Hörgeräte nicht mehr helfen...



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Transkript:

Cochlea-Implantate Wenn Hörgeräte nicht mehr helfen... Schon heute hören etwa 25 000 bis 30 000 Bundesbürger mit einem Cochlea-Implantat. Erwartet wird, dass diese Zahl in den kommenden Jahren noch erheblich steigt. Wohl in jeder allgemeinärztlichen Praxis gibt es sie: Patienten, mit denen die Verständigung aufgrund einer geminderten Hörfähigkeit erschwert ist. Nach aktuellen Schätzungen ist derzeit etwa jeder fünfte Bundesbürger hör - geschädigt, und die Tendenz ist aufgrund der zu erwartenden demografischen Entwicklung sowie zunehmender Hörprobleme bei jungen Menschen kontinuierlich steigend (1). Schon jetzt ist in der Bevölkerung der Anteil Hörgeschädigter weit höher als der bei Volkskrankheiten wie Depression, Migräne oder Diabetes mellitus. Eine Hörschädigung ist für die Betroffenen ein Handicap, das in den meisten Fällen durch Hörgeräte aus - geglichen werden kann. Doch es gibt auch Patienten, bei denen sie keine ausreichende Versorgung ermöglichen. Trotz leistungsstarker Hörgeräte verstehen diese Menschen nur wenig, können nur mit großer Anstrengung telefonieren oder an Gesprächen teilnehmen. Auch Radio und Fernsehen verstehen sie trotz zusätzlicher technischer Hilfsmittel nicht. Häufig werden die Hörge- 36 PRAXiS 2/2013 Deutsches Ärzteblatt

Quellen: www.ich-will-hoeren.de räte dann gar nicht mehr getragen, weil der Betroffene kaum einen Nutzen aus ihnen zieht. Isolation und psychische Erkrankungen können die Folge sein. Wenn Hörgeräte kaum oder gar nicht mehr helfen, bieten Cochlea- Implantate (CI) einer immer größeren Zahl hochgradig hörgeschädigter bis völlig ertaubter Menschen den Zugang zur Welt des Hörens und damit die Chance auf aktive Teilhabe am Leben. Sie ermöglichen diesen Menschen im Vergleich zu leistungsstarken Hörgeräten eine signifikant höhere Lebensqualität (2). Einschränkend seien die Kontraindikationen für eine CI-Versorgung genannt: Als absolute Kontraindikationen gelten das Fehlen der Cochlea beziehungsweise des Hörnervs, eine nicht sichergestellte postoperative Rehabilitation und Nachsorge beziehungsweise fehlende Rehabilitationsfähigkeit sowie eine Taubheit mit Funktionsstörungen im Bereich der zentralen Hörbahnen. Daneben werden Mittelohrinfektionen, ein negativer subjektiver Promontoriums-Test, schwere Allgemeinerkrankungen sowie therapieresistente Krampfleiden als relative Kontraindikationen angesehen (3). Einige Formen der retrocochleären Hörstörung, lange Zeit eine absolute Kontraindikation, schließen eine erfolgreiche CI-Versorgung nicht zwingend aus (4). an das Gehirn weitergeleitet werden. Eine Hörwahrnehmung entsteht. Lässt das Hörvermögen jedoch nach, kommt es zu Einbußen in der Hörwahrnehmung. Bei einer fortschreitenden Innenohr-Schwerhörigkeit verlieren die Haarsinneszellen der Cochlea ihre Funktionstüchtigkeit. Meist lässt zunächst die Empfindlichkeit nach, dann verblassen oft die hohen Töne mehr und mehr. Mit zunehmender Hörschädigung kommen dann auch leistungsstarke Hörgeräte an ihre Grenzen. Im Prinzip nehmen Hörgeräte den ankommenden Schall auf, verarbeiten ihn und geben ihn verstärkt in den Gehörgang ab. Kann der Schall jedoch im Innenohr gar nicht mehr in bioelektrische Signale gewandelt werden, hilft auch ein erhöhter Schallpegel nicht mehr. In den meisten Fällen hört man dann zwar noch etwas, aber man versteht immer weniger. Ein Cochlea-Implantat hingegen ist nicht auf die Umwandlung des Schalls durch das Innenohr angewiesen. Im Unterschied zu Hörgeräten