Gewalterfahrungen von Frauen empirische Befunde Fachtagung: Aggression und Gewalt: Entwicklung, Abweichung und Integration Bezirksklinikum Wöllershof, 13.03.2018 Referentin: Prof. Dr. Monika Schröttle, TU Dortmund 1
Inhalte 1 2 Einleitung: Gewalt gegen Frauen und Gleichstellung der Geschlechter Ausmaß von Gewalt gegen Frauen in Deutschland (Dunkelfeldstudien) Verfügbare Studien Bevölkerungsweites Ausmaß von Gewalt gegen Frauen Besonders stark betroffene Populationen / Risikofaktoren Gewalt im Lebensverlauf 3 4 Partnergewalt im Hellfeld der Institutionen Kriminalstatistik, Nutzung von Hifsangeboten und Gesundheitssektor Gesundheitliche und psychosoziale Folgen von Partnergewalt 5 Die Schlüsselrolle des Gesundheitsbereichs
(1) Einleitung: Gewalt gegen Frauen und Gleichstellung der Geschlechter - Ungleiche Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern zentrale Ursache für Gewalt gegen Frauen. - Gewalt gegen Frauen Hinderungsgrund für die Gleichstellung der Geschlechter auf allen gesellschaftlichen Ebenen. Gleichstellung der Geschlechter und Gewalt im Geschlechterverhältnis eng miteinander verbunden Ökonomische, kulturelle und soziale Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern Ungleiche Machtverhältnisse zwischen Frauen und Männern Gewalt gegen Frauen B a c k l a s h
(2) Ausmaß von Gewalt gegen Frauen in Deutschland (Dunkelfeldstudien) Verfügbare Studien repräsentative Studie zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland im Auftrag des BMFSFJ (Schröttle/Müller 2004) mit Sonderauswertungen zu Gewalt in Paarbeziehungen (Schröttle/Ansorge 2008), Gesundheit und Gewalt gegen Migrantinnen (Schröttle/Khelaifat 2007) sowie Zusatzbefragungen zu Gewalt gegenüber Prostituierten, weiblichen Flüchtlingen und obdachlosen Frauen (Schröttle/Müller 2004) Gewalt und Gesundheit: RKI-Themenheft 24 (Hornberg/Schröttle et al. 2008) repräsentative Studie zu Gewalt gegen Frauen mit Behinderungen (Schröttle/Hornberg et al. 2013) Neueste europäische Studie der Fundamental Rights Agency der European Union (FRA 2014) zu Gewalt gegen Frauen / länderspezifische Daten In Planung EUROSTAT Survey zu gender-based violence
(2) Ausmaß von Gewalt gegen Frauen in Deutschland (Dunkelfeldstudien) Ausmaß von Gewalt gegen Frauen Erste repräsentative Studie zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland (Schröttle/Müller, BMFSFJ 2004): - fast jede siebte Frau (13 %) erzwungene sexuelle Handlungen im Erwachsenenleben - jede vierte Frau (25 %) körperliche und/oder sexuelle Gewalt durch aktuellen und/oder früheren Beziehungspartner (64% Verletzungsfolgen) - in aktueller Paarbeziehung: 6% schwere Misshandlung; weitere 11% Muster erhöhter psychischer Gewalt - sexuelle Belästigung: 58% - Stalking: 20%
(2) Ausmaß von Gewalt gegen Frauen in Deutschland (Dunkelfeldstudien) Ausmaß von Gewalt gegen Frauen Erste repräsentative Studie zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland (Schröttle/Müller, BMFSFJ 2004): - fast jede siebte Frau (13 %) erzwungene sexuelle Handlungen im Erwachsenenleben FRA-Studie 2014: 12% - jede vierte Frau (25 %) körperliche und/oder sexuelle Gewalt durch aktuellen und/oder früheren Beziehungspartner (64% FRA-Studie Verletzungsfolgen) 2014: 22% - in aktueller Paarbeziehung: 6% schwere Misshandlung; weitere 11% Muster erhöhter psychischer Gewalt - sexuelle Belästigung: 58% FRA-Studie 2014: 60% - Stalking: 20% FRA-Studie 2014: 24%
