Vergessene Seelen Wie Kinder zu Versuchsobjekten der Medizin wurden

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NDR Info Das Forum vom 13.11.2017 Vergessene Seelen Wie Kinder zu Versuchsobjekten der Medizin wurden Feature von Eike Lüthje, Christian Schepsmeier und Julia Schumacher ------------------------------------ Franz Wagles Aufbruch Atmo Ein Fernseher läuft, eine Zigarette wird angezündet Franz: Ich schlaf ja ohne Fernseher nicht ein. Der läuft bei mir. Ich muss dieses Flatterlicht haben von der Glotze. Das reicht mir schon. Franz Wagle ist Frührentner, in den Sechzigern geboren. Der kleine, stämmige Mann mit kahlem Kopf lässt sich in seinen Rollstuhl fallen. Franz: Wenn ich nichts im Hintergrund hab, werde ich hibbelig oder gribbelig oder wie sagt man dazu. Die Schmerzen in Hüfte und Rücken sind heute besonders groß. In einem Dorf bei Itzehoe sitzt er in seinem gefliesten Wohnzimmer mit den ausgeblichenen lila Vorhängen vor dem einzigen Fenster. Er raucht. Die Wand, an die der riesige Fernseher geschraubt ist, ist schon etwas beige. Ende der Sechziger beginnt das, was Franz Wagle noch heute den Schlaf raubt, Rücken und Hüfte schmerzen lässt. Franz: Weiß auch nicht, was das für Präparate waren, warst immer benaschelt und betäubt. Das Licht hat sich gedreht, wenn Licht da war. Als kleiner Junge wird er vom Heim in die Kinderpsychiatrie eingewiesen. Und das, was er dort erlebt hat, hat ihn traumatisiert, sagt sein Arzt heute. Die Schmerzen seien Spätfolgen dieses Traumas. Franz: Manchmal wirst du wach, dann hast du so einen Traum, dann liegst du da: Wenn der Arzt von hinten kommt, dir die Spritze in den Rücken knattert oder du wenn Du festgehalten wirst, irgendwas was einschmeißen musst. Dann bist du auch immer schweißgebadet, bist du kerzengerade im Bett oder sonst was. Oder du wühlst wie bekloppt. Die Alpträume, die hast du immer mal wieder vor den Augen. Immer wieder. 1

Landeskrankenhaus Schleswig-Hesterberg, Kinder- und Jugendpsychiatrische Abteilung: Hier weist das Landesjugendamt Franz mehrfach für Wochen und Monate ein. Der Grund: Franz ist unehelich geboren, seine alleinerziehende Mutter mit ihm überfordert. Franz erinnert sich an kleine Gläser mit einer trüben Flüssigkeit, immer wieder EKGs und Blutentnahmen, Tabletten und Spritzen. Franz: Selbst als Kind, als Sechsjähriger merkst du, wenn dir das nicht guttut. So und dann versuchst zu verweigern, wenn sie wiederkommen. Ja, da gibt s keine Verweigerung. Da wird der Zweite gerufen, einer hält dich, der andere flößt dir den Scheiß ein. Und wurde dir die Nase zugehalten, Mund auf, rein damit. Und du hast nachher automatisch diesen Schluckeffekt. Tabletten und Spritzen für einen Jungen, der als schwierig gilt? Franz raucht noch eine Zigarette. Darüber zu sprechen ist neu für ihn, ungewohnt. Fast sein ganzes Leben hat Franz seine Erinnerungen betäubt: Erst durch zu viel Alkohol, dann durch zu viel Arbeit. Seit er zu Hause ist, mit Schlaf- und Schmerzmitteln. Franz: Wir wurden ja immer als Spinner abgestempelt. Dir wurd damals nicht geglaubt, und dann hat man das die ganze Zeit verdrängt. So, und dann ist das irgendwann alles wieder hochgepruselt. Hochgepruselt ist das bei Franz Wagle im Spätsommer 2016. Eine Doktorandin aus Krefeld hatte etwas entdeckt: Sylvia Wagner forscht zum Thema Medikamentenversuche in Kinder- und Fürsorgeheimen. Sie suchte Beweise, fand insgesamt 50 Aufsätze über solche Versuche deutschlandweit. Zwei davon stammen von einem Arzt aus Schleswig. Sylvia Wagner sagt dazu vor einem Jahr im NDR: Atmo: Fernseher zappt, Ton kommt aus Fernseher Sylvia Wagner: Die beiden Studien zu Schleswig, da geht nicht daraus hervor, dass das zu therapeutischen Zwecken gegeben wurde, sondern da geht klar daraus hervor, das das ein Versuch war, in beiden Fällen. Als Franz Wagle das hört, schreckt er auf: In Schleswig-Hesterberg haben Ärzte an Kindern Medikamente getestet? Plötzlich erscheinen seine Erinnerungen in einem anderen Licht. War auch er ein Versuchsobjekt der Ärzte? Franz fasst einen Entschluss: Franz: Ich will einfach nur irgendwo, dass wir nicht wieder als Spinner dastehen, einfach nur, dass uns das endlich mal abgenommen wird. 2

