Vom Rohstoff zur Endchemikalie



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2 Vom Rohstoff zur Endchemikalie Rohrleitungstransport in einem Chemiewerk, The Linde Group. 2.1 Verbundstruktur der chemischen Industrie Technisch-chemische Umsetzungen basieren auf organischen und anorganischen Roh stoffen. Zu den wichtigsten organischen Rohstoffen gehören Erdgas, Erdöl und Kohle sowie die nachwachsenden Rohstoffe. Zu den bedeutendsten anorganischen Grundstoffen gehören Schwefel, Stickstoff, Sauerstoff, Steinsalz, Wasser, Metall oxide und Phosphate. In der chemischen Industrie werden diese Rohstoffe zu zahlreichen Zwischen- und Endprodukten umgesetzt. Dies geschieht in den unterschiedlichsten chemischen Fa briken, die sich in der Regel auf bestimmte Teilbereiche der chemischen Produk tion spezialisiert haben. Eine chemische Fabrik besteht ihrerseits aus zahlreichen chemi schen Anlagen, die aber in ihren Massen- und Energieströmen miteinander verbun den sind. Ein Produkt, das in einer Anlage produziert wird, wird häufig in einer nachfolgenden Anlage zu einer Folgechemikalie weiter umgesetzt. Firmen, die grundle gende Chemikalien, so genannte Basischemikalien herstellen, verkaufen diese weiter an andere Firmen, die daraus wertvolle Zwischenprodukte herstellen. Diese wie derum verkaufen die Zwischenprodukte an Firmen, die sich auf die Herstellung von Endchemikalien (Endprodukte) spezialisiert haben. Diese generelle Verknüpfung nennt man die Verbundstruktur der chemischen Industrie. Diese Verbundstruktur lässt sich sehr gut mit einem Baum vergleichen (Abb. 2.1): Von den Wurzeln aus werden die Rohstoffe (engl. raw materials) aufge nom men. Beim Baum sind dies z. B. Mineralien und Wasser, in der Chemiewirtschaft sind dies die oben bereits aufgeführten organischen oder anorganischen Rohstoffe oder Grundstoffe. In der Chemie werden ausgehend von diesen Rohstoffen ca. 20 30 Grundchemikalien (oder Basischemikalien; engl. base chemicals) hergestellt. In der anor ganischen Chemie wirt schaft sind dies z. B. wichtige Säuren und Basen sowie be deu tende Elemente, wie Chlor, Wasserstoff oder Metalle. In der organischen Chemie geht man in der Regel von höhermolekularen Stoffen aus und verwandelt diese in reaktive nieder mo lekulare Verbindungen, die sich ihrerseits wieder gut in vie le andere Stoffe um wan deln lassen. So werden z. B. aus Erdöl-Destillations schnitten die sehr reaktiven kurzkettigen Alke ne Ethen und Propen hergestellt. Ebenfalls lässt sich aus der hoch molekularen Stärke, einem nachwachsenden Roh stoff, die niedermolekulare Glu cose herstellen. Diese Grundchemikalien bilden quasi den Stamm unseres Chemie baumes, von dem aus sich dann zahlreiche Äste verzweigen können. Die dritte Stufe in der chemischen Industrie sind die Zwischenprodukte (engl. intermediates), von de nen es mehrere Hundert gibt. Diese Zwischenprodukte entstehen zumeist durch gezielte

