Erfahrungen und notwendige Standards am Beispiel der Youth-Life-Line Onlineberatung für Jugendliche in Krisen. Nina-Mareen Schweigert, Dipl.Päd.

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1 Erfahrungen und notwendige Standards am Beispiel der Youth-Life-Line Onlineberatung für Jugendliche in Krisen Nina-Mareen Schweigert, Dipl.Päd.

2 Klientin L.: Mir gehts so mies in letzter Zeit! Ich weiß einfach nicht mehr weiter... ( ) Manchmal denk ich mir ob es nicht besser wär wenn ich sterben würde, ob man um mich weint... wie ich es mache... Ich ärger mich selber darüber das ich so was denke aber manchmal macht sich mein kopf einfach selbstständig. Manchmal denke ich das meine seele böse ist, oder umgekehrt... Oft hab ich das gefühl das mit mir etwas nicht stimmt...

3 Antwort von Youth-Life-Line: Liebe L.! Schön, dass du dich getraut hast mir zu schreiben. Ich heiße Mina und bin 17 Jahre alt. In der Regel kann ich dir einmal in der Woche schreiben. Du kannst du dir auf unserer Homepage auch ein Bild von mir anschauen, wenn du magst, damit du weißt, wer dir hier schreibt Deine Mail hat mich sehr berührt. Du scheinst zur Zeit mit vielen Problemen konfrontiert zu sein. Gerade deshalb finde ich es gut, dass du dir Hilfe suchst und dass du uns hier so offen schreibst, was dich beschäftigt. ( ) Du hast mir auch erzählt, dass du dir manchmal vorstellst, wie es wäre, wenn du nicht mehr da wärst. Hm diese Sätze sind mir besonders aufgefallen und ich habe mir darüber Gedanken gemacht. Heißt das, dass du über Suizid nachdenkst? ( )

4 Klientin L.: Das mit dem Suizid is eine schwierige Frage: Ich denke sehr oft über Suizid nach, viel zu oft... Ich denke oft, dass ich nur einen Schnitt machen müsste, dann wären all meine Probleme vorbei, dann müsst ich mich um nix mehr kümmern, dann wär es einfach vorbei, meine Probleme wären zwar irgendwie nicht gelöst, aber sie wären beendet ( ) Wie ist das eigentlich, wenn ich jetz ganz konkret sagen würde das ich suizid begehe... könntest du mich ausfinding machen, würdes du es weitergeben? Ich will es einfach nur wissen, weil in vielen solchen beratungen schreiben sie`s extra rein, dass wenn man solche äußerungen stellt, dass es dann weitergegeben werden muss

5 Antwort von Youth-Life-Line: Liebe L., Ich find s voll toll, dass du mir so offen und viel von dir erzählt hast! Danke für dein Vertrauen ( ) Du hast mir von deinen Suizidgedanken geschrieben. Dazu würde ich dich gerne etwas fragen, damit ich das noch genauer einordnen kann. Wenn du dir eine Skala von 1 bis 10 vorstellst, auf der 1 bedeutet, du hast gelegentlich Gedanken daran, dich umzubringen und 10 bedeutet, du stehst kurz davor und hast schon alles geplant wo würdest du dich da im Moment einordnen? ( )

6 ( ) Zu deiner Frage wegen dem Melden: Bei Youth-Life-Line bist du vollkommen anonym und darfst dich darauf verlassen, dass du alles schreiben kannst, was du mitteilen möchtest. Und dazu will ich dich auch ermutigen, dass du mir (weiterhin) ehrlich sagst, was dich beschäftigt. Dass du anonym bist bedeutet allerdings auch, dass ich nur hier in unserem Beratungssystem mit dir im Kontakt sein kann. Ich kann nicht herausfinden, wo du bist, um dir zu helfen oder Hilfe zu schicken. Wenn du das Gefühl bekommst, dass du mehr oder häufiger Unterstützung bräuchtest, dann darfst du mir das einfach schreiben. Gerne suchen wir dann gemeinsam etwas Passendes für dich. Ich bin auf jeden Fall sehr gern für dich da und kann dir nächsten Mittwoch wieder antworten ( )

7 Erfahrungen und notwendige Standards am Beispiel der Youth-Life-Line Onlineberatung für Jugendliche in Krisen Nina-Mareen Schweigert, Dipl.Päd.

