Am 6. Juni 1944 landeten alliierte Truppen in der Normandie und die deutsche. Es sind Einladungen, die man nicht

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3 Das deutsche Nachrichten-Magazin FOTOS: DER SPIEGEL (O.); DILIP KALIYA / DER SPIEGEL (U.) Hausmitteilung Betr.: Spionage, China, Hirsebrot Am 6. Juni 1944 landeten alliierte Truppen in der Normandie und die deutsche Wehrmacht war unvorbereitet. Denn die Heeresführung war getäuscht worden und erwartete die Invasion eher bei Calais, 250 Kilometer östlich. Ein deutscher Spion hatte den tatsächlichen Invasionsplan, annähernd korrekt, zwar verraten die Information, die womöglich das Ende des Krieges hätte hinauszögern können, wurde jedoch ignoriert. Der Agent trug den Decknamen Ostro ; tatsächlich hieß er Paul Fidrmuc, und nach dem Zweiten Weltkrieg sollte er als Journalist Karriere machen unter anderem beim SPIEGEL. Redakteur Thomas Hüetlin und Hauke Janssen, Leiter der Dokumentations abteilung, fanden heraus, dass Fidrmuc, der beinahe zehn Jahre als Spanien- Korrespondent für den SPIEGEL tätig gewesen war, vor allem als Nachrichtenbeschaffer, offenbar gute Kontakte zu Francos Geheimdienst unterhalten hatte. Die beiden für Fidrmuc zuständigen Ressortleiter waren ehemalige SS-Offiziere und so ist dies auch ein Stück Aufarbeitung der SPIEGEL-Geschichte. Seite 120 Es sind Einladungen, die man nicht ablehnen kann: Mitte Mai wurde Peking-Korrespondent Bernhard Zand per Vorladung in die Zentrale der Ausländerpolizei gebeten, einen einschüchternden Gebäudekomplex in der Innenstadt Pekings. Dort belehrte man ihn über die strengen Bestimmungen, die für ausländische Journalisten Zand, Polizist in Xinjiang gelten: Zand war zuvor durch den Westen des Landes gereist, in die Region Xinjiang, wo die muslimischen Uiguren sich seit Jahren unterdrückt fühlen und wo islamistische Attentäter den Staat herausfordern, wie Zand schreibt. Dies geschieht zu einem Zeitpunkt, an dem die Staatsmacht nervös ist wie seit Langem nicht mehr: Vor 25 Jahren ließ Peking die Demonstration auf dem Platz des Himmlischen Friedens niederschlagen. Für den chinesischen Dichter und Friedenspreisträger Liao Yiwu, den Zand ebenfalls für diese Ausgabe interviewt hat, wurde der Aufstand zwar niedergeknüppelt, geht aber weiter: Das heutige China ist ein Dämon, eine Gefahr für die ganze Welt. Seiten 96, 130 Als SPIEGEL-Redakteur Philip Bethge nach Vadgaon Kashimbe kam, ein Dorf im Westen Indiens, dreieinhalb Autostunden von Mumbai, erwartete ihn ein besonderes Erlebnis: Meena, eine junge Bäuerin, backte für den Gast Bhakri, das traditionelle Fladenbrot aus Hirse. Dieses Brot war auch der Anlass für Bethges Reise und Recherche jedenfalls die Inhaltsstoffe dieser Hirse: Denn die Neuzüchtung enthält be - sonders viel Eisen und Zink. Er - nährungsexperten hoffen, dass durch die neuen Getreidesorten die Mangelernährung gelindert werden kann. Von den Backkünsten Meenas und vom Geschmack des Hirsebrots war Bethge Bethge in Indien angetan: Lecker, auch wegen der Chiliwürze. Seite 102 Die nächste SPIEGEL-Ausgabe wird wegen der Pfingstfeiertage bereits am Samstag, dem 7. Juni, verkauft und den Abonnenten zugestellt. Die digitale Ausgabe ist am Samstag ab 8 Uhr verfügbar. DER SPIEGEL 23 /

4 Das Sofa-Ritual Titel Einst als Opa-Fernsehen verschrien, ist der Tatort heute allgegenwärtiger Gesprächsgegenstand in U-Bahn und Büro. Er wird zum Open-Air-Event und läuft im Kino die Handlung aber hat wenig mit dem tatsäch - lichen Leben und der Kriminalstatistik gemein. Wofür bloß braucht der Bundesbürger die Krimireihe? Seite 58 Europäer wählen, Merkel bestimmt Europa Nach der Wahl tobt zwischen EU-Parlament und den Regierungschefs ein wohl beispielloser Machtkampf. Die Kanzlerin hat eine schnelle Entscheidung über den nächsten Kommissionschef blockiert, der Wählerwille ist zweitrangig für sie. Auf der Strecke bleiben könnte der Wahlsieger: Merkels Parteifreund Jean-Claude Juncker. Seite 18 Kaukasische Söldner Ukraine Auf die Präsidentschaftswahl folgen die bisher schwersten Kämpfe: Kiew versucht, die abtrünnigen Gebiete um die Stadt Donezk im Osten mit Luftangriffen und Artillerie zurückzuerobern. Die prorus - sischen Separatisten erhalten im Gegenzug Unterstützung von Milizen aus Russland und Tschetschenien. Seite 88 Gärtner des Gedenkens 11. September Am Ground Zero gibt es nach langem Streit eine Plaza mit Mahnmal für die Opfer der Attentate von Jeder Baum dort erzählt vom schwierigen Umgang der Stadt mit dem Gestern. Hinterbliebene protestieren, Architekten kämpfen um ihre Pläne, alles ist mit Symbolik aufgeladen. Aber wie lange kann eine Stadt wie New York trauern? Seite 50 FOTOS: STEFFEN JUNGHANS / MDR (O.); OLIVIER HOSLET / DPA (M.L.); GETTY IMAGES (M.R.); MAXIM DONDYUK / DER SPIEGEL (U.L.) 4 Titelbild: Illustration: Jean-Pierre Kunkel für den SPIEGEL

5 In diesem Heft FOTOS: ERIC GARAULT / PASCOANDCO / DER SPIEGEL (O.); SIMONE DONATI / AGENTUR FOCUS (M.); EVENTPRESS MP (R.) Titel 58 Die Tatort -Republik Warum ausgerechnet eine Krimireihe Millionen Deutsche vor dem Fernseher vereint Deutschland 10 Leitartikel Großbritannien muss sein Verhältnis zur EU klären 13 Streit mit den USA um Putin / Nato verstärkt Präsenz in Polen / Milliarden- Risiko bei Kauf von Hubschraubern / Kolumne: Der schwarze Kanal 18 Europa Parlament und Regierungschefs liefern sich eine Machtprobe 24 Demokratie Warum die Europawahl anfechtbar ist 26 CSU Im SPIEGEL-Gespräch rechnet Ex-Parteichef Erwin Huber mit Horst Seehofer ab 30 Parteien Konservative in der CDU fordern eine Zusammenarbeit mit der AfD 32 Karrieren Katja Kipping hat sich zur mächtigsten Frau der Linken hochgearbeitet 34 NSA Der Generalbundesanwalt will in der Affäre um Merkels Handy Ermittlungen einleiten 38 Integration Demografie - experte Reiner Klingholz schwärmt von der neuen Einwanderer-Generation 39 Ernährung Eine Studie bemängelt die Essensqualität in Kitas 40 Korruption Wie ein Dresdner Unternehmer beim Berliner Großflughafen abkassieren wollte 42 Kriminalität Mit 1,6 Kilogramm Kokain erwischt der Fall des Chefs vom Kemptener Rauschgiftdezernat weitet sich aus 44 Prozesse Der 15-jährige Sohn eines Taiwaners wird Opfer einer Gewaltattacke aus rassistischen Motiven? 