(2) Ausmaß von Gewalt gegen Frauen in Deutschland (Dunkelfeldstudien) Ausmaß von Gewalt gegen Frauen Erste repräsentative Studie zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland (Schröttle/Müller, BMFSFJ 2004): - fast jede siebte Frau (13 %) erzwungene sexuelle Handlungen im Erwachsenenleben FRA-Studie 2014: 12% - jede vierte Frau (25 %) körperliche und/oder sexuelle Gewalt durch aktuellen und/oder früheren Beziehungspartner (64% FRA-Studie Verletzungsfolgen) 2014: 22% - in aktueller Paarbeziehung: 6% schwere Misshandlung; weitere 11% Muster erhöhter psychischer Gewalt - sexuelle Belästigung: 58% FRA-Studie 2014: 60% - Stalking: 20% FRA-Studie 2014: 24%
(2) Ausmaß von Gewalt gegen Frauen in Deutschland (Dunkelfeldstudien) Besonders stark betroffene Populationen Frauen mit Migrationshintergrund / Flüchtlinge Prostituierte obdachlose Frauen Frauen (und Männer) mit Behinderungen Menschen in Pflegesituationen Frauen in Trennungs- und Scheidungssituation Betroffene von Gewalt in Kindheit und Jugend Bei diskriminierten Personen und Menschen in Abhängigkeitssituationen teilweise höhere (und multiple) Gewaltbetroffenheit, aber: Problematik (häuslicher) Gewalt darf nicht auf marginalisierte Gruppen reduziert werden.
(2) Ausmaß von Gewalt geschlechtsspezifische Unterschiede Gewalt im Lebensverlauf - geschlechtsspezifische Unterschiede Jungen und Männer: (schwere) körperliche Gewalt überwiegend in der Kindheit im familiären Kontext und in der Jugend bzw. dem jüngeren Männeralter bis etwa 25 Jahre (im öffentlichen Raum durch andere Männer und männliche Jugendliche) Frauen: ab der späteren Jugend in höherem Maße Partnergewalt bis zum Alter von etwa 40 Jahren dann Rückgang Sexuelle Gewalt: durch Mädchen und Frauen deutlich häufiger erlebt; Männer überwiegend in Kindheit /Jugend, kaum aber im Erwachsenenleben ältere und pflegebedürftige Männer und Frauen Gewalt im Kontext der Pflege
(3) Partnergewalt und sexuelle Gewalt im Hellfeld der Institutionen Polizeiliches Hellfeld aus Perspektive der Dunkelfeldbefragungen Sexuelle Gewalt und Partnergewalt werden selten polizeilich bekannt und angezeigt BMAS 2004: Betroffene von häuslicher Gewalt in Paarbeziehungen: - bei 13% Polizei eingeschaltet (bei Partnergewalt mit Verletzungsfolgen 26%) - bei 8% Anzeige erstattet (bei Partnergewalt mit Verletzungsfolgen 16%) Betroffene von sexueller Gewalt: - bei 8% Polizei eingeschaltet - bei 5% Anzeige erstattet
(3) Partnergewalt im Hellfeld der Polizeilichen Kriminalstatistik
(3) Partnergewalt im Hellfeld der Polizeilichen Kriminalstatistik Im Jahr 2015 nach der Sonderauswertung des BKA (2016) insgesamt 127.457 Opfer von vollendeten und versuchten Delikten der Partnerschaftsgewalt in der PKS. Tendenzieller Anstieg. Abbildung : Entwicklung der Opferzahl partnerschaftlicher Gewalt nach Sonderauswertung der PKS 128000 126000 126230 127457 124000 122000 120000 120758 121778 118000 116000 2012 2013 2014 2015
(3) Partnergewalt im Hellfeld der Polizeilichen Kriminalstatistik Opfer: 82% weiblich, 18% männlich Abbildung : Prozentuale Anteile weiblicher und männlicher Opfer nach Straftaten(-gruppen) 100% 90% 80% 70% 60% 50% 40% männliche Opfer weibliche Opfer 30% 20% 10% 0% Mord und Totschlag KV (inkl. Todesfolge) Vergewaltigung/ sexuelle Nötigung Bedrohung und Stalking
