Maria-Gabriele Wosien. Die Sufis und Das Gebet in Bewegung
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1 Maria-Gabriele Wosien Die Sufis und Das Gebet in Bewegung
2 Umschlag: Grafiken von Bernhard Wosien 2. überarbeitete Auflage 2006 Maria-Gabriele Wosien 1998 ISBN
3 Maria-Gabriele Wosien Die Sufis und Das Gebet in Bewegung Metanoia-Verlag
4 Münir Celebi in Dankbarkeit
5 Inhalt Die Sufis Christen und Sufis begegnen sich Die Sufis Mevlana Dschelaleddin Rumi Das Gebet in Bewegung «Stirb bevor du stirbst»: Sema der Tanzreigen der Mevlevi Derwische Einweisung in den Drehtanz (Bernhard Wosien) Die Sikke ein Derwisch Hut entsteht Anhang Bildnachweis Wörterverzeichnis Literatur
6 Die Sufis Christen und Sufis begegnen sich Für die Sufi Mystiker ist der Wandernde der Prototyp des wahren Gläubigen. Mit ihren Wurzeln ist diese Mystik tief mit den nomadischen Völkern der Steppe verbunden, aus denen sie ihren Ursprung nahm. Im Wechsel der Jahreszeiten zogen die Nomaden, ihre Herden begleitend, über das Land. Dabei erlebten sie den Kreislauf der Sterne und der Natur als einen von unsichtbarer Hand gelenkten Bewegungsablauf. Das Mass ihrer Schritte passten sie dem Rhythmus der Gezeiten an und waren so eng mit dem Pulsschlag des Lebens verbunden. In der Dichtung Rumis ( ) wird der Wandernde zum «ewig Suchenden», der immer unterwegs ist, offen für alle Religionen und spirituellen Richtungen. In der mystischen Praxis führte das kontinuierliche Gottgedenken, das Beten der Gottesnamen in Bewegung zur Erkenntnis der «Einheit allen Seins», welche das Fremde, das einem begegnet, immer neu als das Eigene erleben lässt. Auch Jesus, von den Sufis als Prophet des einen Gottes verehrt, war ein Wandernder, der seine Jünger ermahnte: «Werdet Vorübergehende» (Thomasevangelium, Logion 42). Die Begegnung von Sufis und Christen, ihre gegenseitige Hochachtung und Verehrung hat Tradition. Faruddin Attar (1165 ca. 1240), der Autor der «Vogelgespräche», 9
7 weist in einer Parabel seines Werkes «Das göttliche Buch» auf den höchsten Gottesnamen hin: Jesus. In einer christlich-sufistischen Begegnung unserer Zeit, erzählt von Nikos Kazantzakis, erkennt der christliche Abt in der Lebens- und Glaubensform der Mevlevi Derwische die Wegspuren des Franziskus von Assisi Tänzer zu sein vor Gott: Wir hielten vor einem kleinen türkischen Kloster, in dem Derwische lebten und jeden Freitag tanzten. 1 Wir traten in den Hof. Aus einer Zelle kam ein Derwisch auf uns zu. Er begann über den Tanz zu sprechen: «Wenn ich nicht tanzen kann, kann ich nicht beten. Die Engel haben zwar einen Mund, aber sie reden nicht, sie sprechen durch den Tanz zu Gott.» «Was für einen Namen gebt ihr Gott, Ehrwürden?» fragte der Abbé. «Er hat keinen Namen», antwortete der Derwisch. «Gott kann man nicht in einen Namen pressen. Der Name ist ein Gefängnis; Gott ist frei.» «Wenn ihr ihn aber rufen wollt», beharrte der Abbé, «wenn es notwendig ist, wie ruft ihr ihn?» «Ach», antwortete er, «nicht Allah. Ach! werde ich ihn rufen.» Der Abbé erbebte. «Er hat recht», murmelte er. [ ] Wir fühlten uns so glücklich im Hof dieses Moslemklosters, dass wir es nicht über das Herz brachten, aufzubrechen. Da traten aus den umliegenden Zellen weitere Derwische. Die jüngeren waren blass, und ihre Augen loderten, 1 Das verlassene Klostergebäude, unweit der kretischen Hauptstadt Iraklion, war im Frühjahr 1969 noch ziemlich gut erhalten. Bei einem nächsten Besuch, zwanzig Jahre später, war die Anlage bereits zur Ruine verfallen. (Anm. der Autorin) 10
8 als jagten sie verzweifelt Gott nach. Die alten, die vielleicht Gott gefunden hatten, waren rosenfarbig; ihre Augen strahlten vor Licht. Sie hockten um uns herum, manche lösten den Rosenkranz von ihrem Ledergürtel und spielten gelassen mit den Glasperlen, während sie neugierig den christlichen Mönch betrachteten. [ ] «Was für ein Glück!» fl üsterte der Abbé. «Wie leuchtet auch hier hinter allen diesen Gesichtern das Antlitz Gottes!» Er berührte meine Schulter. «Bitte, frag sie, ob die Derwische ein religiöser Orden sind und welche Regeln sie haben!» Der Älteste legte seine Pfeife auf das Knie und antwortete: «Armut, Armut, nichts besitzen, auf dass uns nichts belaste, auf dass wir uns Gott nähern auf blühendem Pfad; Lachen, Tanz und Freude sind die drei Erzengel, die uns dabei geleiten.» «Frag sie», bat mich abermals der Abbé, «wie sie sich vorbereiten, vor Gott zu treten; durch Fasten?» «Aber nein», antwortete ein junger Derwisch lachend, «wir essen und trinken und loben Gott, der dem Menschen Essen und Trinken geschenkt hat.» «Und auf welche Weise?» beharrte der Abbé. «Tanzend», antwortete der älteste Derwisch mit dem langen, weissen Bart. «Tanzend?» fragte der Abbé. «Warum?» «Weil Tanzen das Ich auslöscht», meinte der alte Derwisch. «Wenn das Ich erstorben ist, gibt es kein Hindernis, sich mit Gott zu vereinen.» Das Auge des Abbé blitzte auf. «Der Orden des heiligen Franziskus», rief er aus und drückte die Hand des alten Derwischs, «genauso ist der heilige Franziskus tanzend über die 11
