Dr. Michael Kilchling Kriminologie II 9 Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2009 1
2. Neue problematische Tätergruppen Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2009 2
Problematische Tätergruppen 1. Ethnische Minderheiten, Strafrecht und Kriminalität 2. Kindheit, Jugend, Gewalt 3. Kriminelle Karrieren und chronische Straftäter Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2009 3
1. Ethnische Minderheiten, Strafrecht und Kriminalität Grundprobleme: Erfassung von (ethnischen) Minderheiten in der polizeilichen Kriminalstatistik Diskriminierung, Stigmatisierung? Unterschiede im Anzeigeverhalten Wie werden Minderheiten erfasst? Staatsangehörigkeit Ethnie (England, USA, Kanada 'race') Probleme der Verlässlichkeit der Erfassung Staatsangehörigkeit: Unterschätzung (Einbürgerung; Aussiedler) Ethnische Zugehörigkeit: Einstufung/Selbsteinstufung Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2009 4
Einwanderer/1.000 der Bevölkerung in den Ländern der OECD 14 12 10 8 6 4 2 0 2004/05 Schweiz Australien Kanada Belgien Deutschland Norwegen England Schweden Italien Niederlande USA Dänemark Japan Finnland Frankreich Ungarn Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2009 5
Immigration Einwanderung und der Fremde Fremde und Fremdenangst (Xenophobie) Assoziation mit Instabilität und Konflikt Geeignet zur politischen Mobilisierung Leitmotive europäischer Wahlen Sicherheit (organisierte Kriminalität und Terrorismus) Einwanderung Kombination von Sicherheit und Einwanderung Zwanghaft-konsensuale Politikstruktur und Überbietungswettbewerbe Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2009 6
Typisierung der Ausländerkriminalität Immigrantenkriminalität Subkulturtheorie (Miller) Migrationskriminalität ('kleine' grenzüberschreitende Kriminalität) Immigrationskriminalität Transaktionskriminalität (Schwarzmarktkriminalität) Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2009 7
Entwicklungen in der Ausländerkriminalität Quelle: PKS 2007 Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2009 8
Entwicklungen in der Ausländerkriminalität 40 35 30 25 20 15 10 5 0 1987 1989 1991 1993 1995 1997 1999 2001 2003 2005 2007 Insgesamt Ohne Ausländergesetz Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2009 9
Entwicklungen in der Ausländerkriminalität 40 35 30 25 20 15 10 5 0 1961 1964 1967 1970 1973 1976 1979 1982 1985 1988 1991 1994 1997 2000 2003 2006 Anteil Tatverdächtige Anteil Wohnbevölkerung Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2009 10
Entwicklungen in der Ausländerkriminalität Quelle: PKS 2007 Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2009 11
Beziehungen zwischen Einwanderung, Sicherheit und Kriminalität Einige Immigrantengruppen sind stärker mit Kriminalität belastet, jedoch nicht alle Besondere Belastungen sind teilweise sichtbar bei den Einwanderern der zweiten und dritten Generation Viele Immigranten befinden sich in einer ökonomisch und sozial prekären Situation Der soziale und ökonomische Wandel der letzten Jahrzehnte hat sich zu Lasten von Immigranten ausgewirkt Das Verschwinden (einfacher) Arbeit hat die Immigrations- und Integrationsbedingungen verändert. Neuimmigranten bietet sich häufig nur der Weg in Schattenwirtschaften; der erste Arbeitsmarkt bleibt versperrt Hassgewalt und ethnisch gefärbte Konflikte nehmen überall in Europa zu. Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2009 12
Aufenthaltsgründe Tatverdächtiger Quelle: PKS 2007 Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2009 13
Deliktsverteilung nach Aufenthaltsstatus Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2009 Quelle: 2. Period. Sicherheitsbericht 2006 14
Was hat sich für Immigranten verändert? Rechtlicher Status: vom Arbeitsmigranten zu Asyl, Flüchtlingsstatus und Illegalität Transformation der Arbeitsmärkte führt zu hoher Arbeitslosigkeit und Arbeit in Schattenwirtschaften Immigranten konzentrieren sich in großstädtischen Gebieten Arbeitsmigranten der 1950er und 60er Jahre kommen aus ländlichen Gebieten; Migranten der 1990er Jahre kommen aus großstädtischen Gebieten Immigration führt in Europa zu transnationalen (ethnischen) Gemeinschaften Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2009 15
Immigrantenkriminalität Erste, zweite, dritte (etc.) Generationen Erste Generation: hohe Konformität, kaum Kontakte zur Immigrationsgesellschaft» Subkulturtheorie Folgegenerationen: signifikant höhere Auffälligkeit» Kulturkonflikt» Marginalisierung/Subkulturbildung Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2009 16
Entwicklung im Längsschnitt Prävalenz Polizeilichen Tatverdachts (insgesamt) im Vergleich der Geburtskohorten der Deutschen, der Ausländer und der Aussiedler 40 35 30 25 20 15 10 5 0 1970 1973 1975 1978 Deutsche Ausländer Aussiedler Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2009 17