10 I. Grundlagen 2.1 Der Produktionsstammbaum der chemischen Industrie.

2. Vom Rohstoff zur Endchemikalie 11 Verknüpfung von Grundchemikalien mit sich selber oder mit Rohstoffen. Beispiele sind die Oligomerisation von Ethen zu 1-Alkenen oder die Oxidation von Ethen mit Sauerstoff zu Acetaldehyd oder Ethylenoxid. Die Zwischenprodukte sind die großen Äste unseres Chemiebaumes. Auch diese Zwischenprodukte sind in der Regel noch keine Produkte, die an den Endverbraucher verkauft werden können. Dazu ist noch eine weitere, vierte Veredelungsstufe notwendig, die Umwandlung in Endprodukte (engl. consumer products). In dieser Stufe werden oftmals noch mehrere chemische Reaktionen hin tereinander durchgeführt, z. B. bei der mehrstufigen Synthese kompliziert auf ge bauter Pharmaka oder Insektizide. Diese letzten Stufen lassen sich mit den Zwei gen und Blättern eines Baumes vergleichen. Genau so wie ein großer Baum mehrere Tausende Blätter haben kann, hat auch die chemische Industrie viele Tau sende Endprodukte. Typische Beispiele sind Kunststoffe, Farbstoffe, Lösungs mittel, Düngemittel, Fasern, Waschmittel, Klebstoffe oder Kosmetika. Für alle Umsetzungen eines Baumes wird Energie benötigt, die in der Natur durch die Sonnenenergie geliefert wird. Auch für chemische Umsetzungen muss Energie aufgebracht werden, etwa Wärmeenergie für thermische Umsetzungen oder elektrische Energie für elektrochemische Prozesse. Die Chemiewirtschaft ist somit immer von der Versorgung mit Energieträgern, z. B. Erdgas oder Erdöl, abhängig. Große Che miefabriken verfügen deshalb über ein eigenes Kraftwerk, in dem durch Ver brennung fossiler Rohstoffe die benötigte Energie direkt vor Ort erzeugt wird. Um ein Gefühl für die Größenordnungen des chemischen Produktstammbaums zu erlangen, sind in Tabelle 2.1 von einigen wichtigen Grundchemikalien, Zwischen- und Endprodukten die Weltproduktionszahlen angegeben. An dieser Stelle muss jedoch betont werden, dass die produzierte Menge eines che mischen Produkts nicht die alleinige Größe für die Bedeutung einer Chemikalie darstellt: Von manchen Pharmaka werden weltweit nur wenige Tonnen hergestellt, trotzdem handelt es sich wegen ihres hohen Wertes um äußerst wichtige Substanzen. Tabelle 2.1 Weltjahresproduktion wichtiger Chemikalien (Mio. Tonnen, Zahlen aus den Jahren 2001 2007) Grundchemikalien Schwefelsäure 165 Ammoniak 125 Chlor 45 Ethen 113 Propen 57 Zwischenprodukte Methanol 41 Ethanol 36 Vinylchlorid 26 Endprodukte Kunststoffe 230 Stickstoff in Düngemitteln 96 Farben und Lacke 21 2.2 Wert-, Koppel- und Nebenprodukte Die bisherige Betrachtung des Produktstammbaums ist davon ausgegangen, dass man in der chemischen Industrie z. B. von einer Basischemikalie immer gezielt zu einer gewünschten Zwischenchemikalie gelangen kann. Das ist leider nicht sehr häufig der Fall. Dazu sollen einige Grundbegriffe erläutert werden: Bei vielen chemischen Reaktionen entstehen neben dem gewünschten Wertprodukt häufig auch ein oder mehrere Koppelprodukte. Koppelprodukte sind da durch definiert, dass sie sich auch bei hoch selektiver Reaktionsführung nicht vermeiden lassen, da sie von der Stöchiometrie der chemischen Umwandlung her automatisch mit entstehen müssen. Ein Beispiel ist die Chlorierung von Benzol zu Monochlorbenzol, bei der immer ein Mol Chlorwasserstoff als Koppelprodukt mit gebildet wird (Gl. 2.1): C 6 H 6 + Cl 2 C 6 H 5 Cl + HCl (2.1) Ebenfalls können bei einer chemischen Umsetzung auch zwei Wertprodukte gleichzeitig gebildet werden. So entstehen bei der Chloralkalielektrolyse von Steinsalz die beiden Wertprodukte