46 Verkehr Ist eine niedrigere Promillegrenze für Radfahrer sinnvoll? 47 Bildung In NRW kämpft eine Elterninitiative für den Erhalt der Förderschulen Gesellschaft 48 Sechserpack: Berlin bleibt doch Berlin / Wie macht man Politik für Tiere? 49 Eine Meldung und ihre Geschichte Egal was der Brite Matthew Hogg auch isst er wird davon betrunken September Die Bäume des Ground Zero erzählen, wie schwer sich New York mit der Vergangenheit tut 55 Ortstermin Eine Stuttgarterin kämpft vor Gericht darum, Stadttauben füttern zu dürfen Medien 57 Google will transparent löschen / ProSieben setzt auf analoge Abenteuer Wirtschaft 68 Gröhe plant Krankenhaus-Vergleich / Gaskunden bekommen Rückerstattung / HRE-Chefin kritisiert die Bundesregierung 70 Automatisierung Roboter dringen immer weiter in den Alltag ein zum Nutzen aller 73 Soziale Gerechtigkeit Der Wirtschaftsweise Bofinger wirft Kapitalismuskritiker Piketty schwere Fehler vor 74 Geldpolitik Wie die EZB gegen die niedrige Inflation und den hohen Euro-Kurs kämpfen will 76 Umwelt Ökopionier Schmidt-Bleek zerstört scheinbare Gewissheiten 77 Fußball Wirtschafts - forscher prognostizieren die Teilnehmer des WM-Finales und Deutschland ist dabei Ausland 80 Kalifornien plant Waffenverbot für psychisch Kranke / Die brutale Ver - gewaltigung und Ermordung zweier indischer Mädchen 82 Frankreich SPIEGEL- Gespräch mit Wahlsiegerin Marine Le Pen über ihren Kampf gegen die EU 86 Essay Assad ist für Syrien nicht das kleinere Übel 88 Ukraine Die Schlacht um die Stadt Donezk 92 Albanien Warum die Tradition der Blutrache das Leben eines 14-Jährigen bedroht 96 China Die Terrorgefahr aus dem Westen des Landes 99 Global Village Wegen der Fußball-WM verschwinden die brasilianischen Liebesmotels Wissenschaft 100 Wolken als Lebensraum / Todesfalle Pellet-Heizung / Langweilige Raumstation 102 Landwirtschaft Durch Züchtung neuer Pflanzen - sorten wollen Agrarforscher die weltweite Mangel ernährung stoppen 106 Medizin Sollten auch Gesunde blutfettsenkende Mittel schlucken? 107 Psychologie Forscher versuchen, Filme der Stimmung der Zuschauer anzupassen 108 Evolution Leben wie von einem anderen Planeten die Enträtselung der zauberhaften Rippenquallen Sport 110 Polit-Tourismus im WM- Land Brasilien / Buch über Frauen in der Formel Deutsche Mannschaft Wie die Spieler auf die Strapazen beim Turnier in Brasilien vorbereitet werden 114 Marketing Hauptsponsor Mercedes-Benz vereinnahmt die Nationalmannschaft 116 Favoriten SPIEGEL- Gespräch mit Italiens Trainer Cesare Prandelli über die Rolle seines Teams als Schrecken der deutschen Fußballer Kultur 118 New Yorks Whitney Museum feiert Jeff Koons / Kanzlerin Merkel und ihr Vorbild Zarin Katharina II. / Kolumne: Mein Leben als Frau 120 Zeitgeschichte Als Spion der Abwehr meldete Paul Fidrmuc 1944 den wahren Ort der Invasion nach dem Krieg landete er beim SPIEGEL 130 Diktaturen Der chinesische Dichter Liao Yiwu über das Erbe des Tiananmen- Aufstands 132 Theater Die Schau - spielerin Bibiana Beglau glänzt auch in Männerrollen 134 Europa Nach der Wahl diagnostiziert der Hamburger Psychoanalytiker Karl-Josef Pazzini im SPIEGEL-Gespräch eine kontinentale Depression 137 Filmkritik Richard Link laters Boyhood, gedreht über zwölf Jahre hinweg, erzählt das Erwachsenwerden eines Jungen 6 Briefe 128 Bestseller 138 Impressum, Leserservice 139 Nachrufe 140 Personalien 142 Hohlspiegel / Rückspiegel Wegweiser für Informanten: Marine Le Pen, französische Rechtspopulistin, ist die große Siegerin der Europawahl. Im SPIEGEL- Gespräch warnt sie Angela Merkel wegen deren Spar poli - tik: Deutschland wird sich verhasst machen. Seite 82 Cesare Prandelli, Italiens Fußball-National - coach, ist jetzt der Hoffnungsträger der Nation. Dabei pflegt er eine ungewöhnliche Distanz zu seinem Beruf: Fußball ist nicht mein Leben. Seite 116 Bibiana Beglau, Extremschauspielerin des deutschen Theaters, gibt nun in München den be rühm - testen Teufel der Dramen - literatur: Mephisto in Goethes Faust für sie ist es ein Höllenjob. Seite 132 Farbige Seitenzahlen markieren die Themen von der Titelseite. DER SPIEGEL 23/

6 Briefe Auch für meinen Vater war der D-Day einer der längsten Tage seines Lebens. Es sind nicht mehr viele, die noch Zeitzeugen sind. Vielleicht hätten wir ihnen früher zuhören sollen. Tun wir es jetzt: daheim oder im Heim. Da treffen wir sie. Martina Lenzen, München Tausende junge Leute verheizt Nr. 22/2014 Amerikas letzter Sieg D-Day 6. Juni 1944, Normandie In Ihrer Darstellung des Luftkriegs ver - misse ich die Stichwörter Guernica, Warschau und Rotterdam. Der Luftkrieg, der die Kriegsführung revolutioniert, begann nicht, wie behauptet, erst im Mai 1940 aufseiten der Alliierten. Die zweifelhafte Ehre kommt der Luftwaffe zu. Dr. Alfred Troesch, Zollikon (Schweiz) Gehörte nicht in die Geschichte hinein, wie schwer es ist, die Verluste zu ermitteln, die die Amerikaner bei der Landung am Omaha-Beach hatten? Dass dort überwiegend unerfahrene Rekruten eingesetzt waren, dass hier Tausende 19-Jährige verheizt wurden, ihre Unerfahrenheit geradezu schamlos genutzt wurde? Hans Alberts, Bremen Der Krieg wäre ein Jahr früher zu beenden gewesen, wenn die gewaltige Luftwaffe der Alliierten das deutsche Eisenbahntransportwesen zerstört hätte, anstatt die