9 Erde gegangen und in den Himmel gestiegen. Was sind denn wir? Nichts anderes als Possenreisser Gottes, die geboren wurden, um die Herzen der Menschen zu erfreuen. Da siehst du es wieder, mein junger Freund, immer stösst man auf denselben Gott.» aus: Rechenschaft vor El Greco, Nikos Kazantzakis 12
10 Die Sufis Es fragte einer: Was ist Sufi smus? Rumi antwortete: Freude finden im Herzen, wenn die Zeit des Kummers kommt. Der Sufismus lehrt die wesenhafte Einheit aller Religionen und das Vertrauen in die Zukunft der Menschheit. Diese Lehre ist uralt und meint den Prozess des Erweckens und Entwickelns latenter Fähigkeiten als Reifungsprozess, als unendliche Ausformungen der Einheit des Seins: Siehe, ich starb als Stein und ging als Pfl anze auf, starb als Pfl anze, nahm darauf als Tier den Lauf, starb als Tier und ward ein Mensch. Was fürcht ich dann, da durch Sterben ich nicht minder werden kann? Wieder, wann ich werd als Mensch gestorben sein, wird ein Engelsfl ügel mir erworben sein, und als Engel muss geopfert sein ich auch, werden, was ich nicht begreif, ein Gotteshauch. (Mathnawi III) Die mühselige Arbeit der Läuterung wird in den bildhaften Erzählungen der Sufis auch verglichen mit der kreisenden Bewegung des Mühlsteins: 13
11 Abb. 1: Mühle an den Band-i-Amin Seen, Afghanistan 14 Wisst ihr, was die Mühle erzählt? «Ich bin das Gleichnis des Derwischs», sagt sie, «ich empfange Grobes und gebe Feines zurück.» So endet das Gedicht Rumis auch mit den Zeilen, welche die Sehnsucht nach dem letztlichen «Entwerden», der Rückkehr zum Ursprung, besingen:
12 O, lass mich nicht-sein! Denn das Nichtsein ruft mit süsser Melodie der Flöte: Zu Ihm kehren wir zurück! Die Sufis, die sich auch «Gottesfreunde» nennen, sagen, dass der Sufismus wie ein Meer ohne Ufer ist, in das die verschiedenen Orden wie Flüsse einmünden. Der Anfang der Sufi Lehre verliert sich in einer zeitlich nicht erfassbaren Vorzeit. Eine traditionelle Überlieferung (hadith) formuliert es so: Die Saat des Sufi smus wurde gesät in der Zeit Adams, keimte in der Zeit Noahs, entfaltete sich in der Zeit Abrahams, begann zu reifen in der Zeit des Moses, erreichte volle Reife in der Zeit des Jesus und brachte in der Zeit Mohammeds den reinen Wein hervor. Mohammed ist das Vorbild für alle Sufi Orden und wird verehrt als der grösste der Mystiker. Als das Vorbild für Gottesfurcht, Askese und Liebe fand er im Gebet zur Vereinigung mit Gott. Im Laufe seiner Existenz in Abertausenden von Jahren, so sagen die Sufis, sind dem Menschen viele ursprüngliche Fähigkeiten verloren gegangen wie der Sehsinn als geistige Schau, der Tastsinn, der das Wesen der Dinge erspürt und der sichere Instinkt, über den er sich in seiner Wahrnehmung 15
13 Abb. 2: Beduine in der Wüste betend mit dem Leben verbunden wusste. Das sufistische Ziel ist es, Gott im Menschen vollständig zu aktivieren, d. h. alle ver loren gegangenen und alle noch nicht entwickelten Fähigkeiten zu entfalten ganz im Sinne auch der Jesusworte: 16 Jeder kann dies tun, auch ihr, sogar grössere Dinge, als ich sie vollbracht habe (vgl. Joh. 14, 12) und: Ich muss gehen, damit der Grössere zu euch kommen kann (vgl. Joh. 16, 7) Hingabe, Überantwortung an den Geist Gottes, «Dein Wille geschehe» ist der eigentliche Inhalt des Islam. Die Sufis ergänzen, dass wer den Zustand der totalen Hingabe erreicht hat, unsterblich wird. Der Islam wurde so, zusammen mit der heiligen Schrift des Koran, zum Medium der Übermittlung der sufistischen philosophia perennis. Durch das Üben der Hingabe entsteht
14 ein Vakuum, gross genug, um Gott aufzunehmen. Diesen Geist erlebt der Sufi als in der ganzen Schöpfung präsent. Abb. 3: Wandernde Derwische. Persische Miniatur, 17. Jh. Sufis sind Leute des Weges, Sufismus das Bekenntnis zur Liebe. Einer der grössten Sufi Mystiker, Hallaj, den man im 13. Jh. als Ketzer hinrichtete, wurde im Gefängnis von einem Derwisch gefragt: «Was ist Liebe?» Er sprach: «Du wirst es heute sehen, und morgen sehen, und übermorgen sehen.» An jenem Tage töteten sie ihn, am nächsten Tag verbrannten sie ihn, und am dritten Tag gaben sie seine Asche dem Wind. Ähnlich den mittelalterlich-monastischen Stadien der via purgativa, via contemplativa und via illuminativa ist der Sufi Weg ein dreifacher, nämlich: 17
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