Problematische Tätergruppen Quelle: KFN Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2009 18
Struktur der Ausländerkriminalität Quelle: PKS 2007 Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2009 19
Migrationskriminalität Einfacher Diebstahl (insb. Ladendiebstahl) Qualifizierter Diebstahl Drogendelikte Straßenverkehrsdelikte Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2009 20
Immigrationskriminalität Straftaten nach dem Ausländergesetz und Asylverfahrensgesetz Urkundenfälschung Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2009 21
Transaktionskriminalität Drogenmärkte Prostitution-/ Rotlichtmilieus Immigrationsschwarzmärkte (Menschenhandel) Andere Schwarzmärkte: PKW etc. Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2009 22
Phasen der Einwanderungspolitik in der EU bis 1973 70er/80er Jahre 90er Jahre ab 2000 Immigration aus früheren Kolonien und Anwerbung von Gastarbeitern Familienzusammenführung und Asyl Asyl, Flüchtlinge, illegale Immigration Asyl, Flüchtlinge, illegale Immigration und ausgewählte Arbeitsmigranten ('green cards') Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2009 23
Illegale Immigration als sensibles politisches Thema Illegale Einwanderung lässt zusammenführen Sicherheit und Unsicherheitsgefühle Fremde Gut etablierte Opferrollen Organisierte Kriminalität (Menschenhandel, Drogen) Terrorismus Schattenwirtschaft und Verdrängung regulärer Arbeit Geeignet zur politischen Mobilisierung Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2009 24
Illegale Immigranten und Kriminalität Zwei Annahmen: Marginalisierungshypothese» Kriminalität und Lebensunterhalt Abschreckungshypothese» Unauffälligkeit als Überlebensstrategie
Anteile (%) Illegaler an verschiedenen Delikten 2006 80 65 60 40 20 0 0,9 0,5 0,5 0,1 0,20,7 0,7 8,9 Tötungsdelikte Sexualdelikte Raub Körperverletzung Einfacher Diebstahl Schwerer Diebstahl Drogen Urkundsdelikte Asyl-/Ausländergesetze Quelle: PKS 2007 Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2009 26
Illegale Immigranten und Kriminalität "Illegal aufhältliche Tatverdächtige müssen unter dem von ihnen ausgehenden Sicherheitsrisiko als unbedeutend eingestuft werden (ein Befund, über den die unangenehme Assoziationen weckende Bezeichnung als illegal täuschen kann)" Bayerisches Landeskriminalamt (W. Steffen 1992) Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2009 27
Illegale Immigranten und Viktimisierung Illegale als Opfer Opfer von Menschenrechtsverletzungen Opfer von Schleusung und Menschenhandel Zwangsprostitution und Zwangsarbeit Ausbeutung und Marginalisierung Bislang keine systematischen Opferstudien verfügbar In der polizeilich registrierten Kriminalität spielen illegale Immigranten als Opfer praktisch keine Rolle Kriminelle Viktimisierung dürfte allerdings sehr hoch sein Abgeschreckt wird insoweit auch vom Zugang zu Recht und strafrechtlichem Schutz Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2009 28
Exkurs: Viktimisierungserfahrungen von Frauen Quelle: BMFSFJ, Studie zur Lebenssituation von Frauen (2004) Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2009 29
Ausländer- u. Strafrecht in der Kontrolle von Immigration Entstehung eines Zwei-Säulen-Systems der Kontrolle von Immigranten Strafrecht Ausländerrecht Ausweisung und Abschiebung als Antwort auf Straftaten Armut Allgemeine Risiken für die öffentliche Ordnung Drogenabhängigkeit Illegale Einreise/illegaler Verbleib Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2009 30
Exkurs: Anstieg der Abschiebehaft in den 1990er Jahren 3000 35000 2500 30000 2000 25000 1500 1000 20000 15000 10000 500 5000 0 0 1977 1979 1981 1983 1985 1987 1989 1991 1993 1995 1997 Stichtag 31/12 Zugänge pro Jahr Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2009 31
Implementationsprobleme Vollzugsprobleme Vollziehung von Abschiebungen/Ausweisungen oft schwierig Regularisierungspolitik Legalisierung, Amnestie und Duldung Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2009 32
Konzepte der Diskriminierung Individuelle Diskriminierung Gruppendiskriminierung Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2009 33
Ausländer und Polizei Handlungsmuster der Polizei: Tatverdacht und reaktive Polizei Proaktive Polizei und Transaktionskriminalität Allgemeines Kontrollverhalten und Einstellungen Rekrutierung der Polizei Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2009 34
Ausländer und Untersuchungshaft Untersuchungshaft und Gruppendiskriminierung Vgl. 112 StPO Wichtiges praktisches Kriterium bei Entscheidung über Untersuchungshaft: Bindungen» Wohnsitz» Arbeit, Familie Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2009 35
