Wilfried Rudloff, Universität Kassel Die Weltwirtschaftskrise und der Niedergang der Wohlfahrtsstadt Vortrag Tutzing 21. Mai 2010

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Transkript:

Wilfried Rudloff, Universität Kassel Die Weltwirtschaftskrise und der Niedergang der Wohlfahrtsstadt Vortrag Tutzing 21. Mai 2010 1. Einleitung Wer den Aufstieg des NS zur Massenbewegung erklären will, kommt nicht um die Frage herum, welche Bedeutung als Nährboden die große Wirtschafts- und Systemkrise Anfang der dreißiger Jahre besaß. Es war die Weltwirtschaftskrise, die das Treibhausklima schuf, unter dessen Bedingungen der NS so stürmisch gedeihen konnte. Die Frage nach dem Nexus zwischen der Weltwirtschaftskrise und der letalen Krise der Weimarer Republik hat eine mindestens dreifache Dimension: 1) Krise der Wirtschaft (> Element der Deprivation) 2) Krise der politischen Ordnung (> Element der Delegitimierung) 3) Krise der Sozialstaatlichkeit (> Element der Destabilisierung) Man kann diese Dimensionen auf verschiedenen Ebenen untersuchen. Der Blickwinkel, den ich im Folgenden wählen möchte, ist der der kommunalen Selbstverwaltung Münchens (also der lokalen Ebene der Sozialstaatlichkeit). Worum es dabei geht, ist den Zusammenhang von wirtschaftlicher Deprivation, politischer Delegitimierung und sozialstaatlicher Destabilisierung zu illustrieren. 2. Wirtschaftkrise und sozialer Niedergang Seit 1929 befand sich die Münchner Wirtschaft in einer Talfahrt, wie man sie seit Anbruch des Industriezeitalters nicht erlebt hatte. Bis 1933 sollte sie aus dem Teufelskreis, in den sie geraten war, nicht mehr herausfinden. Der Abzug zahlreicher Kredite, die die Wirtschaft nach der Inflation erst wieder in Gang gebracht hatten, die parallele Agrarkrise, die auch auf die bayerische Hauptstadt mit ihrem agrarischen Umland ausstrahlte, die Kaufkraftminderung aufgrund von Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit all diese Faktoren und andere mehr beschleunigten den allgemeinen Niedergang. Die deflationäre Wirtschaftspolitik der Präsidialregierungen tat mit ihrer prozyklischen Wirkung noch das Ihre hinzu. Schon seit

1929 war der Export als Ausgleichsventil für die rückläufige Inlandskonjunktur eingebrochen, ein Prozess, der sich für die Qualitätsindustrie Münchens immer empfindlicher auswirken sollte und der dadurch, dass allenthalben in der Welt neue Handelsschranken aufgerichtet wurde, noch zusätzlich verstärkt wurde. Das ganze Ausmaß der gewerblichen Katastrophe machte im Herbst 1931 eine Umfrage der Münchner Industrie- und Handelskammer deutlich. Vom Baumarkt wurde ein Rückgang des Auftragsbestands seit Beginn der Krise von nahezu 50% gemeldet. Beim Maschinenbau betrug er 50-70%, ebenfalls 50% Rückgang verzeichnete Textilgewerbe und Textilhandel. Die Kreditkündigungen im Zuge der Bankenkrise hatten auch gut fundierte Unternehmen erfasst. Steil gestiegen waren hingegen die Anträge auf Eröffnung eines Konkursverfahrens auf fast das Doppelte seit 1929. Und als Stadt und Staat, bedingt durch die trostlose Lage der öffentlichen Haushalte, 1931 die Förderung des Wohnungsbaus einstellen mussten, brach dann der Baumarkt, während der Hochkonjunktur der größte Münchner Beschäftigungssektor, vollends zusammen. Insgesamt wurden zu Beginn des Jahres 1932 die Betriebsanlagen der Produktionsgüterindustrie im Durchschnitt nur noch zu einem Drittel ausgenutzt. Das Traditionsunternehmen Maffei, als