Video-Thema Begleitmaterialien

Transkript

1 AUF DEM JAKOBSWEG SICH SELBST FINDEN Der Jakobsweg wird immer beliebter: Über Menschen liefen 2015 den Weg im Norden Spaniens. Seit Jahrhunderten gehen die Pilger schon bis in die Stadt Santiago de Compostela. Früher wollten sich Christen dort von ihren Sünden befreien. Heute pilgern die meisten nicht mehr aus religiösen Gründen auf dem Jakobsweg. Sie suchen einen Abstand vom Alltag und vom Stress. Und viele versuchen, sich selbst zu finden. MANUSKRIPT Die Provinz León im Nordwesten Spaniens. Sie sind schon seit sieben Uhr auf den Beinen: Martin, seine Lebensgefährtin Maja und die beiden Kinder. 26 Kilometer wollen sie heute zurücklegen, auf dem Camino, wie die Pilger ihn hier nennen, den berühmten Jakobsweg im Norden Spaniens. MAJA SÖKER (Pädagogin): Es ist am Anfang n bisschen ungewohnt, bis man so in den Trott reinkommt, und dann ist es dann entschleunigt das Ganze. MARTIN BUSCHE (Bühnentechniker): Viele haben Stress auf der Arbeit, Familie das erschlägt einen. Und hier hat man einfach die Ruhe, man kann total abschalten. Der Weg, der verzaubert einen so n bisschen. Alle gehen in die gleiche Richtung, und das hat man im Leben nie. Der Camino ist die finale Etappe des Jakobsweges, eines europäischen Netzes aus Pilgerwegen. Durch viele Länder weisen die Jakobsmuscheln nach Santiago de Compostela, dem Zielort des Jakobsweges im Westen der Region Galicien. Dorthin wollen auch Martin, Maja und die beiden Töchter: dreihundert Kilometer in drei Wochen bei 35 Grad im Schatten eine körperliche Grenzerfahrung. Gerade deswegen hat das Pilgern für sie etwas Befreiendes. JULIA MÜLLER (Schülerin): Man hat auf jeden Fall sehr viel Zeit, über sich selbst und den Alltag nachzudenken, weil man ja vor allem eine Pause hat. MARTIN BUSCHE: Und hier hat man nur den Rucksack zu schleppen, und das ist die einzige Last, die man hat. Pilgern scheint vielen etwas zu geben, das sie im Alltag nicht finden. Mehr als Menschen pilgerten 2015 auf dem Jakobsweg fast dreimal so viele wie vor gut zehn Jahren. Seite 1/6

2 Der alte Pilgerpfad ist zu einem Eldorado für moderne Sinnsucher geworden. Auch Stefan Albus war auf dem Jakobsweg unterwegs. Der Journalist hat ein Buch darüber geschrieben. Was das Pilgern mit einem macht und vor allem warum mittlerweile so viele Menschen pilgern, darauf gibt das Buch Antworten. STEFAN ALBUS (Journalist und Buchautor): Ich glaube, dass wir in einer Zeit leben, in der der Mensch, die Persönlichkeit, immer unwichtiger wird. Die Arbeit wird immer dichter, man muss immer mehr arbeiten fürs selbe Geld. Der Stress steigt. Und immer mehr Menschen haben das Gefühl: Moment mal, in meinem Leben geht s gar nicht mehr um mich. Was kann ich da machen, wie komme ich da raus, wie kann ich wieder Fuß fassen, wie kann ich mich wieder spüren? Der Grundstein des Jakobsweges wurde vor genau 1200 Jahren gelegt, mit der Bestattung der Reliquien des Apostels Jakobus des Älteren. Christen pilgerten fortan nach Santiago, um sich ihrer Sünden zu entledigen. Religiosität ist heute weniger wichtig, es zählt anderes. STEFAN ALBUS: Auf dem Pilgerweg finden viele Leute zu sich selbst, und Selbsterkenntnis ist durchaus ein erster wichtiger Schritt zur Spiritualität. Wenn man sich auf den Weg macht, auf einen Weg macht, von dem man weiß, seit 1000 Jahren gehen da Leute lang, um spirituelle Erfahrungen zu machen, ich glaube, dann fühlt man sich mit diesen Menschen irgendwie innerlich verbunden. Dieses Gefühl, sich einzureihen in eine tausendjährige Geschichte, das ist einfach großartig. In Deutschland löste der Bestseller Ich bin dann mal weg im Jahr 2006 einen Pilgerboom aus. Darin beschreibt der deutsche Entertainer Hape Kerkeling seine Reise auf dem Jakobsweg, die später auch fürs Kino verfilmt wurde. MANN (Stimme aus Film): Ich komme alleine klar. Ich hab's kapiert. Eigentlich könnte ich jetzt nach Hause fahren. Aber warum sollte ich? Ein unentbehrliches Accessoire auf dem Jakobsweg ist der Pilgerpass. Die Stempel bekommt man in Herbergen und Kirchen am Wegesrand. Wer nachweisen kann, mindestens 100 Kilometer gelaufen zu sein, bekommt in Santiago de Compostela eine Pilgerurkunde. Die abgelegenen Dörfer am Camino erleben seit dem Anstieg der Pilgerzahlen einen wirtschaftlichen Aufschwung. Vielerorts sind Pilgerherbergen entstanden. Auch Maja, Martin und die Kinder übernachten in einer Herberge. Die Unterkünfte sind einfach, der heimische Überfluss ist weit entfernt. Für viele ein lehrreiches Erlebnis. Seite 2/6

