beiden Bücher einer ziemlich hübschen und ziemlich jungen Frau geschenkt, die ich in meinem Taxi von Grünwald nach Nymphenburg gefahren hatte. Das hab ich nie gelesen, sagte die junge Frau, als sie das Buch in der Hand hielt. Sie sah jetzt noch ein bißchen hübscher aus. Die meisten hübschen Frauen wissen nicht, daß sie noch ein bißchen hübscher aussehen, wenn sie Eine Liebe von Swann in der Hand halten. Aber ich weiß das. Ich habe Proust gelesen, als ich vor über dreißig Jahren Ellen kennenlernte. Oder es war umgekehrt, und ich hatte Ellen gerade kennengelernt, als ich anfing, Proust zu lesen. Es passierte irgendwie gleichzeitig. Ich weiß nicht mehr, was zuerst passierte, aber ich weiß, daß hübsche Frauen noch hübscher aussehen, wenn sie Eine Liebe von Swann in der Hand halten. Sogar Ellen, die eigentlich gar nicht
mehr schöner sein konnte, sah dann noch schöner aus, und ich sagte jetzt zu der jungen Frau, die verblüfft neben mir auf dem Beifahrersitz saß: Die Bücher sind genauso gut wie vor dreißig Jahren, als ich sie zum erstenmal gelesen habe. Sie schaute mich an und sagte: Sie sehen nicht so aus, als hätten Sie vor dreißig Jahren schon solche Bücher lesen können. Ich meine, Sie sehen nicht so alt aus. Oh, sagte ich. Ich war ein Wunderkind. Sie lächelte nachsichtig und sagte dann: Und warum sollte ich die beiden Bücher denn lesen? Dieser neuen Generation muß man immer genau erklären, warum sie etwas tun soll. Vor allem, warum sie irgendein Buch lesen sollen. Naja, sagte ich und schaute den Umschlag von Combray an. Es ist eins der besten
Bücher, die es gibt. Ja, sagte sie. Aber was hat Ihnen denn so besonders gut daran gefallen. Oder wer? Oh, sagte ich, die Großmutter. Und ich erzählte ihr die Geschichte mit den Stützen an den Rosen, die die Großmutter immer wegnimmt, wenn sie durch den Garten geht. Sie macht das, um den Rosen ihr natürliches Wachstum zu lassen. Als ich fertig war, sagte ich: Meine Großmutter war genauso. Sie hat das auch immer gemacht. In Wirklichkeit hat meine Großmutter das nie getan. Meine Großmutter hatte immer Angst um die Gesundheit aller Leute in unserer Familie, und sie hätte es ganz normal gefunden, daß man irgendwelche schwachen Pflanzen stützt. Es war eine glatte Lüge, was ich da gesagt hatte. Ich lüge ziemlich oft. Wahrscheinlich jeden Tag ein paarmal. Andererseits war es
eigentlich doch keine Lüge: als ich vier oder fünf Jahre alt war, hatte ich im Winter einmal vierzig Grad Fieber und mußte mit dem Krankenwagen ins Krankenhaus gebracht werden. Das Krankenhaus lag auf einem Berg in einer Mulde, zu der eine sehr steile Straße hinunterführte, die völlig vereist war, so daß der Krankenwagen nicht hinunterfahren konnte. Als einer der Sanitäter mich hinuntertragen wollte, sagte meine Großmutter: Lassen Sie mich mal machen, setzte sich auf die vereiste Straße, nahm mich auf den Schoß und mischte mit mir zusammen die hundert Meter zum Krankenhaus hinunter. Ja, das ist nicht sehr weit von jemandem entfernt, der die Stützen von irgendwelchen Rosen wegnimmt. Das gefällt mir mit den Stützen für die Rosen, sagte die junge Frau. Die Pflanzen müssen aus eigener Kraft stark werden.
Wahrscheinlich wählt sie die Grünen. Das muß ich lesen, sagte sie dann noch wie jemand, der sich ganz gut auch anders hätte entscheiden können. Es war ziemlich eng für die Liebe von Swann. Ich meine, wenn sie die beiden Bücher nicht genommen hätte, dann hätte ich sie wahrscheinlich in einen Abfallkübel an irgendeiner Straßenecke geworfen. Zum Abschied sagte ich noch zu ihr: Wo das herkommt, da ist noch viel mehr. Seltsam, daß ich das jetzt alles schreibe. Ich bin seit Wochen, seit Monaten, auf der Flucht vor der Mafia, ich habe eigentlich gar keine Zeit, und ich habe nachts manchmal Todesangst. Nein, fast jeden Tag habe ich Todesangst. Wenn mich jemand auf der Straße länger als den kurzen, üblichen Passantenaugenblick lang anschaut, habe ich Todesangst. Mein ganzer Körper bäumt sich