Lokomotivbauer ein Pionier der Industrialisierung in München und noch 1929 der Stadt größtes Industrieunternehmen, geriet so sehr ins Schlingern, dass der Sanierungsversuch eines Bankenkonsortiums 1930 scheiterte, mit der Folge, dass das Unternehmen den Betrieb ganz einstellen und Namen, Auftragsbestände sowie Patente an den lokalen Konkurrenten Krauss und Co. verkaufen musste. Nur wenige der einstmals 3.600 Arbeiter konnten dort noch weiterbeschäftigt werden. Und Maffei war bei weitem kein Einzelfall. Während überall sonst die Zahl der Betriebe krisenbedingt schrumpfte, verbuchte der Münchner Einzelhandel in den Krisenjahren eine Zunahme um fast ein Viertel. Wie sich versteht, war dies kein Zeichen von einsamer Krisenresistenz oder antizyklischer Blüte, sondern entsprang, ganz im Gegenteil, den aus nackter Not geborenen Versuchen zahlloser Arbeitsloser, sich durch Eröffnung eines kleinen Ladens, als Straßenhändler oder Hausierer ein Überleben zu sichern. Die Folge war eine noch größere Überbesetzung des Einzelhandels bei gleichzeitig drastisch sinkender Nachfrage die soziale Abwärtsspirale setzte sich fort. Scharfe Formen nahm in der Weltwirtschaftskrise der Kampf des Kleingewerbes gegen die übermächtige Konkurrenz der Warenhäuser, Konsumgenossenschaften und

Einheitspreisgeschäfte an. Bereits 1929 hatte in München die Erweiterung des Warenhauses Hermann Tietz für erheblichen Unmut und beträchtliches Aufsehen gesorgt. Die Organisationen der Kleingewerbetreibenden lief dagegen ebenso Sturm wie die NSDAP, die sich den Kampf gegen die Warenhäuser schon lange auf die Fahnen geschrieben hatte und in ihrer Parteipresse nun zu unerbittlicher Gegenwehr aufrief. Die jüdischen Warenhäuser wurden zur Zielscheibe für die Ressentiments des vom sozialen Abstieg bedrohten gewerblichen Kleinbürgertums, und diese Antipathie wurde von niemand so sehr angefacht wie von der NSDAP. Als sich in der Krise weitere Warenhäuser in München niederließen und die Verbitterung des Kleingewerbes dadurch noch mehr angeheizt wurde, folgte der Münchner Stadtrat einstimmig einem Antrag der NSDAP und forderte die Reichsregierung auf, den Mittelstand zu schützen, sei es durch stärkere steuerliche Belastung, sei es durch Einführung einer Konzessionspflicht. Tatsächlich wurde dann im Dezember 1932 in den Großstädten die Einrichtung weiterer Einheitspreisgeschäfte untersagt. Unterdessen gerieten, unter dem hämischen Beifall des Einzelhandels, die beiden großen Münchner Konsumgenossenschaften so sehr in Bedrängnis, dass zumindest der traditionsreiche Konsum-Verein München von 1864 ein Vergleichsverfahren einleiten musste und schließlich liquidiert wurde. Was schließlich das Handwerk anging, stieß der Präsident der Handwerkskammer von Oberbayern auf deren Vollversammlung Ende 1932 die Mahnung aus: Im Handwerk sieht es bitterböse aus, wirtschaftlich und seelisch. Konkurse, stille Liquidationen mangels Masse nehmen hier unvermindert ihren Fortgang, zahllose Existenzen gerade alter, solider, reeller Gewerbebetriebe und guten, besten Bürgertums sinken dahin. (...) Es ist verständlich, dass eine solch verzweifelte Stimmung radikalen Gedankengängen nach welcher Richtung sie auch gehen mögen, weitgehend zugänglich ist. Zum Signum dieser Niedergangsjahre wurde neben der endemischen Kurzarbeit eine Massenarbeitslosigkeit, die alle anderen sozialen Probleme der an solchen Problemen an sich nicht gerade armen Weimarer Gesellschaft in den Schatten stellte. Die statistische erfasste Erwerbslosigkeit erreichte in München Anfang 1933 ihren Höhepunkt, als beim Arbeitsamtsbezirk München 85.933 Arbeitssuchende gemeldet waren (zum Vergleich: bei doppelt so großer Bevölkerungszahl wurden in München im April dieses Jahres knapp 60.000 Arbeitssuchende gezählt). Noch im Sommer 1933, als bereits wieder eine Belebung der Konjunktur eingetreten war, belief sich der Anteil der Arbeitslosen auf 38% der