8 Inhalte Onlineberatung eine kurze Einführung Die Online Jugendberatung Youth-Life-Line Konzeption, Themen, BeraterInnen, AdressatInnen Schwerpunkt: Anonymität bei suizidalen KlientInnen Chance zum Vertrauensaufbau, Notwendigkeiten und Grenzen Fragen und Diskussion

9 Onlineberatung - Definition Psychologische Online-Beratung ist eine aktive, helfende Begegnung bzw. Beziehung zwischen einem/einer Ratsuchenden und einer/einem psychologischen BeraterIn. Sie findet virtuell im Internet mittels dessen spezifischen Kommunikationsformen ( , Chat, Forum etc.) statt, wobei die KlientInnen Ort und Zeitpunkt der Problemformulierungen selber bestimmen. Sie hat zum Ziel, bei den KlientInnen kognitiv-emotionale Lernprozesse anzuregen, damit die Selbststeuerungs- und Handlungsfähigkeit wieder erlangt oder verbessert werden kann. (ANDERMATT u.a. 2003, S.2) Quelle:

10 Onlineberatung Formen & Ziele informierende Beratung zielt auf die schnelle Klärung von Informationsfragen stabilisierende Beratung konzentriert sich auf eine Behandlung in akuten Krisensituationen. (Bei beiden Formen Austausch einer relativ geringen Anzahl von s) begleitende Beratung längerer Beratungsprozess für Menschen mit schwerwiegenden Problemen, denen mittels mehrerer s über einen längeren Beratungszeitraum geholfen wird (vgl. WEINHARDT 2009, S.184f. und S.261f.)

11 Onlineberatung - Wirkungsweise Schreiben als selbstheilender Prozess (narrative Ansätze) ein Tagebuch, das antwortet

12 Onlineberatung - Wirkungsweise Intensive Beschäftigung mit Gedanken und Gefühlen vor, während und nach dem Verfassen von Nachrichten Verfassen der Nachricht verschafft schon Erleichterung ( Tagebuch ) Schreiben als selbstheilender Prozess (narrative Ansätze) Manches lässt sich leichter Schreiben als Sagen (besonders tabuisierte oder schambesetzte Themen) s als Brücke und Weg, um sich zu verständigen / um miteinander in Kontakt zu kommen

13 Onlineberatung Medienspezifische Rahmenfaktoren Kanalreduktion Niedrigschwelligkeit KlientInnen-Autonomie Anonymität

14 Onlineberatung Medienspezifische Rahmenfaktoren Kanalreduktion Eindrücke sämtlicher Sinneskanäle fehlen (z.b. Geruch, Stimmlage, Aussehen, Mimik, Gestik) nur geschriebener Text als Informationsquelle = eine Stufe der Anonymität des Klienten Vorurteil: Entfremdung & Verarmung zwischenmenschlicher Kontakte & Beziehungen aber: empirisch widerlegt Mediale Einschränkungen werden aktiv kompensiert Erlernen neuer Ausdrucksformen Kreative Ausdrucksweisen (z.b. Emoticons, )

15 Onlineberatung Medienspezifische Rahmenfaktoren Niedrigschwelligkeit Äußerlich / Örtlich, d.h. von überall erreichbar, jederzeit verfügbar; kein Weg und keine Hemmschwelle zur Beratungsstelle, keine Öffnungszeiten Innerpsychisch, d.h. kaum Barriere, die Beratung in Anspruch zu nehmen; keine direkte Stigmatisierung bei bestimmten Themen; Schreiben geht manchmal leichter als Darüberreden

16 Anonymität Onlineberatung Medienspezifische Rahmenfaktoren Möglichkeit, unerkannt zu bleiben Sich selbst auszuprobieren Angst, über seine Probleme zu sprechen, ist weniger groß Fehlen visueller, akustischer und nicht-sprachlicher Informationen erschwert und erleichtert die Kommunikation Die Kommunikation ist vorurteilsfreier, gleichberechtigter, unabhängiger

17 Onlineberatung Medienspezifische Rahmenfaktoren KlientInnen-Autonomie Die Ratsuchende bestimmt selbst die Intensität der Beratung (Frequenz und wie viel sie Preis gibt) Beratung kann jederzeit von Seiten der KlientIn abgebrochen werden Unverbindlichkeit Keine Möglichkeit, aktiv einzugreifen