Der Sozialauschuss Atmo großer Sitzungssaal, Stühle rücken, Stimmen Eichstädt: Und wir beginnen mit Tagesordnungspunkt 1: Medikamentenversuche im Rahmen von Heimerziehung. November 2016: der Sozialausschuss des schleswig-holsteinischen Landtags tagt. Nachdem der NDR über Franz Wagle und andere ehemalige Patienten aus Schleswig berichtet hatte, befasst sich die Politik erstmals mit dem Thema. Bis 2005 war die Psychiatrie in Schleswig ein Landeskrankenhaus. Was dort geschah, passierte also unter Aufsicht der Landesregierung Schleswig-Holsteins. Im Anschluss an die Ausschusssitzung fragen wir die zuständige Sozialministerin Kristin Alheit nach dem Wissensstand: Alheit: Wir wissen im Moment beim Hesterberg ganz wenig, wir wissen gerade bei Hesterberg ganz wenig, was da passiert ist. Da gibt es einfach auch ganz schlecht Unterlagen. Das ist ja das Problem, was uns verzweifeln lässt. Wir haben tatsächlich in Schleswig- Holstein konkret keine Hinweise. Musik von Snezana Nesic Die Recherche beginnt Atmo Bibliothek: Gemurmel, blättern, Kopierer Keine Hinweise auf Versuche in Schleswig-Holstein? Wir machen uns auf die Suche: In der Landesbibliothek, der Uni Kiel und im Landesarchiv. Frei zugängliche Orte, jeder kann dort recherchieren. Wir finden insgesamt sechs weitere Aufsätze aus der Kinderabteilung Schleswig-Hesterberg verfasst vom gleichen Arzt, von dem auch Forscherin Sylvia Wagner zwei Aufsätze entdeckt hatte. Er berichtet von Versuchen mit Psychopharmaka. Einige der Medikamente waren für Erwachsene schon auf dem Markt. Der Arzt wollte herausfinden, wie sie an Kindern wirken: Zitat: Bei diesem Versuch an drei bis 13-Jährigen stellten wir uns folgende Frage: Besitzt Haloperidol möglicherweise toxische Eigenschaften? Der Arzt will also ausprobieren, ob der Wirkstoff für Kinder giftig ist. In einem anderen Versuch testet er, wie viel die Kinder von einem Mittel vertragen: 3

Zitat: In diesem Sinne kam es darauf an, die Grenzen der Encephabol-Medikation kennenzulernen. Der Arzt erhöht langsam die Dosierung und stellt fest: Zitat: Wird die Toleranzgrenze überschritten, so können Unruhezustände provoziert werden. Buyx: Das ist ethisch problematische Forschung. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen: Das ist ethisch unzulässige Forschung. sagt Alena Buyx, Professorin für Medizinethik an der Universität Kiel und Mitglied des Deutschen Ethikrats. Buyx: Kinder sind nicht einwilligungsfähig, so nennen wir das. Und in diesen Fall scheint es auch so zu sein, dass es auch keine stellvertretende Einwilligung gegeben hat. Und auch damals durfte man keine Forschung machen an Nicht-Einwilligungsfähigen, also an Kindern. Was waren das für Medikamente, die Ärzte im Landeskrankenhaus Schleswig-Hesterberg an Kindern getestet haben? Musik Snezana Nesic: Glockenspiel Die Medikamente Atmo, Musik, neutraler Ort In den meisten Versuchen geht es um Psychopharmaka: Die Mittel sollten gegen sogenannten Schwachsinn und Unruhe wirken, gegen Krampfanfälle, Apathie und vermindertes Leistungsvermögen. Der Arzt schreibt, dass er die angedachten Dosen teilweise weit überschreitet. Die Folgen: Kinder haben Nebenwirkungen wie Muskelkrämpfe an Hals, Augen- und Zunge, exzessiv gesteigerte Aktivität, Unruhezustände und Hirnkrampfentladungen. Einige der Mittel sind heute nicht mehr auf dem Markt, andere nur für Erwachsene zugelassen. Musik Snezana Nesic: Akkordeon, Ortswechsel Der Tatort Atmo: Schritte auf Asphalt, Atmo eines Herbsttages, Krähen 4