Arbeiterschaft und auf knapp ein Viertel der Erwerbspersonen überhaupt. Eine Fülle von zerstörten Existenzen verbarg sich hinter diesen Zahlen, ein Leben zwischen deprimierenden Entbehrungen, wachsender Verbitterung und alltäglicher Verzweiflung. Da viele Arbeitslose ihre Miete nicht mehr zahlen konnten, waren die städtischen Obdachlosenasyle überfüllt. An den Rändern der Stadt entstanden wilde Siedlungen, Barackenquartiere, in denen Menschen Unterschlupf suchten, die in der Krise Arbeit und Wohnung verloren hatten. Siedlungen dieser Art wurden von den Ordnungshütern der Stadt als Brutstätten schlimmster Radikalismen beargwöhnt. Die sozialen Indikatoren nahmen ansonsten den zu erwartenden Verlauf: Die Zahl der Selbstmorde schnellte hoch, die der Eheschließung hingegen sank um ein Viertel. Gegen den säkularen Trend war die städtische Wanderungsbilanz erstmals wieder negativ. 3. Die Krise der kommunalen Stadtverwaltung Ende 1929, als sich die ersten Schatten der Weltwirtschaftskrise schon über die Stadt zu legen begonnen hatten, aber noch niemand von dem kommenden Ausmaß der Krise ahnen konnte, standen in München Gemeindewahlen an. Der Wahlkampf wurde mit einem bis dahin unbekanntem Aufwand geführt. Am stärksten ins Zeug legten sich die Nationalsozialisten, nicht zuletzt weil zwei Wochen nach der Gemeindewahl auch das Volksbegehren gegen den Young-Plan anberaumt war. Am 1. Dezember zog ein Propaganda-Umzug von 2.000 SA- Männern fünf Stunden lang durch Münchens Straßen, nur das unsichere Terrain des roten Giesing wurde gemieden. Der Völkische Beobachter verkündete siegessicher: München wird nationalsozialistisch. Die Partei wollte sich den Wählern als an Dynamik, Entschlossenheit und Zugkraft allen anderen Parteien überlegen präsentieren. Zwei Tage später fanden in den Biersälen Münchens zwanzig nationalsozialistische Versammlungen statt. Vierzig der bekanntesten Parteiredner ergriffen das Wort, Hitler als Hauptredner eilte von Saal zu Saal. Von Kommunalpolitik war allerdings im Wahlkampf der NSDAP wenig die Rede, die Gemeindepolitik wurde lediglich als abhängige Variable der Politik auf höchster Ebene begriffen, als Keimzelle für die Eroberung des ganzen Staates. Auch in Hitlers Rede über Weltanschauung und Kommunalpolitik am 29. November 1929 im Löwenbräukeller ging es einmal mehr um die Bekräftigung des nationalsozialistischen Glaubensbekenntnisses, um die Reinerhaltung des Blutes, die notwendige Herrschaft der Stärkeren über die Schwächeren,

