Rede. von Bundeskanzler Gerhard Schröder. zum Wahlkampfauftakt. am Montag, 5. August 2002, in Hannover. (Opernplatz)



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Transkript:

Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder zum Wahlkampfauftakt am Montag, 5. August 2002, in Hannover (Opernplatz)

2 Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Freundinnen, liebe Freunde! Es ist wahr, wir haben uns auf den Weg gemacht, auf unseren deutschen Weg, und wir haben viel geschafft, aber wir haben noch nicht alles erreicht. Deshalb denke ich, dass wir die Erneuerung unseres Mandats brauchen, um diesen deutschen Weg zu Ende gehen zu können. Wir haben ein Land vorgefunden, ausgestattet mit einem riesigen Schuldenberg. Unsere Aufgabe war, diesen Berg Schritt für Schritt abzutragen. Nicht, meine sehr verehrten Damen und Herren, weil die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte besonders angenehm wäre. Nein, es war unsere Aufgabe, das zu tun, weil wir auch an künftige Generationen denken müssen. Weil wir heute nicht das aufessen dürfen, von dem unsere Kinder und Kindeskinder auch leben wollen. Nachhaltigkeit, jener Begriff, der aus der Ökologiebewegung stammt, ist nicht nur darauf zu beziehen, die natürlichen Lebensgrundlagen intakt zu halten. Nein, wir haben auch dafür zu sorgen, dass Nachhaltigkeit in der Finanz- oder in der Wirtschaftspolitik selbstverständlich ist, damit unsere Kinder und Enkelkinder auch ihre Chance haben, morgen bestimmen zu können, wie sie leben wollen. Dafür haben wir heute die Grundlagen zu legen. Wir haben das getan und wir wollen das weiter tun, meine Damen und Herren. Und wir haben uns auf den Weg gemacht, um Erneuerung mit Gerechtigkeit zu verbinden. Lassen Sie mich das an einigen besonders wichtigen Punkten deutlich machen. Dieses Land lebt von industrieller Produktion, es lebt von guten Dienstleistungen und das kann alles nur entwickelt werden, wenn die Menschen in Deutschland, die das eigentliche Kapital unseres Landes sind, auch künftig in der Lage sind, Leistungen für sich selbst, ihre Familien und für die Gemeinschaft zu erbringen. Und Leistungsfähigkeit hat vor allem, und ich weiß aus eigener Erfahrung, worüber ich rede, mit dem Zugang zu Bildung, mit dem Zugang zu Deutschlands hohen und höchsten Schulen zu tun. Dieser Zugang muss für alle in unserem Volk offen bleiben.

3 Wir haben eine große, eine wichtige Debatte in unserem Land über die Qualität unserer Bildung. Wir werden unser Bildungssystem Schritt für Schritt verbessern müssen. Wir sind dabei auf einem guten Weg. Aber bei allem, was da an Ratschlägen von außen kommt, muss eins klar bleiben: ob ein junger Mann oder eine junge Frau zu Deutschlands hohen und höchsten Schulen gehen darf oder nicht, das darf allein abhängen von dem, was er oder sie im Kopf hat. Das darf niemals abhängen vom Geldbeutel der Eltern, meine Damen und Herren. Es ist wahr, was die Menschen schon früher wussten und weswegen sie auf die Sozialdemokraten gesetzt haben: Wissen und Bildung verschafft Möglichkeiten, ja Wissen ist Macht und eröffnet die Chance, sich selbst zu behaupten und ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Deshalb gilt für uns, und ich werde das niemals aus den Augen verlieren: Es kann keine Bildungspolitik geben, bei der der Königsweg für die Wenigen aus den wohlhabenden Familien reserviert ist und nur der Trampelpfad für die vielen anderen. Das ist mit deutschen Sozialdemokraten nicht zu machen, meine Damen und Herren. Und wenn Wissen über selbstbestimmtes Leben entscheidet, wenn Kenntnisse und Fähigkeiten darüber entscheiden, wie es mit dem Engagement der jungen Leute bestellt ist, dann gilt auch: Jede und jeder muss die Chance für einen Einstieg in das Arbeitsleben haben. Das ist das Wichtigste, mit dem wir unsere jungen Leute ausrüsten können. Und ich sage sehr kritisch an einige aus unserer Gesellschaft: Wir hatten es geschafft im Jahr 2000 und im Jahr 2001 die Zahl der betrieblichen Ausbildungsplätze Schritt für Schritt zu steigern, so dass alle die ausbildungswillig und ausbildungsfähig waren, ihre Chance erhielten. Ich weiß nicht, welche Gründe es hatte und will darüber auch nicht räsonieren, aber ich stelle fest, die Zahl der betrieblichen Ausbildungsplätze ist im Osten um 8 Prozent, im Westen um 6 Prozent zurück gegangen.

