Sprache der Hoffnung (Predigt zu Jesaja 29, am 26. August 2012 in Wädenswil)

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1 Sprache der Hoffnung (Predigt zu Jesaja 29, am 26. August 2012 in Wädenswil) Kanzellesung Jesaja 29, 18 20: Und die taub sind, werden an jenem Tag die Worte des Buchs hören, und befreit von Dunkel und Finsternis werden die Augen der Blinden sehen. Und die Armen werden sich wieder freuen über den HERRN, und die Ärmsten der Menschen werden jubeln über den Heiligen Israels. Denn es ist aus mit dem Tyrannen, und der Schwätzer ist am Ende. Liebe Gemeinde Der Jude Eliezer Levi Samenhof wurde 1859 in Białystok, einer Stadt im heutigen Ostpolen geboren. Und er wuchs in einer, was die Sprache betrifft, merkwürdigen Situation auf: Sein Vater war Lehrer für Deutsch und Französisch, aber normalerweise sprach er die dort damals offizielle Amtssprache Russisch. Seine Mutter sprach Jiddisch, und in der jüdischen Synagoge erlernte er die biblische Sprache Hebräisch. Auf der Straße seiner Heimatstadt wurde aber meistens Polnisch oder Weißrussisch, manchmal auch Deutsch, Tartarisch oder Litauisch gesprochen. Es war eine große Sprachenvielfalt. Viele Leute in seiner Heimatstadt verstanden sich gegenseitig nicht deshalb gab es nicht selten Abgrenzung, Vorurteile und Feindseligkeiten. Schon als Schüler hatte Samenhof, der sich später Ludwik Zamenhof nannte, die Idee: Es müsste eine einfache Sprache geben, die alle Menschen lernen und sich so besser gegenseitig verstehen können. In Warschau, wo er eine Ausbildung zum Augenarzt machte, gab er mit 28 Jahren ein Lehrbuch für seine selbsterfundene Sprache heraus. Sie sollte leicht erlernbar und neutral sein, die anderen Muttersprachen nicht verdrängen und überhaupt zur Völkerverständigung und gegen die Vorherrschaft einer einzelnen Landessprache nützlich sein. Weil er als Jude immer mit Anfeindungen rechnen musste, gab er das Buch unter einem Fantasienamen, einem Pseudonym, heraus. Er nannte sich Doktor Esperanto, zu deutsch: ein Hoffender. Die Sprache, die fortan Esperanto genannt wurde, verbreitete sich bis zu seinem Tod 1917 rasend schnell um die ganze Welt. Rückschläge gab es durch die beiden Weltkriege. Unter den Nazis war Esperanto

2 2 verboten. Und auch unter Stalin wurden die Freunde des Esperanto diskriminiert und zum Teil umgebracht. Als die Nazis in den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts den Völkermord an den europäischen Juden begingen, kamen auch die meisten Kinder und Enkel von Ludwik Zamenhof ums Leben. Seine Sprache der Hoffnung ist zwar keine Weltsprache geworden. Aber sie lebt und wird von über zwei Millionen Menschen in über 100 Ländern gesprochen, die versuchen, sich für Völkerverständigung und Frieden einzusetzen. Ich erzähle diese Geschichte nicht nur, weil wir in unseren Sommerferien auf die Spuren Zamenhofs, seiner untergegangenen jüdischen Kultur und seiner Familie gestoßen sind, sondern weil auch in unserem Predigttext eine gemeinsame Hoffnung von Juden und Christen aufscheint, die mit der Heilung unserer Sprache, des Aufeinander-Hörens und des Miteinander-Sprechens verbunden ist: Und die taub sind, werden an jenem Tag die Worte des Buchs hören, sagt der Prophet Jesaja. Damit ist eine Hoffnung auf die kommende Welt Gottes ausgesprochen. Eine Hoffnung, die Jahrhunderte später Jesus unterstrich und bestärkte, als er den Taubstummen und manche andere heilte. Und es geht dabei um mehr als nur um die Wiedergewinnung des Hörvermögens. Das ist wohl wichtig, und ich will nicht kleinreden, wie wertvoll ein gutes Gehör ist oder auch ein gutes Hörgerät. Es geht aber auch darum, dass Menschen nicht nur überhaupt irgendetwas, sondern das wirklich Wichtige hören, dass sie wie Jesaja betont die Worte des Buchs hören. Damals wie heute bedeutet dies, dass Menschen wieder auf die Heiligen Schriften hören, die Bibel, auf das, was Gott durch sie zu uns sagt. So, wie es in dem Lied heißt, das wir eben gesungen haben (Gesangbuch Nr.1, Strophe 6) : Ihr Tauben, hört ihn, Stumme singt, Ihr seid zum Lob befreit. Und entsprechend geht es bei der Heilung von Blindheit nicht nur um die sicher wertvolle Wiedergewinnung des optischen Sehvermögens, sondern sehr umfassend, dass die Augen der Blinden befreit werden von Dunkel und Finsternis. So wie es auch im Lied weiter heißt Seht, Blinde, (nicht irgendetwas, sondern) den, der Heil euch bringt.