18 Onlineberatung Medienspezifische Rahmenfaktoren Geschwindigkeit und Zeitversetztheit (Asynchronität) Internet und stehen generell unter der Beschleunigungserwartung, ABER fachliche Standards müssen beibehalten werden Nur begrenzt Beschleunigung möglich (schnelle Informationen, schneller zum Punkt kommen, keine Wege und Gesprächsvorbereitungen) Verfassen von Anliegen und Antworten sind zeitversetzt Zeitdehnung Muss beim Schreiben beachtet werden

19 Die Online Jugendberatung Youth-Life-Line

20 Ausgangslage / Bedarfsanalyse für Konzeption Menschen unter 25 Jahren sind die Altersgruppe mit der höchsten Suizidversuchsrate Suizid ist (nach Verkehrsunfällen) die zweithäufigste Todesursache bei jungen Menschen unter 25 (v.a. bei jungen Männern) Darüber reden kann Leben retten! aber: Tabuthema innerhalb der Gesellschaft Junge Menschen nahmen die klassischen Beratungsangebote kaum in Anspruch

21 Ausgangslage / Bedarfsanalyse für Konzeption Konzeption eines spezifischen, jugendgemäßen und niedrigschwelligen Angebotes mit besonderen Merkmalen: Kommunikation via Internet; Anonymität; gleichaltrige AnsprechpartnerInnen Vertrauensvorschuss für möglichen Aufbau einer verlässlichen und hilfreichen Beziehung

22 Ausgangslage / Bedarfsanalyse für Konzeption Arbeitskreis Leben e.v. (AKL) Reutlingen / Tübingen Hilfe in Lebenskrisen und bei Selbsttötungsgefahr Krisenberatungsstelle in Reutlingen und in Tübingen Seit mehr als 35 Jahren Erfahrung in der Begleitung von Menschen in (suizidalen) Krisen und Angehörigen nach Suizid (am Telefon, face-to-face, in Gruppenangeboten und bei Prävention) Enge Zusammenarbeit zwischen hauptamtlichen Fachkräften und ehrenamtlich tätigen, speziell geschulten KrisenbegleiterInnen Übertrag dieses Konzepts auf die Online Jugendberatung

23 Angebot / Konzeption Beratung (i.s. von Unterstützung, Begleitung, Information) für Jugendliche und junge Menschen (bis 21) in Lebenskrisen und bei Suizidgefährdung online (ausschließlich) anonym (geschütztes Beratungssystem) niedrigschwellig (unbürokratisch, kostenfrei, jederzeit erreichbar) von Peer zu Peer ( Jugendliche helfen Jugendlichen in Krisen )

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27 Peerkonzept Peer (engl.) = gleichgestellt, ebenbürtig, gleichaltrig Peerberater zwischen 15 und 25 Jahren Vorbereitung zur PeerberaterIn durch eine intensive Ausbildungsphase (70 Stunden) Beratungstätigkeit und Fallbesprechung immer unter professioneller Anleitung Ausbildung und Beratungstätigkeit ist als suizidpräventive Maßnahme für die Peerberater zu verstehen (Erhöhung der eigenen Lebens- und Problemlösekompetenzen) sowie Wirkungsweise als Multiplikatoren

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30 NutzerInnen / KlientInnen Junge Menschen bis 21 Etwa 2/3 der Ratsuchenden sind weiblich, etwa 1/3 männlich Erforderlich sind gewisse Lese- und Schreibkompetenz sowie Medienkompetenz Seit 2003 wurden über KlientInnen beraten und mehr als Mails verschickt Täglich nimmt mindestens 1 Person neu die Beratung in Anspruch Dauer der Kontakte reicht von Einmalkontakten bis mehrere Jahre

31 Themen der NutzerInnen Suizidalität oder Suizidgedanken Depressive Verstimmungen Essstörungen jeglicher Art Probleme mit Freunden, Eltern, Schule, Mobbing Selbstverletzendes Verhalten Psychische Erkrankungen (z.b. Borderline) Beziehungsprobleme aller Art Ängste Sexueller Missbrauch Gewalterfahrungen

32 Notwendige Standards Es wird ein leicht zugänglicher Raum im Netz für sehr intime und persönliche und teilweise lebenswichtige Themen geschaffen. Gerade deshalb ist es wichtig, den vertrauensvollen Raum nach eigenen, steuerbaren und (durch beide Seiten) gestaltbaren Möglichkeiten einzurichten.