4 Ich gehe nicht davon aus, dass das auf das Wirken bestimmter Funktionäre zurückzuführen ist, aber ich sage mit den Gutwilligen in den Unternehmensleitungen, beim Handwerk und beim Mittelstand, die häufig genug bis an die Grenze dessen, was sie leisten können, ihre Pflicht tun, ich sage mit denen: Wer nicht ausbildet, der sägt sich heute den Ast ab, auf dem er morgen sitzen muss, meine Damen und Herren. Und deshalb mein Appell an die deutsche Wirtschaft: Spielt Euch nicht auf als fünfte Kolonne der Opposition, sondern sorgt für die Ausbildungsmöglichkeiten in den Betrieben. Das ist Eure Pflicht. Und ich füge hinzu, liebe Freundinnen und Freunde, meine sehr verehrten Damen und Herren, wir brauchen in diesem Land nicht weniger, sondern mehr Internationalität. In den wichtigen Bereichen der Informations- und Kommunikationstechnologien oder der Biotechnologien sind die Wirtschaft- und Arbeitsmärkte inzwischen Weltmärkte. Aber wer in den Unternehmensleitungen glaubt, wir würden Menschen herein holen, um die Ausbildungsversäumnisse auszugleichen, der irrt gründlich. Mit uns ist das nicht zu machen. Mein Appell deshalb: Zunächst die eigenen Leute auszubilden, sie zu qualifizieren, das ist die gemeinsame Aufgabe, die vor uns liegt. Wenn Frieden in dieser Gesellschaft sein soll, dann müssen wir miteinander dafür sorgen, dass jeder junge Mensch, jedes junge Mädchen, jeder junge Mann, seine Chance erhält, in das Arbeitsleben zu kommen. Das ist unsere Pflicht. Und ich sage, überall dort, wo die Wirtschaft es nicht leisten kann, obwohl sie es will, ist der Staat bereit zu helfen. Ist diese Bundesregierung bereit zu helfen. Aber Ausreden gibt es nicht mehr. Auch und gerade diejenigen, die wirtschaftliche Macht besitzen, haben eine Verantwortung für das Funktionieren unserer Gesellschaft. Wir haben uns auf den Weg gemacht, dieses Land zu erneuern und dabei soziale Gerechtigkeit eben nicht unter die Räder kommen zu lassen. Und es ist wahr: Wir brauchen eine neue Ordnung auf dem Arbeitsmarkt. Wir haben mit den gesetzlichen Maßnahmen, die wir beschlossen haben, dafür gesorgt, dass die Vermittlung derer, die ohne Arbeit sind, besser klappt als in der Vergangenheit. Aber das hat auch eine andere Seite: Ich sage denen, die in den Unternehmen das Sagen haben und ihre Arbeit tun, das will ich anerkennen: Ihr redet von einer bis 1,5 Millionen offener Stellen.