3 3 Im Licht dieser Hoffnung wird deutlich, dass Taubheit und Blindheit nicht nur eine Sache von Einschränkung körperlicher Sinnesorgane ist, sondern ein umfassendes Problem, das schon Jesaja gesehen hat: Menschen sind taub für das, was wichtig ist, für Gott und für ihre Mitmenschen. Sie hören oft nur das, was sie gern hören möchten und was in ihren Ohren angenehm klingt. Sie sind blind für Bedürfnisse anderer und für die Nöte dieser Welt. Von solcher Taubheit und Blindheit geheilt zu werden, das ist es, was diese unsere Welt dringend braucht noch dringender, meine ich, als die Heilung von körperlichen Einschränkungen; noch dringender als von Unkenntnis anderer Sprachen. Wie aber wird solche Heilung möglich? Ich möchte folgende drei Möglichkeiten nennen: (1) Wenn wir den direkten Kontakt suchen mit Menschen und mit Gott (2) Wenn wir das Bedürfen des anderen spüren und sein Leid mittragen (3) Wenn wir Tyrannei und Schwätzerei überwinden (1) Heilung wird möglich, wenn wir den direkten Kontakt suchen mit Menschen und mit Gott. Ludwik Zamenhof hat aus der persönlichen Erfahrung gewusst, wie folgenschwer es sein kann, wenn Menschen sich gegenseitig nicht verstehen, weil sie nicht die gleiche Sprache sprechen und einander aus dem Weg gehen. Man redet nicht miteinander, sondern allenfalls übereinander. Dort wo dies geschieht, wachsen Missverständnisse, Vorurteile und Feindseligkeiten. Allerdings ist das nicht nur ein Problem der Sprachunterschiede. Wir alle neigen dazu, mehr mit solchen Menschen zu reden, von denen wir wissen, dass sie uns gut verstehen. Den Kontakt zu Personen mit anderer Sprache, anderer Kultur, anderer Überzeugung oder auch anderem sozialen Status meiden wir lieber. Doch gerade solcher direkter Kontakt ist notwendig. Jesus hatte keine Berührungsängste er begegnete Armen und Reichen gleichermaßen, er begab sich in die Gesellschaft der frommen Pharisäer genauso wie in die der verachteten Prostituierten, er suchte den Kontakt zu Einheimischen wie zu Ausländern, zu Zöllnern, Aussätzigen, Behinderten, ja sogar zu denen die als von Dämonen besessen galten. Es war allein schon die Begegnung, dieser Kontakt über Grenzen hinweg, der heilsam wirkte. Dieser notwendige direkte Kontakt bezieht sich aber auch auf Gott. Man kann mit bestimmten Leuten sehr interessante Gespräche über Gott und die Welt führen. Heilsam ist es aber, wenn ich nicht nur über, sondern mit Gott rede. Das heißt: Beten auf Gott

4 4 hören, ihn ansprechen ihm das Herz ausschütten, ihm danken und demütig werden vor ihm. (2) Heilung wird möglich, wenn wir das Bedürfen des anderen spüren und sein Leid mittragen. Man könnte auch sagen: seinen Nächsten lieben, aber das ist noch zu allgemein. Dazu gibt es eine Geschichte, die uns aus dem osteuropäischen Judentum überliefert ist: Rabbi Mosche Löb erzählte:»wie man die Menschen lieben soll, habe ich von einem Bauern gelernt. Der saß mit anderen Bauern in einer Schenke und trank. Lange schwieg er wie die anderen alle. Als aber sein Herz von Wein bewegt war, sprach er seinen Nachbarn an: 'Sag du, liebst du mich oder liebst du mich nicht?' Jener antwortete: 'Ich liebe dich sehr.' Er aber sprach wieder: 'Du sagst: ich liebe dich, und weißt doch nicht, was mir fehlt. Liebtest du mich in Wahrheit, du würdest es wissen.' Der andere vermochte kein Wort zu erwidern, und auch der Bauer, der gefragt hatte, schwieg wie vorher. Ich aber verstand: das ist die Liebe zu den Menschen, ihr Bedürfen zu spüren und ihr Leid zu tragen.«auch die Liebe bezieht sich nicht nur auf unsere Mitmenschen, sondern auf Gott. Es geht dabei nicht nur darum, einen Gott zu lieben, wie wir ihn uns gern vorstellen vielleicht besonders groß und allmächtig, als Helfer und Heiler. Gott ist für uns immer Gott in Jesus Christus. In ihm zeigt sich Gott als der, der das Leid der Menschen auf sich genommen hat, der das Kreuz getragen und den Tod durchlitten hat. Gott ist ein gott, der mitleidet. Ihn lieben heißt zuerst diesen Jesus zu lieben, der auf Macht verzichtet, der Menschen enttäuscht, der große Angst und großes Leid getragen und für uns gestorben ist. Gott lieben, heißt, das Leiden Christi an dieser Welt zu spüren und mitzutragen. (3) Heilung wird möglich, wenn wir Tyrannei und Schwätzerei überwinden. Jesaja nennt für den Jubel der Armen und die Heilung der Tauben und Blinden einen Grund: Denn es ist aus mit dem Tyrannen, und der Schwätzer ist am Ende und ausgerottet werden alle, die auf Unheil aus sind. Das tönt aggressiv, hat fast den Geruch nach gewaltsamen Aufstand. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, müssen wir uns klar machen, dass diese