(3) Partnergewalt im Hellfeld der Polizeilichen Kriminalstatistik Opfer am häufigsten im Alter von 25 bis 49 Jahren Abbildung : Verteilung männlicher und weiblicher Opfer von Partnerschaftsgewalt nach Altersklassen 35000 30000 25000 20000 15000 männliche Opfer weibliche Opfer 10000 5000 0 bis 20 Jahre 21-24 Jahre 25-29 Jahre 30-39 Jahre 40-49 Jahre 50-59 Jahre ab 60 Jahre
(3) Partnergewalt und sexuelle Gewalt im Hellfeld der Institutionen Nutzung von medizinischen Hilfen und Unterstützungsangeboten
Tabelle: Inanspruchnahme von institutionellen Hilfen und polizeilicher Intervention im Überblick (Schröttle/Müller 2004) (Die Prozentuierung bezieht sich auf Betroffene der jeweiligen Gewaltform seit dem 16. Lebensjahr und die Frage, ob eine dieser Hilfen schon einmal in Gewaltsituationen in Anspruch genommen wurde). Medizinische Hilfen Psychosoziale Hilfen Polizeiliche Intervention Anzeige Körperliche Gewalt mit Verletzungsfolgen (alle Täterkategorien) Sexuelle Gewalt (strafrechtlich relevante Handlungen, alle Täterkategorien) Körperliche/sexuelle Gewalt in Paarbeziehungen (mit und ohne Verletzungsfolgen) Körperliche/sexuelle Gewalt in Paarbeziehungen (mit Verletzungsfolgen) 33% 19% 22% 16% 12% 20% 8% 5% 21% 17% 13% 8% 37% 26% 26% 16%
(4) Gesundheitliche und psychosoziale Folgen von Gewalt gegen Frauen Gesundheitliche Folgen und Auswirkungen auf Erwerbsarbeit Erhebliche gesundheitliche Folgen von Gewalt gegen Frauen: - Verletzungsfolgen - langfristige psychische Folgen - psychosomatische - psychosoziale Folgen (Brüche im Leben) Folgen von Gewalt besonders gravierend bei fortgesetzter Gewalt im Lebenszusammenhang Beeinträchtigung der Erwerbsarbeit: Krankheitsausfälle, Leistungsbeeinträchtigungen, Sabotage durch gewalttätigen Partner, Kündigungen, Abbruch von Ausbildungsund Arbeitsverhältnissen Armutsfolgen Schwierigkeiten, sich aus gewaltbelasteten Paarbeziehungen zu lösen
(4) Gesundheitliche und psychosoziale Folgen von Gewalt Verletzungsfolgen (bis hin zu Behinderung/Tod) Somatische und psychosomatische Folgebeschwerden/-erkrankungen (Schmerzsymptome, Magen-Darm, gynäkologische Beschwerden, Herz- Kreislauf, zerebrale Störungen, Hauterkrankungen, chron. Erkrankungen) Psychische Folgen (Entwicklungsstörungen, Schlaf-, Angst-, Essstörungen, Depressionen, PTBS, Selbstwertprobleme, Leistungseinschränkungen, Suizidalität) Gesundheitsbeeinträchtigende Verhaltensweisen (Suchterkrankungen, Bewegungsmangel, Selbstverletzung) Fortgesetzte Gewalterfahrungen im Lebensverlauf (Gewalt in Kindheit: 2- bis 4-fach erhöhte Gefahr, Opfer von Partnergewalt und/oder sexueller Gewalt zu werden)
Gesundheitliche Folgen von Gewalt - kurz-, mittel- und langfristige Gewaltfolgen
Gesundheitliche Folgen von Gewalt - kurz-, mittel- und langfristige Gewaltfolgen
Kumulierte Gewalt Gesundheitliche und psychische Beschwerden in den letzten 12 Monaten Mehr als 7 körperliche Beschwerden 4 und mehr psychische Beschwerden Signifikanz Anzahl genannter unterschiedlicher Formen von Gewalt bis und nach 16. Lebensjahr Keine Nennung 11,1% 22,0% 1-2 Nennungen 17,9% 39,1% 3-4 Nennungen 29,9% 60,8% ** 5-6 Nennungen 49,3% 78,1%
