TEILZEITBETREUUNG IN SCHWEIZER KINDERTAGESSTÄTTEN HERAUSFORDERUNGEN UND HANDLUNGSEMPFEHLUNGEN Prof. Dr. Sonja Perren Dr. Angelika Schöllhorn Dr. Heidi Simoni Katja Machmutow Präsentation an der Tagung der Europäischen Akademie für Elementarerziehung Zürich, 27.08.2014 Übersicht Hintergrund: Teilzeitbetreuung in CH-Kitas Projekt: Entwicklung von Handlungsempfehlungen Projektziele und Projektschritte Resultate: Handlungsempfehlungen Schlussfolgerungen und Diskussion Einleitung 2 1
Kitas in der Schweiz Flexible Nutzung der Öffnungszeiten An einzelnen Tagen der Woche Betreuungsmix von Vormittagen, Nachmittagen und ganztags Teilweise Mindestanwesenheit 2 ganze Tage (aber nicht in allen Kitas) Vorteile Bedarfsgerechte und kosteneffizientere Angebote (Teilzeitbeschäftigung der Eltern und hohe Kosten!) Work-Family-Balance 3 Recherche Flexible Betreuung von Unterdreijährigen FVM 2008 Abb. 3. Beispiel für eine Kindergruppe mit Platz-Sharing und verringerter Peerkontinuität. Dargestellt sind die Anzahl der Begegnungsmöglichkeiten mit den anderen Kindern der Gruppe für zwei 2-Tage-Kinder, ein 3-Tage-Kind und ein 4-Tage-Kind. Kitas in der Schweiz Rund 80 Prozent der Kinder besuchen eine Kita an 2 bis 3 Tagen pro Woche (nur wenige Vollzeitkinder) Kinder unterscheiden sich sehr bezüglich ihrer Anwesenheitszeiten und tägliche Wechsel der Gruppenzusammensetzung Abb. 4. Gruppenzusammensetzung im Wochenverlauf der in Abb. 3 dargestellten Platz-Sharing Gruppe mit verringerter Peerkontinuität in der Kernzeit von 8.00-12.30 Uhr. 4 20 2
Kitas in der Schweiz Konsequenzen Gruppen setzten ständig neu zusammen: Diskontinuität der Peergruppe Ø Laufendes eigenes Forschungsprojekt (Lehrstuhl Perren) Obwohl pro Tag 11-12 Kinder in der Gruppe, betreuen die Erzieherinnen oft mehr als 30 Kinder über die ganze Woche hinweg. Erschwerung der pädagogischen Arbeit und der Zusammenarbeit mit Eltern 5 Auftragsprojekt des SD Zürich: Entwicklung von Handlungsempfehlungen Projektauftraggeberin: Ø Wie kann Kontinuität und emotionale Sicherheit für die Kinder mit niedrigen und hohen Anwesenheitszeiten erhöht werden? Welche Organisationsformen sind geeignet, um die Stabilität der Kindergruppe und das Erleben von Kontinuität für die Kinder zu erhöhen? (Strukturebene) Wie soll der Alltag und das pädagogische Handeln gestaltet werden, um teilzeit- und vollzeitbetreuten Kindern sowie Kindern mit besonderem Förderungsbedarf gerecht zu werden? (Prozessund Interaktionsebene) Einleitung 6 3
Übersicht Projektschritte Wissenschaftliche Literaturrecherche Expertenbefragungen Forschung Qualitative Interviews mit ausgew ählten Kitas Online-Befragu ng I Experten workshop (Erarbeitung erster Handlungsempfehlungen) Praxis Validierung der Empfehlungen durch Kita-Mitarbeitende (Online-Befragung II) Den Bedürfnissen aller Kinder gerecht werden, u.a. in Anbetracht ihrer Anwesenheitszeit in der Kita Einleitung 7 Erste Schritte Literaturrecherche Expertengespräche Interviews mit ausgewählten Kitas Onlinestudie I (qualitativ) Wird im Kita-Alltag unterschieden zwischen Kindern mit hohen und Kindern mit geringen Anwesenheitszeiten? - Erfassung der aktuellen Situation in Deutsch-Schweizer Kitas - (Gruppen- und KitaleiterInnen aus 26 Kitas, vorwiegend ZH) Erste Schritte 8 4
Resultate: Unterschiede in der Wahrnehmung der Thematik Es wird kein Bedarf gesehen (häufige Perspektive) Bedarf wird gesehen, jedoch nicht in Handlungen umgesetzt Bedarf wird gesehen und in Handlungen umgesetzt (seltene Perspektive) Thematik konzeptuell und alltäglich wenig präsent Onlinestudie I 9 Resultate: Unklare Abgrenzung von Gleichberechtigung/Gleichbehandlung und Individualisierung Es werden Unterschiede gemacht: Alle Kinder individuell, entsprechend Bedürfnissen Unabhängig vom Pensum Es werden keine Unterschiede gemacht: Alle Kinder gleich Kein Kind bevorzugen oder benachteiligen Klärungsbedarf: alle Kinder gleich jedes Kind individuell ; Bedürfnis Kind Untergruppe von Kindern Onlinestudie I 10 5