5 5 Formulierungen im Passiv formuliert sind nicht dass wir das vorantreiben sollen; es wird geschehen, weil Tyrannei, Schwätzerei und Unheil nicht zukunftsfähig sind. Und wir alle haben etwas vom Tyrannen und vom Schwätzer in uns, das überwunden werden muss. Heilung wird möglich, wenn wir Gott bitten, dass er zuerst uns von solchen Eigenschaften oder Fantasien befreit. Tyrannen, das sind Machthaber, die sich nicht an irgendwelche Regeln halten, sondern ihre Macht willkürlich und unberechenbar ausüben. In einem demokratischen Rechtsstaat ist die Macht einer einzelnen Person beschränkt. Und niemand von uns sollte sich wünschen, dass es anders wäre. Auch Gott ist kein Tyrann. Und ein christlicher Tyrann wäre keinen Deut besser als ein nichtchristlicher. Es ist dabei nicht von ungefähr, dass im selben Atemzug mit den Tyrannen die Schwätzer genannt werden. Schwätzer gibt es nicht nur in der Politik so, sondern zum Beispiel auch in der Kirche. Ja, auch von Kanzeln gibt es nicht selten frommes Geschwätz. Was ist Geschwätz? Dazu gehört gezielte Lüge, Manipulation oder auch abfälliges, zynisches Reden. Aber Geschwätz fängt schon früher an. Es gibt dazu einen recht heftigen Pfarrerwitz, der meinem Stand keine Ehre macht, den ich aber wohl am dieser Stelle erzählen muss: Ein Gleitschirmflieger hat sich bei der Landung in unbekannter Gegend in einem Baum verfangen. Wie er da so hilflos in der Baumkrone hängt und nicht einmal weiß, wo er mit seinem Handy den Rettungsdienst hinbeordern soll, kommt unten ein Mann vorbeigelaufen. Der Verunfallte ruft hinunter: Hallo, können Sie mir sagen, wo ich hier bin? Sie haben sich in der Krone eines Spitzahorns verfangen. lautet die Antwort. Der Verunfallte ruft hinunter: Sind sie etwa Pfarrer? Ja, woher wissen sie das? fragt der unten zurück. Nun, was sie sagen ist richtig, aber es hilft nicht. Liebe Gemeinde, Jesaja hat im Namen Gottes Worte der Hoffnung ausgesprochen. Ich vertraue darauf, dass sie kein Geschwätz sind, das nicht hilft; sondern dass sie sich einst ganz erfüllen werden. Mehr noch, dass sie sich heute schon erfüllen können als Zeichen für das kommende Reich Gottes. Ludwik Zamenhof hat als gläubiger Jude diese Hoffnung geteilt. Seine Sprache der Hoffnung, das Esperanto, hat sich erhalten und lebt, auch wenn seine Familie den Tyrannen zum Opfer fiel. Und vielleicht spüren wir alle,

6 6 dass die Worte Jesajas jetzt schon eine heilsame Wirkung bei uns entfalten, dass wir neu hören und sehen, worauf es ankommt: (1) dass wir den direkten Kontakt mit Menschen und mit Gott suchen (2) dass wir das Bedürfen des anderen spüren und sein Leid mittragen (3) dass wir Tyrannei und Schwätzerei überwinden zuerst bei uns selbst, in unseren Familien und unserem sonstigen Umfeld. Gott ist kein Tyrann und kein Schwätzer. Er steht für sein Wort ein. Er hat seinem Wort mit Jesus Christus, seinem Kreuz und seiner Auferstehung, ein Gewicht verliehen, das die ganze Welt trägt, und auch jeden und jede von uns durch ein ganzes Leben. Amen. Fürbitten Für alle, die sich durch körperliche Einschränkungen nur schwer mit anderen verständigen können dass sie Hilfe erfahren Für alle, die nur mit ihresgleichen Kontakt suchen dass ihr Horizont erweiter und ihr Herz offen wird für Mencshen und Gott Für die Welt, unser Land, unserer Kirchen und Gemeinden dass Tyrannei und Geschwätz aufhören und Liebe und Wahrhaftigkeit wachsen Für die Völker im Nahen Osten, die sich oft auch mir ihrer Kultur und Religion voeinander abgrenzen dass Versöhnung möglich wird Für uns, dass wir das Befürfen unserer Mitmenschen spüren und ihr Leid mittragen Unser Vater im Himmel