12 I. Grundlagen Natronlauge und Chlor ( Abschnitt 19.4). Der ebenfalls entstehende Wasserstoff ist hierbei ein oft unerwünschtes Koppelprodukt. Die formale Bruttogleichung ist in Gleichung (2.2) wiedergegeben. NaCl + H 2 O NaOH + ½ Cl 2 + ½ H 2 (2.2) Neben den Begriffen Wertprodukt und Koppelprodukt gibt es noch den Begriff der Nebenprodukte. Sie sind zumeist unerwünschte Produkte, die man durch ge schickte Reaktionsführung zu vermeiden versucht. Ein Beispiel ist die bei der Benzolchlorierung mit auftretende Zweitchlorierung zum Dichlorbenzol, also eine unerwünschte Konsekutivreaktion (Gl. 2.3). C 6 H 5 Cl + Cl 2 C 6 H 4 Cl 2 + HCl (2.3) Nebenprodukte können auch in einer Parallelreaktion gebildet werden. Bei der Chlorierung von Toluol entstehen neben dem Koppelprodukt Chlorwasserstoff die beiden isomeren Produkte ortho- und para-chlortoluol. Möchte man nun eine Feinchemikalie aufbauend auf ortho-chlortoluol herstellen, dann ist dieses Isomer das Wertprodukt und das para-chlortoluol das Nebenprodukt. In einem anderen Fall kann dies aber genau umgekehrt gültig sein (Gl. 2.4). CH 3 -C 6 H 5 + Cl 2 ortho-ch 3 -C 6 H 4 Cl + para-ch 3 -C 6 H 4 Cl + HCl (2.4) In der chemischen Industrie versucht man aus Gründen der Wirtschaftlichkeit, die gebildeten Koppel- und Nebenprodukte möglichst sinnvoll zu nutzen. Auch hier zeigt sich wieder das vorteilhafte Prinzip der Verbundwirtschaft: Ein eigentlich unerwünschtes Koppel- oder Nebenprodukt einer Reaktion kann zum gewünschten Aus gangspro dukt für eine zweite Reaktion werden. Kann man die Nebenprodukte nicht nutzen, ist man natürlich bemüht, ihre Bildung zu minimieren. Das kann in der Technik durch geeignete Katalysatoren oder durch eine optimierte Reaktionsführung geschehen. Diese Optimierungen sind in der Großchemie von entscheidender Bedeutung. Betrachten wir dazu wieder ein Beispiel: Durch katalytische Oxidation von Ethen mit Sauerstoff kann großtechnisch Ethylenoxid produziert werden. Leider entsteht hier bei aber auch immer etwas Kohlendioxid, ein unerwünschtes Nebenprodukt (Gl. 2.5): CH 2 =CH 2 + ½ O 2 C 2 H 4 O (+ CO 2 ) (2.5) Bei einer 100%igen Ausbeute kann man nach dieser Gleichung aus 28 g Ethen 44 g Ethylenoxid herstellen. Im Labormaßstab kann man meistens darüber hinwegsehen, ob die Aus beute 100 % oder nur 95 % beträgt. In der chemischen Technik arbeitet man aber mit anderen Größenordnungen. Ethylenoxidanlagen haben heutzutage eine Jahreskapazität von mehreren Hunderttausend Tonnen. Setzt man z. B. in einer Ethylenoxidanlage pro Jahr 300 000 t Ethen ein, würden sich bei einer 100 % selektiven Reaktion gemäß der Stöchiometrie 471 429 t Ethylenoxid her stellen lassen. Beträgt die Ausbeute aber nur 95 %, würden 23 570 Tonnen weni ger Ethylenoxid und stattdessen nicht ver käufliches Kohlendioxid produziert. Eine Tonne Ethylenoxid kostet derzeit auf dem Markt ca. 900, d. h. die Ethylenoxid-Produktionsfirma hätte pro Jahr ca. 21,2 Mio. geringere Einnahmen. Dies wäre ein ge wal tiger Verlust und jede Firma ist na türlich daran interes siert, den maximal mög lichen Profit zu erzielen. 2.3 Ein typischer Produktstammbaum In diesem einführenden Lehrbuch ist es nicht möglich, den gesamten Produktverbund der chemischen Industrie ausgehend von 10 20 Rohstoffen bis hin zu 20 000 30 000 Endprodukten auch nur annähernd darzustellen. Es wurde deshalb versucht, eine charakteristische Auswahl zu treffen und anhand typischer Beispiele aufzu zei gen, wie die chemische Industrie üblicherweise vorgeht. In den folgenden Kapiteln der Einführung in die Technische Chemie werden zuerst einmal die wichtigsten Grund lagen der Technischen Chemie vermittelt, wie die Maßstabvergrößerung chemi scher Prozes-