Ausländer und Strafprozess Einstellung des Ermittlungsverfahrens: höhere Quoten bei Ausländern Besonderheiten des Prozesses Dolmetscher ( 187 GVG auch für nebenklageberechtigte Opfer) Sachverständige/Begutachtung Strafzumessung: grds. keine Unterschiede Routinen/Vereinfachung (Strafbefehl etc.) Orientierung an Tatschweremerkmalen Problematisch kann die Vollstreckung von Geldstrafen sein Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2009 36
Ausländer und Strafvollzug 45 40 35 30 25 20 15 10 5 0 33,9 34,835,2 16,1 29,3 37,6 42,8 21,8 28,2 21,1 20,8 18,2 24,7 10,3 Ausländeranteil an den Gefangenen (2002) Quelle: Bannenberg, Gutachten zum 8. Deutschen Präventionstag (2003) Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2009 37 8 Baden-Wuerttemberg Bayern Berlin Brandenburg Bremen Hamburg Hessen M.-Vorpommern Niedersachsen Nordrhein-W. Rheinland P Saarland Sachsen Sachsen-A. Schleswig-H. Thueringen
Gefangenenraten in Europa (pro 100.000) 1600 1400 1200 1000 800 600 400 200 0 Deutschland Österreich Belgien Dänemark Spanien Frankreich Griechenland Italien Norwegen Holland Portugal Schweden Schweiz Inländer Ausländer Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2009 38
Ausländer im Strafvollzug Systematische Benachteiligung bei fehlenden Bindungen» Vollzugslockerungen Systematische Bevorzugung bei vorzeitiger Entlassung» allerdings im Zusammenhang mit Ausweisung/Abschiebung Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2009 39
Staatsangehörigkeit und Vollzugslockerungen 50 45 40 35 30 25 20 15 10 5 0 Deutsch Türkisch Afrika/Asien Südamerika Europa Freigang Urlaub Ausgang Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2009 40
Hassgewalt/rassistische Gewalt Formen rassistischer Herrschaft Vorurteil und Stigmatisierung Diskriminierung durch unterschiedliche Behandlung Segregation in räumlicher und sozialer Hinsicht Ghettoisierung durch Zwang zur Entwicklung paralleler sozialer Strukturen Ausschließende Gewalt» Interpersonelle Einschüchterung und Gewalt» Lynchen, Pogrom» Rassistischer Krieg und Holocaust Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2009 41
Welche Art von Daten stehen zur Verfügung? Polizeidaten zu rassistischer/hassgewalt Schweden, Dänemark, Finnland, Deutschland, Österreich, Grossbritannien, Frankreich, Spanien, Niederlande < 10 Jahre Einige enthalten Differenzierungen entsprechend Opferkategorien (z.b. antisemitische Gewalt) Opferbefragungen Längsschnitterfassung durch Opferbefragungen nur in Großbritannien (British Crime Survey) Ansonsten: lokale Studien Populationsdaten zu ethnischen Minderheiten Existieren nicht Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2009 42
Inzidenz Die Inzidenz von Hassgewalt gemessen an Hand von Polizeidaten ist niedrig Der Anteil von Hassgewalt an polizeilich registrierter Gewaltkriminalität liegt in Europa zwischen 0,01 und 0,5% Die meisten Hassdelikte entfallen auf Propagandadelikte Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2009 43
Hassdelikte Deutschland 2007 (rechtsextremistisch) 2472 980 1709 11935 Propagandadelikte Volksverhetzung Gewaltdelikte Sonstiges Verfassungsschutzbericht 2007 Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2009 44
Defizite in Daten Keine Polizeidaten zu Gewalt gegen Minderheiten in und durch Institutionen (Polizei, Gefängnisse) Keine Polizeidaten zu Pogromen oder pogromähnlichen Situationen Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2009 45
Hassgewalt in Deutschland 2500 2000 1500 1000 500 0 1981 1983 1985 1987 1989 1991 1993 Rassistische Gewalt 1995 1997 1999 2001 2003 2005 2007 Rassistischer (versuchter) Mord Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2009 46 25 20 15 10 5 0
Asyl und Brandanschläge Asylrechtsänderung 500000 400000 300000 200000 100000 0 700 600 500 400 300 200 100 0 1960 1963 1966 1969 1972 1975 1978 1981 1984 1987 1990 1993 1996 1999 2002 2005 Asylbewerber Brandanschläge Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2009 47
Täter insbesondere junge Männer aus benachteiligten Gruppen ohne Zugehörigkeit zu organisiertem Rechtsextremismus mit Gewaltbiographie treten als Tatverdächtige von Hassgewalt in Erscheinung Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2009 48
Erkenntnisse aus Opferbefragungen Polizeidaten zu Hassdelikten unterschätzen das tatsächliche Aufkommen von Hasskriminalität erheblich Das Ausmaß von erlittener Hassgewalt unterscheidet sich zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen erheblich Diese Unterschiede werden erklärt durch Unterschiede in Lebenstilen und opferrelevanter Verhaltensmuster Unterschiede in den Reaktionen auf Angst vor Viktimisierung durch Hassgewalt Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2009 49
Das Opfer von Hassgewalt Die Anzeigerate unterscheidet sich nicht Mehr Unzufriedenheit mit polizeilicher Behandlung der Anzeige Stärkere Wahrnehmung von rassistischen Motiven Stärkere Betroffenheit durch Hassgewalt Angst vor Gewalt ist stärker ausgeprägt Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2009 50