Bosnien-Herzegowina - Ein stabiler Staat braucht eine gemeinsame Vision

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Transkript:

Schweizerisches Jahrbuch für Entwicklungspolitik Band 25, Nr. 2 2006 Frieden und Sicherheit: Herausforderungen für die internationale Zusammenarbeit Bosnien-Herzegowina - Ein stabiler Staat braucht eine gemeinsame Vision René Holenstein Electronic version URL: http://sjep.revues.org/454 ISSN: 1663-9677 Publisher Institut de hautes études internationales et du développement Printed version Date of publication: 1 octobre 2006 Number of pages: 237-240 ISBN: 2-88247-065-7 ISSN: 1660-5926 Electronic reference René Holenstein, «Bosnien-Herzegowina - Ein stabiler Staat braucht eine gemeinsame Vision», Schweizerisches Jahrbuch für Entwicklungspolitik [Online], Band 25, Nr. 2 2006, Online erschienen am: 08 Juni 2010, aufgerufen am 01 Oktober 2016. URL : http://sjep.revues.org/454 The text is a facsimile of the print edition. The Graduate Institute

Bosnien-Herzegowina Ein stabiler Staat braucht eine gemeinsame Vision René Holenstein* Mehr als zehn Jahre nach Beendigung des Krieges (1992-1995) leidet Bosnien-Herzegowina an seiner Verfassung, die im Friedensabkommen von Dayton 1995 ausgehandelt wurde. Sie schreibt die Trennung des Staates in zwei relative autonome politische Entitäten fest. Der übergeordnete Zentralstaat ist nur mit schwachen Kompetenzen ausgestattet, was die zügige Umsetzung von Reformen erschwert. Rund 60 Prozent der öffentlichen Mittel werden für die Verwaltung mit ihren zahlreichen Parallelstrukturen eingesetzt. Expertinnen und Experten sind sich einig, dass sich mit der aktuellen Verfassung, die in Dayton zur Beendigung des Kriegs in aller Eile ausgearbeitet wurde, kein Staat machen lässt. Mit dem Büro des Hohen Repräsentanten (OHR) als Überwachungsorgan der internationalen Gemeinschaft über das Friedensabkommen wurde Bosnien-Herzegowina in einen protektoratsähnlichen Zustand versetzt. Die teilweise politische Entmündigung durch das OHR behinderte die Übernahme der politischen, sozialen und ökonomischen Verantwortung für den Staats- und Gesellschaftsaufbau durch lokale Kräfte. Individuelle Bürgerrechte sind verfassungsmässig nur schwach verankert; das ethnische Prinzip dominiert die politische Entscheidungsfindung. Einbeziehen der Bürgerinnen und Bürger Welche Alternativen gibt es? Die Frage steht im Zentrum des Projekts Plattform Bosnien-Herzegowina, das im April 2005 von der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) zusammen mit der schweizerischen Botschaft in Sarajewo lanciert wurde. In Zusammenarbeit mit einer lokalen Zeitung aus Banja Luka wurden in Mostar, Banja Luka, Tuzla und anderen bosnischen Städten öffentliche Diskussionsveranstaltungen organisiert, an denen Bürgerinnen und Bürger zu möglichen Verfassungsänderungen Stellung nehmen konnten. Dabei standen Fragen zur Diskussion, zu deren Lösung die Schweiz aufgrund ihrer eigenen Geschichte einen besonderen Beitrag leisten kann: direkte Demokratie, Föderalismus sowie die wirtschaftliche und soziale Integration von Regionen und Minderheiten. Dem Projekt liegt der Gedanke zugrunde, dass Bosnien eine Zukunftsvorstellung braucht, welche bosnische Kroaten, Serben und Muslime gleichermassen einbindet. Denn ein stabiler Staat braucht eine allen ethnischen Gruppen gemeinsame Vision. Während der Diskussionen sind einige sehr konkrete Vorschläge über eine zukünftige Staatsordnung von Bosnien-Herzegowina entstanden, die alle auf die Notwendigkeit von Veränderungen hinweisen. So haben viele Leute erkannt, * Leiter der Sektion Gouvernanz bei der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA), Bern. 237