2. Vom Rohstoff zur Endchemikalie 13 se und Apparate, die technische Thermodynamik und Kinetik im Teil I sowie die Reaktions- und Trenntechnik im Teil II. Im Anschluss daran, bei der Ver fahrensentwicklung (Teil III) und bei den Chemischen Prozessen (Teil IV), wer den wichtige Beispiele industrieller Produktionsverfahren detailliert vorgestellt. Im vorliegen den Abschnitt wird schon einmal eine Kurzübersicht über diese Produk tionsver fahren gegeben, die alle in einem Produktverbund miteinander zusammenhän gen. Der zugehörige Produktstammbaum ist in Abbildung 2.2 wiederge geben und wird im Folgenden kurz erläutert. In diese Erläuterungen wurden Querver weise auf die späteren, detaillierteren Kapitel dieses Buches eingefügt. Ein wichtiger Rohstoff für die industrielle organische Chemie ist das Erdöl ( Kap. 14). Es besteht überwiegend aus Kohlenwasserstoffen, enthält aber auch sauerstoff-, stickstoff- und schwefelhaltige Verbindungen. Typische Kohlenwasser stoffe im Erdöl sind nichtcyclische Alkane, Cycloalkane sowie Aromaten. Das Erdöl wird durch Tiefbohrungen gewonnen und anschließend in einer Rektifikation ( Kap. 7) bei Nor maldruck in verschiedene Fraktionen aufge trennt. Eine bedeutende Frak tion ist das Naphtha (Leichtbenzin), ein wichtiger Ausgangsstoff zur industriellen Gewinnung von kurz kettigen Alkenen und Aromaten. Dazu wird das Naphtha im Steamcracker ( Kap. 14) kurzfristig auf hohe Tem pera tu ren erhitzt. Da- 2.2 Ein typischer Produktstammbaum in der chemischen Industrie.

14 I. Grundlagen bei werden C H- und C C-Bindungen gespalten und die Bruch stücke bil den dann insbesondere Ethen und Pro pen, die Butene, Butadien, Benzol, Methan und Wasserstoff. Aus diesen Alkenen und Aromaten werden in der chemi schen Indu strie Dutzende von wichtigen Folgeprodukten hergestellt, wie Ethy len oxid, Ethyl benzol, Ethanol, Acetaldehyd, Acrylnitril oder Acrylsäure ( Kap. 15). Aus Ethylbenzol wird durch Dehydrierung Styrol produziert, das in großem Umfang zu Polystyrol polymerisiert wird ( Kap. 16). Alkene und Aromaten werden aber auch in zahlreiche Feinchemikalien, z. B. in Pharmaka und Vitamine überführt ( Kap. 17). Neben der Chemie der Alkene und Aromaten spielt auch die Chemie des Synthese gases eine große Rolle in der chemischen Industrie. Dabei handelt es sich um ein Ge misch aus Kohlenmonoxid und Wasserstoff, das einfach aus fossilen Rohstoffen, Was ser und Luft zugänglich ist ( Kap. 12). Durch eine homogen katalysierte Reaktion, die Hydro formylierung ( Kap. 13), können Alkene mit Synthesegas zu Aldehyden oder Al ko holen umgesetzt werden, z. B. Propen zu den Butanalen und Butanolen, einer wich tigen Klasse von Lösungsmitteln. Der Wasserstoff aus dem Synthesegas kann auch mit dem Stickstoff der Luft mithilfe von heterogenen Katalysatoren in Ammoniak überführt werden ( Kap. 12). Mit die sem Haber-Bosch-Verfahren werden weltweit jährlich über 120 Mio. t Ammo niak hergestellt (vgl. Tab. 2.1), die z. B. zur Herstellung von Düngemitteln und Harnstoffharzen verwendet werden. Diese Harze sind wichtige Hilfsstoffe bei der Papier- und Holzverarbeitung. Zunehmend werden auch nachwachsende Rohstoffe, wie Fette und Öle oder Kohlenhydrate, in der chemischen Industrie eingesetzt. Aus Fetten und Ölen sind langkettige Carbonsäuren und ihre Ester zugänglich, die in zahlreiche gut abbaubare Tenside überführt werden können. Diese Tenside sind Hauptbestandteil unserer Wasch mittel ( Kap. 18). Neben thermischen und katalytischen Verfahren spielen auch elektrochemische Ver fahren eine große Rolle, insbesondere in der industriellen anorganischen Chemie ( Kap. 