umgeht es die beschädigten Haarsinneszellen und stimuliert den Hörnerv direkt elektrisch. Jedes CI-System besteht aus zwei wesentlichen Komponenten (Grafik): dem Soundprozessor (SP) mit Sendespule, der hinter dem Ohr getragen wird, und dem eigentlichen Implantat unter der Haut. Der Soundprozessor nimmt die Schallwellen mit Mikrofonen auf, wandelt sie in digitale Signale, verarbeitet sie und leitet sie weiter an die Sendespule, erläutert Dr. Horst Hessel, Forschungsleiter bei Cochlear Deutschland. Die Spule überträgt die Signale an das unter der Haut liegende Implantat. Das Implantat wandelt die kodierten Signale in elektrische Impulse um und leitet sie über einen Elektrodenträger an die 22 Elektroden weiter, die in der Cochlea nahe dem Hörnerv platziert sind. Diese stimulieren die Hörnervenfasern direkt elektrisch; im Gehirn entsteht ein Höreindruck. (5) 1 Soundprozessor: Ein kleines Mikrofon nimmt Schallwellen auf, die dann vom äußerlich getragenen Soundprozessor in digital kodierte Signale umgewandelt und an die Sendespule übertragen werden. 2 Sendespule: Über die Sendespule werden die Signale an das unter der Haut liegende Implantat übertragen. Akustische Verstärkung elektrische Stimulation Bei einem intakten Hörvermögen nimmt die Ohrmuschel die Schallwellen aus der Umgebung auf und leitet diese durch den Gehörgang zum Trommelfell. Die Schallwellen bringen das Trommelfell zum Schwingen. Die Schwingungen werden über die Mittelohrknöchelchen auf die Flüssigkeit des Innenohrs übertragen, und die entstehende Druckwelle führt zur Auslenkung feiner Haarsinneszellstrukturen. Die Haarsinneszellen wandeln die Auslenkungen in bioelektrische Impulse um, die dann über den Hörnerv 3 Implantat: Das Implantat wandelt die kodierten Signale in elektrische Impulse um und leitet sie an den Elektrodenträger weiter. 4 Elektrodenträger: Die Elektroden stimulieren die Hörnervenfasern in der Cochlea im Gehirn entsteht ein Höreindruck. Deutsches Ärzteblatt PRAXiS 2/2013 37

38 PRAXiS 2/2013 Deutsches Ärzteblatt Ein CI-System: Soundprozessor mit Sendespule, das eigentliche Implantat mit dem Elektrodenträger sowie eine Fernbedienung (von links nach rechts) In den modernen Industrieländern ist die CI-Versorgung längst etabliert. In Deutschland, wo seit mehr als 30 Jahren Cochlea-Implantate eingesetzt werden, leben mittlerweile 25 000 bis 30 000 Menschen mit einem beziehungsweise mit zwei CI. Aktuell werden hier jährlich circa 3 000 CI-Versorgungen durchgeführt. Vielen gehörlos geborenen Kindern sowie hochgradig hörgeschädigten beziehungsweise völlig ertaubten Kindern und Erwachsenen eröffnet dies neue Lebensperspektiven. Die jüngsten Patienten sind nur wenige Monate alt, die ältesten über 90 Jahre. Die Operation, bei der das Implantat eingesetzt wird, ist ein Routine - eingriff. In der Regel ist ein einwöchiger Aufenthalt in der Klinik erforderlich. Vier bis sechs Wochen nach der OP erfolgt die Aktivierung des Soundprozessors durch einen Audiologen. Er passt den Prozessor an die individuellen Bedürfnisse des CI-Trägers an. Nun kann das neue Hör-Erleben des Patienten beginnen. Dieser muss lernen, mit den neuen Sinneseindrücken umzugehen, sich an den anfangs oft ungewohnten Klang von Geräuschen oder Stimmen zu gewöhnen. Je nach individuellen Voraussetzungen und persönlichem Training kann er nicht nur Gesprächen folgen, sondern auch telefonieren oder gar Musik hören. Auf dem Weg zum neuen Hören wird der Patient von Ärzten, Audiologen und Therapeuten begleitet. Im Rahmen der Nachsorge muss die Einstellung des Soundprozessors einmal