Franz: Alter Schwede. Ich bekomm Gänsehaut im Nacken, vom dem Scheiß hier. Zum ersten Mal nach 37 Jahren kehrt Franz an den Ort zurück, an dem das alles passiert ist: Die Tabletten und Spritzen, der Zwang, die Angst und der Dämmerzustand. Kein Verdrängen mehr. Um ihn herum: Die ehemalige Kinderpsychiatrie Schleswig-Hesterberg. Er bleibt stehen und zeigt mit seinem Stock auf ein Haus: Franz: Da sind die Untersuchungen gewesen. Da steht der Bunker. Hier, bin ich der Meinung, war ich zum Röntgen. Da ist meistens ne Schwester mitgelatscht und ein Pfleger, der dich festgehalten hat auf gut Deutsch.. Die alte Kinderpsychiatrie Schleswig-Hesterberg zerfällt langsam. Franz Erinnerungen bleiben. Franz: Das pruselt dir alles wieder hoch, so richtig. Das ist wie so ein Sektglas, das du zu schnell einkippst. Das schäumt dir über, da ist ein Bier schal gegen. Atmo Herbsttag wird lauter, Krähen, Harfe setzt ein Das Krankenhaus Atmo Schleswig geht in die eines neutralen Orts über Was war das für ein Ort, an dem das alles geschehen ist? Das Landeskrankenhaus Schleswig besteht seit Kriegsende aus zwei Abteilungen: der Erwachsenenpsychiatrie Schleswig-Stadtfeld und zwei Kilometer entfernt - der Kinder- und Jugendpsychiatrie Schleswig-Hesterberg. Musik: Streicher und Akkordeon/ Atmo Krankenhaus Anfang der Sechzigerjahre stehen hier insgesamt 2340 Betten. 600 davon auf dem Hesterberg. Zeitdokumente belegen: Es ist ständig überfüllt, dreckig, bis zu 40 Kinder schlafen in einem Raum. Vier voll ausgebildete Ärzte arbeiten dort, einer für 150 Kinder. Das Landesjugendamt schickt Kinder aus den ebenfalls überfüllten Heimen in die Psychiatrie weiter. Diagnosen wie verwahrlost, unruhig oder - wie bei Franz Wagle - unehelich geboren reichen dafür aus, bestätigen Experten. Musik lauter, leiser, Atmo Krankenhaus verstummt langsam 5