33 Struktur des Angebots Unterstützung und Begleitung in schriftlicher Form Mails = Briefe in webbasiertem Accountsystem Nutzung des Angebots durch Erstellung und Eingabe von Nickname und Passwort geschütztes System, SSL-verschlüsselt, geschützter Server keine IP-Adressen-Speicherung, keine Rückverfolgung möglich hohe Stufe von Anonymität

34 Anonymität Anonymität ist der Zustand, wenn eine Person, eine Gruppe, eine Institution oder eine agierenden Struktur nicht identifiziert werden kann. Von der Bedeutung her zum Teil synonym zu anonym ist inkognito, sonst spricht man deutsch von unbekannt. (Quelle:

35 Anonymität im Internet Es müssen spezifische Vorkehrungen getroffen werden, um tatsächliche Anonymität bei der Nutzung des Internets und entsprechender Angebote zu gewährleisten.

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42 Komm -Struktur Struktur des Angebots die Klienten melden sich aus eigener Initiative YLL antwortet auf Erstanfragen innerhalb von 3 Tagen erste ausführliche Antwort vom YLL-Team: Darstellung des Angebots, der Rahmenbedingungen sowie Einladung in den Kontakt mit einem Berater wenn Klient sich wieder meldet, bekommt er einen eigenen Berater dieser antwortet dann in der Regel innerhalb von acht Tagen

43 Beziehungsangebot Struktur des Angebots Begrenztes, aber konkretes und einhaltbares Angebot Verlässlichkeit

44 KlientInnen-Anonymität: wie wirkt diese Anonymität?

45 KlientInnen-Anonymität Die Anonymität hilft mir sehr, denn ich könnte solche Dinge nicht sagen und dabei jemanden in die Augen sehen ich will keine beratung vor ort - wozu auch? auch weil wenn ich da sage dass ich mich umbringen werd und so dann sperren dich mich ein bestimmt und das will ich nich. is das wirklich ok für dich wenn ich das so schreib? mit dem umbringen... darf ich? weil wenn ich ehrlich bin: die gedanken die sind immer da... immer aber ich kann s keinem sagen muss immer meine maske tragen, tun als ob alles gut ist für die anderen

46 KlientInnen-Anonymität Ich möchte dieser anderen Internetberatung nicht schreiben Ich habe die Nutzungsbedingungen gelesen: "Hiermit weisen wir alle User ausdrücklich darauf hin, dass wir zu weitreichenden Schritten veranlasst sind, falls ein User in den Foren und/oder in der Einzelberatung definitive Selbsttötungsabsichten äußert. Dies schließt die Weiterleitung der Informationen über den Beratungsverlauf und aller relevanten Daten an die zuständige Polizei- Dienststelle ein, womit der User mit der Registrierung sein Einverständnis erklärt." Ich kann dem allen nicht zustimmen! Wenn ich Angst haben muss, dass die alles, was ich schreibe, an die Polizei weitersagen, dann schreib ich denen doch nicht. Nicht mal, wenn ich nicht direkt sage, dass ich mich umbringen will, ist das doch nicht sicher Nein! Das mache ich nicht.

47 Notwendigkeit der klaren Transparenz: Aufklären über Anonymität Chancen und Grenzen (besonders bei Suizidalität und Suizidgefährdung)

48 Notwendige Standards

52 Notwendige Standards Berücksichtigung weiterer medialer Rahmenfaktoren: Zeitversetztheit (Asynchronität) Nichtsteuerbarkeit des Klientenaufkommens

55 Fazit "Verlässliche und vertrauensvolle Unterstützung online trotz, oder gerade aufgrund von Anonymität?!"

56 Literatur zum Thema DÖRING, Gerd u.a.; DGS (Hg.) NaSpro (Hg.) (2009): Zwischen Selbstzerstörung und Lebensfreude. Hinweise für Suizidprävention bei jungen Menschen. Berlin KNATZ, Birgit/DODIER, Bernard (2003): Hilfe aus dem Netz. Theorie und Praxis der Beratung per . Stuttgart. SONNECK, Gernot (Hg.) (2000): Krisenintervention und Suizidverhütung. 5. Aufl., Wien. WEINHARDT, Marc (2009): -Beratung. Eine explorative Studie zu einer neuen Hilfeform in der sozialen Arbeit. Wiesbaden.