um die Gefahren, die dem deutschen Volk durch die Verjudung drohten. Hitlers Ausruf: Wir treten in die Kommune ein als Vertreter nicht-kommunalpolitischer Ziele, ließ bereits erkennen, was die kommunale Selbstverwaltung von der NSDAP zu erwarten hatte. Hitlers Wunsch, die Stadt unter dem Hakenkreuz regiert zu sehen, wurde durch das Wahlergebnis nicht erfüllt. Stärkste Partei wurde die SPD, gefolgt von der Bayerischen Volkspartei und den Nationalsozialisten, die acht von 50 Sitzen erlangten, wenig mehr als bei den Wahlen zuvor. Bürgermeister blieb der BVP-Politiker Karl Scharnagl, der aber aufgrund der instabilen Mehrheitsverhältnisse bei wichtigen Entscheidungen immer wieder auf die oppositionelle SPD angewiesen blieb. Diese ging aus den Wahlen von 1929 mit sechsmal mehr Mandaten als die KPD hervor. Für die Münchner Stadtpolitik war es von erheblichem Vorteil, dass in Bayern vor 1933 keine Gemeindewahlen mehr stattfinden sollten. Die Wählermeinung blieb damit auf einem Stand eingefroren, der vor dem politischen Radikalisierungsschub der frühen dreißiger Jahre gelegen hatte. Die Lage der kommunalen Selbstverwaltung war mithin weniger vertrackt als in Sachsen, Thüringen, Württemberg oder Baden, wo auf Gemeindeebene zu einem späteren Zeitpunkt gewählt wurde. In Karlsruhe oder Heidelberg stellte die NSDAP bereits 1930 die stärkste Fraktion im Rathaus. Im Übrigen erzielt die NSDAP in München bei den sich nun auf Reichsebene in rascher Folge wiederholenden Wahlen 1930 zwar noch überdurchschnittliche, 1932 dann aber nur noch deutlich unter dem Reichsergebnis liegende Resultate. Dessen ungeachtet fand der wirtschaftliche Niedergang auch in München in der Krise der kommunalen Selbstverwaltung ein politisches Ebenbild. Schon das äußere Erscheinungsbild der Stadtpolitik verlieh dem Ausdruck. Kommunisten wie Nationalsozialisten überhäuften das Münchner Stadtparlament mit agitatorischen Anträgen; Tumulte und Obstruktionsversuche, Sitzungsunterbrechungen und Sitzungsausschlüsse waren an der Tagesordnung. Im Stadtrat wurde man Zeuge wüster Prügeleien zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten; 1932 musste ein randalierender NS-Stadtrat, Hermann Esser, mit Hilfe der Polizei aus dem Sitzungssaal entfernt werden. Es waren dies freilich nur die äußeren Symptome einer schweren inneren Krise der kommunalen Selbstverwaltung. Als 1931 des hundertsten Todestages des Freiherrn von Stein gedacht wurde, versäumte auch in München kein Festredner die Gelegenheit, den Aufbruch der kommunalen Selbstverwaltung zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Kontrast zu ihrem

aktuellen Niedergang zu setzen. Was waren die Wurzeln diese Krise? Ich nenne vier Faktoren: I) Die Gemeindefinanzen gerieten in eine dramatische Schieflage. Die beispiellose wirtschaftliche Depression ließ seit 1929 die gemeindlichen Steuereinnahmen immer tiefer abstürzen in München noch vergleichsweise wenig, nämlich um 22 Prozent. Das war einerseits eine Folge der Konjunkturanfälligkeit der gemeindlichen Hauptsteuern, resultierte andererseits aber auch aus der staatlichen Deflationspolitik, die die Gemeinden durch Kürzungen vor allem bei der Grund- und Gewerbesteuer noch näher an den Abgrund führte. II) Während die gemeindlichen Steuereinnahmen zusammenschmolzen, stiegen die Soziallasten ins Uferlose. Immer mehr Dauerarbeitslose sickerten aus der Arbeitslosenversicherung in die kommunale Fürsorge hinab, und die Präsidialregierungen gossen noch Öl ins Feuer, indem sie in der Sozialversicherung eine Politik forcierten Leistungsabbaus betrieben. Der städtische Haushalt geriet dramatisch aus dem Lot. Von 89 Städten deutschen Großstädten konnten im gleichen Jahr reichsweit nur noch acht einen ausgeglichenen Haushaltsentwurf vorlegen. München war nicht darunter. Der Stadtverwaltung wurde 1932 ein Staatskommissar vorgesetzt, um einen Zwangsabgleich des Haushalts herbeizuführen. Angesichts einer Unzahl