Essay zu meinem Praktikum im Staatsarchiv Zürich Das Verhältnis zwischen Archiv- und Geschichtswissenschaft Obwohl ich während des Geschichtsstudiums im Rahmen von Seminararbeiten bereits vor meinem Praktikum im Staatsarchiv Zürich einige Archiverfahrungen sammeln konnte, eröffnete mir die archivarische Tätigkeit einen ganz anderen Blickwinkel auf die Quellen, welche die Arbeitsgrundlage jeder meiner wissenschaftlichenhistorischen Arbeiten bilden. Sowohl durch den Einblick in die verschiedenen Abteilungen des Staatsarchivs, welchen ich im Rahmen eines Einführungsprogrammes gewinnen konnte als auch durch meine Tätigkeit in der Abteilung Aktenerschliessung wurde mir zunehmend bewusster, wie stark die Arbeit der HistorikerInnen von der Vorarbeit der Archive abhängig ist und dass die wissenschaftliche-historische Forschung bis zu einem gewissen Grad auch durch die Entscheide der Archive darüber welche Unterlagen überliefert werden sollen und welche nicht, beeinflusst wird. Auf Grund dieser Eindrücke und Erfahrungen möchte ich im vorliegenden Essay genauer auf das Verhältnis zwischen Archiv- und Geschichtswissenschaft eingehen und dabei insbesondere der Frage nachgehen, inwiefern das Archiv als Speicher einer vergangenen Wirklichkeit betrachtet werden kann. Auf das enge Verhältnis zwischen Archiv- und Geschichtswissenschaft weist sowohl die Tatsache hin, dass HistorikerInnen etwa einen Drittel der ArchivbenutzerInnen ausmachen als auch der Umstand, dass die meisten wissenschaftlichen ArchivarInnen von Haus aus HistorikerInnen sind und auch während ihrer archivarischen Berufstätigkeit weiterhin zu historischen Themen publizieren. 1 Dennoch unterscheiden sich die Zugangsweise und die Erkenntnisinteressen von ArchivarInnen und HistorikerInnen bei der Arbeit im Archiv grundlegend. So steht bei den HistorikerInnen meist eine Frage im Zentrum des Interesses, über welche sie sich durch das Studium der Unterlagen Aufschluss zu erhalten erhoffen. 2 ArchivarInnen hingegen haben zum Ziel, diese Unterlagen zu systematisieren und auf eine möglichst logische Art und Weise online zu erfassen und sie damit für alle interessierten Personen auffindbar 1 Vgl. Pilger, Archive und historische Forschung, S. 370-371. 2 Vgl. Ebd., S. 374. 1
und zugänglich zu machen. Ihre eigene wissenschaftliche Arbeit wird dadurch in den Hintergrund gedrängt. 3 Die Aufgabe der digitalen Verzeichnung der zur Überlieferung ausgewählten Archivalien im Archivkatalog übernimmt im Staatsarchiv Zürich die Abteilung Aktenerschliessung. Die Abteilung Aktenerschliessung bildet zusammen mit vier weiteren Abteilungen Überlieferungsbildung, Individuelle Kundendienste, Beständeerhaltung und Editionsprojekte die Organisationsstruktur des Staatsarchivs Zürich. Ich hatte in den vergangenen Monaten mein eigenes Projekt unter dem Arbeitstitel Organisationskomitee 700 Jahre Eidgenossenschaft Zürich. Dabei handelte es sich um Akten eines kantonalen Organisationskomitees, welches die Feierlichkeiten zum 700- jährigen Bestehen der Schweiz 1991 plante und organisierte. Meine Aufgabe bestand darin, die Unterlagen online unter möglichst aussagekräftigen Titeln zu strukturieren und zu beschreiben, um sowohl für HistorikerInnen als auch für interessierte Laien einen möglichst guten Zugang zu den Unterlagen zu schaffen. Dabei sollte insbesondere auch die Struktur der Archivalien beibehalten werden (z.b. Unterlagen welche zusammen in einem Ordner