vorlag. RA B trat der Zeugin im Beisein des Geschäftsführers nicht nur als anwaltlicher Vertreter der Stiftung gegenüber, sondern auch (gemäss Handelsregisterauszug) als deren Vizepräsident und damit als Vorgesetzter. Er hatte somit zu diesem Zeitpunkt eine Doppelstellung inne: Er war gleichzeitig Organ und Anwalt der Beklagten. Wie dargelegt vermag ihn dies nicht zu entlasten sondern belastet ihn im Gegenteil. Dies umso mehr, als das Gespräch in einem Zeitpunkt stattfand, als die aus der Organstellung abgeleitete und geltend gemachte Pflicht zur (kritischen) Prüfung der Vorgänge kaum mehr im Vordergrund stand, sondern es vielmehr um die konkrete Prozessführung ging. Hinzu kommt, dass Zeugenkontakte gerade bei parteinahen Zeugen zu reinen Instruktionszwecken wohl eher unbedenklich sind, soweit und solange der Anwalt blosser Empfänger von Informationen ist. Heikler ist es, wenn der Zeuge Empfänger von Informationen des Anwaltes ist, weil der mit dem Prozessstoff vertraute Anwalt versucht sein könnte, den Zeugen durch selektive oder falsche Informationen zu beeinflussen oder schon nur die Tonalität der Wiedergabe beeinflussend wirkt. Vorliegend hatte die Zeugin anlässlich des fraglichen Gespräches Einsicht in die Klage. Das Vorlegen von Prozessunterlagen ist in einer derartigen Situation aber unzulässig. Somit wurde von RA B eine Gefahr der Beeinflussung der potentiellen Zeugin geschaffen, wenn auch nicht bewusst. Zudem wurde eher ermöglicht, dass widersprüchliche Wahrnehmungen bzw. Erinnerungen der Zeugin einerseits und des Geschäftsführers andererseits erkannt und abgeglichen wurden, was im Ergebnis auch eine Beeinflussung der Zeugin bedeutet hätte. Schliesslich wurde von RA B auch unterlassen, das erfolgte Gespräch mit der Zeugin gegenüber dem Gericht offenzulegen, was im Hinblick auf die beweismässige Würdigung ihrer Zeugenaussage angesagt gewesen wäre. 4
Zusammenfassend ergibt sich, dass RA B die Gefahr der Beeinflussung, insbesondere wegen des Vorgesetzten-Verhältnisses (Doppelrolle) und des Vorlegens der Klageschrift, hätte erkennen und dieser entgegenwirken müssen. Demnach hat RA B, wenn auch fahrlässig, die Berufsregel gemäss Artikel 12 litera a BGFA verletzt. [...] 2.3. [Keine tatsächlich erfolgte Beeinflussung, Fahrlässigkeit, Einsicht: Verwarnung] [...] (Beschluss der Anwaltskammer vom 31. Januar 2013) 5