Agende und Predigt im Gottesdienst zu Beginn des Wintersemesters 2011/2012 am 16. Oktober Gottesdienstverlauf mit Antonio Vivaldis Gloria

Transkript

1 Agende und Predigt im Gottesdienst zu Beginn des Wintersemesters 2011/2012 am 16. Oktober 2011 Thema: Gloria Gottesdienstverlauf mit Antonio Vivaldis Gloria Votum Gloria in excelsis Deo Psalm-Wort et in terra pax hominibus bonae voluntatis Kyrie-Gebet Laudamus te, benedicimus te, adoramus te, glorificamus te, Gloria-Spruch gratias agimus tibi propter magnam gloriam tuam, Lesung Chor Domine Deus, Rex caelestis, Deus Pater omnipotens, Domine Fili unigenite, Jesu Christe, Domine Deus, Agnus Dei, Filius Patris, qui tollis peccata mundi, miserere nobis; qui tollis peccata mundi, suscip deprecationem nostram. Qui sedes ad dexteram Patris, miserere nobis. 1

2 Quoniam tu solus Sanctus, tu solus Dominus, tu solus Altissimus, Jesu Christe, cum Sancto Spiritu: in gloria Dei Patris. Amen. Predigt Lied 329 Bis hierher hat mich Gott gebracht Abkündigungen Lied 330, 1-4 O daß ich tausend Zungen hätte Fürbitten Lied 337 Lobet und preiset, ihr Völker, den Herrn Abendmahl Dankgebet Segen Als Nachspiel: Lied Gloria sei Dir gesungen Predigt Liebe Gemeinde, das Gloria, der liturgische Gesang ist wohlvertraut, seit Jahrhunderten Teil des christlichen Gottesdienstes, der katholischen Messe wie des lutherischen Gottesdienstes. Im evangelischen Gottesdienst singen wir allein Gott in der Höh sei Ehr oder wir loben, preisen, anbeten Dich, das Gloria in der katholischen Messe beginnt mit der Weihnachtsbotschaft der Engel aus dem Lukasevangelium: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden allen Menschen seiner Gnade hominibus bonae voluntatis. Danach fangen die Stimmen ganz frei an zu jubilieren: Wir loben Dich, wir preisen Dich, wir beten Dich an, wir rühmen Dich und danken Dir. Ein Weltherrscher wird empfangen, ein Weltmeister, standing ovations hätte ich ins Programm geschrieben, wenn es mir rechtzeitig eingefallen wäre. Dabei ist es ein subversives, ein untergründig kritisches Lied. Die 2

3 Weihnachtsbotschaft der Engel aus dem Lukasevangelium wurde im 4.Jh. einem populären Hymnus vorangestellt, um diesen vor der Verurteilung durch das Konzil von Laodicea zu bewahren. Selbständigkeit durch geistliche Poesie, sich einen eigenen Reim auf Hohes und Tiefes im Himmel und auf Erden machen, das ging zu Kaisers Zeiten gar nicht, weder im 4. Jahrhundert, als das Christentum zur Staatsreligion umgeformt worden war, noch im Mittelalter, als die Heilige Hierarchie der Römischen Kirche kaum einen Laien auf den Gedanken kommen ließ, er könnte den Mund selbständig aufmachen, und selbst nach der Reformation, die den Laien den Mund immerhin zum Gesang öffnete, ihnen Lieder in den Mund legte, selbst danach war die selbständige Denkweise von unabhängigen Geistern in den Staatskirchen nicht erwünscht, man denke an den älteren Pietismus im späten 17. Jahrhundert, der als sektiererische Bewegung verdächtigt wurde, oder an die frühe Innere Mission in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts, als die jungen Vikare Wichern oder Gustav Werner von den Kirchenleitungen argwöhnisch betrachtet wurden, oder an die Bekenntnis-Synode von Barmen Aber die Unabhängigkeit der freien Geister als solche war gewiss noch der geringere Anstoß bei der Kritik der Mächtigen an diesem Gesang. Provozierend war und ist der Inhalt. Gott wird hier nicht einfach als Weltherrscher anderen Weltherrschern entgegengestellt und bejubelt, er wird verehrt und besungen, weil er alle Rechtsordnungen, die Menschen entwerfen, einer ganz besonderen Prüfung unterzieht, der keine der Ordnungen stand hält. qui tollis peccata mundi Dieser Herrscher wirkt dadurch, dass er die Sünden der Welt auf sich nimmt. Was immer das Zusammenleben der Menschen stört, menschliche Bosheit, Leiden unter den Differenzen, dieser Herrscher macht sich selbst verantwortlich für die Unzulänglichkeiten der Menschheit; alles, was das Zusammenleben der Menschen stört, das nimmt er auf sich. Und viele Menschen ahnen, was er damit tut: Er erbarmt sich der erbarmungslosen Menschheit, die auch noch in ihren besten Rechtsordnungen nichts anderes tun kann, als die Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen. Und so singen die, die diesen Herrscher ernstnehmen: Qui tollis peccata mundi, miserere nobis; qui tollis peccata mundi, suscipe deprecationem nostram. Mit einer solchen Bestimmung der Aufgabe des Herrschers wollten und wollen sich weder Kaiser noch Kirchenfürsten identifizieren, Herrscher wollen den Völkern nicht dienen, schon gar nicht das Belastende und Lästige selbst tragen oder gar wegnehmen. Hüter der Rechtsordnung allenfalls, aber selbst die Sünden 3