bereits ergriffener Sparmaßnahmen hatten sich die kommunalen Verantwortungsträger beharrlich geweigert, einen Haushaltsentwurf mit ordnungsgemäßer Deckung vorzulegen. III) Bei all dem musste der Anschein entstehen, als sanierten sich die übergeordneten Gebietskörperschaften auf Kosten der unteren, ja als sollte der kommunalen Selbstverwaltung gezielt das Wasser abgegraben werden. Der Hauptausschuss des Bayerischen Städtebundes protestierte im Oktober 1932 erbittert gegen die Beibehaltung und Fortsetzung der durch die Notverordnung immer wieder betriebenen Lastenverschiebungspolitik (...); wir protestieren ebenso gegen die damit verbundene Aushöhlung und Beseitigung der Rechte, der Freiheit und der Leistungsfähigkeit der Selbstverwaltung. IV) Die alle Etagen des Staatsaufbaus erfassende wirtschaftliche, soziale und politische Krise ließ nicht nur auf Reichsebene, sondern auch für den kommunalen Unterbau vielfältige Bestrebungen entstehen, die demokratischen Macht- und Kräfteverhältnisse umzugestalten. Die Willensbildung sollte dem Widerstreit der Parteien entzogen und auf die neutrale

Bürokratie und deren überparteiliche Spitze konzentriert werden. Dem entsprach es, wenn die Notverordnungspolitik nicht nur die Stellung der staatlichen Aufsichtsbehörden gegenüber den Gemeinden, sondern auch die Position der Gemeindevorstände gegenüber den städtischen Repräsentativorganen stärkte. Im Hintergrund stand das auch in München gerne bemühte Argument von der zunehmenden parteipolitischen Deformierung der ihrer Natur nach doch eigentlich apolitischen Selbstverwaltung. Die kommunale Selbstverwaltung befand sich auf dem Weg zur Präfektur. Unterm Strich war die Aushöhlung der kommunalen Selbstverwaltung bereits bedenklich vorangeschritten, als 1933 die politische Zeitenwende hereinbrach. Es war die Interferenz von inneren, auf städtischer Ebene selbst erzeugten, und äußeren, durch externe Randbedingungen bedingten Krisenfaktoren, die diesen Zustand herbeigeführt hatte. Beide Krisendynamiken hatten sich wechselseitig verschränkt und verstärkt. 4. Sozialstaat und Wohlfahrtsstadt In der langen Perspektive des gesamten 20. Jahrhunderts waren die Weimarer Jahre die Periode der stärksten Anspannung und Beanspruchung der kommunalen Wohlfahrtspolitik. Wie zu keinem Zeitpunkt zuvor oder danach lagen hier das Herzstück und der Aufgabenkern der Stadtpolitik, in München ebenso wie in allen anderen deutschen Großstädten. Die Ursachen für diesen Bedeutungszuwachs lagen auf der Hand: Es waren gerade die Städte und Gemeinden, welche die sozialen Folgen von Krieg und Inflation zu verarbeiten hatten. Rentenempfänger aus der Sozialversicherung bedurften weitaus häufiger als vor dem Krieg der Zusatzunterstützung durch die städtische Fürsorge. Kleine Kapitaleigner hatten ihre Rücklagen zur privaten Altersvorsorge verloren und mussten sich notgedrungen an die Wohlfahrtsämter wenden. Hinzu kam, dass die privaten Wohltätigkeitseinrichtungen und -vereine seit der Inflation ungleich mehr als zuvor auf Leistungsentgelte und öffentliche Finanzspritzen angewiesen waren. Die Wohlfahrtsetats schnitten bereits in den zwanziger Jahren die größten Stücke aus dem Kuchen der Gemeindehaushalte und verdrängten andere, vor dem Krieg stärkere Posten auf die nachfolgenden Plätze. Selbst bei armutspolitisch niedrigerem Seegang verschlang der Posten Wohlfahrtswesen und Soziales in München ein Drittel des städtischen Finanzbedarfs.