waren, werden entweder ebenfalls zusammen belassen oder zumindest im Online-Katalog so abgebildet, dass man sie als zusammengehörig erkennen kann), um möglichst viel des Charakters der Unterlagen zu bewahren. Bei dieser Tätigkeit zeigte sich, dass ich Unterlagen ganz anders behandelte als wenn ich sie mir im Rahmen einer geschichtswissenschaftlichen Arbeit angeschaut hätte. Während der archivarischen Tätigkeit stand weniger der historische Gehalt der Akten im Zentrum meines Interessens sondern vielmehr deren Struktur, ihr richtiges Umpacken (dabei müssen störende Materialien wie Büroklammern und Post-Its entfernt, Fotografien in spezielle Mäppchen verpackt werden usw.) und ihre Betitelung. Meine unterschiedlichen Blickwinkel einerseits als angehende Historikerin, andererseits als Mitarbeiterin des Staatsarchivs auf historische Unterlagen zeigte sich insbesondere auch bei der Kassation von als irrelevant eingestuften Archivalien. Als angehende Historikerin fand ich es einerseits traurig all diese Bücher usw. wegwerfen zu müssen. Als Mitarbeiterin des Archivs war es auf der anderen Seite jedoch verständlich, dass man aus Platzgründen nicht alles Material archivieren kann, das vorhanden wäre. Die unterschiedlichen Interessenschwerpunkte von Histo- 3 Vgl. Kellerhals-Maeder, Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Archiv, S. 301. 2
rikerinnen und ArchivarInnen zeigen sich folglich auch in Bezug auf die Frage, wieviel historisches Material überliefert werden soll bzw. kann. 4 Im Fall des Staatsarchivs Zürich stammt das zu archivierende Material fast ausschliesslich von kantonalen Institutionen wie dem Kantonsparlament, der kantonalen Verwaltung, den kantonalen Gerichten usw., welche gesetzlich dazu verpflichtet sind, nicht mehr benötigte Unterlagen dem Staatsarchiv zur dauernden Archivierung anzubieten. Welchen Anteil welcher Aktengruppe das Staatsarchiv tatsächlich archiviert, bestimmt hauptsächlich die Abteilung Überlieferungsbildung. Ziel ist es dabei die Grundlagen und den Vollzug des Verwaltungshandelns authentisch zu dokumentieren. Zu diesem Zweck wird z.b. durch Zufallsprinzip jede zehnte Akte einer bestimmten Aktengruppe archiviert oder man wählt bei Personenakten alle Akten eines möglichst neutralen Buchstabens des Alphabets (oftmals B weil ca. 10% aller Nachnamen in der Schweiz mit B beginnen und dabei zudem alle Wohnregionen und Nationalitäten ausgewogen vertreten sind). Durch ein solches Auswahlverfahren wird gewährleistet, dass der übernommene Aktenanteil die Inhalte der gesamten Aktengruppe widerspiegelt. Zusätzlich werden in manchen Fällen auch noch besonders auffällige Akten einer Gruppe (beispielsweise weil es sich um besonders ausgefallene Fälle handelt oder weil sie eine berühmte Persönlichkeit betreffen) aufgenommen. Dabei wird jedoch klar deklariert, dass es sich dabei um Sonderfälle und nicht um eine zufällige Auswahl handelt. Ein Teil der Entscheide darüber, was ins Archiv aufgenommen wird, bleibt dabei natürlich auch dem Ermessen der ArchivarInnen überlassen. So hatte ich in meinem Bestand Organisationskomitee 700 Jahre Eidgenossenschaft Zürich z.b. oftmals ganze Stapel sehr ähnlicher wenn nicht gar identischer Akten. Dabei handelte es sich oft um Kopien, welche manchmal mit einzelnen handschriftlichen Anmerkungen oder Ähnlichem versehen war. Da es zu aufwändig gewesen wäre, jedes einzelne Blatt abzugleichen, wirkliche Doubletten zu kassieren und