19). Wichtige elektrochemische Verfahren führen zur Gewinnung von Chlor, Natronlauge sowie von Metallen. Das Chlor wird in großem Umfang zu Vinylchlorid verarbeitet, das Monomer für den wichtigen Massenkunststoff Polyvinylchlorid. Der Produktstammbaum in Abbildung 2.2 belegt anschaulich, wie es der chemischen In dustrie in relativ wenigen Prozessschritten gelingt, aus fossilen und nachwachsenden organischen Rohstoffen sowie aus wenigen anorga nischen Rohstoffen eine Vielfalt wichtiger Wertprodukte herzu stellen. Zusammenfassung (take-home messages) Wichtige Rohstoffe für die organisch-technische Chemie sind die fossilen Rohstoffe Erdöl, Erdgas und Kohle sowie die nachwachsenden Rohstoffe Fette/Öle und Kohlenhydrate. Wichtige Rohstoffe für die anorganisch-technische Chemie sind Wasser, Luft, Salze, Schwefel und Metalloxide. Aus diesen Rohstoffen werden in der chemischen Industrie ca. 20 30 Grund stoffe (Basis chemikalien) hergestellt. Bedeutende organische Basischemikalien sind die Alkene Ethen und Propen, das 1,3-Dien Butadien und die Aromaten Benzol, Toluol sowie die isomeren Xylole. Wichtige anorganische Basischemikalien sind Ammoniak, Schwefelsäure, Salpetersäure, Natronlauge und Chlor. Aus den organischen Basischemikalien werden durch gezielte Folgereaktionen, meist unter Einführung von sauerstoff- oder stickstoffhaltigen Gruppen, mehrere

2. Vom Rohstoff zur Endchemikalie 15 Hundert Zwischenprodukte hergestellt. Typische organische Zwischenprodukte sind Alkohole, Aldehyde, Ketone, Carbonsäuren, Amine, Nitrile und halogenhaltige Produkte. Diese Zwischenprodukte sind wiederum die Grundlage zur Herstellung der eigentlichen Verkaufsprodukte, den Endprodukten. Wichtige organische Endprodukte sind Kunststoffe und Fasern, Pharmaka, Insektizide, Lösungsmittel, Farbstoffe, Klebstoffe, Kosmetika und Waschmittel. Wichtige anorganische Endprodukte sind Baustoffe, Düngemittel, Keramika, anorganische Fasern und Silicone. Die Rohstoffe, Basischemikalien, Zwischenprodukte und Endprodukte befinden sich in der chemischen Industrie in einem eng verzahnten Produktverbund, der sich in Form von Produktstammbäumen darstellen lässt. Innerhalb dieses Produktverbundes bemüht sich die chemische Industrie, auch Koppel- und Nebenprodukte möglichst sinnvoll zu nutzen. Ist dies nicht möglich, muss die Bildung von Nebenprodukten unbedingt minimiert werden. Jedes Prozent an Ausbeuteverlust kann bei einer Großchemikalie den Ver lust mehrerer Millionen Euro pro Jahr bedeuten. Die Minimierung der Nebenprodukte erfolgt in der Technik durch Optimierung der Reaktionsbedingungen und durch den Einsatz von selektiven homogenen und heteroge nen Katalysatoren. Zehn Quickies zu Kapitel 2 1. Nennen Sie vier wichtige organische Rohstoffe der chemischen Industrie! 2. Wie kann man aus dem Rohstoff Erdöl niedermolekulare Alkene und Aro maten herstellen? 3. Gehören die kurzkettigen Alkene zu den Basischemikalien oder zu den Zwischenprodukten? 4. Wie werden aus Basischemikalien Zwischenprodukte hergestellt? Nennen Sie fünf wichtige Gruppen von organischen Zwischenprodukten! 5. Nennen Sie drei große anorganische Gru ndchemikalien! 6. Nennen Sie fünf wichtige Gruppen organischer Endprodukte! 7. Nennen Sie fünf wichtige Gruppen anorganischer Endprodukte! 8. Unterscheiden Sie zwischen Koppel- und Nebenprodukten! 9. Wie kann man versuchen, Nebenprodukte zu minimieren? 10. Nennen Sie ein Beispiel für eine homogene und eines für eine heterogene Katalyse! und zum Abschluss des Kapitels noch ein Fußballerzitat: Wir spielen am besten, wenn der Gegner nicht da ist. (Otto Rehagel)

http://www.springer.com/978-3-8274-2073-2