Gottesdienst am Pfingstsonntag, 23. Mai 2010 in der Kreuzkirche in Reutlingen Predigttext Apg 2,1-21 I. Text (Apg 2,1-21) II. Einleitung - Anknüpfung mit einer Negativ -Geschichte Sie klingt für unsere Ohren unwirklich, diese Pfingstgeschichte - nicht wahr, liebe Schwestern und Brüder, liebe Gemeinde? Unwirklich, unrealistisch. - Unrealistisch? Da werden wir vorsichtig. Wir halten es für eine Stärke, nüchtern und realistisch - halten es für wichtig, nüchterne Realisten zu sein. Wäre Pfingsten die Geschichte nüchterner Realisten, dann vielleicht so: Am Pfingsttag sind Jesu Jüngerinnen und Jünger beieinander. Ein heißer Tag, keine Wolke am Himmel, kein Lüftchen! Sie bleiben unter sich, ungestört. In ihren Gesprächen lebt die Vergangenheit auf, ihre Erinnerungen an Jesus; sie erzählen sich Geschichten - unnötig, zu erwähnen, dass sie alle Aramäisch reden. Um ihr Versammlungshaus herrscht das übliche bunte Treiben. Menschen aus aller Herren Länder: Parther, Meder, Elamiter, Bewohner Mesopotamiens, Kappadozier - wie gesagt: Menschen aus aller Herren Länder sind in der Stadt. Sie unterhalten sich über alles mögliche, einige sogar noch über diesen Jesus, der vor Wochen viele Leute in Jerusalem bewegt hat: Man hört nichts mehr von der Sache. Das hat sich wohl erledigt. Der erste Pfingsttag nach der Hinrichtung des Zimmermanns aus Nazareth ist in Jerusalem ein Festtag wie viele Pfingsttage vorher und viele danach - sie feiern die Gabe der Tora und die Gegenwart Gottes. Drinnen hält Petrus eine kleine Rede: Liebe Freundinnen und Freunde! Wir haben uns daran gewöhnen müssen, dass Jesus nicht mehr bei uns ist. Von unseren jüdischen Mitbürgern haben wir immerhin nichts mehr zu befürchten, ich denke sie haben sich beruhigt. Das soll so bleiben! Wir sollten also nicht wieder öffentlich davon anfangen. Dann und wann können wir uns treffen, uns gemeinsam erinnern und Jesu Andenken in Ehren halten. Im übrigen lassen wir alles, wie es ist. Das ist für alle das Angenehmste. Fremde könnten in unserem Kreis nur stören. - Soweit Petrus. Sie trafen sich später noch ab uns zu, ihre Treffen aber waren langweilig - organisierte Belanglosigkeit. Mit den Jahren starben sie und die Sache Jesu ging mit ihnen endgültig zu Ende, denn Dinge ohne Bedeutung haben dasselbe Schicksal wie Eintagsfliegen. III. Realismus?! Pfingsten ist nicht die Geschichte nüchterner Realisten. Dass es uns Christen, dass es unsere Kirchen und unsere Kirche noch - immer noch! - gibt, zeigt: Gott ist nicht das, was wir einen nüchternen Realisten nennen. Nüchterner Realismus ist der einfallslose Totengräber aller
Phantasie - nüchterner Realismus läßt keinen Platz für Kreativität, für schöpferische Kraft. - Demnach ist Gott das genaue Gegenteil! Ich erinnere einen merkwürdigen Wortwechsel in einem Film:... ich bin Realist sagt einer mit resigniertem Unterton. Sein Gegenüber antwortet: Das Wort Realist sollte verboten werden; es ist das hoffnungsloseste Wort, das ich kenne. Realisten rechnen mit dem, was zu erwarten ist, was sie aus der Vergangenheit ableiten und von daher erwarten. Für Hoffnung ist da kein Platz. Wo aber Hoffnung in einer Kirche keinen Raum hat, dort bleibt bald nur noch organisierte Belanglosigkeit - die Gefahr jeder Kirche. Wir Christen rechnen seit Pfingsten mit mehr: Denn Pfingsten erzählt etwas völlig Neues. Wie Ostern. Und wie an Karfreitag und an Weihnachten Neues zu erzählen war. An den großen Feiertagen im Kirchenjahr - im neuen Gemeindebrief habe ich das