Als in den 50er Jahren Psychopharmaka aufkommen, ändert sich das Klima in der Psychiatrie: Methoden wie Elektroschocktherapie werden nicht mehr praktiziert, stattdessen stellen Ärzte ihre Patienten mit den neuen Medikamenten ruhig. Der Arzt Atmo Krankenhaus: Murmeln, Bettenschieben, Durchsagen, Husten Ärzte wie Dr. Rolf Jacobs. Er hat im Zeitraum von elf Jahren acht Aufsätze verfasst, über Versuche an Kindern in Schleswig-Hesterberg. Er schreibt auch auf, warum er diese für notwendig hält: Zitat: Es kann nicht genug dafür getan werden, das Augenmerk darauf zu richten, der Pharmakotherapie solcher vom Schicksal benachteiligter Menschlein einen gebührlichen Rahmen zu erschließen. Rolf Jacobs war im zweiten Weltkrieg als Sanitätsoffizier in Russland, ließ sich danach zum Kinderarzt, Psychiater und Neurologen ausbilden. In Schleswig wurde er stellvertretender Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Vor ein paar Jahren ist er gestorben. Wir treffen seinen Sohn Helgo. Er wusste nichts von den Medikamentenversuchen. Wir zeigen ihm die Aufsätze, er gibt uns Fotos und Einblicke in seine Erinnerung: Helgo Jacobs: Mein Vater hat eine Dienstwohnung gehabt, im Landeskrankenhaus. Und wir haben da, meine Schwester und ich und meine Mutter, mit ihm gelebt. Das war Alltag für uns. Für einen Pharmaforscher oder strikten Naturwissenschaftler hat er seinen Vater nie gehalten. Helgo Jacobs: Er hat sich insgesamt sehr für Menschen interessiert. Und auch helfen zu können war ihm wichtig. Und seine Pflicht zu erfüllen. Er war ja ein Kind aus sehr traditionellem Elternhaus und da ist alles möglichst korrekt zugegangen. Das war ihm ganz wichtig. Sein Vater so das Urteil des Sohnes hat sicherlich nicht in böser Absicht gehandelt. Medizinhistoriker bestätigen das: nicht in böser Absicht aber dennoch falsch. Damals habe eine euphorische Stimmung unter den Ärzten geherrscht, was man mit den neuen Psychopharmaka machen könne. 6

Recherche II 1. Wendepunkt Atmo In einer Bibliothek: Gemurmel, blättern, Kopierer Wir suchen weiter in den Bibliotheken. Die medizinischen Fachzeitschriften aus dieser Zeit füllen endlose Regalmeter. Eine mühsame Suche, bei der wir aber Erstaunliches entdecken: mehr als dreißig weitere Aufsätze über Medikamentenversuche von Schleswiger Ärzten, diesmal an Patienten der Erwachsenenpsychiatrie Stadtfeld. Zitat: Klinische Prüfung von Noxiptilin - Mit der neuen Substanz werden alle im Versuchszeitraum aufgenommenen Kranken unabhängig von der Diagnose behandelt. Alle Patienten, die neu in die Klinik kommen, kriegen das Mittel. Das heißt: JEDER bekommt es, egal was er hat. Osten: Man macht das nicht, um ihnen zu helfen. Man macht das um zu gucken: Wie wirkt das Arzneimittel? Das ist eine Wirksamkeitsstudie. Und das ist natürlich eindeutig ein Experiment, was da stattgefunden hat. Sagt Philip Osten, Professor für Medizinethik am Uniklinikum Hamburg Eppendorf. Für ihn ist das unzulässige Forschung aus zwei Gründen: Die Patienten haben keinen Nutzen davon, wenn man ihnen ohne Diagnose ein Medikament verabreicht. Und psychisch Kranke sind nicht einwilligungsfähig, genau wie die Kinder. Osten: Sie waren damit überhaupt nicht mehr in die Behandlung einbezogen und konnten zu den Zielen der Behandlung nichts sagen. Das heißt, das ist eine komplette juristische Entmachtung, die da stattfindet. Strafrechtler sagen: Der Tatbestand wäre auch damals mindestens Körperverletzung gewesen. Doch dieser ist verjährt. Und auch damals gab es schon medizinische Grundsätze dazu. Sie untersagen Forschung an nicht einwilligungsfähigen Patienten und Versuche ohne direkten Nutzen für den Patienten. Midpoint Atmo Neutraler Ort 7