(5) Die Schlüsselrolle des Gesundheitsbereichs hohe Prävalenz von Gewalt gegen Frauen Gewalt wird am häufigsten institutionell im Gesundheitssektor sichtbar weitreichende kurz- und langfristige Folgen von Gewalt für Gesundheit der Betroffenen - Relevanz für Diagnostik und Behandlung negative Auswirkungen auch auf Gesundheitsverhalten und reproduktive Gesundheit Gewalt als Kostenfaktor im Gesundheitswesen Wissen über gesundheitliche Folgen von Gewalt als zentralem Belastungsfaktor für Frauen für Diagnostik, Prävention und Intervention im Gesundheitssektor Gesundheitsprävention und Gewaltprävention bedingen einander Schlüsselrolle des Gesundheitssektors
Red Flags zum Erkennen von aktueller oder zurückliegender (häuslicher) Gewalt chronische Beschwerden, die keine offensichtliche physische Ursachen haben; psychische und psychosomatische Beschwerdebilder, die mir Gewalt assoziiert sind (Schmerzsyndrome, Magen-/Darm, Becken, gyn. Beschwerden, zerebrale Störungen, Depressionen, PTBS, Angststörungen/Panikattacken, vermindertes Selbstwertgefühl, Konzentrationsstörungen, Leistungsbeeinträchtigungen etc.) Verletzungen, die nicht mit der Erklärung, wie sie entstanden sind, übereinstimmen; verschiedene Verletzungen in unterschiedlichen Heilungsstadien; Partner, der übermäßig aufmerksam ist, kontrolliert und sich weigert von der Seite der Frau zu weichen; physische Verletzungen während der Schwangerschaft; spätes Beginnen der Schwangerschaftsvorsorge; häufige Fehlgeburten Verzögerungen zwischen Zeitpunkt der Verletzung und Aufsuchen der Behandlung.
Anforderung an Professionelle im Gesundheitswesen Gewalt erkennen und in Diagnose/Behandlung einbeziehen (Amnamnese) Gewalt sensibel ansprechen Umgang mit Gewaltbetroffenen: sensibler und respektvoller Umgang (Fallen: Stigmatisierung, Schuldgefühle/Opfer-Blaming, Aktionismus, Verdrängen/Ruhigstellen von Betroffenen, Über-/Unter- /Fehlmedikation) Fortbildungen erforderlich für Umgang und sensible Ansprache Weiterverweisung an Fachberatungsstellen gerichtsverwertbare Dokumentation Einbindung in interdisziplinäre Arbeitskreise Signale setzen für fachkompetenten Umgang (z.b. auch Aushänge in Praxis, Informationen im Patient/innenbereich)
Fazit für Praxis, Forschung und Politik Gewalt, insbesondere häusliche/sexuelle Gewalt gegen Frauen, ist zentraler Aspekt für Gesundheit, gesundheitliche Versorgung und Gesundheitsförderung; alle Formen und Kontexte von Gewalt sind einzubeziehen (psychische, physische und sexuelle Gewalt in unterschiedlichen Lebensbereichen und mit Blick auf unterschiedliche Bevölkerungsgruppen); Entstigmatisierung der Gewaltbetroffenenheit von Frauen; keine einfachen Schablonen auf die misshandelten Frauen; Fokus nicht auf marginalisierte Gruppen legen. ohne Gewaltprävention keine Gesundheitsförderung und ohne den Gesundheitssektor keine wirksame Gewaltprävention; weiterer Forschungsbedarf: komplexe Wirkungszusammenhänge zwischen Gewalt, Gesundheit und gesundheitsrelevanten Faktoren differenziert erfassen; Langzeitstudien; Praxisevaluation; Aufnahme der Thematik in die regelmäßige Gesundheitsberichterstattung. Qualifizierung aller Bereiche des Gesundheitssektors für das Erkennen von Gewalt und den adäquaten Umgang mit Gewaltopfern; Stärkung interdisziplinärer Kooperationen zur Gewaltprävention.