knapp zu beschreiben versucht - erzählen wir eine neue Wirklichkeit - Gottes Wirklichkeit in unserer Welt, die Hoffnung erschließt. In welcher Weise können Christen dann Realisten sein? Nicht in der Weise, dass unser Denken und unsere Vernunft definieren, was wirklich sein kann und was nicht: Wir Christen sind Realisten, indem wir zulassen, dass Gottes Handeln und seine Wunder den Maßstab der Wirklichkeit setzen. Pfingsten sprengt unseren Horizont, ist höher als unsere Vernunft. Wir bekommen die Geschichte nicht in unseren Griff, können ihr höchstens nachdenken und ihren Erfahrungen nachspüren. Dazu fordert der Text heute heraus: dass wir beim Hören offen sind. Die Geschichte des Pfingstwunders ist eine Erzählung, die neue Wirklichkeit eröffnet hat - eine Wirklichkeit, in die wir - auch wir - hinein gehören. Wir können dem heute nicht abschließend nachdenken. Deswegen ein paar Beobachtungen in vier Stichworten: Gemeinschaft, Vielfalt, Verstehen, Erfüllung. IV. Gemeinschaft Das erste: Gemeinschaft. Sie sind beieinander. Und plötzlich geschieht etwas. Sie sind beieinander im Namen Jesu und in dieser Gemeinschaft geschieht etwas Neues. Das Beieinander-sein ist absolut wesentlich: Nach den Osterberichten ist der Auferstandene einmal Maria Magdalena begegnet. Sonst waren immer mehrere Menschen beieinander, wenn Christus zu ihnen gekommen ist. Das heißt: Sie erfahren den Auferstandenen im Miteinander! So bleibt es: In der Gemeinschaft werden sie vom heiligen Geist erfüllt. Lukas ringt um Worte, weil er - was zu erzählen ist - nicht angemessen ausdrücken kann. Halten wir fest: In der Gemeinschaft werden sie alle vom heiligen Geist erfüllt. Und in der Gemeinschaft geschieht zugleich mit jeder und jedem Einzelnen etwas. Unsere Frage nach Erfahrungen unseres Glaubens ist also die Frage nach unserer Gemeinschaft, nach der Art und Weise, wie wir beieinander und wie wir Gemeinde sind. Sie sind beieinander im Namen des Herrn. Wir Menschen können ja auf verschiedene Weise zusammen sein: geschäftlich; gesellig. Dann gibt es vielleicht gemeinsame Interessen,
gegenseitige Sympathie und Antipathie. Mit den einen versteh ich mich, mit den anderen nicht. Wo wir im Namen des Herrn beieinander sind, wo nicht unsere Sympathie oder Antipathie den Ausschlag gibt, dort knistert und funkt es auf ganz unerwartete Weise zwischen den Menschen. Und wir nüchternen Realisten verstehen den Kommentar der Zaungäste: Nicht ganz nüchtern! Miteinander und Begeisterung ist nicht unser Normalfall. Dazu muss etwas von außen kommen. V. Vielfalt Das Miteinander, das der Heilige Geist bestimmt, ist international, multikulturell und ökumenisch. Das zweite Stichwort heißt darum: Vielfalt. Zwar haben alle nur ein Thema: die großen Taten Gottes. Aber sie reden davon in einer ungeheuren Vielfalt - so, dass alle Menschen drum herum sie verstehen. Das Evangelium wird nicht in einer einheitlichen, aber leider unverständlichen Kirchensprache laut: Es kommt so zur Sprache, dass jede und jeder es versteht. Unabhängig von den eigenen Voraussetzungen. Jede und jeder soll das Evangelium im eigenen Dialekt hören, in dem sie, in dem er groß geworden ist (d.h. Muttersprache ). Das Evangelium gilt allen und soll allen in solcher Vielfalt zugesagt werden, dass alle es verstehen - unabhängig von ihrer religiösen Prägung, ihrer Herkunft oder Bildung. - Das ist unsre Aufgabe bis heute: Das Evangelium so auszurichten, dass alle es verstehen, unabhängig von ihrer religiösen Prägung, unabhängig