4 der Welt tragen, das hat man auch nicht von denen erwartet, die sich als erste Diener ihres Staates bezeichnet haben. Auch die führenden Politiker der Demokratien in der Gegenwart sagen von sich zwar, dass sie dem Volk dienen wollen, aber die Tendenz, die Macht zu gebrauchen, wenn man sie hat, bestimmt auch in konstitutionellen Monarchien und Demokratien das Handeln. Das Idealbild von Herrschern, die zum Wohl der Völker tätig sind, verliert sich zur Zeit in einer ganz eigentümlichen Weise; man gewinnt den Eindruck, es sei gar nicht so recht zu ermitteln, wer eigentlich wirklich hierzulande herrscht, die Gewählten oder die Gewitzten, die Lenker oder die Banker. Liebe Gemeinde! Die Kraft dieses Hymnus auf den Herrscher, der die Probleme der Welt auf sich nimmt, die gesellschaftskritische Kraft des Gloria ist in einer demokratischen Gesellschaft wenig bewusst. Solange die positive Rechtspraxis auf Vertragsbasis einigermaßen funktioniert, nicht allzu viel Unrecht geschieht, kann man es sich leisten, die Grundfrage jeder Gesellschaft nach der Quelle ihrer Lebenskraft als einen eigenen Sektor Religion auszulagern und die kritische Kraft des Evangeliums in die Privatpraxis des einzelnen zu entsorgen, da mag sie dann als Frage nach dem rechten Verhalten rumoren, ohne die Allgemeinheit zu stören. Das Christentum war aber zunächst gar keine Religion, keine Aussage über Gott oder über Götter, auch wenn seit Kaiser Konstantin viele Herrscher das Kreuz zum zentralen Ausstattungsstück ihrer Staatsreligion, ihrer Herrschaftsideologie gemacht haben. In den ersten Jahrhunderten nach Christus wusste man gar nicht so recht, was die Christen eigentlich wären, sie waren einfach nur anders, nahmen nicht am Staatskult teil. Das Evangelium des Jesus von Nazareth war zuallererst der Ruf nach Gerechtigkeit, nach der Gerechtigkeit, die Grundlage einer Gesellschaft sein kann. Deshalb kam notwendigerweise Gott ins Spiel, denn die Gerechtigkeit, die man dem geltenden Recht kritisch entgegenhalten kann, ist keine Gerechtigkeit von Menschen, eine solche Gerechtigkeit übersteigt alle Menschenmöglichkeit, transzendiert die Möglichkeiten der Menschen, ist Gottes Gerechtigkeit. Der Gedanke, alle Menschenordnungen könnten begrenzt und fehlerhaft sein, weil sie mit den Differenzen, die nun einmal eine Gesellschaft ausmachen, nicht lebensförderlich umgehen, bringt unvermeidlich den Namen Gottes ins Spiel. Deshalb ließ sich der Ruf nach Gerechtigkeit erst mit der Volksreligion Israels und dann mit der römischen Staatsreligion verbinden, wie er sich auch mit vielen anderen Rechts- und Religionskulturen verbunden hat. Im Kern aber bleibt das Evangelium ein kritischer Beitrag zur Gestaltung der Rechtsordnung, selbst noch in den Formen von Privatreligion, die mitteleuropäische Christen pflegen, auch 4