Zivilbevölkerung zu töten. Bomber Harris hätte kein Denkmal verdient. Dr. Hellmuth Hahn, Wedemark (Nieders.) Die Entsetzen und Ehrfucht -Leitlinie wurde auf die Spitze getrieben, als die Amerikaner die Kapitulation Japans mit zwei Atombomben erreichten, ganz ohne Einsatz von Bodentruppen auf dem japanischen Kernland. Wolfgang Maucksch, Herrieden (Bayern) 6 DER SPIEGEL 23 / 2014 Die Nazis prägten nach dem Fall Frankreichs und den erfolglosen Bemühungen, den Luftkrieg gegen Großbritannien zu gewinnen, 1940 den Begriff Coventrieren. Damit war die in einer einzigen Nacht durchgeführte Zerstörung der Stadt Coventry mit Bombenangriffen aus der Luft gemeint. Vorher hatte Nazi-Deutschland Rotterdam, Warschau und Belgrad sowie viele andere Städte mit Luftangriffen zerstört und die vielen Länder erobert. Dann jedoch über alliierte Luftbombardements deutscher Städte wehleidig zu jammern und vom Terror aus der Luft zu reden entspricht der Nazi-Ideologie. Auch Werner Kleeman, ein Jude aus Deutschland, kämpfte nicht für die USA gegen seine Heimat. Er kämpfte vielmehr, so wie die anderen alliierten Soldaten, für die Befreiung Deutschlands von der Nazi- Herrschaft und ermöglichte so die Entwicklung von Nachkriegsdeutschland zu einer neuen Gesellschaft, die zu Recht nun ihren Platz in den Reihen der Demokratien einnimmt. Hugo Brainin, Wien In Ihrer Analyse zur Fähigkeit der US-Armee, militärische Siege zu erringen, unterlassen Sie es, einige wesentliche Faktoren zu nennen. Die erfolgreiche Operation Desert Storm wird nicht erwähnt. Ferner sind die ohne klare Erfolge geführten Konflikte im Irak und in Afghanistan wohl auch durch beschränkt fähige Politiker und Besserwisser zu erklären, die ihre Armee missbraucht haben. Andreas Bartels, München Nicht einmal am D-Day hätten die USA gesiegt, wenn nicht zig deutsche Divisionen im erbitterten Kampf mit der Roten Armee an der Ostfront verblutet wären. Eine Landung wäre dann unmöglich gewesen. Aber selbst die Landung in der Normandie hatte nur eine sekundäre Bedeutung für den Kriegsverlauf, denn der Zweite Weltkrieg wurde im Wesentlichen an der Ostfront gewonnen und verloren. Karl Romstedt, Blankenfelde-Mahlow (Brandenb.) Sie hätten noch erwähnen sollen, dass zwei Jahre vor dem D-Day ein kläglicher Versuch, in Dieppe anzulanden, fürchterlich in die Hose ging. Wilfried Städing, Berlin Dreister geht s nimmer Nr. 20/2014 Energiekonzerne wollen das Kostenrisiko für den Atomausstieg auf den Staat abwälzen; Nr. 21/2014 Die wachsenden Risiken des Atomausstiegs Eine Haftungsentlassung der Verursacher wäre ein Skandal. Zum Wesen der freien Marktwirtschaft gehört es, neben den Gewinnen auch die Risiken zu tragen. Wer das nicht kann, wird eben insolvent und gegebenenfalls übernommen. Wenn dies der Staat täte, wären wenigstens Verluste und Gewinne in einer Hand. Manfred Karmann, Heusweiler (Saarl.) Es zieht die Morgendämmerung über unendlichen Ewigkeitskosten auf. 20 oder 30 Milliarden Euro an Rückstellungen für die Entsorgung des Atommülls sind ein lächerlicher Betrag. Man muss kein Experte sein, um zu ahnen, wie viele Billionen es nach Jahren sein werden. Aber dafür hatten wir ja 50 Jahre lang billigen Atomstrom. Günter Braselmann, Ennepetal (NRW) Die Energiekonzerne haben aus reinem Profitinteresse mithilfe naiver Politiker das gigantischste Umweltverbrechen aller Zeiten begangen: die Produktion von Atommüll ohne jegliches Entsorgungskonzept. Dass die kommenden 8000 Generationen die Kosten mit den heute vorhandenen Rückstellungen aufbringen könnten, erscheint absurd. Die günstigste Lösung: Ab sofort gehen sämtliche Rückstellungen und Gewinne der Konzerne in eine Stiftung. Percy MacLean, Berlin Jahrelang flossen Finanzhilfen in Milliardenhöhe für Atomkraftwerke. Für den Abriss wurden Rückstellungen der Versorger gesetzlich festgelegt, und Kernkraftwerksbetreiber scheffelten enorme Gewinne. Nun soll der Steuerzahler für das teure Ende haften, und Energiekonzerne drohen mit Pleite. Dreister geht s nimmer. Karl Weis, Holzgerlingen (Bad.-Württ.) Dass der kapitalismuskritische Spruch Die Gewinne werden privatisiert, die Verluste aber sozialisiert eine derart aberwitzige Bestätigung erfahren würde, hätten wohl selbst die größten Pessimisten nicht er - wartet! Es darf nicht unerwähnt bleiben, dass neben dem sicherheitstechnischen und wirtschaftlichen Offenbarungseid ein versicherungstechnischer Offenbarungseid vorliegt noch nie konnte weltweit ein Kernkraftwerk versichert werden! Deshalb kann der Vorstoß der drei großen Energieversorger unmissverständlich als ein unmoralisches Angebot angesehen werden. Horst Mahl, Wedel (Schl.-Holst.) Der einzige Weg, den Schaden für die Steuerzahler zu minimieren, ist die Enteignung der großen Energiekonzerne. Dann können die Rückbaukosten von den Rückstellungen sowie aus den Gewinnen des Stromverkaufs finanziert werden. Und die Hauptbremser der Energiewende wären wieder in staatlicher Hand! Wolfgang Ehle, Kassel Bis der Rückbau der AKW richtig Fahrt aufnimmt und dann die vorhandenen Milliarden aus den Rückstellungen aufgebraucht sind, haben wir mindestens das Jahr Wer kann denn ernsthaft noch daran glauben, dass es dann noch Unternehmen gibt, die über die zweckgebundenen Rückstellungen hinaus tatsächlich haften? Sie bringen es auf den Punkt: Der AKW-Rückbau ist too big to fail. Jens Büscher, Bad Arolsen (Hessen)

