Stefan Bollinger (Hrsg.) Das letzte Jahr der DDR

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Transkript:

Stefan Bollinger (Hrsg.) Das letzte Jahr der DDR

STEFAN BOLLINGER (HRSG.) Das letzte Jahr der DDR Zwischen Revolution und Selbstaufgabe Karl Dietz Verlag Berlin

Schriften 11 herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung Gesellschaftsanalyse und Politische Bildung e.v. ISBN 3-320-02047-1 Karl Dietz Verlag Berlin GmbH 2004 Umschlag: Heike Schmelter/MediaService, Berlin Umschlaggestaltung unter Verwendung von: Wolfgang Mattheuer, Die Flucht des Sisyphus (1972) VG Bild-Kunst, Bonn 2003 Typographie/Satz: Jörn Schütrumpf Druck und Bindearbeit: Ueberreuter Buchbinderei und Buchproduktion Printed in Austria

Inhalt Stefan Bollinger: Vorbemerkung 7 Stefan Bollinger: Die finale Krise Ein Problemaufriß 12 Jochen Franzke: Die DDR und die Perestroika: Hoffnung und Syndrom 55 Klaus Steinitz: Wirtschaft bankrott? Die DDR-Ökonomie Ende der achtziger Jahre 70 Paul Heider: Nationale Volksarmee Ultima ratio zum Erhalt der SED-Herrschaft? 100 Erhard Crome: Politische Konstellationen des Umbruchs: Bürgerbewegungen, SED und»blockflöten«124 Christina Matte: 4. November 1989: Der letzte Schulterschluß 156 Carola Wuttke:»Für unser Land«: Entweder? Oder! 162 Thomas Falkner: Von der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands zur sozialistischen Partei in Deutschland 183 Thomas Klein: Modrow-Regierung in der Zwickmühle 207 André Hahn: Der Runde Tisch Schule der Demokratie 230

Jörg Roesler: Letzte Ausfahrt Marktsozialismus? 273 Gunnar Winkler: 1989/90 Aufbruch in eine erwünschte Zukunft zwischen Hoffnungen und Befürchtungen 293 Detlef Nakath: Zu den deutsch-deutsche Beziehungen in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre 320 Erhard Crome: Sowjetunion: Kein Platz für die DDR im Haus Europa? 344 Claus Montag: Die USA und die internationale Abwicklung der DDR im Vereinigungsprozeß 365 Hella Kaeselitz: Deutschland wieder europäische Großmacht. Die Ängste der Maggie Thatcher 391 Hannes Hofbauer: Osteuropäische Umbrüche 413 Ulrich Albrecht: Von 4+2 zu 1+5? 427 Sebastian Gerhardt: Die Währungsunion und die Entstehung der Treuhandanstalt Anmerkungen zur politischen Ökonomie des neuen Deutschland 447 Jörg Roesler: Hauptsache privatisiert 480 Rolf Reißig 1989: Systembruch im Osten, Systemschock im Westen und der sozialwissenschaftliche Diskurs 498 Abkürzungsverzeichnis 522 Zu den Autoren 525