jährlich überprüft und gegebenenfalls aktualisiert werden. Die Implantate selbst sind so gebaut, dass sie möglichst ein Leben lang halten und keine erneuten Operationen erforderlich sind. Die Zuverlässigkeit wird fortlaufend dokumentiert, so CI-Experte Hessel. Unsere bisherigen Erfahrungen zeigen: Selbst Implantate, die bereits seit über 30 Jahren getragen werden, arbeiten immer noch zuverlässig. Zudem haben Patienten die Möglichkeit, an neuesten technologischen Entwicklungen zu partizipieren. Der extern getragene Soundprozessor kann meist durch einen neuen, leistungsfähigeren SP ausgetauscht werden, ohne dass eine weitere Operation erfolgen muss. (6) In puncto Zuverlässigkeit zeigen herstellerübergreifende Unter - suchungen: Die Zuverlässigkeit von Cochlea-Implantat-Systemen ist grundsätzlich zufriedenstellend, jedoch kann der Grad der Zuverlässigkeit je nach System variieren (7). Die Zahl der Implantatträger hierzulande könnte in den kommenden Jahren noch erheblich steigen auch, weil die Möglichkeiten des CI immer bekannter werden und weil sich die Technik seit ihrer Einführung deutlich verbessert hat. Man geht davon aus, dass bis zu zehn Prozent der insgesamt etwa 15 Checkliste und Links Wem können Cochlea-Implantate helfen? in der Regel Menschen, denen Hörgeräte kein ausreichendes Verstehen sichern gehörlos geborenen Kindern Erwachsenen, Kindern und Jugend - lichen mit im Laufe ihres Lebens erworbener hochgradiger Hörschädigung bis völliger Taubheit vielen Menschen, die auf einem Ohr praktisch taub sind Weiterführende Links Arbeitsgemeinschaft Deutschsprachiger Audiologen, Neurootologen und Otologen (ADANO): www.hno.org/adano Arbeitsgemeinschaft CI-Rehabilita - tion: www.acir.de Deutsche Cochlear Implant Gesellschaft e.v. (DCIG): www.dcig.de Deutscher Schwerhörigenbund e.v. (DSB): www.schwerhoerigen-netz.de Initiative Ich will hören! (Patienten- Information): www.ich-will-hoeren.de Leitlinien für die CI-Versorgung (inklusive Literaturliste): www.awmf.org/ leitlinien/detail/ll/017 071.html Millionen hörgeschädigten Deutschen von einer CI-Versorgung stark profitieren könnten. Schätzungen sprechen allein für Deutschland von bis zu 10 000 CI-Versorgungen pro Jahr. Grund zu dieser Annahme sind unter anderem neue Indikationsbereiche. Längst ist die Cochlea-Implantation nicht mehr allein den taub geborenen Kindern beziehungsweise früh ertaubten Patienten vorbehalten, betont Prof. Dr. med. Timo Stöver, Direktor der Klinik für Hals-, Nasen-, Ohren-Heilkunde am Klinikum der Universität Frankfurt/M. Heute gibt es eine Reihe weiterer Patientengruppen, bei denen sich die Versorgung mit einem Cochlea-Implantat empfiehlt. Noch vor zehn beziehungsweise 15 Jahren wäre eine Implantation für diese Patienten kaum vorstellbar gewesen. (8) CI-Versorgung mit Erhalt vorhandener Hörreste Lange Zeit ging eine CI-Versorgung zwangsläufig mit dem Verlust eventuell vorhandener natürlicher Hörreste einher. Patienten, die zwar Sprache mit Hörgeräten nicht mehr verstehen, jedoch tiefe Töne noch hören konnten, entschieden sich daher oft gegen eine CI-Versorgung. Oder sie kamen aufgrund ihres akustischen Resthörvermögens gar nicht erst für eine Behandlung in Betracht. Doch inzwischen ermöglichen neue Elektroden-Entwicklungen, die meisten Patienten so zu versorgen, dass ihre Resthörigkeit erhalten bleibt und sie