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8 Briefe MONTAG, 2. 6., UHR SAT.1 SPIEGEL TV REPORTAGE Cariocas Überleben in Rio Die Einheimischen glauben: Gott ist Brasilianer und wohnt in Rio. Im Jahr 1502 landeten hier die portugiesischen Eroberer. Die Tanzende Cariocas Indianer nannten die erste kleine Siedlung der Europäer Carioca, das Haus des weißen Mannes. Seither leben die Cariocas in Rio de Janeiro, inzwischen sind es mehr als sechs Millionen. In einer Stadt von kaum fassbarer Schönheit und sozialer Ungerechtigkeit, in der viele jeden Tag aufs Neue um ihre Existenz kämpfen. SONNTAG, 8. 6., UHR SKY SPIEGEL TV GESCHICHTE Der Kennedy-Clan Bericht einer Familie Die Kennedys gelten als eine Art Ersatzkönigsfamilie der USA. Doch was macht ihre Faszination aus? Warum bildete sich ein solcher Mythos um JFK und seine Familie? Jean Kennedy Smith ist die letzte Überlebende von acht Geschwistern. Im Interview spricht die 86-Jährige über ihre Kindheit, das Verhältnis zu ihren Geschwistern, auch über ihren Bruder, den einst mächtigsten Mann der Welt. Außerdem berichten Kathleen Kennedy Townsend, Tochter von Bobby Kennedy, sowie ihre Brüder Robert F. Kennedy jr. und Max Ken nedy über das Leben als Spröss - linge des berühmten Clans im Schatten der Macht. SONNTAG, RTL SPIEGEL TV MAGAZIN Die Sendung entfällt aufgrund des Pfingst-Sonderprogramms. Beschämend! Nr. 21/2014 SPIEGEL-Reporter über die große Flucht aus Syrien Gut, dass wenigstens der SPIEGEL das wieder thematisiert. Wann endlich reagiert die deutsche Politik angemessen? Wollen wir weiter Ländern wie Jordanien, dem Libanon, der Türkei und dem Irak die Versorgung von Millionen Flüchtlingen überlassen? Und uns auf die Schulter klopfen angesichts unserer Großzügigkeit, Flüchtlinge aufzunehmen, von denen gerade mal die Hälfte einreisen konnte dank deutschtypischer Bürokratie. Beschämend! Benedikta Enste, Köln Die eindrücklichen Reportagen lassen eine Analyse der Fluchtgründe vermissen. Für Sie ist die Ursache klar: der Krieg des Assad-Regimes gegen das eigene Volk. Aber es gibt wohl sehr verschiedene Gründe. Gerhard Günther, Tübingen Ein großes Lob für diesen Artikel, der allen Seiten Raum gibt. Nathalie Repening, Schenefeld (Schl.-Holst.) Name verwechselt Nr. 21/2014 Leserbrief Zu Boden geworfen In seinem Leserbrief schreibt der Bremer AfD-Landessprecher Christian Schäfer, ein Herr Baeck habe sich auf einer Wahlkampfveranstaltung zu Boden geworfen und laut nach der Polizei gerufen. Dazu möchte ich feststellen, dass ich an den Geschehnissen nicht beteiligt war. Jean-Philipp Baeck, Redakteur, taz Bremen AfD-Sprecher Schäfer bedauert die Namensverwechslung. Red. Verständnis erwartet Nr. 21/2014 Der Vorsitzende des Deutsch-Russischen Forums, Matthias Platzeck, bezweifelt den Sinn von Sanktionen gegen Russland Platzeck bringt die Probleme auf den Punkt. Europa ist ohne Russland undenkbar, auch wenn das amerikanische und polnische Regierungen anders sehen. Dr. Klaus Lange, Turnow (Brandenb.) Gerade wenn es nicht gut läuft, muss man versuchen, miteinander zu reden, sagt Platzeck und hat meine volle Zustimmung. Dr. Wilfried Otterstedt, Bremen Platzeck ist russophil, nicht jeder Potsdamer wird ihm darin folgen, aber dagegen ist nichts einzuwenden. Man darf die Russen nur nicht mit zu viel Demokratie überfordern. Putin hat die Selbstverwaltung in der Föderation eingeschränkt und setzt Gouverneure lieber selbst ein. Wer die Klappe zu weit aufreißt, wird eingesperrt. Wie weit darf Verständnis gehen? Von einem DDR-Bürgerrechtler hätte ich erwartet, dass er mit einem Satz Sympathie für die Maidan-Demonstranten zeigt. Günter K. Schlamp, Potsdam Rote Karte und Platzverweis Nr. 21/2014 Der frühere Münchner Oberbürgermeister Christian Ude über seinen Intimfeind Uli Hoeneß Diese klaren Aussagen waren längst überfällig mindestens seit dem heulenden Hoeneß am Rednerpult. Fehlt nur noch der Querverweis auf die mittelalterlich anmutende Ablasshandel-Mentalität, die offensichtlich auch im dritten Jahrtausend spürbar ist: Schlichte Gier verbirgt sich hinter plakativem Gutmenschentum. Monika Steinmann, Berlin Udes Antwort auf Ihre letzte Frage ist mir runtergegangen wie allerbestes Olivenöl. Mit einem Satz den hoeneßschen Charakter zu entlarven, das hat was! Peter Wagner, Witten Ja mei, der Ude! Endlich hat auch er noch seinen Senf zu Hoeneß abgegeben. Darauf hat wirklich ganz München gewartet. Dieses Interview zeigt einmal mehr, weshalb man den Sachverstand so mancher Sympathisanten eines Münchner Turnvereins nicht mehr ernst nehmen kann. Claus Spielmann, Egling a. d. Paar (Bayern) Im Fußball gibt es für Nachtreten die Rote Karte und einen Platzverweis; das sollte auch ein Ex-OB wissen! Michael Rahe, Holzkirchen (Bayern) Wie erfrischend, den noch immer um Hoeneß schwebenden Heiligenschein endgültig ins Reich der Legenden zu verbannen. Klemens Ludwig, Tübingen Was für ein erbärmlicher Mensch muss Herr Ude sein! Er hätte im Amt die Möglichkeit gehabt, Hoeneß in die Schranken zu weisen, falls das denn notwendig gewesen sein sollte. Aber lieber hat er die Vorteile für seine Stadt mitgenommen. Hoeneß hat mit dem Aufbau des FC Bayern einen nicht bezifferbaren Beitrag für das Image von München geleistet. Es ist doch nur die Aufgabe eines OB, die Interessen der Stadt und seiner Einwohner zu vertreten, Ude aber stellt eine Selbstverständlichkeit als herausragende Leistung dar. Hubertus Rau, Bad Iburg (Nieders.) Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe gekürzt und auch elektronisch zu veröffent lichen leserbriefe@spiegel.de In einer Teilauflage befindet sich in dieser SPIEGEL-Ausgabe ein achtseitiger Beihefter von Mazda Motor Deutschland, Leverkusen. 8 DER SPIEGEL 23 / 2014