Stefan Bollinger Vorbemerkung Ist die DDR eine»fußnote in der Geschichte«, wie am Abend der ersten und letzten freien Volkskammerwahlen Stefan Heym feststellte, als die Bürger sich mehrheitlich für die»allianz für Deutschland«und damit bewußt oder unbewußt gegen die Reformierung einer eigenständigen DDR entschieden hatten? Oder war die DDR ein Irrweg der Geschichte,»lebenslänglich Knast«, 1 deren Bürgerinnen und Bürger sehnlichst den schnellen Ausbruch in das vereinte Deutschland wollten, wie Rainer Eppelmann als Vorsitzender der Bundestags-Enquête-Kommission zu Geschichte und Folgen der SED-Diktatur verkündete? War es gar jene DDR, von der die ostdeutsche Schriftstellerin Daniela Dahn später schwärmte, daß sie unterging,»als sie gerade anfing, Spaß zu machen. Und zwar nicht nur für ein paar Dutzend Bürgerrechtler, sondern für Millionen Menschen, die endlich ihr Schicksal in die Hand genommen hatten: demonstrieren gingen, auf Versammlungen sprachen, Resolutionen verfaßten, sich neuen Gruppen anschlossen, Plakate malten, Häuser besetzten, Parteien und Verbände gründeten, Menschenketten bildeten, unabhängige Studenten- und Betriebsräte wählten, Flugblätter druckten, die alten Chefs absetzten, in Städten und Dörfern Runde Tische einrichteten. So viel Selbstbestimmung war nie. Und damit so viel neues Selbstbewußtsein. Das darf nicht vergessen werden, wenn man sich wundert, wie hartnäckig viele Neubundesbürger ihre Erfahrungen und Biographien verteidigen.«2 Schon ein Jahrzehnt nach ostdeutscher»wende«, Mauer-Fall-»Wahnsinn!«und»Deutscher Einheit«erinnerten Gazetten und TV-Shows mehr oder minder rührselig an den Herbst 1989. In der Erinnerung der Westdeutschen und wohl auch vieler Ostdeutscher wird die Maueröffnung, die das Volk in schöpferischer Auslegung einer doch anders gemeinten Entscheidung selbst erzwang, zu dem Ereignis, das mit dem Ende der DDR gleichgesetzt wird. 3»Der Fall der Mauer Sternstunde einer friedlichen 1 Rainer Eppelmann: [Redebeitrag]. Debatte des Deutschen Bundestages am 17. Juni 1994, in: Deutscher Bundestag (Hrsg.): Materialien der Enquete-Kommission»Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland«(12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages). Neun Bände in 18 Teilbänden, Baden-Baden/Frankfurt/M. 1995 (im weiteren: Materialien Enquete-Kommission), Bd. I, S. 793. 2 Daniela Dahn: Westwärts und nicht vergessen. Vom Unbehagen in der Einheit, Berlin 1996, S. 11. 3 Siehe Hans-Hermann Hertle: Der Fall der Mauer. Die unbeabsichtigte Selbstauflösung des SED- Staates, Opladen 1996. 7