Jahrzehntelang lagen die Beweise für die Medikamentenversuche in Archiven und Bibliotheken. Die Aufsätze dokumentieren: Zwischen 1953 und -78 haben Schleswiger Ärzte Medikamentenversuche mit mehr als dreißig verschiedenen Wirkstoffen gemacht. Nach Auswertung durch den NDR testeten Ärzte die Mittel an mindestens 3500 Probanden. Mehr als 1000 davon waren Kinder. Musik von Snezana Nesic: unangenehm, bedrohlich Wie konnte so etwas mit Kindern in Obhut des Landes passieren? Haben die Ärzte aus eigenem Antrieb gehandelt? Welche Rolle spielt die Pharmaindustrie? Fragen, die mittlerweile auch die Landesregierung erreichen. Der Beirat Atmo Beratungsstelle Alheit: Hallo, hallo, schönen Guten Tag. Hallo. So. Ein halbes Jahr ist vergangen, seit sich Franz Wagle an die Öffentlichkeit gewandt hat: Ende März 2017 eröffnet Sozialministerin Kristin Alheit eine neue Beratungsstelle. Schlichte Büroräume in Neumünster: Hier sollen künftig Menschen Hilfe bekommen, die als Kind in Behinderten-Heimen und Psychiatrien Leid erfahren haben. Dabei geht es vor allem um Gewalt, Missbrauch und Zwangsarbeit. Alheit: Ich glaube, dass wir allein dadurch, dass wir uns dem Thema annehmen, dass wir es öffentlich machen, dass wir eine Anlaufstelle bieten, tatsächlich etwas tun, was bisher nicht getan ist, was ganz, ganz wichtig ist. Das Thema Medikamentenversuche wird hier allerdings nur am Rande bearbeitet. Die Beratungsstelle wurde vor den Erkenntnissen über Medikamentenversuche geplant. Alheit: Was wir tun können, tun wir. Und was wir da an Gerechtigkeit herstellen können, leisten wir. Wir bemühen uns. Kurz danach gründet das Sozialministerium einen Beirat, der sich mit den Medikamentenversuchen beschäftigen soll. Ehrenamtlich. Die Mitglieder aus Politik, Kirche und Wissenschaft sowie drei Betroffene sollen sich zweimal im Jahr treffen. Franz und Günter gegen das Land Atmo einer Autofahrt, Motorsurren, blinken, schalten 8

Franz Wagle ist auf dem Weg zu einem dieser Opfervertreter für die Medikamentenversuche in dem Beirat. Ein Mann, den er nicht kennt, mit dem er aber viel gemeinsam hat: Günter Wulf. Franz: Für mich persönlich finde ich es gut, dass ich weiß, ich bin nicht der Einzige. Mit gerunzelter Stirn sitzt er in seinem Auto. Er fährt in ein Dorf bei Schleswig. Atmo Autotür, Schritte, Klingeln, Tür Franz: Moin Günter, Franz hier. Günter: Ja, hallo. Franz: Du wohnst aber am Arsch der Welt. Günter: Aber ich wohne hier gut. Günter ist etwas älter als Franz, er ist schmal, aufrecht, seine Augen blicken immer erschreckt. Seine ersten 18 Lebensjahre hat Günter in verschiedenen Heimen verbracht, sechs davon in Schleswig-Hesterberg. Günter: Möchtest du Kaffe? Franz: Gerne. Schwarz wie Seele und Füße. Günter Wulf holt Kaffee und einen Stapel alte Fotos. Günter: Das ist Haus F. Franz: Alter, der Bunker sagt mir auch noch was, der Eingang. Günther: Über dem Haupteingang ist das Medikamenten- und Behandlungszimmer. Franz: Da musste ich immer hin, bin ich der Meinung.. Ich war immer oben erst auf Zelle, da war es taghell. Sie sprechen lange über die Vergangenheit, die Zeit in Schleswig. Ihre Erinnerungen decken sich fast komplett. Und dann war ich mal im Keller in ner Zelle. Günter: Ich muss ganz ehrlich sagen: Es ist nicht immer schön, wenn man über sich und seinen Lebensweg nachdenkt. Franz: Da fragt man sich oft: Warum? Man fällt ne Zeit manchmal in so ein Loch. Günter: Genau. Das ist diese Depression. Franz: Da hat man die tiefsten Gedanken. Beide wollen, dass das, was sie erlebt haben, anerkannt wird. Dass sie das Land Schleswig-Holstein als ehemaliger Träger der Klinik ernst nimmt, das Geschehene untersucht und dass sie eine Entschädigung bekommen. Aus dem Beirat, den das Sozialministerium gegründet hatte, ist Günther nach der ersten Sitzung ausgetreten. 9