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10 Das deutsche Nachrichten-Magazin Leitartikel Mitziehen oder ausscheiden Die Europäische Union sollte sich von Großbritannien nicht länger erpressen lassen. 10 DER SPIEGEL 23 / 2014 Nach der Europawahl steht der Kontinent vor einer historischen Zäsur. Es geht um zwei Fragen. Erstens: Wie ernst meint es die Europäische Union mit ihrem Versprechen, demokratischer zu werden? Zweitens: Kann Großbritannien weiterhin Mitglied der EU bleiben? Wie entscheidend die eine Antwort für die andere ist, zeigte sich in der vergangenen Woche, als sich Premier - minister David Cameron im Rat der Staats- und Regierungschefs weigerte, das Ergebnis der Wahl anzuerkennen und den Sieger Jean-Claude Juncker als Kommissionspräsidenten zu nominieren. Die meisten Länder hatten sich im Vorfeld auf dieses Verfahren verständigt. Es ist das große Versprechen an die Bürger des Kontinents: Sie sollen mehr Einfluss bekommen, sie sollen sehen, dass ihre Stimme zählt, dass sie konkrete Auswirkungen hat. Cameron aber stellt sich quer. Die Krise der europäischen Demokratie ist auch die Folge einer ungeklärten Beziehung. Die EU und Großbritannien empfinden ihr Verhältnis seit Jahren als Zumutung. In Brüssel leiden sie unter London, das die Einigung Europas stets hintertrieben, das jeden Fortschritt gebremst und eine Vertiefung beharrlich verhindert hat. In Großbritannien leiden sie unter der EU. Es ist ein chronisches Leiden, ohne Aussicht auf Linderung. Bei der Europawahl wurde die EU-feindliche Ukip mit 27,5 Prozent zur stärksten Kraft. Und das, obwohl auch die anderen Parteien Großbritanniens mit Ausnahme der Liberaldemokraten in etwa so EU-freundlich sind wie die deutsche AfD. Großbritannien und die EU, das ist wie ein Paar, das sich gegenseitig unglücklich macht und doch die Konsequenzen scheut. Ein Ausstieg Großbritanniens wäre tragisch, ein Verlust, politisch, wirtschaftlich, kulturell. Vieles von dem, was den Kontinent heute ausmacht und worauf seine Bürger stolz sind, ist den Briten zu verdanken. Sie haben die Demokratie eingeführt, als in Europa noch Absolutismus herrschte. Sie haben uns die Vorzüge eines Wirtschaftsliberalismus vor Augen geführt, der Europa, trotz all seiner Schwächen, zu einem wohlhabenden Kontinent werden ließ. Und kulturell haben uns die Briten zu allen Zeiten bereichert. Mit der Integration Europas hat sich Großbritannien indes nie anfreunden können. Die EU soll aus Londoner Sicht eine überverwaltete Freihandelszone sein, bestenfalls ein loser Staatenbund, aber bitte keine politische Union. Das hat egoistische und nationale Gründe, aber sie reichen zur Erklärung nicht aus. Das Königreich ist nicht nur geografisch wegen seiner Insellage ein Sonderfall, es besitzt auch eine andere politische Kultur. Das strenge Regelwerk der EU erscheint den Briten, die nie eine eigene Verfassung aufsetzten und stattdessen mit einer Sammlung diverser Dokumente auskommen, bis heute wesensfremd. Dazu kommt das Sonderverhältnis, das Großbritannien zu den USA pflegen möchte, eben auch als Gegengewicht zur Europäischen Union. Europa hat lange genug Rücksicht auf die Besonderheiten und Befindlichkeiten der Briten genommen. Es ließ sich erpressen und vorführen. Es war geduldig, dass es schmerzte. Über Jahrzehnte wurde England jedes Veto verziehen und jeder Sonderwunsch erfüllt. Als Margaret Thatcher 1984 Ich will mein Geld zurück! rief, gewährte die EU ihr jenen Briten-Rabatt, von dem das Land bis heute profitiert. Nichts davon hat die Sicht der Briten zu ändern vermocht. Heute sind sie der EU ferner denn je. Nun ist es Zeit für eine Klärung. Die Europäische Union muss womöglich entscheiden, was ihr wichtiger ist: ein demokratischeres Europa oder der Verbleib Großbritanniens in der EU. Diese Klärung muss jetzt erfolgen, am Beispiel der Berufung des künftigen Kommis - sionspräsidenten. Sie duldet keinen Aufschub bis zum Jahr 2017, für das David Cameron seinem Land spätestens ein Referendum über die EU-Mitgliedschaft in Aussicht stellt. Die EU darf sich nicht wei - tere drei Jahre von den Briten erpressen lassen und den Bürgern Europas verwehren, was ihnen vor der Wahl zugesichert wurde: dass sie mit ihrer Stimme über den Kommissionspräsidenten entscheiden können. Würde sie es tun, verlöre sie jede Glaubwürdigkeit und Akzeptanz bei den Menschen. Diese Entscheidung fällt auf dem nächsten Gipfel Ende Juni. Dort müssen die Staats- und Regierungschefs ihr Versprechen einlösen und Jean-Claude Juncker nominieren selbst wenn Cameron das zu Hause in noch größere Schwierigkeiten bringt oder er gar mit dem Rückzug seines Landes droht. Die EU sollte umsetzen, wovon eine Mehrheit überzeugt ist, und nicht, was Einzelnen genehm ist. Großbritannien kann dann entscheiden, wie es auf diese neue Lage in Europa reagiert: ob es mitziehen oder ausscheiden will. Die Insel ist wichtig. Aber bei der Frage, was größer und wichtiger ist eine demokratischere EU oder der Verbleib Großbritanniens, hat Europa nur eine Wahl: die Demokratie. FOTO: DEAN MOUHTAROPOULOS / GETTY IMAGES

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13 FOTOS: ITAR-TASS / IMAGO (O.); HENNING SCHACHT / DER SPIEGEL (U.) Nato Mehr Truppen nach Polen Die Nato plant als Reaktion auf die Ukraine-Krise eine Verstärkung der Präsenz in Polen. Auf dem Treffen der Verteidigungsminister diese Woche in Brüssel sollen die Minister Überlegungen diskutieren, das Multinationale Korps Nordost in Stettin temporär aufzustocken. Bislang sind dort gut 200 Soldaten vornehmlich aus Deutschland, Polen und Dänemark stationiert. Mit einer Verstärkung soll gegenüber Russland symbolisch Stärke gezeigt werden. Polen hatte dies gefordert. Zudem wird überlegt, ob man die Aktivierungsfrist für das Kommandozentrum verkürzen sollte. Bisher gehört das Korps zu den Befehlsständen, die erst im Verteidigungsfall nach Artikel 5 der Nato vollständig aktiviert werden und dann Kampfeinheiten des Bündnisses koordinieren sollen. Die Bundesregierung steht der Idee offen gegenüber, da es bei dem Plan nicht um eine dauerhafte Verstärkung geht. Im Verteidigungsministerium stellt man sich zudem darauf ein, dass der Rat jetzt erneut