Revolution«, 4 so titelte einer der profunden Kenner der Vorgänge. Der Mauerfall wird zum Sturm auf die Bastille stilisiert. 5 Feiertagsredner 6 und Leitartikler sahen und sehen das ähnlich: Das DDR-Volk begehrte auf, allein damit die Grenze fällt und letztlich die deutsche Einheit verwirklicht wird. Wobei die erkämpfte Reisefreiheit mit der Option für Beitritt oder Anschluß gleichgesetzt wird. Vergessen ist jene auch von vielen DDR-Bürgern zunächst anerkannte Sicht des damaligen Regierenden Bürgermeisters von Berlin (West), der sie zum»freien Reisen«als»Menschenrecht«beglückwünschte, nicht zum Eintritt in die Bundesrepublik. 7 Dieses Bild wird sicher auch heute, fünf Jahre später, noch nicht dramatisch verändert sein. Und dies, obwohl mittlerweile Spielfilme wie»sonnenallee«und»good bye, Lenin«sowie Bücher und DDR-TV-Shows den Alltag der DDR in den Medien einem breiteren Publikum gerade auch in Westdeutschland freundlicher, zumindest auch lebenswert erscheinen lassen. Immerhin, bei»good bye, Lenin«wird die abrupte Art und Weise des Anschlusses der DDR problematisiert. Die Vision eines aufrechten Ganges in die Einheit und eines gleichberechtigten Aufeinanderzugehens ist durch den Kunstgriff des Drehbuchautors auf einmal faßbar. Ein neugewählter Partei- und Staatschef suggeriert unter umgekehrten Vorzeichen Mauerfall und Einheit, den Abschied von der alten DDR:»Wir wissen, daß unser Land nicht perfekt ist. Aber das, woran wir glauben, begeisterte immer wieder viele Menschen aus aller Welt. Vielleicht haben wir unsere Ziele manchmal aus den Augen verloren, doch wir haben uns besonnen. Sozialismus, das heißt, sich nicht einzumauern. Sozialismus, das heißt auf den anderen zuzugehen, mit dem anderen zu leben. Nicht nur von einer besseren Welt zu träumen, sondern sie wahr zu machen.«8 Eine Filmidee, eine Fiktion, nicht nur ein Happy End Trotzdem, gegen die Reduzierung des DDR-Endes auf Mauerfall und»wir sind ein Volk!«halten allein einige Akteure der Bürgerbewegungen 9 4 Siehe ders.: Der Fall der Mauer Sternstunde einer friedlichen Revolution, in: APZ, H. B 99/43-44, S. 12-19. 5 Siehe Christoph H. Werth: Eine Revolution von unten. Der deutsche Sturm auf die Bastille, in: Das Parlament, Bonn H. 1999/45, S. 13. 6 Siehe z. B. Feierstunde des Deutschen Bundestages zum Mauerfall, in: blickpunkt bundestag, Berlin H. 1999/19, S. 6-8; kritisch dazu Amelie Kutter: Geschichtspolitische Ausgrenzungen in der Vereinigungspolitik. Das Beispiel der Enquete-Kommission, in: Stefan Bollinger/Fritz Vilmar (Hrsg.): Die DDR war anders. Eine kritische Würdigung ihrer sozialkulturellen Einrichtungen, Berlin 2002, S. 25-59. 7 Siehe Walter Momper: Grenzfall. Berlin im Brennpunkt deutscher Geschichte, 2. Aufl. München 1991, S. 165. 8 Michael Töteberg (Hrsg.): Good bye, Lenin. Ein Film von Bernd Lichtenberg, Co-Autor Wolfgang Becker Das Buch zum Film, Leipzig 2003, S. 127 9 Siehe Bernd Gehrke/Wolfgang Rüddenklau (Hrsg.): das war doch nicht unsere Alternative. DDR-Oppositionelle zehn Jahre nach der Wende, Münster 1999. 8