dass die wirtschaftliche Einheit von Bosnien-Herzegowina eine wichtige Voraussetzung für die europapolitische Integration des Landes ist. Das Projekt hat das Interesse der Öffentlichkeit geweckt, weil es die bosnischen Akteure selbst ins Zentrum stellt. Es weist darauf hin, dass Änderungen in dem Land nicht von oben verordnet, sondern von unten mitgetragen und gelebt werden müssen, damit sich die Realität nachhaltig ändert. Unterstrichen wurde dieser Zusammenhang von Schweizer Experten wie der Historiker Georg Kreis und der Schriftsteller Adolf Muschg, die an den Diskussionveranstaltungen teilnahmen. Die Schweiz fördert mit dem Projekt Plattform Bosnien-Herzegowina die Dialogkultur in der Verfassungsfrage und leistet damit indirekt auch einen Beitrag zur Nationenbildung, die in diesem Land noch nicht abgeschlossen ist. Dieser Vorgehensweise liegt die eigene, schweizerische Erfahrung der Nationenbildung zugrunde: Im 19. Jahrhundert hatten die französischsprachige und die italienischsprachige Minderheit erkannt, dass es ihnen in einem schweizerischen Gesamtstaat besser geht, denn als blosser Annex von Frankreich oder Italien. Das Projekt Plattform Bosnien-Herzegowina ergänzt das Engagement der Schweiz im Wirtschafts- und Sozialbereich in sinnvoller Weise. Südosteuropa ist aufgrund der geografischen Nähe zur Schweiz sowie der Annäherung der Region an die Europäische Union ein Schwerpunkt für die schweizerische Aussenpolitik. Die Schweiz hat sich aus Gründen der Solidarität mit der Bevölkerung, aber auch aus dem Interesse, die Balkanregion in politischer, sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht zu stabilisieren, in der Region stark engagiert. Die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) und das Staatssekretariat für Wirtschaft (seco) haben in den vergangenen Jahren rund 230 Millionen Euro investiert. Unmittelbar nach dem Krieg standen die humanitäre Hilfe und der Wiederaufbau der Infrastruktur im Vordergrund. Die Instandstellung von Strom- und Wasserleitungen und der Bau von Schulen und Spitälern erleichterte die Integration der zurückgekehrten Kriegsflüchtlinge und verbesserte das Los der ansässigen Bevölkerung. Allein aus der Schweiz kehrten 1996-1999 über 15 000 Bosnierinnen und Bosnier in ihre Heimat zurück. Ende der 90er Jahre wurde die Nothilfe von den langfristigen Programmen abgelöst, welche die Stärkung von Demokratie und Marktwirtschaft zum Ziel haben. Die schweizerische Zusammenarbeit mit Bosnien-Herzegowina definiert für 2004-2008 drei prioritäre Arbeitsbereiche. Die Wirtschaftsentwicklung, vor allem die kleinen und mittleren Unternehmen sollen gefördert werden, lokale Institutionen auf Gemeindeebene gestärkt und Reformen im Gesundheits- und Sozialbereich unterstützt werden. Zurzeit finanzieren DEZA und seco rund zwei Dutzend Aktionen in diesen Schwerpunktbereichen. Die Projekte in den Bereichen Wasserversorgung, Gesundheit, Gemeindeentwicklung und in der Zusammenarbeit mit Nichtregierungsorganisationen verbessern die Situation der Bevölkerung ganz konkret. Sie sind so angelegt, dass zur Umsetzung die Zusammenarbeit zwischen den Teilrepubliken nötig ist und gefördert wird. Das heisst in der Praxis: In den Leitungsgremien dieser Projekte sind die entsprechenden Ministerien der beiden Teilrepubliken sowie je nach Projekt auch die Kantonsregierungen, die Gemeinden und die verschiedenen Interessenverbände vertreten. Auf diese Weise trägt die Zusammenarbeit der Schweiz mit Bosnien-Herzegowina zur Stärkung der gesamtbosnischen Nation bei. Die komparativen Stärken der schweizerischen Zusammenarbeit sind: langfristiges 238

Engagement, Entwicklungs- und Transitions-Know-how, Basisansatz, Pragmatismus, aktive Beteiligung der Partner und das Bestreben, konkrete Resultate zu erzielen. Ausserdem fliessen in das Programm die schweizerischen Erfahrungen auf Gemeindeebene und im Umgang mit Minderheiten ein. Die Schweiz unterstützt mit ihrem Programm der Transitionsförderung in Bosnien-Herzegowina die Zielsetzungen der bosnischen Regierung. Bosnien-Herzegowina hat mit der Erarbeitung einer nationalen Strategie zur Armutsbekämpfung (2004-2007) ein Mittelfristprogramm verabschiedet, das sich in seiner längerfristigen Vision auf die EU-Integration ausrichtet. Im Mittelpunkt des bosnischen Entwicklungsprogramms stehen die Fiskalreform, das Wachstum des Privatsektors, die Reduktion der informellen Wirtschaft, der soziale Schutz und die Bildungsreform. Als Querschnittsthemen wurden Massnahmen gegen die Korruption, die Förderung der Menschenrechte und die gleichberechtigte Entwicklung von Männern und Frauen definiert. Das schweizerische Engagement hat sich in den letzten Jahren bei ungefähr 20 Millionen Schweizer Franken pro Jahr eingependelt. Die Wirkung des Kooperationsprogramms wurde vom Entwicklungshilfeausschuss (DAC) der OECD im Jahr 2005 einer Evaluation unterzogen und als sehr gut eingestuft. Besonders geschätzt wurde der Beitrag der DEZA zur Verfassungsrevision. Potenzial für eine bessere Wirkung liegt nach Ansicht des DAC bei einer weiteren thematischen Fokussierung und einer besseren Verbindung der Projekt- und Programmarbeit mit dem Politikdialog und der Koordination mit der übrigen Gebergemeinschaft. Lehren und Erfahrungen Die Entwicklung in Bosnien-Herzegowina in den vergangenen Jahren zeigt, dass die Oberaufsicht durch internationale Organisationen keine langfristig stabilen und demokratischen Verhältnisse hervorgebracht hat. Auch nach dem Krieg blieben die früheren kriegstreibenden, zum Teil mafiösen politischen Parteien an der Macht. Sie erlaubten keine nationale Versöhnung und keinen wirklichen Neuanfang. Gemässigte politische Kräfte spielen im politischen Leben nach wie vor eine marginale Rolle. Der Parallelismus zwischen internationalen und nationalen Strukturen führte zu einem wachsenden Abhängigkeitssyndrom. So konnten die lokalen Regierungen die Verantwortung für unangenehme Entscheide entweder auf die lange Bank schieben oder auf die internationalen Behörden abwälzen. Dies verstärkte die allgemein verbreitete Passivität und Gleichgültigkeit grosser Teile der Bevölkerung. Die im Lande verbleibenden qualifizierten Arbeitskräfte ziehen es vor, bei einer der zahlreichen internationalen Organisationen zu arbeiten, wo das Lohnniveau weit über dem durchschnittlichen Niveau liegt. Dadurch werden die staatlichen Institutionen ausgehöhlt. Diese verfügen weder über qualifizierte Arbeitskräfte, noch über die nötigen Institutionen, um den europäischen Integrationsprozess in eigener Regie voranzubringen. So bleiben sie von ausländischer Expertise extrem abhängig. Gerade in Transformationsgesellschaften sind Ansätze, die demokratische Meinungsbildungsprozesse an der Basis fördern, bitter nötig für die Wiederherstellung des Vertrauens und der durch den Krieg zerstörten sozialen und kommunikativen Netzwerke. Dazu bräuchte es auch auf europäischer Ebene ein Schweizerische Akteure 239