3 MARTIN BUSCHE: Wenn man nach Hause kommt, ist man kein anderer Mensch, aber man man weiß, dass man mit wenig Sachen am Tag leben kann. Man braucht das alles gar nicht. Alles nur, was man auf dem Rücken trägt, ist das Wichtige für den Tag. Am nächsten Tag geht es weiter, Richtung Westen nach Santiago de Compostela. Schritt für Schritt auf der Suche nach Sinn. Seite 3/6

4 GLOSSAR Provinz, -en (f.) hier: ein Gebiet innerhalb eines Staates mit eigener Verwaltung auf den Beinen sein hier: wach sein und etwas tun Lebensgefährte, -n/lebensgefährtin, -nen jemand, mit dem man zusammenlebt, mit dem man aber nicht verheiratet ist etwas zurück legen hier: eine bestimmte Strecke gehen oder fahren Pilger, -/Pilgerin, -nen jemand, der aus einem bestimmten Grund (oft einem religiösen) an einen für ihn besonderen Ort reist (Verb: pilgern) in den Trott rein kommen sich an eine immer gleiche Handlung gewöhnen (etwas) entschleunigen dafür sorgen, dass etwas langsamer passiert jemanden erschlagen hier: dafür sorgen, dass jemand erschöpft ist; jemandem sehr viel Stress machen ab schalten hier: sich entspannen, indem man nicht an den Alltag denkt jemanden verzaubern hier: jemanden zum Staunen bringen; jemanden glücklich machen Etappe, -n (f.) hier: der Teil einer Strecke; der Abschnitt einer Reise nach etwas weisen auf etwas zeigen; zu etwas führen Jakobsmuschel, -n (f.) eigentlich: ein kleines, essbares Meerestier; hier: das Zeichen für den Jakobsweg Grenzerfahrung, -en (f.) ein Erlebnis, das körperlich so anstrengend ist, dass man es fast nicht schafft befreiend so, dass etwas die Sorgen und den Stress verschwinden lässt Rucksack, -säcke (m.) eine Tasche, die man auf dem Rücken trägt etwas schleppen umgangssprachlich für: etwas tragen; etwas transportieren Last, -en (f.) etwas, das man tragen oder machen muss und das man als schwer oder anstrengend empfindet gut hier: etwa; ungefähr Seite 4/6

5 Pfad, -e (m.) ein schmaler Weg Eldorado, -s (n.) hier: ein Ort, der jemandem genau das bietet, was er sucht Persönlichkeit, -en (f.) der Charakter eines Menschen; das Wesen eines Menschen Fuß fassen hier: sich an etwas gewöhnen; sich gut und sicher fühlen den Grundstein für etwas legen hier: den Anfang für etwas (für eine Entwicklung) machen Bestattung, -en (f.) die Handlung, bei der man einen Toten meist in die Erde bringt oder verbrennt Reliquie, -n (f.) ein Gegenstand, der eine große religiöse Bedeutung hat (oft ein Knochen oder ein Kleidungsstück eines/einer Heiligen) Apostel, - (m.) hier: einer der zwölf engen Freunde Jesu, die seine Lehre weitertrugen fortan ab einem bestimmten Zeitpunkt sich etwas entledigen dafür sorgen, dass man etwas nicht mehr hat Sünde, -n (f.) hier: eine Handlung, die gegen die Gesetze einer Religion verstößt Spiritualität, -en (f.) die Tatsache, dass sich etwas auf die Gedanken und den Geist eines Menschen bezieht sich ein reihen hier: ein Teil von etwas werden einen Boom aus lösen dafür sorgen, dass etwas sehr beliebt wird und viele Menschen es machen Bestseller, - (m., aus dem Englischen) etwas (oft ein Buch), das sehr oft verkauft wird Entertainer, -/Entertainerin, -nen (aus dem Englischen) jemand, der durch eine Kunstform (z. B. Komik, Musik, Schauspiel, Moderation) andere Menschen unterhält etwas verfilmen einen Film aus etwas (z. B. aus einem Buch oder einem historischen Ereignis) machen unentbehrlich unbedingt notwendig; so, dass man etwas auf jeden Fall braucht Accessoire, -s (n., aus dem Französischen) hier: ein bestimmter Gegenstand, der zu etwas dazugehört Seite 5/6

6 Herberge, -n (f.) ein Haus, in dem man für wenig Geld übernachten kann etwas nach weisen beweisen, dass etwas so ist oder war Urkunde, -n (f.) ein offizielles Dokument abgelegen so, dass etwas (z. B. ein Haus) weit entfernt von einem Ort oder Häusern ist Aufschwung, -schwünge (m.) der Aufstieg; die Tatsache, dass sich etwas positiv entwickelt heimisch so, wie etwas zu Hause ist Überfluss (m., nur Singular) die Tatsache, dass es mehr von etwas gibt, als gebraucht wird lehrreich so, dass man viel von etwas lernen kann Autoren: Alexander Dluzak/Benjamin Wirtz Redaktion: Ingo Pickel Seite 6/6