dennoch von den Vorteilen eines CI profitieren. In der Regel kommt bei ihnen eine sogenannte Hybridversorgung zur Anwendung, bei der ein Hörgerät mit einem Cochlea-Implantat funktionell kombiniert wird. Das Hörgerät verstärkt die tiefen Töne, und das CI sichert die Wahrnehmung der hohen Frequenzen, die für das Sprachverstehen entscheidend sind. Das Ohr empfängt also sowohl akustische als auch elektrische Reize, die gleichzeitig verarbeitet werden. Einseitig Ertaubte als neue Patientengruppe Veränderungen gibt es auch bei der Versorgung einseitig ertaubter Patienten. Ging man früher davon aus, dass sich diese Patienten an das Hören mit nur einem Ohr gewöhnen, weiß man heute, dass die einseitige Taubheit eine erhebliche Beeinträchtigung darstellt (9, 10). Das Hören mit beiden Ohren ist nicht nur eine Grundvoraussetzung für räumliches Hören und damit für die Fähigkeit, sich hörend im Raum orientieren zu können. Beidseitiges Hören ermöglicht auch, wichtige von unwichtigen Signalen zu unterscheiden und etwa Sprache in lauter Umgebung noch verstehen zu können. Neben Hörlösungen wie der Hörgeräte-CROS-Versorgung und dem knochenverankerten Hörsystem Baha hat sich auch das Cochlea-Implantat bei einem Teil der einseitig Ertaubten als Behandlungsmethode etabliert. Ist der Hörnerv noch intakt, testen die Patienten zunächst die beiden erstgenannten Lösungen. Wenn die Patienten in diesen Tests nicht zu einem befriedigenden Ergebnis kommen, erfolgt eine detaillierte Information über eine Cochlea-Implantation im Rahmen einer CI-Voruntersuchung, berichtet etwa Priv.-Doz. Dr. med. Susan Arndt, Oberärztin an der HNO-Klinik des Universitätsklinikums Freiburg. Bei medizinischer Indikation und Wunsch des Patienten wird eine Kostenübernahme durch die Krankenkasse beantragt. (11) Wird ein Patient auf einem Ohr mit einem Hörgerät und auf dem anderen mit einem Cochlea-Implantat versorgt, so spricht man von einer bimodalen Versorgung. Auch sie wird immer häufiger angewandt und zwar bei Patienten, die auf einem Ohr einen sehr hohen und auf dem anderen Ohr einen mit Hörgeräten therapierbaren Hörverlust haben. Das CI hilft diesen Patienten, Sprache besser zu verstehen. Bei der Wahrnehmung einer Sprachmelodie oder auch beim Hören von Musik hingegen kommt ihnen der akustische Höreindruck über das Hörgerät zugute. Deutlich zugenommen hat in den letzten Jahren zudem die Zahl älterer CI-Patienten ein Trend, der ganz der allgemeinen demografischen Entwicklung entspricht. So zeigt beispielsweise eine Datenanalyse der Berliner Charité, dass 20 Prozent der dort in den zurückliegenden fünf Jahren mit einem CI versorgten Patienten über 70 Jahre alt sind. Die Erfolge bei der Versorgung dieser Patientengruppe lassen sich nicht allein anhand von Audiogrammen und Sprachtests belegen. Die Daten der laufenden Studie zeigen, dass sich die Lebensqualität, zum Beispiel die Sozialisation und Aktivität, der über 70-jährigen CI-Patienten entscheidend verbessert, ja sogar stärker verbessert als bei den jüngeren CI- Patienten, so Prof. Dr. med. Heidi Olze, Direktorin der HNO-Klinik und Poliklinik der Berliner Charité (12). Als Lösung für all diejenigen, denen leistungsstarke Hörgeräte nicht ausreichend helfen können, ist das Cochlea-Implantat in Deutschland derzeit noch weit weniger bekannt als beispielsweise in den USA. Berichten Betroffener ist zu entnehmen, dass sogar mancher Facharzt falsche Vorstellungen vom CI hat. Mitunter versperren Wissenslücken den Betroffenen über Jahre den Weg zu einer deut - lichen Verbesserung der Kommunikationsfähigkeit und Lebensqualität. Bei medizinischer Indikation werden die gesamten Kosten von den gesetzlichen beziehungsweise je nach Vertrag privaten Krankenkassen getragen; sie belaufen sich allein im ersten Versorgungsjahr auf circa 40 000 