Normalbedingungen waren zwischen Weltkrieg und Weltwirtschaftskrise jedoch eine Seltenheit. Die Regel waren wohlfahrts- und finanzpolitische Ausnahmezustände, Krisenjahre waren zahlreicher als Jahre der Stabilität. In der Großen Krise der frühen dreißiger Jahre schließlich entwickelten sich die Aufgaben und Ausgaben kommunaler Wohlfahrtspolitik zu einem Belastungsfaktor, der als Sprengsatz im Gebälk der Kommunaletats viele Gemeinden bis an die Grenzen der faktischen Zahlungsunfähigkeit führte. In München belief sich 1932 der Anteil des Wohlfahrtswesens am städtischen Gesamtzuschussbedarf auf 62%. Gegenüber 1913, dem letzten Vorkriegsjahr, hatte sich 1932 die Zahl der kommunalen Unterstützungsempfänger mehr als verfünffacht. Rechnet man die Familien der Unterstützten hinzu, belief sich der Anteil an der Münchner Bevölkerung nun auf ein Viertel. Jeder vierte lebte also von den Hilfen der Stadt. Das Reich hatte unterdessen die Zugangsschleusen zu den Leistungen aus der Arbeitsversicherung immer mehr verschlossen. Das Ergebnis war paradox: Anfang 1933 standen reichsweit knapp einer Millionen Arbeitslosen, die Sozialleistungen aus der Arbeitslosenversicherung erhielten, nicht weniger als 2,4 Millionen Arbeitslosen gegenüber, die als Wohlfahrtserwerbslose auf die Hilfe der städtischen Fürsorge angewiesen waren. Die städtischen Wohlfahrtsämter vermochten dem Ansturm der Arbeitslosen kaum mehr Herr zu werden. In München gelang es wenigstens noch, mit den Steuereinnahmen das Wohlfahrtsbudget abzudecken. Anderorts war die Lage weit schlimmer. Die Politik der Präsidialregierungen, sozialstaatliche Problemlasten von der staatlichen auf die kommunale Ebene abzuwälzen, hatte eine absurde Fehlsteuerung der Sozialsysteme zur Folge: 1932, als die Arbeitslosigkeit ihrem Höhepunkt entgegensteuerte, hatte die Arbeitslosenversicherung einen enormen Überschuss erwirtschaftet. Die Stadt München wurde dadurch ihrerseits zu einer Politik radikalen Sozialabbaus gezwungen. Ich will Ihnen ersparen, dies im Einzelnen zu schildern. Bei den Amtsleiterbesprechungen war in bezeichnender Diktion von der Notwendigkeit einer immer stärkeren Ausmerzung der nicht absolut Unterstützungsberechtigten die Rede. Der Münchner Fürsorgereferent glaubte auf dem Höhepunkt der Arbeitslosigkeit allen Ernstes, dass gut ein Drittel der Befürsorgten ganz gut ohne Unterstützung auskommen konnten. Auf der einen Seite wurden die Leistungen drastisch gekürzt und die Kriterien der Leistungsgewährung empfindlich verschärft; um abzuschrecken, wurde ferner Pflichtarbeit als Gegenleistung eingeführt. Auf der anderen Seite sollte durch eine bereits auf das spätere NS-

Winterhilfswerk voraus weisende stadtbürgerliche Solidaraktion, die Münchner Nothilfe, einen Mantel gemeinbürgerlicher Selbsthilfe über die zerklüftete Stadtgesellschaft gelegt werden vom materiellen Ertrag her betrachtet freilich ein nur von bescheidenem Erfolg gekröntes Unterfangen. Wie sehr aber die Große Krise an den Fundamenten des Sozialstaats nagte, konnte man derweilen den zersetzenden Kommentaren entnehmen, die nicht mehr nur in der radikalen, sondern auch in Teilen der bürgerlichen Münchner Presse über die Tragfähigkeit der zentralen wie lokalen Sozialstaatlichkeit gefällt wurde. 5. Spannungen und Entladungen Fahren wir die Linse unseres Betrachterobjektivs noch etwas näher an Amt und Klienten heran. Nur so lässt sich in den mentalen Dispositionen die mal latente, mal manifeste politische Sprengkraft hinreichend erkennen, die aus der geschilderten Situation entstand. Einige wenige Schlaglichter sollen dies erhellen. Die über die Stadt verteilten Wohlfahrtsämter wurden zu stadttopographischen Rotationspunkten des sozialen Niedergangs. Gemeinsam mit den Arbeitsämtern dienten sie als feste Anlaufpunkte für alle diejenigen, die von der Krise am härtesten getroffen wurden. Wo kurze Zeit vorher noch eine vornehmlich weibliche Armutsbevölkerung