Günter: Meiner Meinung nach ist das eine Schmuckfassade. Sie wollen nämlich nur zeigen, dass sie sich um das Wohl ihrer Mitbürgerinnen und Mitbürger bemühen. Und wir sind dafür nur Mittel zum Zweck. Und deswegen habe ich auch gesagt: Ich mach das Ganze nicht mehr mit. Das ist mir zu dumm. Franz: Kann ich verstehen. Das Land sagt: Der Beirat sei auch gegründet worden, um über die Mitglieder alle Interessen in eine Aufarbeitung einzubringen: von Kirche, Politik, Wissenschaft und den Betroffenen. Patientenakten aus der Zeit liegen kaum noch vor. Auch Franz und Günter haben über sich nur wenige Dokumente. Schwarz auf weiß steht darin nirgends geschrieben, dass Ärzte an ihnen Medikamente getestet haben. Restlos nachweisen lässt sich also nicht, wer tatsächlich Proband war. Was die historischen Fachaufsätze aber klar belegen: Die Medikamentenversuche am Landeskrankenhaus Schleswig hat es gegeben. Der Pfleger 2. Wendepunkt Atmo Krähen, Wind, ein Wintertag Schleswig-Stadtfeld. Die ehemalige Erwachsenenpsychiatrie, ein Klinikgelände groß wie ein Park: hohe Bäume, ein Teich, herrschaftliche Gebäude. Pfleger: Da werden Erinnerungen wach, überwiegend negative. Positives gab es hier nicht Wir treffen diesen ehemaligen Pfleger. Er hat die Berichte über Medikamentenversuche im Landeskrankenhaus gehört und will uns etwas erzählen. Seinen Namen will er nicht nennen. Er hat schließlich damit zu tun gehabt. Pfleger: Ich bin nie richtig warm geworden. Weil da waren viele Dinge, die waren mir zuwider. Gemeinsam besuchen wir seinen alten Arbeitsplatz. Er will mit uns zu einem ganz bestimmten Haus. Auf dem Weg dorthin erzählt er: 13 Jahre nach dem Krieg hat er hier als Pfleger angefangen. Er erzählt von der strengen Rangordnung damals: Pfleger: Das waren Götter in Weiß. Die waren unantastbar. 10

Schon damals sei ihm manches komisch vorgekommen. Doch erst durch die Berichte über Medikamentenversuche verstand er, woran er damals mitgearbeitet hatte. Pfleger: Wir waren regelrecht blind auf dem Gebiet. Das wurde verordnet. Wir haben das ausgeführt. Und dann war das das. Seit seinem letzten Arbeitstag vor 20 Jahren war er nicht mehr hier. Einige der alten Gebäude sind neuen gewichen. Heute betreibt ein privates Unternehmen wieder eine Psychiatrie. Das eine alte Haus, das letzte, bevor das Klinikgelände in Wald übergeht, erkennt er aber sofort. Pfleger: Das war hier, das Fenster. Hinter diesem Fenster war einst der Raum, von dem er uns erzählen will. Pfleger: Da standen Kartons mit den Pillen drin. Mehr war das nicht. Das war sogenannte Nummernmedizin. Die hatte noch keine Zulassung für den Handel. Die durften nirgendwo verkauft werden. Das war rein Versuch. Atmo geht kurz in Musik über, Ortswechsel nach neutral Roelcke: Das heißt, die Erprobung findet in einem Stadium statt, in dem das Medikament noch nicht auf dem Markt ist, es gibt eine interne Bezeichnung. Das ist sehr oft eine Buchstaben- und Zahlenkombination. Erklärt der Gießener Medizinhistoriker Volker Roelcke. Er forscht zum Thema Medikamentenversuche an psychiatrischen Kliniken. - Wir finden weitere Belege für das, was der Pfleger erzählt: In einem Aufsatz beschreibt ein Schleswiger Arzt, wie er 1967 an 70 Patienten ein Antidepressivum erprobt: Das Mittel trägt die Bezeichnung BAY 1521. BAY steht für die Bayer AG. Erst zwei Jahre später kommt das Mittel als Agedal auf den Markt. Roelcke: Die Patienten haben nicht mal potentiell einen Nutzen von diesem Medikament. Wenn überhaupt tritt ein Schaden auf, das will man ja gerade überprüfen. Sie werden eigentlich nur benutzt, quasi wie Versuchsobjekte ohne eigenen Nutzen. Atmo Krähen, Schritte Zu dem verschlossenen Raum mit den Pillen-Packungen hatte der Pfleger einen Schlüssel. Auf Anordnung der Ärzte hat er die Medizin dort geholt und ausgegeben. 11