Resultate: Benannte Unterschiede in der Beziehungsgestaltung Kinder mit niedrigen Anwesenheitszeiten: Mehr Investition in Beziehungsaufbau/-gestaltung Umsetzung Bildungskonzepte? Kinder mit hohen Anwesenheitszeiten: Bildungsaspekt stärker im Vordergrund Beziehung als Boden für Bildung Onlinestudie I 11 Literaturrecherche Expertengespräche Interviews mit ausgewählten Kitas Onlinestudie I (qualitativ) Expertenworkshop Wissenscha) Trägerscha)en Kitavertretungen Verwaltung Elternvertretungen Expertenworkshop 12 6
Expertenworkshop (31.5.13) Teilzeitkinder Vollzeitkinder Kindergruppe Kind Kita Eltern ErzieherInnen LeiterInnen Team Familienkonstellation Vereinbarkeit Beruf & Familie Erwartungen an Kita Expertenworkshop 13 Ergebnisse Onlinestudie I Interviews Ergebnisse Workshop Literaturrecherche Expertenmeinungen Erarbeitung von Handlungsempfehlungen durch das Projektteam Onlinestudie II Onlinestudie II 14 7
Onlinestudie II Ziel der Onlinestudie II Validierung der Handlungsempfehlungen durch die Praxis Konzeption der Studie Bedürfnisse Kinder (gemäss Orientierungsrahmen) Formulierung von Problemstellungen für Kinder mit niedrigen und hohen Anwesenheitszeiten Herausforderungen Bewertung der Handlungsempfehlungen Onlinestudie II 15 Bedürfnisse der Kinder (gemäss Orientierungsrahmen*) Beständige und liebevolle Beziehungen Belegungszeiten/ organisatorische Massnahmen Zugehörigkeit und Kontinuität Kind-Erwachsenen- Beziehungen aufbauen und aufrechterhalten Anregende und vielfältige Umwelt Individuelle Lernprozesse in der Gruppe Unterstützung des individuellen kindlichen Bildungsprozesses und Austausch darüber Kind- Erwachsenen-Beziehungen aufbauen und aufrechterhalten Kinder mit besonderem Förderungsbedarf und geringer Anwesenheit Körperliche Unversehrtheit und Sicherheit Vertrautheit und persönliche Atmosphäre Beziehung Bildung Betreuung *Wustmann Seiler, C., & Simoni, H. (2012). Orientierungsrahmen für frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung in der Schweiz. Erarbeitet vom Marie Meierhofer Institut für das Kind, erstellt im Auftrag der Schweizerischen UNESCO-Kommission und des Netzwerks Kinderbetreuung Schweiz. Zürich. www.orientierungsrahmen.ch 16 8
Bedürfnis nach beständigen und liebevollen Beziehungen Problemstellung 1: Kinder mit geringen Anwesenheitszeiten brauchen länger, um vertrauensvolle Beziehungen in der Kita aufzubauen; sie haben es schwerer, an entstandene Beziehungen anzuknüpfen und sich auf wechselnde Erziehende einzulassen. Kinder mit hohen Anwesenheitszeiten müssen sich auf viele verschiedene Erziehende einlassen. Wie können die Beziehungen zwischen Kindern und Erziehenden aufgebaut und aufrechterhalten werden, damit sich alle Kinder sicher und geborgen fühlen? Problemstellung 2: Kinder mit geringen Anwesenheitszeiten haben es schwerer, sich in der Gruppe einzuleben und zu finden, da sie teilweise grosse Zeiträume zwischen den Anwesenheiten haben. Kinder mit hohen Anwesenheitszeiten erleben immer wieder eine andere Zusammensetzung der Gruppe. Problemstellung 3: Kinder mit geringen Anwesenheitszeiten haben es schwerer, immer wieder an die entstandenen Beziehungen in der Kita anzuknüpfen. Kinder mit hohen Anwesenheitszeiten begegnen vielen verschiedenen Personen, was das Erleben von Vertrautheit und Beständigkeit für sie erschweren kann. Wie kann für alle Kinder ein Zusammengehörigkeitsgefühl erreicht sowie Raum für gemeinsame Gruppenaktivitäten geschaffen werden? Mit welchen organisatorischen Massnahmen kann die Kontinuität für die Kinder erhöht werden? 17 Empfehlungen zum Bedürfnis nach beständigen und liebevollen Beziehungen Empfehlungen auf struktureller Ebene Tägliche Eingewöhnung auch für Teilzeitkinder; Abstimmung der Arbeitszeiten der eingewöhnenden Mitarbeitenden Möglichst konstantes Kernteam von ausgebildeten Mitarbeitenden Kita erarbeitet System mit verlässlichen Rahmenbedingungen; z.b. Holund Bringzeiten Tagesabläufe und Rituale stiften Orientierung Empfehlungen auf Prozess- und Interaktionsebene An- und Abwesenheitszeiten verbalisieren und visualisieren Gruppenaktivitäten mehrmals anbieten Interaktion und Kommunikation zwischen den Kindern moderieren 18 9
