Diss. ETH Nr. 11317 METHODEN ZUR RISIKOANALYSE IN DER FEIN- UND SPEZIALITÄTENCHEMIE ABHANDLUNG zur Erlangung des Titels DOKTOR DER TECHNISCHEN WISSENSCHAFTEN der EIDGENÖSSISCHEN TECHNISCHEN HOCHSCHULE ZÜRICH vorgelegt von MICHAEL MADJAR Dipl. Masch. Ing. ETH geboren am 21. November 1966 von Biel (BE) Angenommen auf Antrag von Prof. Dr. Ph. Rudolf von Rohr, Referent Prof. Dr. K. Hungerbühler, Korreferent Zürich 1995
Zusammenfassung Risikoanalysen eignen sich als Instrument zur Entscheidungshilfe bei der Bewertung komplexer technischer Systeme. Abhängig von der Industriesparte können sich dabei unterschiedliche Anforderungen an Risikoanalysemethoden ergeben. In der vorliegenden Arbeit wurden diskontinuierlich betriebene Prozesse, die in der Fein- und Spezialitätenchemie zum Einsatz kommen, eingehend betrachtet. Ausgehend von den chemisch-verfahrenstechnischen Eigenheiten dieser Prozesse sowie einer problemorientierten Klassierung bekannter Risikoanalysemethoden erfolgt eine methodische Weiterentwicklung bisher in der Fein- und Spezialitätenchemie eingesetzter Analysemethoden. Zwei neue Ansätze werden hierbei präsentiert: Die graphische Systemmodellierung als erster Ansatz berücksichtigt speziell die bei diskontinuierlich betriebenen Prozessen relevante Arbeitsschrittabhängigkeit von Freisetzungsszenarien. Die den Resultaten bisheriger Analysemethoden zu entnehmenden auslösenden Ereignisse sowie risikomindernden Massnahmen werden graphisch dargestellt und unter Berücksichtigung der logischen Zusammenhänge zu einem Freisetzungsszenario zusammengefasst. Diese Darstellungsweise vereinfacht eine Ermittlung der Freisetzungswahrscheinlichkeit durch das Risikoanalyseteam, da über die Wahrscheinlichkeit von Einzelausfällen oder Prozessabweichungen oft Erfahrungen vorliegen und die graphische Systemmodellierung die zugehörigen logischen Zusammenhänge liefert. Die modulare Fehlerbaumanalyse als zweiter neuer Ansatz basiert auf der Fehlerbaumtechnik. Neu werden hier jedoch vorgefertigte "modulare" Fehlerbäume verwendet, die sich beliebig zu Freisetzungsszenarien zusammenstellen lassen. Hiermit wird ein flexibles Werkzeug zur Analyse unterschiedlicher chemischer Prozesse bereitgestellt. Gegenüber den bisher in der Fein- und Spezialitätenchemie durchgeführten Analysen lassen sich mittels modularer Fehlerbaumanalysen Systemschwachstellen gesamter Anlagen bis hin zur Komponenten- und Hilfssystemebene ermitteln. Der Vorteil gegenüber der klassischen Fehlerbaumanalyse liegt in dem durch die vorgefertigten Fehlerbäume bedingten geringeren Analyseaufwand.
Beide neuen Ansätze sowie deren Kombinationsmöglichkeiten werden anhand des Fallbeispiels "Marineblau" erläutert. Mittels graphischer Systemmodellierung wurden dabei die Teilszenarien mit den grössten Risikobeiträgen ersichtlich. Beispielsweise trugen die Teilszenarien mit den auslösenden Ereignissen "zu hohe Temperatur", "zu tiefe Temperatur" und "Rührer nicht eingeschaltet" zu 85% zur Freisetzungswahrscheinlichkeit bei. Diese Teilszenarien wären somit für zusätzlich zu ergreifende Massnahmen prädestiniert. Rührer- oder Kühlsystemausfälle, bei denen Systemabhängigkeiten auf Komponenten- oder Hilfssystemebene denkbar sind, wurden mittels modulare Fehlerbäume analysiert. Hierbei erwiesen sich bestimmte Komponenten, z. B. ein Ventil der Schutzeinrichtung, als Schwachstellen. Ferner zeigte eine Betrachtung des gleichzeitigen Ausfalls von Rühr- und Kühlsystem, dass Energieversorgungsausfälle das Gesamtsystemversagen massgeblich beeinflussen. So wird der gleichzeitige Ausfall des Rühr- und Kühlsystems nicht durch eine Kombination unabhängiger Komponentenausfälle, sondern durch einen Energieversorgungsausfall dominiert. Eine weitere Reduktion der Ausfallwahrscheinlichkeit des Gesamtsystems ist somit einzig durch eine Entkopplung der Teilsysteme oder über eine Reduktion der Versagenswahrscheinlichkeit der Energieversorgung möglich. Mit der vorliegenden Arbeit wurde gezeigt, dass sich bisher in der Feinund Spezialitätenchemie eingesetzte Analysemethoden in Kombination mit den neuen Ansätzen, auch ohne das Vorhandensein exakter Daten zu den Bereichen "technische Ausfälle" und "menschliche Fehlhandlungen", zu einer höheren Modellierungsgüte erweitern lassen, ohne dass sich der Analyseaufwand hierbei beträchtlich erhöht.
Summary Risk analyses are the correct tools for taking decisions while complex technical systems are assessed. Depending on the industry branch, the requirements on the risk analysis methods are different. The following thesis deals in detail with discontinuous processes applied in the refined and specialized chemical industry. Based on the characteristic features of these processes in the chemical/process engineering field and a classification according to problems of known risk analysis methods, a methodical development is performed. Two new approaches are presented: The graphical system modelling as first approach considers specially the relevant operation step dependence of release scenarios for discontinuous processes. The initiating events resulting from existing analysis methods as well as risk minimizing measures are graphically presented and combined in a release scenario, taking into account logical connections. This presentation simplifies the determination of the release probability by a risk analysis team due to the fact that single failure or process deviation experiences often exist and the graphical system modelling provides the logical connections. The modular fault tree analysis as second approach is based on the fault tree technique. New in this approach is the use of predetermined "modular" fault trees, which can be freely combined for release scenarios. Thus a flexible analysis tool for different chemical processes is at disposal. Compared to analyses, currently used in the chemical industry, it is possible to locate weak points in complete installations - down to the level of components and auxiliary systems - with this modular fault tree analysis. The advantage, compared to classical fault tree analyses, lies in the reduced analysis time due to predetermined fault trees. Both new approaches as well as their combinations are shown in the case study "Marineblau". Through graphical modelling the partial scenarios with the greatest risk degrees are shown. For example, the partial scenarios with the release events "temperature too high", "temperature too low" and "stirrer not switched on" represent 85% of the release probability. Therefore, these partial scenarios would require to take additional precautions.
Stirrer and cooling system failures, which may be caused on the component or auxiliary system level have been analysed by modular fault trees. In this case, some components, e.g. a valve of a safety system, was determined as weak point. In addition, considering a failure of the stirrer and the cooling systems at the same time, it shows that the energy breakdown has a great influence on the failure of the complete system. Thus, the simultaneous failures of the mixer and cooling system are not due to a combined failure of independent components, but rather to the energy supply failure. A further reduction of the failure probability of the complete installation can only be achieved through a separation of the partial systems or a reduction of the break-down probability of the energy supply. The present work shows that the current analysis methods, which are used in the above-mentioned industry, combined with the new ones, even without exact data for "technical failures" and "human errors", can achieve a higher quality of systems modelling without a significant increase of the analysing costs.