Euro. Durch die lebenslange Nachversorgung entstehen weitere Kosten, zum Beispiel für die Batterieversorgung. Auch diese werden, im Unterschied zu Hörgeräten, von der Krankenkasse übernommen. Studien belegen, dass dieses Geld nicht nur aus Sicht der Betroffenen gut angelegt ist. So haben Kinder, die bis zum zweiten Lebensjahr mit einem CI versorgt werden, die besten Chancen, die Regelschule zu besuchen. Zahlreiche junge Menschen, die in früher Kindheit mit einem CI Patientin mit CI-System: Sichtbar sind lediglich der Soundprozessor und die Sendespule. versorgt wurden, absolvieren heute erfolgreich eine Ausbildung, studieren oder üben hochqualifizierte Berufe aus. Und auch viele im Erwachsenenalter Ertaubte beziehungsweise hochgradig Hörgeschädigte können dank einer CI-Versorgung ins Berufsleben zurückkehren. Martin Schaarschmidt @ Literaturverzeichnis: www.aerzteblatt.de/lit1413 Deutsches Ärzteblatt PRAXiS 2/2013 39

Cochlea-Implantate Wenn Hörgeräte nicht mehr helfen... Schon heute hören etwa 25 000 bis 30 000 Bundesbürger mit einem Cochlea-Implantat. Erwartet wird, dass diese Zahl in den kommenden Jahren noch erheblich steigt. LITERATUR UND ANMERKUNGEN 1. Kochkin S: MarkeTrak VIII. 2008. Die repräsentative Studie nennt im Vergleich zur vorangegangenen Untersuchung von 2005 für die USA einen Anstieg von 31,5 auf 35 Millionen hörgeschädigte Einwohner. Bei einem Bevölkerungswachstum von 4,5 Prozent stieg die Zahl der Hörgeschädigten im gleichen Zeitraum um 9 Prozent. Eine Prognose für 2025 geht bereits von mehr als 40 Millionen hörgeschädigten US-Amerikanern aus, siehe www.hearingreview.com 2. Meis M, Plotz K, Dillier N, Kießling J, Kinkel M, Hessel H: Gesundheitsbezogene Lebensqualität und Hören: Erste Ergebnisse einer multizentrischen Studie. 50. Internationaler Hörgeräte-Akustiker-Kongress 2005. Multizentrische Lebensqualitätsstudie, für die 2 410 Hörgeschädigte in Deutschland und der Schweiz, Zürich, Gießen und Oldenburg befragt wurden. 3. Leitlinie Cochlea-Implantat Versorgung einschließlich zentral-auditorischer Implantate der Deutschen Gesellschaft für Hals- Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals- Chirurgie e. V. vom 2. Mai 2012, www. awmf.org/leitlinien/detail/ll/ 017 071.html. 4. Helbig et al, A case of bilateral cochlear implantation in single-sided untreated acoustic neurinoma, in: Acta Otolaryngol, Juni 2009 5. Gespräch mit Dr. Horst Hessel, Forschungsleiter bei Cochlear Deutschland, Februar 2013. 6. ebd. 7. Battmer RD, O Donoghue G, Lenarz T: A Multicenter Study of Device Failure in European Cochlear Implant Centers, in: Ear & Hearing, April 2007 8. Die Aussage von Prof. Dr. T. Stöver ist einer Dokumentation zum Round-Table-Gespräch Aktuelle und zukünftige Indikationserweiterungen für das Cochlea-Implantat und die damit verbundenen chirurgischen Anforderungen entnommen, das im Mai 2012 im Rahmen der 83. Jahresversammlung der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie e.v. stattfand. (Material auf Anfrage beim Autoren dieses Beitrags zu beziehen: martin.schaarschmidt@berlin.de). 9. Lieu et al: Longitudinal study of children with unilateral hearing loss, in: Laryngoscope, September 2012 10. Schmiedl, First-Person Account of Unilateral Deafness Treated with a Cochlear Implant, in: Audiol Neurotol 2011/16 11. Die Aussagen sind ebenfalls der o. g. Dokumentation zum Round-Table-Gespräch Aktuelle und zukünftige Indikationserweiterungen für das Cochlea-Implantat und die damit verbundenen chirurgischen Anforderungen entnommen. 12. ebd. 5 PRAXiS 2/2013 Deutsches Ärzteblatt