politisches Konzept, welches alle Bürgerinnen und Bürger vor dem Gesetz gleichstellt und dabei die verschiedenen Gruppen wirksam vor Diskriminierung schützt. Im Bereich der Staatsbildung von unten kann die Schweiz in den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens in Zukunft noch verstärkt Schwerpunkte setzen. Dass es möglich ist, die Bürgerinnen und Bürger für eine selbstbestimmte Staatsbildung zu interessieren, zeigt das Beispiel des Projekts Plattform Bosnien-Herzegowina, das bei der lokalen Bevölkerung sehr gut ankam. Die wohl wichtigste Erkenntnis aus über vierzig Jahren Entwicklungszusammenarbeit ist, dass Entwicklung nicht ohne die Vision einer positiven Zukunft stattfinden kann. Aus diesem Grund ist der direkte Einbezug der Bevölkerung in die Planung und Durchführung von Entwicklungsprojekten von zentraler Bedeutung für den Erfolg eines Entwicklungsvorhabens. Echte Partizipation beinhaltet den gleichberechtigten Zugang zu Ressourcen, Chancen, Information und Wissen, Entscheidungsprozessen und Macht. Dazu gehört selbstverständlich auch die Gleichstellung der Geschlechter. Darüber hinaus ist die Kenntnis des lokalen Kontexts eine wichtige Voraussetzung für die langfristige Vertrauensbildung. Reines Fachwissen ausländischer Experten reicht nicht aus. Entscheidend für den Erfolg ist der Transfer von Expertenwissen in den lokalen Kontext. Akzeptanz und Vertrauen zwischen den Kooperationspartnern können nur über eine langfristige Zusammenarbeit und nicht über kurzfristiges Krisenmanagement von aussen aufgebaut werden. Viele Projekte und Programme sind zu kurzfristig angelegt, zu spezifisch und zu sektoriell. Sektorweites Vorgehen und die konsequente Integration von Programmen in die lokalen Verwaltungsstrukturen sollten in Zukunft noch systematischer angegangen werden. Im Rückblick ist der schweizerischen Hilfe in Bosnien-Herzegowina der Übergang von der humanitären zur Transitionshilfe gut gelungen. Beispielsweise konnten mit Geldern des Bundesamts für Migration im Landwirtschaftsbereich die früher von der Humanitären Hilfe finanzierten Rückkehrerprojekte für Vertriebene und Flüchtlinge in eine langfristige Entwicklungszusammenarbeit auf dem Land überführt werden. Dadurch wurden Tausende von Arbeitsplätzen für ehemalige Flüchtlinge und Vertriebene geschaffen. Die Schweiz stimmt ihre Entwicklungszusammenarbeit mit der nationalen Entwicklungsstrategie von Bosnien-Herzegowina ab. In der Umsetzung dieser Strategie achtet sie darauf, dass sich insbesondere die Zivilgesellschaft an der Erarbeitung und Durchführung dieser Programme beteiligt. Auf diese Weise haben die Entwicklungsaktionen in der Vergangenheit sichtbare und für die arme und marginalisierte Bevölkerung spürbare Verbesserungen hervorgebracht, zum Beispiel für die Rückehrerinnen und Rückkehrer, die Vertriebenen, die Betagten und Alten sowie für die benachteiligten Kinder. 240