von ihrer Herkunft, unabhängig von ihrer Bildung Pfingsten ist ein Fest der Vielfalt in der Kirche: Viele unterschiedliche Formen haben ihr Recht. Alle sprechen verschiedene Sprachen, aber alle reden über dieselbe Sache! Das Evangelium von Jesus Christus wird in vielen Sprachen und Formen hörbar und sichtbar und gibt unserer vielfältigen Kirche und der vielfältigen Christenheit ihre Gestalt. Die Kirche Jesu Christi hat nur ein Zentrum, aber eine große Vielfalt der Worte, der Formen, der Erfahrungen. Dass diese Vielfalt sein darf und sein kann ist für viele Christen eine Herausforderung. Trotzdem: die Vielfalt ist für jede und jeden Einzelnen Grund der eigenen Gewissheit. Wenn es nur eine richtige Sprache, nur eine richtige Form für unseren Glauben gäbe - wie könnte ich sicher sein, dass gerade ich in der richtigen Art und Weise meinen Glauben lebe und davon rede? Das ist ja auch sonst so: Meine Gewissheit hängt daran, dass das Evangelium wirklich allen gilt. Es gibt ja immer wieder Menschen, mit denen wir uns nicht verstehen. Kann es wirklich sein, dass auch Ihnen das Evangelium genauso gilt wie mir? Ich kann nur dann sicher sein, dass das Evangelium auch mir gilt, wenn es auch allen anderen gilt... Die Vielfalt des Evangeliums gründet in Pfingsten. Und sie schützt vor Fanatismus: davor, dass nicht wir den Kern des Evangeliums definieren, sondern - durch den heiligen Geist - allein Jesus Christus.
VI. Verstehen Drittes Stichwort: Verstehen. - Wir erleben jeden Tag, dass wir Menschen einander nicht verstehen. Leiden darunter, dass wir nicht verstanden werden. Und merken ab und zu, dass wir die anderen nicht verstehen. Umso faszinierender ist der Gedanke, dass wir einander wirklich verstehen können. Unsere Geschichte wechselt ja mittendrin ihren Schauplatz. Anfangs sind die Jesus- Anhänger an einem Ort für sich beieinander; plötzlich aber mitten in der Öffentlichkeit: Die Erfahrung des Heiligen Geistes öffnet! Sie öffnet - und zwar die Gemeinschaft und die Einzelnen. Sie erzählen von den großen Taten Gottes : von dem, was Gott in der Geschichte getan hat. Und von ihren eigenen ganz persönlichen Erfahrungen. Dort, wo wir Menschen einander so begegnen, dass wir uns unser Leben und unsere Geschichte mit Gott eröffnen, dort verstehen wir uns in einer neuen Weise. Dort verändert sich das Miteinander, dort erleben wir einen neuen Geist. Dass diese internationale, multikulturelle und ökumenische Gemeinschaft sich versteht, kann ich mir nur so vorstellen, dass sie merken: diese Menschen, die mir scheinbar so fremd sind, die sind mir in ihren Erfahrungen ganz nah. Für nüchterne Realisten ist Ekstase (= aus sich heraus gehen ) etwas Verdächtiges: aber unser Verstehen braucht genau das: dass wir aus uns heraus gehen, dass wir uns öffnen und uns nicht voreinander verbergen. VII. Erfüllung Nach Gemeinschaft, Vielfalt und Verstehen heißt mein viertes Stichwort Erfüllung. - Im Bericht des Lukas finden Hörer und Leser viele Bezüge: der Turmbau zu Babel (Gen 11) steht im Hintergrund und auch der Bericht von der Gabe der 10 Gebote. Und wir können von dort eine Linie ziehen zur Ankündigung des neuen Bundes, die der Prophet Jeremia im Namen Gottes ausrichtet: Dieser neue Bund soll darin bestehen, dass Gott sein Gesetz in das Herz der Menschen geben wird. Einen neuen Geist... Lukas erzählt den beginnenden Weg der Kirche parallel zum Beginn des Weges Jesu: Der Empfang des Geistes - sowohl bei der Taufe Jesu als auch an Pfingsten - mit