zusätzliche Aufklärungsmöglichkeiten und damit die Anschaffung weiterer Nato- Drohnen anmahnt. Berlin will darüber ab Sommer öffentlich debattieren und dann entscheiden. gor, mgb NSU-Verfahren Identität gesperrt Bei ihren Ermittlungen nach dem plötzlichen Tod des ehemaligen V-Manns Thomas R. alias Corelli muss die Bundesanwaltschaft auf einen wichtigen Zeugen verzichten. Das Hamburger Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) weigert sich, die Identität eines Zuträgers preiszugeben, der der Behörde kurz vor dem Tod von R. eine CD mit rechtsextremistischer Propaganda übergeben haben soll. Russland Europas weiche Linie Europäer und Amerikaner streiten über den Umgang mit Wladimir Putin. Der russische Präsident soll trotz US-Bedenken an den Feiern zum 70. Jahrestag der Landung der Alliierten in der Normandie am 6. Juni teilnehmen. Darauf hatten Kanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident François Hollande gedrängt. Merkel sei immer der Meinung gewesen, dass bei einer Gedenk - feier jenes Land eingeladen werden müsse, das im Zweiten Weltkrieg die meisten Opfer gebracht habe, heißt es im Kanzleramt. In Washington verweist man dagegen auf Moskaus Rolle in der Ukraine-Krise und Auf der CD, die offenbar aus dem Jahr 2006 stammt, findet sich eine der ersten dokumentierten Nennungen einer Organisation namens Nationalsozialistischer Untergrund (NSU). Titel der Scheibe: NSU/NSDAP. Die Quelle habe die CD beim Aufräumen auf seinem Dachboden entdeckt, heißt es beim LfV Hamburg. Der Zeuge ebenfalls ein V-Mann habe sie schon Jahre vor dem Auffliegen des NSU von Corelli erhalten. Er könnte vielleicht die Frage beantworten, ob Thomas R. womöglich einen deutlich engeren Bezug zur Terrorzelle um Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos hatte als bislang bekannt. Doch die Hamburger Verfassungsschützer schickten eine Sperrerklärung nach Karlsruhe. Sie wollen die Identität ihres V-Manns nicht auf - decken. gud Grüne Angst vor Trittin Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter Grünen-Politiker des Realo- Flügels sind verärgert über Jürgen Trittin. Angesichts der Diskussion um Führungsschwäche wird ein Comeback-Versuch des Ex-Frak - tionsvorsitzenden befürchtet. Er hatte zuletzt durch starke Präsenz in den Medien auf sich aufmerksam gemacht. Es wäre von Vorteil, wenn Jürgen Trittin weniger dominant auftreten und der neuen Spitze den Raum geben würde, sich in politischen Deutschland unterstellt den Europäern eine zu weiche Linie gegenüber Putin. Ein weiterer Streitpunkt zwischen Bundesregierung und US- Administration ist das Vorgehen der ukrainischen Regierung gegen die Separatisten im Osten des Landes. Das Auswärtige Amt wirft den USA vor, Kiew darin zu bestärken, nicht mit den Aufständischen zu sprechen. Eine militärische Lösung, wie sie die ukrainische Regierung mit politischer Unterstützung Washingtons anstrebe, werde es aber nicht geben, heißt es in Berlin. Die USA spielen in dieser Frage keine gute Rolle, sagt ein hoher Regierungsbeamter. ran Debatten zu positionieren, sagt die Bundestagsabgeordnete Ekin Deligöz. Auch der Bayer Dieter Janecek findet Trittins Verhalten ungünstig. Nach außen muss sichtbar sein, wer führt und wer nicht, so Janecek. Außerdem positioniere sich Trittin in wichtigen Fragen etwa zur Rente oder zur Ukraine gegen die Linie der Bundestagsfraktion. red DER SPIEGEL 23 /

14 Deutschland Bundesregierung Freies Parken für Staatsdiener Der Bund will auch künftig Ministeriumsmitarbeitern kostenlos Parkplätze zur Verfügung stellen und ignoriert damit einen Parlamentsbeschluss. Bereits 2011 hatte der Haushaltsausschuss des Bundestags die Regierung aufgefordert, eine Richtlinie zur Parkflächenbewirtschaftung vorzulegen, die Nutzer an den Kosten einheitlich beteiligt (SPIEGEL 11/2011). Doch bis heute gilt in allen Ministerien freies Parken für die Bediensteten, wie aus einem Bericht der Bundesregierung an den Haushaltsausschuss hervorgeht. Danach stehen an den Dienstsitzen Berlin und Bonn insgesamt 9855 Parkplätze zur Verfügung, davon 8841 für Privatwagen. Die Ministerien kostet der Service insgesamt rund Euro pro Monat. Man wolle familienfreundlich sein, so die Begründung. Das Aus wärtige Amt sieht den Vorteil für Familien darin, dass die Beschäftigten die Dienststelle ohne zeitaufwendige Parkplatzsuche erreichen können. Ähnlich argumentiert das Bundesarbeitsministerium: Die Benutzung eines Privatautos sei in dem regelmäßig straff zu organisierenden Alltag zwingend. Die Vorsitzende des Haushaltsausschusses, Gesine Lötzsch (Linke), sieht im Parkplatz- Luxus der Ministerien hin - gegen eine Missachtung des Parlaments. was Hells Angels Verbotene Symbole SPD Rote Hosen im Schwarzwald Bundesjustizminister Heiko Maas, langjähriger SPD-Fraktionschef im saarländischen Landtag, gerät wegen der Fußballleidenschaft seiner damaligen Fraktion weiter in Erklärungsnot. Offenbar wusste Maas früher als bislang bekannt, dass der Landesrechnungshof die Ausgaben für das Fraktionsteam Rote Hosen missbilligte, und hatte Abhilfe ange - kündigt. Die Behörde hatte bereits im Jahr 2003 den finanziellen Aufwand für die Kickertruppe als unangemessen reklamiert und Sparsamkeit angemahnt. Nach Informationen des SPIEGEL teilte Maas den Prüfern damals mit, die Fraktion sei zwar anderer Auffassung, man werde aber dem Wunsch Rechnung tragen. Weitreichende Konsequenzen hatte diese Ein - lassung offenbar jedoch nicht. Der Rechnungshof hat in seiner jüngsten Prüfmitteilung vor wenigen Wochen die Ausgaben für die Roten Hosen in der Legislaturperiode gerügt. In dieser Zeit wurden, unter anderem für Die deutschen Hells Angels müssen bundesweit um ihre Rockerkluft fürchten: Nach einem Urteil des Hanseatischen Oberlandesgerichts (Az. 