oder der PDS 10 sowie ihnen verbundene Journalisten dagegen. Sie suchen»die vergessenen Anstifter der Revolution«11 und reklamieren:»wir waren das Volk«. Für sie ist die Kundgebung der halben Million auf dem Berliner Alexanderplatz am 4. November 1989 der»gipfel der ostdeutschen Revolution«und der 9. November der Tag ihres Scheiterns. 12 Denn die Kundgebung verkörperte den demokratisch-sozialistischen Charakter dieser Revolution, während der 9. November einen Sieg brachte, der zugleich ihre Rahmenbedingungen zerstörte. Gleichwohl steht der Mauerfall für das symbolhafte Ende des Kalten Krieges, der Konfrontation zweier politischsozialer Systeme und ihrer Militärblöcke. Die Unterschiede in der Bewertung der Ereignisse entsprechen den Differenzen zwischen den Akteuren von 1989. 13 Das waren die Bürgerbewegungen sowie ihre Parteigründungen mit einem bereits zwiespältigen Verhältnis zum Sozialismus, wobei zunächst noch eine reformsozialistische Präferenz galt (Neues Forum, Demokratie Jetzt, Initiative für Frieden und Menschenrechte, Sozialdemokratische Partei, Vereinigte Linke, Grüne Liga, auch der frühe Demokratische Aufbruch); die SED-Reformer (am bekanntesten die Sozialismus-Projekt-Gruppe der Humboldt-Universität); die sich zur Perestroika bekennenden Angehörigen des Machtapparates (Hans Modrow, Markus Wolf) sowie reformbereite Kräfte in den Blockparteien (so Manfred Gerlach); und schließlich die partiell veränderungsbereiten Kräfte im SED-Apparat (Egon Krenz, Günter Schabowski, die»fdj-fraktion«). Mit unterschiedlicher Konsequenz agierten sie als Kräfte eines gesellschaftlichen Wandels und sich doch wechselseitig mißtrauend standen sie gegen die»betonköpfe«in der SED-Führung um Erich Honecker. Botschaftsbesetzer, Antragsteller und Ungarn-Flüchtlinge hatten hingegen für sich bereits eine Entscheidung gegen die DDR und ihr Gesellschaftssystem getroffen und sahen ihre Zukunft allein im anderen System. Zu den Akteuren gehörten aber auch die von außen einwirkenden bundesdeutschen (und anderen westlichen) Parteien, Institutionen und Me- 10 Siehe z. B. Die Doppelbiographie der Bundesrepublik. Zum Phänomen der deutschen Zweistaatlichkeit., Diskussionspapier der Historischen Kommission beim Parteivorstand der PDS, in: Presse- und Informationsdienst des Parteivorstandes der Partei des Demokratischen Sozialismus, Berlin H. 1999/13, bes. S. 11/12. 11 So der Titel eines»steckbriefes«in einem dem Mauerfall gewidmeten Magazin der Berliner Zeitung. 6./7. November 1999, S. 1ff (Magazin). 12 Siehe Christoph Dieckmann: Wir waren das Volk. Der 4. November 1989 war der Gipfel der ostdeutschen Revolution, am 9. November ist sie gescheitert, in: Die Zeit, Hamburg, H. 1999/45, S. 3. 13 Sie finden unter Einbeziehung der altbundesdeutschen politischen Klasse und der zeitgeistkonformen Öffentlichkeit ihre Entsprechung im Ringen um die Deutungsherrschaft über die jüngste Vergangenheit. Siehe auch Konrad H. Jarausch: Die unverhoffte Einheit 1989-1990, Frankfurt/M. 1995, S. 11. 9

dien, die zunächst mehr oder minder nachdrücklich die Fluchtbewegungen förderten und nach dem Mauerfall vor Ort massiv in die politischen Prozesse eingriffen, zumeist mit dem Ziel des raschen Anschlusses. Schließlich suchten verschiedene Institutionen der Sowjetunion, direkt oder indirekt Einfluß auf die DDR-Entwicklung zu nehmen. Geschichte, Zeitgeschichte zumal, und erst kurze Zeit zurückliegende Ereignisse, die unmittelbar das heutige Leben berühren, werden in die politische Auseinandersetzung einbezogen. Politische und weltanschauliche Positionen bestimmen Wertungen und Sichten. Darum hatten sich einige ostdeutsche Wissenschaftler zu einer Projektinitiative 1949-1999 14 zusammengefunden. Mit den von ihnen initiierten Monographien und Sammelbänden wollen sie gegen den vorherrschenden Zeitgeist eine differenziertere Betrachtung der DDR in ihrem Entstehen wie in ihrem Untergang einbringen. 15 Die Schwierigkeiten der Zeitläufe und des Verlagslebens brachten es mit sich, daß der vorliegende Band nun erst zur 15. Wiederkehr des Endes der DDR erscheint. Der Rosa-Luxemburg-Stiftung ist für die umfassende Unterstützung Dank zu sagen. Es bleibt zu wünschen, daß der vorliegende Band in dem neu entstandenen Klima einer differenzierteren Sicht auf die DDR-Geschichte auch das letzte Jahr des anderen deutschen Staates nicht nur als Vollzug der deutsche Einheit, sondern vor allem als ein Jahr großer Hoffnungen und Veränderungen unterschiedlicher Richtung verstehen läßt. 1989/90 kulminierte und endete der Versuch, ein besseres, sozial gerechtes, ausbeutungs- und unterdrückungsfreies, demokratisches Gemeinwesen zu schaffen. Im revolutionären Aufbruch des Herbstes 1989 wurden demokratische und zivilgesellschaftliche Potentiale freigesetzt und erprobt, die sich zwar im weiteren Verlauf der Ereignisse nicht behaupteten, aber ein Testfall im Positiven und Negativen für künftige Emanzipationsbewegungen sein könnten. Im vorliegenden Sammelband wird versucht, einige Ereignisse und Zusammenhänge tiefer zu durchdringen, die 1989/90 die Krise enladen ließen und schließlich sowohl das 41. Jahr, die»kurze Zeit der Utopie«, 16 in der DDR prägten wie auch ihren Weg in die Bundesrepublik. 14 Das waren Evemarie und Rolf Badstübner, Stefan Bollinger, Jochen Cerny, Jürgen Hofmann, Dietrich Mühlberg, Jörg Roesler, Jörn Schütrumpf und Ernst Wurl. 15 Aus dieser Projektinitiative heraus entstanden vor diesem Band bereits: Rolf Badstübner: Vom»Reich«zum doppelten Deutschland, Berlin 1999; Evemarie Badstübner (Hrsg.): Befremdlich anders. Leben in der DDR, Berlin 2000; 3. Auflage 2004 16 Siehe Siegfried Prokop (Hrsg.): Die kurze Zeit der Utopie. Die»zweite«DDR im vergessenen Jahr 1989/90, Berlin 1994. 10