abweichende Unterlagen zu behalten, galt es für mich in diesem Fall ebenfalls abzuwägen zwischen der Möglichkeit, alles, was nach identischen Unterlagen aussah, zu kassieren und dabei zu riskieren, dass ev. auch unterschiedliche Akten vernichtet werden würden und der alternativem Möglichkeit alle Unterlagen zu behalten, obwohl diese teilweise doppelte Überlieferung Platz brauchen würde. Dieses Beispiel zeigt meiner Meinung nach gut auf, dass die geschichtswissenschaftliche Forschung bis zu einem gewissen 4 Vgl. Pilger, Archive und historische Forschung, S. 378. 3
Grad von den Entscheiden der ArchivarInnen abhängig ist. Die HistrorikerInnen können schliesslich nur mit Material arbeiten, das auch vorhanden ist. 5 Nicht selten richten sich die ArchivarInnen bei der Auswahl der zur Überlieferung angebotenen Materialien jedoch auch nach besonderen Interessenschwerpunkten in der Geschichtswissenschaft und reagieren mit einer gewissen Prioritätensetzung darauf. 6 Zum Verhältnis zwischen Archiv- und Geschichtswissenschaft kann abschliessend gesagt werden, dass sich die Erkenntnisinteressen, Herangehensweisen und Blickwinkel von ArchivarInnen und HistorikerInnen zwar oftmals grundlegend unterscheiden, dass die unterschiedlichen Methoden aber zu produktiven Ergebnissen führen, wenn sie miteinander verbunden werden. So brauchen die HistorikerInnen die Kompetenz und Hinweise der ArchivarInnen, um in einer vernünftigen Zeit zu nutzbringenden Forschungsfragen und -Ergebnissen zu gelangen. Umgekehrt macht die archivarische Tätigkeit der ArchivarInnen insbesondere dann einen Sinn, wenn die bereitgestellten Materialien auch tatsächlich zu Forschungszwecken genutzt werden. In Bezug auf die Sicht eines Archivs als Speicher einer vergangenen Wirklichkeit kann festgehalten werden, dass Archive auf Grund des Platzmangels und der dadurch erforderlichen Auswahl des angebotenen Materials zwar nicht eine vollständige vergangene Wirklichkeit bewahren können, dass die ArchivarInnen aber sehr darum bemüht sind, ein möglichst entsprechendes Abbild der Wirklichkeit zu schaffen, indem wie oben dargelegt eine repräsentative Auswahl der Akten behalten wird, die Struktur der Akten nicht verändert wird (d.h. man belässt die Unterlagen weitgehend in ihrer überlieferten Ordnung, auch wenn sie nach eigenem Empfinden ungeordnet sind) usw. Dass dabei auch manchmal Unterlagen verloren gehen, die für die historische Forschung interessant gewesen wäre, liegt in der Natur des Archivs. Abschliessend kann ich sagen, dass ich durch mein Praktikum einen guten Einblick in die sehr durchdachten Strukturen des Staatsarchivs erhalten habe. Die Archiverfahrung veranlasste mich mein Vorgehen beim wissenschaftlichen Arbeiten zu reflektieren und vermehrt über quellenkritische Fragen wie die der Quellenüberlieferung nachzudenken. 5 Vgl. Pilger, Archive und historische Forschung, S. 377. 6 Vgl. Küsters, Gespräch, S. 393. 4
Literaturverzeichnis Pilger, Andreas: Die Archive und die historische Forschung. Eine Podiumsdiskussion zwischen Archivaren und Historikern, in: Der Archivar 4, 2011, S. 370-385. Küsters, Hanns Jürgen: Gespräch mit Hanns Jürgen Küsters zum Verhältnis von Archiven und historischer Forschung, in: Der Archivar 4, 2011, S. 391-396. Kellerhals-Maeder, Andreas: Einige Überlegungen zum Verhältnis von Geschichte und Archiv heute aus archivischer Sicht, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 3, 2003, S. 300-305. 5