1-31/13) vom April sind sowohl der stilisierte Totenkopf mit den rot-goldenen Engelsflügeln als auch der rot-weiße Schriftzug Hells Angels selbst Kennzeichen eines verbotenen Vereins. Demnach ist deren Verwendung in der Öffentlichkeit oder in Versammlungen strafbar. Die Richter stützen sich auf das Verbot des ersten Hells-Angels-Ortsvereins in Hamburg aus dem Jahr Den schon von diesem Verein verwendeten Kennzeichen hafte der Makel der rechtsfeindlichen Gesinnung bis heute an, heißt es in den bislang unveröffentlichten Urteilsgründen, sodass sie durch keinen Verein im Bundesgebiet verwendet werden dürfen. Das gilt nach Ansicht der Richter ausdrücklich auch dann, wenn die Symbole einem anderen Charter, also Ortsverein, zugeordnet sind. Die Staatsanwaltschaft Berlin hat sich dieser Rechtsauffassung bereits angeschlossen. Das Hamburger Verfahren hatte ein Hells- Angels-Mitglied selbst angestoßen: Ein Rocker des Charters Harbor City ließ sich mit seiner Kutte vor der berühmtesten Hamburger Kirche, dem Michel, foto - grafieren und schickte das Foto der Staatsanwaltschaft um grundsätzlich klären zu lassen, ob er seine Kutte auch in der Hansestadt tragen darf oder nicht. Nun muss jede Staatsanwaltschaft eigenständig prüfen, ob sie sich der Hamburger Linie anschließt. Uwe Schadt, Hells-Angels- Anwalt aus Berlin, wies bereits darauf hin, dass es andere Bundesländer gibt, in denen man diese Auffassung nicht teilt. Und André Sommer, Chef des Berliner Hells Angels Charters Nomads, sagt: Die haben das schon mal versucht, sie werden auch dieses Mal scheitern. hip, hei, srö Turnierspiele im Schwarzwald, fast Euro aus der Fraktionskasse bezahlt. Die Staatsanwaltschaft Saarbrücken bestätigte, dass auch der Schriftverkehr aus dem Jahr 2003 nun Bestandteil der aktuellen Untreueermittlungen gegen zwei ehemalige Mitarbeiter der Fraktion sei. Maas will die Ermittlungen derzeit nicht kommentieren. one FOTOS: FRANZ-PETER TSCHAUNER / DPA (L.); KERSTIN MÜLLER / IMAGO (M.); ILLUSTRATION: PETRA DUFKOVA / DIE ILLUSTRATOREN / DER SPIEGEL (R.) 14 DER SPIEGEL 23 / 2014

15 Rüstung Rostende Hubschrauber Bei einem der größten aktuellen Rüstungsgeschäfte der Bundeswehr droht Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen, CDU, ein finanzielles Debakel. Ihr Haus hatte sich im März 2013 mit Hersteller Eurocopter grundsätzlich auf die Lieferung von 139 Hubschraubern der Modelle Tiger und NH90 im Wert von über sieben Milliarden Euro geeinigt. Doch nun soll diese Vereinbarung vorerst nicht umgesetzt werden, weil sie mit großen Unwägbarkeiten behaftet sei. Man wolle eine externe Überprüfung des sogenannten Memorandum of Understanding abwarten, heißt es aus dem Ministerium über den Deal, der auch die Lieferung von 18 NH90 in einer Marine- Variante für weitere 915 Millionen Euro vorsieht. Hinsichtlich dieser Maschinen warnt der Bundesrechnungshof in einem internen Gutachten, dass die Betriebs - kosten doppelt so hoch ausfallen könnten wie beim derzeitigen Marine-Hubschrauber Sea King. Außerdem gibt es beim NH90 ein Rostproblem. In einer Antwort auf die Anfrage des Grünen-Abgeordneten Tobias Lindner räumte das Ministe rium ein, dass beim Einsatz der Helikopter in salzhaltigem Umfeld Korrosionsschäden auftreten, was insbesondere für die Marine- Version fatal ist. Für dieses Problem müsse der Hersteller nun erst mal tragfähige Lösungen präsentieren. Geprüft werden müssten auch noch Zulassungsfragen. Ein konkretes Ergebnis erwarte man dazu aber nicht vor dem Jahre 2016, so das Ministerium. gt, mgb Blick auf Deutschland Der amerikanische Politikwissenschaftler Dan Breznitz in einem Blog auf der Seite des Magazins Harvard Business Review über den weltweiten Wettlauf um technische Neuerungen Wer die Schlagzeilen liest, könnte glauben, dass die dringlichste Frage zum nationalen Erfolg bei Innovationen und Wachstum ist, ob die USA oder China die Goldmedaille bekommen sollten. Die Wahrheit ist: Deutschland gewinnt sie mit links. Deutschland leistet bessere Arbeit bei Innovationen in so unterschiedlichen Gebieten wie nachhaltiger Energieversorgung, moleku - larer Biotechnologie, der Lasertechnik und der Entwicklung experimenteller Software. Jan Fleischhauer Der schwarze Kanal Bergab Es gehört zu den Phänomenen deutschen Lebens, dass die Zahl der Nazi- Jäger mit der Entfernung zum Dritten Reich beständig steigt. Genau 70 Jahre ist es her, dass die Alliierten in der Normandie landeten, um mit dem Hitler-Reich aufzuräumen, aber aufseiten der Antifa ist man so eifrig bemüht, dem Bösen die Stirn zu bieten, als wäre die Landung gestern gewesen. Schade, dass man in Deutschland nicht schon so rührig war, als der Führer noch lebte. Andererseits: Besser zu spät als nie. Wenn nicht genug Nazis zur Hand sind, gegen die man aufstehen kann, nimmt man ersatzweise sogenannte Rechte. Die Rechten der Saison sind die Leute von der AfD. Wo immer Vertreter dieser Partei auftraten, war auch der antifaschistische Widerstand nicht weit, um Flagge beziehungsweise Gesicht zu zeigen, wie das in der Szene heißt. Dass nun ausgerechnet die AfD bei der Europawahl als Gewinner durchs Ziel ging, ist die Bestä - tigung, dass der Schoß fruchtbar noch ist, um eine Antifa- Weisheit zu bemühen. Was die Nazi-Jägerei angeht, ist die AfD kein einfaches Betätigungsfeld. Die meisten ihrer Positionen konnte man so oder so ähnlich in jedem CDU-Ortsverein finden, bevor Angela Merkel beschloss, dass mit ihr wieder eine Sozial demokratin das Land regieren sollte. Auch das Spitzen personal gibt nicht viel her. Alle Versuche, die dunkle Seite der Partei aufzudecken, haben nicht viel mehr zutage ge fördert als das Bekenntnis von Parteiführer Bernd Lucke, die Pullover seines Vaters aufzutragen. Die AfD ist nicht gefährlich, sondern humorlos