sichtbaren und hörbaren Zeichen. - Jesus hat in Nazareth eine Antrittspredigt gehalten, an Pfingsten predigen zuerst alle in vielen Sprachen, dann Petrus. - Dort wie hier lesen wir, dass in diesem Geschehen alttestamentliche Verheißungen erfüllt werden. - Beide Male folgt danach der Weg in die Öffentlichkeit. Erfüllung... Verheißungen sind erfüllt; die Zeit, der Raum, ja sogar Menschen werden erfüllt. Selten, dass Menschen erfüllt sind. Wunderbar, wenn sie es sind. Kinder sind oft erfüllt bei einem Spiel, sind ganz dabei. Gehen darin auf. Eine Aufgabe kann uns erfüllen, eine Idee. Gefährlich wird es, wo Erfülltsein in Fanatismus umschlägt. Auch hier kommt es darauf an, wovon - von wem! - wir erfüllt sind: Erfüllt fangen Menschen an, die großen Taten Gottes zu
loben, vergessen nicht was er dir Gutes getan hat. Erfüllt ist für Lukas die Ankündigung des Propheten Joel:... es soll geschehen [...], spricht Gott, da will ich ausgießen von meinem Geist auf alles Fleisch; und eure Söhne und eure Töchter sollen als Propheten im Namen Gottes reden, und eure Jünglinge sollen Gesichte sehen, und eure Alten sollen Träume haben; und auf meine Knechte und auf meine Mägde will ich in jenen Tagen von meinem Geist ausgießen, und sie sollen als Propheten im Namen Gottes reden. Es soll geschehen, dass die Dinge in Bewegung kommen. Menschen werden Visionen und Träume haben: Die Enge der nüchternen Realisten wird aufgebrochen. Der nüchterne Realismus ist nicht mehr der Maßstab, Gott eröffnet einen neuen: Visionen und Utopien werden möglich. Und nicht nur die Jungen fangen an, eine andere Zukunft zu erhoffen. Ausdrücklich sind die Alten genannt - die in Jahrzehnten erfahren haben, wie die Menschen sind. Trotzdem: Sie winken nicht bloß ab, wenn die Jungen ihre Träume und Visionen vortragen. Sie bringen selber ihre Träume und Vorstellungen. Wo Menschen begeistert sind, muss nicht, kann nicht alles bleiben, wie es immer schon war. Da werden die Generationen miteinander und begeistert neue Wege wagen. Und was kann dann werden in einer Gemeinde, wenn Junge und Alte miteinander ihre Hoffnungen und ihren Glauben erzählen und leben! Ahnen wir, was da werden kann...? Dann die Knechte und Mägde... die in der Gesellschaft wenig angesehen sind, dürfen genau so mitreden. Auch ihre Erwartungen, Hoffnungen und Träume werden eine Rolle spielen. Die von Gottes Geist beseelten Menschen bilden eine Gemeinschaft, die niemanden ausschließt. Spüren wir, dass uns dieses Miteinander etwas abverlangt, was wir nicht gewohnt sind: dass wir einander unsere Träume, unsere Hoffnungen und unsere Sehnsucht anvertrauen? Martin Luther King hat in seiner berühmten letzten Predigt seinen Traum erzählt: I have a dream. Wie viel hat sich dadurch verändert, dass er sich davon hat erfüllen lassen. Dass er begeistert war - im Namen Jesu Christi. VIII. Schluss Merkwürdig, dass Pfingsten als Fest der Christen an Bedeutung verliert. Gerade nüchterne Realisten müssen ja bemerken, wie merk-würdig es ist, dass wir auch 2010 noch Pfingsten feiern. Und zwar viele Millionen Menschen auf der ganzen Erde. Christus hat seinen Jüngern versprochen:...ihr werdet die Kraft des heiligen Geistes empfangen, der auf euch kommen wird, und werdet meine Zeugen sein: in Jerusalem, dann in Judäa und Samarien und schließlich bis an das Ende der Erde (Apg 1,8). Kein nüchterner Realist hätte sich damals vorstellen können, dass das jemals passieren könnte. Pfingsten ist ein Wunder. Eines, das wir erleben können. Amen.