5 Wenn das so ist, dann lasst uns doch gemeinsam dafür sorgen, dass diese offenen Stellen auch mit denen, die Arbeit suchen, besetzt werden. Dann meldet diese Stellen den Arbeitsämtern, damit wir sie besetzen können. Wir wollen als Politikerinnen und Politiker, wir wollen als Sozialdemokraten das uns Mögliche tun. Aber wenn wir dieses Ziel erreichen wollen, von dem wir leider noch entfernt sind, dann ist das eine Aufgabe der ganzen Gesellschaft und dann müssen die mittun, die über Investitionen die Arbeitsmöglichkeiten schaffen können und schaffen sollen. Das ist auch eine Forderung an eine Wirtschaft, die für Menschen da ist und nicht als Selbstzweck existiert. Wir wissen, dass diejenigen, die von uns gefördert werden, weil sie wegen ihres Alters nicht mehr erwerbstätig sind, ein Recht haben auf einen auskömmlichen Lebensabend, weil sie durch ihre Arbeit, durch ihre lebenslange Arbeit dafür gesorgt haben, dass dieses Land bei allen Schwierigkeiten, die es gibt, zu einem der wohlhabendsten dieser Erde geworden ist. Und wir wollen auch für diejenigen etwas tun, die nicht berufstätig sein können, weil sie zu jung oder krank sind. Wir wollen sie fördern. Aber Solidarität ist keine Einbahnstraße. Solidarität heißt dann auch, dass jede und jeder das ihm Mögliche der Gesellschaft zur Verfügung stellt. Beides gehört zusammen: Hilfe und Selbsthilfe. Das ist das Prinzip, nach dem wir arbeiten. Weil wir wissen, dass wir alle brauchen, Frauen und Männer in dieser Gesellschaft, füge ich hinzu: um die Talente, die Fähigkeiten und die Fertigkeiten in unserer Gesellschaft zu nutzen, brauchen wir am nötigsten eine gute, über den ganzen Tag laufende Betreuung unserer Kinder. Das ist der Grund, warum wir angekündigt haben, und Hans Eichel hat das gerechnet wahrlich keiner, dem das Geld locker sitzt, in den nächsten vier Jahren jährlich eine Milliarde Euro bereitzustellen, um zusammen mit den gutwilligen Ländern und deren Ministerpräsidenten dafür zu sorgen, dass die Kinder ganztags betreut werden. Mit diesem Geld sorgen wir dafür, dass insbesondere die Frauen in unserem Land nicht so leben müssen, wie sie leben sollen, sondern so leben können, wie sie leben wollen, meine Damen und Herren. Das ist die Aufgabe, die wir haben. Wir können es uns aus wirtschaftlichen Gründen buchstäblich nicht leisten, auf diejenigen zu verzichten, die als junge und gut ausgebildete Frauen Betreuungsleistungen brauchen, damit sie ihre Fähigkeiten und ihre Talente für die Gemeinschaft, aber auch für sich selber endlich einsetzen können, meine Damen und Herren.

6 Keine Frage, wir werden in den nächsten vier Jahren eine neue Ordnung auf dem Arbeitsmarkt schaffen. Fördern und Fordern, in sich gerecht, aber auch von jedem das Zumutbare abverlangen. Dazu gehört aber auch, dass wir genauso klar eine neue Moral, eine neue Ethik bei denen einfordern, die die wirtschaftlichen Eliten dieses Landes sind. Lassen Sie mich Klartext reden, was dies angeht: dieses Land lebt wirtschaftlich von gut ausgebildeten Menschen, von Menschen, die mittelständische Unternehmen aufgebaut haben und sie führen, von fleißigen Menschen, die selbstständig sind, die in den Beratungsberufen tätig sind, alle leisten ihre Arbeit und verdienen zu Recht ihr Geld. Aber eines muss ein Ende haben: dass in einigen Spitzenpositionen Millionen und zig millionenfache Abfindungen kassiert werden, während die anvertrauten Menschen auf die Straße gesetzt werden. Das muss ein Ende haben, meine Damen und Herren. Und denen, die über Zumutbarkeit reden, stimme ich zu, wenn sie sagen, niemand soll sich drücken dürfen. Aber wenn das klar ist, dann müssen die mit gutem Beispiel vorangehen, die in den Spitzenpositionen unserer Wirtschaft sind. Die Zeit, in denen uns, was die Wirtschaft angeht, Amerika und andere als Vorbild dienen sollten, die sind nun wirklich vorbei. Das Ausplündern kleiner Leute in den Vereinigten Staaten, die sich jetzt Sorgen um ihre Altersversorgung machen müssen, während ein paar Spitzenmanager nach Firmenpleiten Millionen und Milliarden nach Hause tragen, das ist nicht der deutsche Weg, den wir für unser Volk haben wollen, meine Damen und Herren. Dieses Land ist stark geworden und wird stark bleiben, wenn es im Innern gerecht zugeht, und Gerechtigkeit heißt, dass in den Unternehmen und Betrieben selbstbewusste Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, ausgestattet mit eigenen Rechten, den Leitungen auf gleicher Augenhöhe gegenübertreten können. Das ist unser Modell. Das ist das deutsche Modell, mit dem wir groß und stark geworden sind und das trotz aller Schwierigkeiten Leitlinie bleiben muss und bleiben wird.