Pfleger: In den meisten Fällen war das Zwangsmedikation. da wurde nicht viel gefragt. In den meisten Fällen war das Zwangsmedikation. Die haben über kranke Menschen ein Urteil gefällt. Die erwarten Hilfe und bekommen das Gegenteil von dem. Franz prallt ab Atmo Fernseher im Hintergrund, ein Feuerzeug, Papier, Tastatur Franz Wagle sitzt in Jogginghose und T-Shirt an seinem kleinen Schreibtisch in der Wohnzimmerecke. Er raucht und beugt sich über dicke Ordner. Unterlagen über seinen Gesundheitszustand, Briefe an Land und Pharmaindustrie. Franz: Die sollen einfach dafür geradestehen für den Mist, den sie da verzapft haben. Vor einem Dreivierteljahr hat er das erste Mal über die Medikamente gesprochen. Passiert ist seitdem nicht viel, findet er: Franz: Wer ist verantwortlich...ja, so wie ich das sehe, sind das eigentlich die Betreiber der Einrichtung, die Landesregierung und die Pharmaindustrie. Atmos gehen ineinander über Pharma-Korrespondenz AtmoTastaturgeklapper, Telefone, gedämpftes Sprechen Die Dokumente aus den Archiven und Bibliotheken belegen die direkte Zusammenarbeit zwischen Pharmakonzernen und Ärzten aus dem Landeskrankenhaus Schleswig. So veröffentlichen ein Schleswiger Mediziner und ein Pharmaforscher von Bayer die Ergebnisse eines gemeinsamen Versuchs. Ein anderer Arzt schreibt: Zitat: Die Industrie bemüht sich gegenwärtig schon um die Schaffung von Kombinations- Präparaten; zum Beispiel wurde uns gerade eine Megaphen-Kombination an die Hand gegeben. Und: Zitat: Aufrichtig möchte ich den BAYER-Werken und den CIBA-Werken für die großzügige Überlassung von Versuchsmengen danken. Wir konfrontieren die Konzerne mit unseren Rechercheergebnissen. 12

Atmo Geräusch E-Mail versenden Darunter: Internationale Firmen wie Bayer, Merck, Janssen, UCB sowie Vorgängerunternehmen von Roche und Novartis. Wir bekommen Antworten. Bayer, Roche und UCB betonen den großen zeitlichen Abstand. Die Firma Merck wiederum bestätigt: Zitat dass Medikamente an das Landeskrankenhaus Schleswig zur Verabreichung an Kinder und Jugendliche gegeben wurden. Janssen räumt für das hochwirksame Langzeitneuroleptikum Fluspirilene ein: Zitat Grundlage der Zulassung waren klinische Prüfungen unter anderem im Landeskrankenhaus Schleswig. Manche Konzerne bieten uns ihre Unterstützung an. Ein Interview will uns aber keiner geben. Wir fragen beim Bundesverband der Arzneimittelhersteller BAH nach. Musik von Snezana Nesic: Glockenspiel 14: Der Verbandssprecher Atmo Neutraler Raum Der Verbandsvorsitzende Hermann Kortland lädt uns nach Berlin ein. Kortland: Nach heutigen Maßstäben sind natürlich diese klinischen Versuche oder Prüfungen, die bei nicht einwilligungsfähigen Menschen vorgenommen worden sind, sind natürlich eindeutig rechtswidrig, moralisch nicht zu vertreten und deshalb auch ganz sicherlich zu verurteilen. Für Ärzte gab es damals Regeln, die ihnen Tests an nichteinwilligungsfähigen Patienten untersagt haben. Nicht aber für Pharmakonzerne: Ein entsprechendes Arzneimittelgesetz gibt es in Deutschland erst seit 1978. Wir fragen trotzdem nach der moralischen Verantwortung für die Unternehmen: Sollten die Pharmakonzerne die Opfer entschädigen? Kortland: Da gehe ich jetzt mal ins Wort: Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Unternehmen in so klaren Fällen, wo es auch nachgewiesen ist und wo sie es auch zugeben, dass sie da einer Entschädigung nicht zustimmen. Das kann ich mir nicht vorstellen. Die Konzerne sehen das trotz der Beweise für die Medikamentenversuche offenbar anders. Roche antwortet, der Konzern möchte: 13