das Bild beherrscht hatte, bildeten sich nun endlose Schlangen männlicher Arbeitsloser. Das trostlose Bild dieser stundenlang vor der Wohlfahrt oder dem Arbeitsamt Wartenden hat sich wie keine andere visuelle Metapher tief in das kollektive Gedächtnis eingenistet. Photographische Aufnahmen langer Warteschlangen desperater Arbeitsloser, aufgereiht vor den lokalen Wohlfahrtsinstanzen, gehören so unverbrüchlich zur Ikonographie der Weltwirtschaftskrise, dass sie auch in der gegenwärtigen Wirtschaftskrise als reminiszente Bildzitate in den Medien überall dort präsent waren, wo besonders dramatische Szenarien entfaltet werden sollten. Die Wohlfahrtsämter wurden zugleich zu Orten, an denen sich die in der Krise aufgestauten Spannungen und Affekte jederzeit spontan entladen konnten. Die Armutsschichten, das war im 20. Jahrhundert durchaus neu, gewannen wieder stärker die im späteren 19. Jahrhundert verloren gegangene Züge der dangerous classes. Die Ämter des Arbeiterviertels Giesing meldeten Anfang der dreißiger Jahre eine allgemein anschwellende Beunruhigung und Gereiztheit : Nicht selten arten solche Drohungen gegen das Amt und seine Beamten sogar zu Tätlichkeiten aus. Von überall empfing die Amtsleitung nun solche Mitteilungen. Der

Charakter des Macht-, Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnisses, der der Beziehung von Wohlfahrtsbeamten und Wohlfahrtsklientel seit jeher anhaftete, trat unter den Bedingungen von Massenarmut und Unterstützungsabbaus krasser denn je hervor. In Städten wie Stettin oder Breslau kam es zum Sturm der Bedürftigen auf das Wohlfahrtsamt, in Frankfurt oder Nürnberg wurden die Schalterbeamten zum Selbstschutz mit Knüppeln ausgestattet. In den Münchner Wohlfahrtsämtern musste ein besonderer Ordnungsdienst eingesetzt werden. Ähnlich wie in den Wohlfahrts- und Arbeitsämtern ging es auch in den Speiseausgabestellen und Wärmehallen zu. In einem entsprechenden Bericht hieß es 1932: Besonders renitente Burschen besteigen Tische und Stühle, halten (...) verhöhnende und provozierende Reden gegen die Polizei und bekunden ihre kommunistische Gesinnung durch das Absingen der Internationale. Während sich auf den Münchner Straßen die SA mit ihren Widersachern gewaltsame Schlachten um die dortige Vorherrschaft leistete, wuchs auch in der Begegnung zwischen Wohlfahrt und männlicher Klienten das Gewaltpotential. Die Ämter machten für die auftretenden Spannungen und Entladungen, über die endogenen Quellen der Affektaufladung bewusst hinwegsehend, die gezielte Aufwiegelungsarbeit der Kommunisten verantwortlich. In der Tat deuten alle Quellen darauf hin, dass es die Kommunisten waren, die am stärksten darum bemüht waren, die Fürsorgeklientel zu mobilisieren und in ihr Lager zu ziehen. Die zahlreichen Skandalberichte, welche die kommunistische Neuen Zeitung über das desolate kommunale Wohlfahrtssystem erstattete, mündeten regelmäßig in den Appell, diese verlogene und verschobene, kapitalistische, korrumpierte Gesellschaftsordnung umzukrempeln und ein System zu schaffen, worin [...] sich keiner mehr auf den Wohlfahrtsämtern herumtreiben braucht. Als erste und lange Zeit auch als einzige politische Kraft gründete die KPD lokale Erwerbslosenausschüsse, ehe es ihr die SPD dann 1932 nachzutun versuchte, spät und in diesem Fall in integrativer, nicht konfrontativer Mobilisierungsabsicht. Tatsächlich war die Münchner KPD in hohem Maße eine Partei der Arbeitslosen, 80% der Parteimitglieder des Bezirks Südbayern waren im Sommer 1931 ohne Arbeit. Dennoch blieben die Erfolge der kommunistischen Mobilisierungs- und Rekrutierungsbemühungen unter den Erwerbslosen auf Dauer begrenzt. Von 10.000 Demonstranten, wie man sie laut Parteipresse 1931 am Weltkampftag gegen die Erwerbslosigkeit auf die Münchner Straße gebracht haben wollte, konnte keine Rede sein. Die Frage, welche Anstrengungen die NSDAP auf der Gegenseite des politischen Spektrums unternahm, die Armen und Arbeitslosen auf ihre Seite zu ziehen, ist nicht leicht zu