7 Und lassen Sie mich in dem Zusammenhang ein Wort zu dem sagen, was wir uns in Europa vorgenommen haben. Wer sich umschaut, der spürt, dieses Europa, dieser Kontinent läuft Gefahr, politischen Entwicklungen anheim zu fallen, bei denen rechtspopulistische Parteien mit Fremdenfeindlichkeit und populistischem Gerede versuchen, den Ton anzugeben. Lasst uns von Deutschland aus ein eindeutiges Signal setzen: Wir sind diejenigen, die ein gemeinsames und einiges Europa bauen wollen. Eines, in dem der Markt funktioniert, in dem aber auch das Soziale nicht zu Schanden kommt, meine Damen und Herren. Wir haben die einmalige Chance, diesen Kontinent, der im letzten Jahrhundert so viele blutige Kriege erlebt hat, zu einem Ort dauerhaften Friedens und dauerhaften Wohlergehens zu machen. Aber das setzt voraus, dass wir die Kräfte des Marktes entwickeln und gestalten. Wir wissen, dass soziale Gerechtigkeit nur durch eine vernünftige Politik herzustellen ist. Dafür erbitten wir Ihre Unterstützung jetzt und in Zukunft, meine Damen und Herren. Es ist uns allen deutlich geworden, dass die wirtschaftliche und politische Situation in der Welt nicht einfacher geworden sind. Der Terror vom 11. September sitzt vielen von uns noch in den Knochen. Aber ich denke, meine Damen und Herren, diese Regierung hat bewiesen, dass sie gerade in Zeiten zugespitzter Auseinandersetzung sehr wohl in der Lage ist, entschieden und dennoch besonnen unser Land auf einem vernünftigen Kurs zu halten. Wir, so sage ich, sind zur Solidarität bereit, aber dieses Land wird unter meiner Führung für Abenteuer nicht zur Verfügung stehen, meine Damen und Herren. Die Meldungen, die wir aus dem Nahen Osten hören, stimmen besorgt. Die Menschen in unserem Land, die Mitglieder meiner Regierung ebenso wie mich. Diejenigen, die jetzt sagen, diese Diskussion ist eine, die im Wahlkampf geführt wird, die übersehen eines: einen Tag nach der Wahl am 23. September beginnt ein neuer NATO-Gipfel. Auf dem soll über die Frage des weiteren Vorgehens im Nahen Osten beraten und entschieden werden. Und weil das so ist, hat unser Volk Anspruch darauf zu erfahren, was die politischen Kräfte in diesem Land wollen und wozu sie bereit sind und was sie nicht wollen. Deshalb gehören diese Fragen auf die Tagesordnung.