Bedürfnis nach einer anregenden und vielfältigen Umwelt Problemstellung 1: Kinder mit geringen Anwesenheitszeiten können nicht an allen Aktivitäten der Woche teilnehmen. Kinder mit hohen Anwesenheitszeiten erleben mehrmals (pro Woche) die gleichen Aktivitäten. Wie kann die Kitawoche gestaltet werden, dass alle Kinder die ihren Bedürfnissen entsprechenden Lernumwelten erleben und über die Woche hinweg verbinden können? Problemstellung 2: Kinder mit geringen Anwesenheitszeiten können nicht gleich oft beobachtet und dokumentiert werden wie Kinder mit hohen Anwesenheitszeiten. Problemstellung 3: Kinder mit spezifischem Förderungsbedarf (z.b. aus fremdsprachigem Elternhaus oder aus anregungsarmem Milieu) haben bei geringer Anwesenheitszeit in der Kita weniger Gelegenheit für kompensatorische und ergänzende Erfahrungen. Wie können Entwicklungsverlauf und Bildungsprozesse von Kindern trotz unterschiedlicher Anwesenheitszeiten ausreichend begleitet sowie zwischen den Erziehenden und den Eltern geteilt werden? Wie kann der Bildungsprozess auch bei Kindern mit spezifischem Förderbedarf maximiert werden? 19 Empfehlungen zum Bedürfnis nach einer anregenden und vielfältigen Umwelt Empfehlungen auf struktureller Ebene Pädagogisches Konzept; Beobachtung und Dokumentation; Elterngespräche Austausch und Reflexion zwischen Kita und Eltern, gerade auch bei Kindern mit geringer Anwesenheit Angemessene sprachliche Durchmischung Empfehlungen auf Prozess- und Interaktionsebene Kontinuierliche Verbindungen zwischen vergangener und aktueller Anwesenheit herstellen; roter Faden für jedes Kind und für die Kindergruppe Vielfältige Anregungen für Vollzeitkinder Teilnahme an Projekten und besonderen Aktivitäten auf Alter, Interesse und Anwesenheit der Kinder abgestimmt Kinder mit spezifischen Bedürfnissen werden diesbezüglich gezielt beobachtet und unterstützt; Eltern werden beraten 20 10
Bedürfnis nach körperlicher Unversehrtheit und Sicherheit Problemstellung 1: Kinder mit geringen Anwesenheitszeiten fühlen sich mit der Umgebung in der Kita weniger vertraut. Kinder mit hohen Anwesenheitszeiten haben es schwerer in ihrem Alltag ausreichend persönliche Atmosphäre zu erleben. Wie kann für alle Kinder ausreichend Vertrautheit und persönliche Atmosphäre geschaffen werden, damit sich die Kinder sicher und geborgen fühlen? 21 Empfehlungen zum Bedürfnis nach körperlicher Unversehrtheit und Sicherheit Empfehlungen auf struktureller Ebene Privatsphäre wahren, Rückzugsort anbieten Platz für persönliche Gegenstände, Alltagsgegenstände von zu Hause Empfehlungen auf Prozess- und Interaktionsebene Kind kann Alltagsgegenstände individualisieren Kind wird von einem möglichst kleinen und konstanten Kreis von Mitarbeitenden gepflegt 22 11
Schlussfolgerungen Herausforderungen im Zusammenhang mit Vollzeit- und Teilzeitbetreuung, bzw. unterschiedlichen Anwesenheiten sollten beachtet werden Kein zusätzliches Konzept erforderlich, sondern Einbezug dieses Aspekts in die pädagogische Planung in die individualisierte Arbeit mit dem Kind, der Kindergruppe und den Eltern in die Arbeitspläne, in die Anstellung und den Einsatz der Mitarbeitenden Zentrale Bedeutung der Kommunikation mit jedem Kind untern den Kindern, in der Kindergruppe mit den Eltern im Team Schlussfolgerungen 23 Zusammenfassung Teilzeitbetreuung ist in der Schweiz der Normalfall (und ein Bedürfnis) und wird nicht per se als Problem wahrgenommen. Die Herausforderungen im Zusammenhang mit geringen und hohen Anwesenheitszeiten und den daraus resultierenden unterschiedlichen Bedürfnissen der Kinder müssen beachtet werden. Dies hat Konsequenzen für die pädagogische Arbeit mit den einzelnen Kindern und Kindergruppe, für die Zusammenarbeit mit Eltern und für das Team. Dazu braucht es eine konsequente Orientierung an den kindlichen Bedürfnissen, ein individualisiertes pädagogisches Konzept und eine gute Organisations- und Kommunikationsstruktur. Bericht: www.stadt-zuerich.ch/sd/de/index/kinderbetreuung/publikationen/ Teilzeitbetreuung_in_Kitas.html Schlussfolgerungen 24 12