beantworten. Für eine unmittelbare Agitation unter den Klienten der Münchner Wohlfahrtsund Arbeitsämter gibt es nur wenig Hinweise. Ein anderes Beispiel, das ich herausgreifen möchte, verdeutlicht jedoch, wie auch die NS-Lokalpolitiker aus dem sozialen Niedergang Funken zu schlagen wussten. Eine der neuen Armutsgruppen, die sich nach dem Ersten Weltkrieg auf die Fürsorge als unterstes Netz des Sozialstaats verwiesen sahen, war die beträchtliche Zahl der vormals selbständigen, meist mittelständigen Existenzen, die von der Inflation ihrer Rücklagen für das Alter beraubt worden waren. In der Fürsorgeterminologie der Zeit waren dies die sogenannten Kleinrentner, die sich selbst eigentlich als in der Mitte der Gesellschaft angesiedelt, stattdessen nun aber an deren soziale Ränder abgedrängt sahen. Ihre überaus rührige Münchner Organisation betrieb einen unermüdlichen Kampf gegen die Verbannung in das Souterrain des Wohlfahrtsstaats, fand aber auf lokaler wie übergeordneter Ebene kein politisches Gehör. In einem Prozess schleichender politischer Radikalisierung, bei dem die Kleinrentnerorganisation sich vom traditionellen Lobbyismus immer mehr zur politischen Protestbewegung entwickelte, mündete die Organisation in den frühen dreißiger Jahren in das Lager der NSDAP. Der giftige Dunst der Versumpfung stinkt im Staat unserer Zeit so impertinent zum Himmel, las man schon zu Beginn der dreißiger Jahre im Publikationsorgan der Inflationsverarmten, daß nur und nur eine Diktatur der wahrhaft deutsch Fühlenden und sittlich intakt Gebliebenen hier Wandel schaffen kann. Ihr Anführer rühmte sich 1931 gegenüber dem NS-Fraktionsführer im Stadtrat, Karl Fiehler, er habe bereits bei den letzten Wahlen die Stimmen der nord- und südbayerischen Rentnerschaft der NSDAP zugeführt, und auch der stellvertretende NS-Gauleiter bemerkte anerkennend, die Organisation der Kleinrentener arbeite eng mit der NSDAP zusammen; sie informiert uns stets über die Stimmung in [ihren] Kreisen und holt sich Ratschläge. Während die NSADAP in programmatischen Verlautbarungen den Weimarer Wohlfahrtsstaat mit Kritik übergoss, präsentierte sie sich auf lokaler Ebene insgesamt als Beschützerin der sozial Schwachen. Neben den Kleinrentnern nahm sie sich weiterer Sondergruppen an, der Kinderreichen, der Kriegsopfer oder der Sozialmieter. In ihrem Protest gegen den städtischen Sozialabbau ließ sie sich nur ungern von anderen überbieten. So drängten sich auch in Fiehlers Sprechstunde als Stadtrat immer wieder bedürftige Personen, die ihn in materiellen Sorgen um Unterstützung baten. Es sind dies nur wenige Beispiele für die Versuche der beiden radikalen Flügelparteien, die sozial Notleidenden als Klientel zu gewinnen. Die Stützen der kommunalen Selbstverwaltung mussten aber die Erfahrung machen, dass hinter den einmal erreichten Maßstab an

Sozialstaatlichkeit zurückzugehen, zugleich bedeutete, Sozialpolitik neben einer Form der Krisenbewältigung auch zu einer Form der Krisenerzeugung werden zu lassen. Es war leichter, Unterstützungsniveaus abzusenken, als einmal bestehende Erwartungshaltungen gerechter Verteilung zu tilgen. Entscheidender noch war in der Summe aber dies: Indem das Vertrauen in Funktionstüchtigkeit und soziale Integrationskraft des Weimarer Sozialstaats zerstört worden war, und zwar sowohl auf der Ebene aggregierter Sozialstaatlichkeit, wie auch auf der nicht minder wichtigen Ebene der lokalen Wohlfahrtsstadt, war ein wichtiger Stützpfeiler der Weimarer Demokratie weggebrochen. Die Krise der Sozialsysteme wirkte nicht nur sozial destabilisierend, ihr Bankrott war auch ein Moment politischer Delegitimierung, von dem nur die politischen Kräfte profitieren konnten, die Weimar mit allen Mitteln bekämpften. Nirgends kann man dies so genau erkennen, wie im lokalen Kontext, sei es in München wie auch andernorts.