8 Nicht, weil uns das eingefallen ist, sondern weil der Zeitplan dies diktiert. Und mit Bezug auf die Diskussion über eine militärische Intervention etwa im Irak sage ich: Ich warne davor, meine Damen und Herren, über Krieg und militärische Aktionen zu spekulieren. Ich warne davor und sage denen, die in dieser Situation etwas vorhaben, wer das will, der muss nicht nur wissen, wie er rein kommt, sondern er braucht eine politische Konzeption dafür, wie es dann weitergeht. Und deswegen sage ich: Druck auf Saddam Hussein ja. Wir müssen es schaffen, dass die internationalen Beobachter in den Irak können. Aber Spielerei mit Krieg und militärischer Intervention - davor kann ich nur warnen. Das ist mit uns nicht zu machen, meine Damen und Herren. Und wer glaubt, dieses Land, diese Regierung würde erneut den bequemen Ausweg gehen, nämlich den, der unter Kohl gang und gäbe war, wir bleiben draußen, aber wir zahlen - seinerzeit waren es 18 Milliarden Mark -, der irrt. Dem sage ich, dieses Deutschland, unser Deutschland, ist ein selbstbewusstes Land. Wir haben uns nicht gescheut, im Kampf gegen den Terrorismus internationale Solidarität zu üben. Wir haben das getan, weil wir von der Notwendigkeit überzeugt waren. Und weil wir wussten, die Sicherheit unserer Partner ist auch unsere Sicherheit. Aber eines sagen wir genauso selbstbewusst: Für Abenteuer stehen wir nicht zur Verfügung, und die Zeit der Scheckbuchdiplomatie ist endgültig zu Ende, meine Damen und Herren. Inhalt und Ziel unseres deutschen Weges ist, die Erneuerung unseres Landes fortzusetzen und dabei soziale Gerechtigkeit nicht unter die Räder kommen zu lassen. Inhalt unserer Politik war und wird bleiben, allen Menschen, unabhängig von ihrem persönlichen Einkommen und ihrer sozialen Herkunft, eine Chance auf ein selbstbestimmtes Leben zu bieten und zu erhalten. Inhalt unserer Politik ist, für die Sicherheit der Menschen im Innern zu sorgen. Und wenn es jemanden gibt, dem die Menschen vertrauen, was diese Frage angeht, dann ist es Otto Schily, dem ich dankbar bin für seine Arbeit, die er so großartig leistet. Niemand muss uns erzählen, dass persönliche Sicherheit ein Bürgerrecht ist und bleiben wird.

9 Sozialdemokraten wissen, dass in diesen und in anderen Fragen, in den Fragen der Infrastruktur, der Bildung, der sozialen Sicherheit, aber auch und gerade der inneren Sicherheit, der Staat so ausgestattet sein muss, dass er seine Aufgaben auch wahrnehmen kann. Denn nur ganz, ganz wohlhabende Leute können sich alles selber kaufen und sich deshalb einen armen Staat leisten. Wir alle miteinander können das nicht, meine Damen und Herren. Die Kehrseite einer vernünftigen Politik der inneren Sicherheit ist im Übrigen die Bewahrung dessen, was uns immer wichtig war: des freien Geistes in einer freien Bürgergesellschaft. Das Erbe der Aufklärung und die innere Sicherheit bewahren - das ist ebenfalls Inhalt unserer Politik. Das war so und wird so bleiben. Mit unserer Sicherheitspolitik knüpfen wir an die großartige Tradition der Friedenspolitik von Willy Brandt und Helmut Schmidt an. Wir tun das in selbstbewusster Solidarität und in konsequenter Vertretung der Interessen unseres Volkes. Und wir wissen: Was wir bewahren müssen und bewahren wollen, was unserem Volk hilft und ihm dient, was wir an gegenwärtiger Lösung der Probleme brauchen und was wir schaffen müssen an Perspektiven für unser Land und unser Volk, das, meine Damen und Herren, ist nun wirklich nicht zu machen mit den Konzepten von vorgestern und mit dem Personal von gestern. Damit lässt sich das Heute nicht bewältigen und das Morgen nicht gewinnen. Deshalb mein Appell und meine Bitte: Unsere Politik des Selbstbewusstseins ohne Überheblichkeit, der Partnerschaft nach Innen wie nach Außen, unsere Politik der Erneuerung und der sozialen Gerechtigkeit braucht ihre Fortsetzung. Und ich bin fest davon überzeugt, dass hier vom Opernplatz in Hannover das Signal ausgehen wird, die Sozialdemokraten machen sich auf, um kämpferisch und selbstbewusst diese Wahl für sich zu entscheiden. Die Sozialdemokraten machen sich auf, weil sie gewinnen wollen. Und weil wir gewinnen wollen, werden wir auch gewinnen.