Historiker, Ökonomen, Politikwissenschaftler, Soziologen und Journalisten aus beiden Teilen Deutschlands und aus Österreich steuern ihre Lesarten bei. 17 Der Charakter dessen, was 1989 in die Krise geriet, wird von ihnen ebenso unterschiedlich bewertet wie die Aufbruchsprozesse im Herbst 1989. Schon eine Durchsicht des Inhaltsverzeichnis offenbart Lücken, die der Herausgeber nicht zu schließen vermochte. Manche sind den Grenzen des Umfangs eines solchen Bandes geschuldet, einige den Arbeits- und Lebensbedingungen ostdeutscher Sozialwissenschaftler, von denen nun einige als Pensionäre, viele aber nur in der»neben«beschäftigung ihrer ursprünglichen sozialwissenschaftlichen Berufung nachgehen können. Unübersehbar sind aber die Grenzen der wissenschaftlichen Aufarbeitung. Während die DDR dank der Öffnung der Archive weithin wie ein offenes Buch daliegt, sind die Aktivitäten der bundesdeutschen Seite und der internationalen Akteure nur in den von Akteuren selbst stammenden Erinnerungen und Dokumentenzusammenstellung faßbar. Wenig erforscht ist bislang die Vielfalt der demokratischen Basisbewegungen im Herbst und Winter 1989/90. Das betrifft insbesondere Gewerkschaften und Betriebsräte sowie andere basisdemokratische Gremien in Betrieben und Institutionen. Die Rolle der Volkskammer vor und nach den Wahlen vom 18. März 1990 wie auch die der Bezirks- und Kreistage sowie der verschiedenen neu entstandenen örtlichen demokratischen Gremien sind bislang keineswegs gründlich erforscht. Vor allem zur Arbeit der letzten DDR-Regierung unter Lothar de Maizière gibt es außer einigen oft biographisch geprägten Schriften zu außen- und militärpolitischen Aspekten wenig Literatur. Allein die Wirtschaftsentwicklung und die Arbeit der Treuhandanstalt wurden recht genauen aber auch konträren Betrachtungen unterzogen. Die Einflußnahme der Bundesrepublik auf die Entwicklung in der DDR harrt fast durchweg noch einer kritischen Aufarbeitung. 17 Zwischenergebnisse wurden im November 1999 auf einer Konferenz des Vereins»Helle Panke«zur Förderung von Politik, Bildung und Kultur vorgestellt. Siehe ders. (Hrsg.): 1989-1990. Die DDR zwischen Wende und Anschluß (Pankower Vorträge H. 20), Berlin 2000. 11