5 jeden frommen Christen bewegt in seinem Herzen die Frage: Wie kann ich mit meinem Leben dem dienen, der seinerseits allen dienen will. Der Glaube an Gottes allen Menschenordnungen überlegene Gerechtigkeit bestimmt den Alltag, wo immer er wirksam wird: Martin Luther hat unter Berufung auf den Apostel Paulus gesagt, dass die Beziehung zu Gott nicht durch irgendeine religiöse Praxis vom Menschen hergestellt werden müsste, das ginge gar nicht, weder durch Opfer, noch durch Satisfaktionsleistungen, er sah es ganz anders: Gottes überfließende Gerechtigkeit prägt die Menschen in ihrem Alltag, bestimmt sie, befreit sie, macht sie ihres Lebens sicher, lässt sie glauben und hoffen, dass alles, was Menschen an Belastungen aufhäufen, schon aufgehoben ist, niemand mehr belasten muss, solcher Glaube treibt zu Taten der Liebe, ohne alle Appelle und Ermahnungen. Die Beziehung zu Gott und seinem Reich, der Glaube, ist keine Privatsache, sie wird öffentlich wirksam in der Vorstellung von einer Gerechtigkeit, die alle Menschen überströmt und deshalb von niemand auf die eigenen Mühlen geleitet werden kann. Wie wir es aus dem Jesaja-Buch hörten: Jesaja 48, So spricht der HERR, dein Erlöser, der Heilige Israels: Ich bin der HERR, dein Gott, der dich lehrt, was dir hilft, und dich leitet auf dem Wege, den du gehst. 18 O dass du auf meine Gebote gemerkt hättest, so würde dein Friede sein wie ein Wasserstrom und deine Gerechtigkeit wie Meereswellen. (5Mo 5,29) 19 Deine Kinder würden zahlreich sein wie Sand und deine Nachkommen wie Sandkörner Der Strom der Musik, Vivaldis Gloria wirkt auf die Ohren und Herzen wie der Strom der Gerechtigkeit Gottes: Bestärkt und befreit und beflügelt zum Dienst im Geist der Gerechtigkeit. Liebe Gemeinde! Wem singt die Gegenwart ihre Loblieder? Politikern ganz selten, aber doch nicht nur den Stars in Sport, Film und Unterhaltung? Sicher den Siegern auf allen Ebenen, aber es gibt auch jenseits der Gottesdienste mit ihren Lobliedern auf Christus öffentliche Würdigungen, die vom Strom der Gerechtigkeit fruchtbar gemacht sind. Ich denke vor allem an die Nobelpreise, die für Leistungen verliehen werden, die der Menschheit dienen. Auch die Nobelpreise für wissenschaftliche Leistungen werden unter dem Gesichtspunkt des Dienstes für die Menschheit vergeben, erst recht aber die Preise für Literatur, für das treffende, bildende, nährende Wort, und für den Beitrag zum Frieden, den einzelne Menschen geleistet 5

6 haben. Die gleiche wohltuende Verbindung von Wort und Friedensdienst wird mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels gewürdigt, der in dieser Stunde an den algerischen Schriftsteller Boualem Sansal verliehen wird. In viele dieser Lobeshymnen kann die Christenheit ohne weiteres einstimmen, denn sie werden im Geist des Gloria gesungen, im Geist des Herrschers, der den Menschen Frieden auf Erden zuspricht und ihnen zusagt, er werde die Sünden der ganzen Welt auf sich nehmen. Liebe Gemeinde! Meinen Sie, es verbessert unsere Rechtsordnung, wenn immer mehr Menschen die Überzeugung gewinnen, die Sünden der Welt seien ein für allemal aufgehoben? Was käme dabei heraus, wenn wir uns nicht mehr gegenseitig auf unsere Schwächen und Fehler festlegten, nicht mehr unsere Probleme betrachteten, uns keine Vorhaltungen machten. Und ich treibe die Frage noch etwas weiter: Selbst wenn es Gott nicht gäbe, aber diesen Gedanken, dass alles, was uns trennt und gegenseitig belastet, aufgehoben sein sollte, wäre das nicht eine Welt, in der es sich zu leben wahrhaftig lohnte? Viele werden sagen: So gut sind die Menschen nicht; aber ich bin sicher, auch Sie kennen Menschen, die gerade dadurch wohltuend auf ihre Gemeinschaft einwirken, dass sie ihre Mitmenschen und sich selbst als von allen Belastungen entlastet glauben, Menschen, die überzeugt sind, dass sie ihr Leben geschenkt bekommen haben, dafür dankbar sind und diese Dankbarkeit gerne zum Wohle ihrer Nächsten verströmen, aber darüber wollen wir ausführlicher am nächsten Sonntag nachdenken, wenn wir sein Gebot ins Auge fassen. Heute stimmen wir nun auch als ganze Gemeinde in die Loblieder ein, die den König rühmen, der sich der Menschen erbarmt, der alles, was uns belastet, auf sich genommen hat, damit wir uns nicht selbst und nicht gegenseitig damit belasten. Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen. 6