Zitat davon absehen, auf Spekulationen einzugehen. Die Firma Merck schreibt: Zitat Nach unserer Kenntnis hat Merck nicht rechtswidrig gehandelt. Daher stellt sich die Frage nach Wiedergutmachung nicht. Der Konzern, dessen Medikamente am häufigsten in Schleswig getestet wurden, versucht nicht einmal auf die Frage nach Entschädigung zu antworten: Die Bayer AG. Zitat: Im Rahmen unserer Recherche nach Unterlagen über eine Anwendung von Megaphen, Aolept, Agedal, Truxal, Androcur, Atosil und Carpipramin an Kindern in Heimen im Zeitraum von 1950-1978 haben wir in unseren Archiven keine Dokumente gefunden, die auf eine Verbindung unseres Unternehmens mit der Durchführung von Prüfungen mit diesen Präparaten in Kinderheimen nachweisen. Diese Antwort schickt uns ein Bayer-Sprecher mehrfach. Er zählt auch Präparate auf, nach denen wir nie gefragt hatten. Auftritt Heiner Garg Atmo Landeshaus Oktober 2017: Inzwischen ist mehr als ein Jahr vergangen, seit Franz das erste Mal über die Medikamente in Schleswig gesprochen hat. Inzwischen ist ein neuer Sozialminister im Amt: Heiner Garg. Von ihm kommt der Satz, auf den Franz und die anderen so lange gewartet haben. Garg: Was die Menschen erlitten und erduldet haben, das kann man nicht mit einer Entschuldigung wiedergutmachen. Trotzdem sehe ich mich in der moralischen Verpflichtung. Das tue ich auch von Herzen, mich im Namen der Landesregierung für dieses Leid zu entschuldigen. Um Entschuldigung bitten, das macht Heiner Garg bislang als erster und einziger Minister. Und: Er will auch die Pharmaindustrie beteiligen. Garg: Ich möchte die transparente Aufarbeitung auch dadurch unterstützen, dass ich Pharmafirmen nicht nur ansprechen will, sondern.. Ich finde zumindest, die moralische Verpflichtung auch noch einmal deutlich machen möchte, bei der Aufklärung behilflich zu sein. 14

Wird es also eine Entschädigung für die Opfer der Medikamentenversuche geben? Das macht Sozialminister Garg vom Ergebnis einer wissenschaftlichen Studie abhängig, für die das Ministerium 100.000 Euro bereitstellen will. Bis 2020 soll die Studie abgeschlossen sein. Die Arbeit daran hat noch nicht begonnen. In Eckhards Atelier Atmo Stühle rücken, Menschen reden durcheinander Auf das Kieler Sozialministerium blicken sie hier besonders skeptisch: In einem Atelier in Eckernförde trifft sich der Verein ehemaliger Heimkinder Schleswig-Holstein. Auch Franz Wagle war schon ein paar Mal dabei. Günther Wulf ist zum ersten Mal hier. Zu acht diskutieren sie über die Medikamentenversuche - was bisher geschehen ist und vor allem was nicht. Stimmen Das ist ein Stück deutsche Nachkriegsgeschichte, die hier unter den Teppich gekehrt wird. / Ich möchte, dass die Politiker das selber hören aus berufenem Munde, die das alles mitmachen mussten und ich ja nun leider ein Lied davon singen. Die Tabletten, die Spritzen, der Zwang und der dauernde Dämmerzustand. Vor einem Jahr haben sie das erste Mal öffentlich davon erzählt. Viele Fragen sind noch offen, obwohl viele Fakten auf dem Tisch liegen. Das Landeskrankenhaus in Schleswig gibt es nicht mehr. Die Erinnerungen von Franz, Günter und den anderen sind geblieben. Tausende wurden zu Versuchsobjekten von Ärzten und Pharmaindustrie. In Obhut des Landes Schleswig-Holstein. 15

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