was aus meiner Sicht eindeutig das größere Ver gehen ist. Wichtiger als jede Ideologie ist bei ihr das Lebensgefühl, das die Mitglieder verbindet. Wenn der AfD-Anhänger in die Zukunft blickt, erwartet er nichts Gutes. Er ist eher am Ende als am Anfang seines Berufs lebens, verheiratet ohne Aussicht auf Scheidung, wohlhabend, aber auch nicht so wohlhabend, dass man aller Sorgen ledig wäre. Von dort, wo er steht, kann es nur noch bergab gehen. Die AfD ist die parteipolitische Antwort auf die Rente mit 63. Früher kamen nach dem Berufsende noch ein paar Jahre, die man im Kreise seiner Lieben verbrachte, bevor der Deckel zufiel heute gähnt ein Loch von 20 Jahren, das irgendwie ausgefüllt werden will. Eine Alternative zur politischen Betätigung wäre eine Affäre, um über die Frustration zu Hause hinwegzufinden, aber dazu reicht entweder das Geld oder der Mut nicht. Also engagiert man sich gegen den Euro, der das Symbol für alles ist, was im Leben schiefläuft. Sauertöpfigkeit als Programm ist nichts Außergewöhnliches, das verbindet die AfD mit einer Reihe von Parteien. Auch Grüne starren in den Abgrund: Ihre Ängste sind ökologisch, nicht ökonomisch begründet, aber dass es mit der Welt zu Ende geht, ist für sie ebenfalls ein Glaubenssatz. Wenn man den Erfolg zum Maßstab nimmt, der den Öko-Apokalyptikern beschieden war, steht der AfD ein langes Leben bevor. An dieser Stelle schreiben drei Kolumnisten im Wechsel. Nächste Woche ist Juli Zeh an der Reihe, danach Jakob Augstein. DER SPIEGEL 23 /

16 Deutschland Der Augenzeuge Das ist einfach Willkür Im Rheinisch-Bergischen Kreis vor den Toren Kölns geht die Ver - waltung besonders rigide gegen Schwarzbauten vor. Häuser, die vor Generationen errichtet wurden, sollen abgerissen werden, weil die heutigen Eigentümer keine Baugenehmigung vorweisen können. Martin Masurat, 57, Sprecher der Interessensgemeinschaft Bürger gegen Behördenwillkür, kämpft um das Heim seiner 75-jährigen Nachbarin. Seit ich denken kann, steht das Haus dort oben am Waldrand. Mein Opa Wilhelm und die anderen Männer aus dem Dorf Breibach haben es vor dem Krieg gebaut. In einer alten Flurkarte aus dem Jahr 1939 ist es schon eingezeichnet. Erbaut wurde es damals für die nichtjüdische Frau eines jüdischen Bankiers aus Köln, den die Nazis deportiert hatten. Als kleiner Junge haben meine Brüder und ich der Frau Mertins immer Milch und Eier vom Hof meiner Eltern gebracht. Irgendwann wurde das Haus verkauft. Seit 2005 gehört es der Familie von Frau Liedtke, sie ist die vierte Besitzerin. Wenig später fing der Ärger mit dem Bauamt der Kreisverwaltung an, den hier viele haben. Am schlimmsten hat es vor anderthalb Jahren einen Nachbarn getroffen, der sein Haus wegen teilweise fehlender Baugenehmigungen abreißen musste. Ein Schaden von mehr als Euro. Und jetzt ist Frau Liedtke dran bekam sie einen Brief, in dem sie aufgefordert wurde, alles abzureißen. Ihr Haus beeinträchtige die natürliche Eigenart der Landschaft. So ein Unsinn, rechts und links von ihr stehen doch auch Häuser. Das ist einfach Willkür. Beamte gegen Bürger. Wir lassen uns das nicht mehr bieten. Man kann doch eine 75-jährige Frau nicht einfach aus ihrem Haus jagen und auch noch verlangen, dass sie für den Abriss bezahlt. Sie hat geklagt und in erster Instanz verloren, die Berufung läuft. In unserer Gemeinde soll es bis zu 70 solcher Schwarzbauten geben. Für alle wird seit Jahrzehnten Grundsteuer bezahlt, Kanalund andere Gebühren, die die klamme Gemeinde dringend braucht. Abrissgrundstücke bringen keine Steuern warum kapieren unsere Politiker das nicht? Ich war eigentlich nie ein besonders politischer Mensch. Aber jetzt bin ich in die FDP eingetreten. Sie will eine neue Bausatzung für das Gebiet durchsetzen. Ein guter Vorschlag. Alleine kann man sich doch nicht wehren gegen die da oben. Aufgezeichnet von Barbara Schmid Westlotto Bafin soll prüfen In der Affäre um die syste - matische Vermittlung von Lottogewinnern zur Privatbank Merck Finck & Co. gerät auch die staatliche Lotteriegesellschaft Westlotto zunehmend unter Druck. Die Bochumer Anwaltskanzlei Haas und Partner hat in der vergangenen Woche die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin) eingeschaltet. Die Anwälte, die in erster Instanz bereits Schadensersatzansprüche gegen die Bank durchgesetzt haben, wollen die Bafin-Experten prüfen lassen, ob die regelmäßige Zuführung von Lottogewinnern den Tatbestand einer erlaubnispflichtigen Anlagevermittlung begründet. Sollte die Bafin das feststellen, könnte dies für die Verantwortlichen bei Westlotto strafrechtliche Konsequenzen haben. Nachdem Westlotto sich bereits von seinem langjährigen Gewinnerberater getrennt hatte (SPIEGEL 22/2014), meldete das Bankhaus in der vergangenen Woche, man habe eine interne Untersuchung eingeleitet. Für deren Dauer sei der Merck- Finck-Direktor Heinz-Walter Tebrügge beurlaubt worden. Das Landgericht Münster hatte ihm bescheinigt, Lottogewinner weder anlegergerecht noch anlagegerecht beraten zu haben. gla EU-Parlament Nicht witzig Der grüne Europaabgeor d - nete Sven Giegold will verhindern, dass der Satiriker Martin Sonneborn und seine Spaßpartei Die Partei ins EU- Parlament einziehen: Ich fordere, dass die Parlamentsverwaltung die Rechtmäßigkeit seiner Pläne umfassend prüft und so sein Erscheinen hier möglichst lange hinauszögert. Sonneborn, der auch eine Satire-Seite bei SPIEGEL ONLINE produziert, hatte bei der Europawahl für Die Partei ein Mandat gewonnen und angekündigt, die EU wie ein kleiner südeuropäischer Staat melken zu wollen. Wir werden die Zeit vor allem damit ver - bringen, unsere Rücktritte zu organisieren und uns zu bereichern. In den fünf Jahren der Legislaturperiode möchte Sonneborn 60 Mitglieder je einen Monat rotieren und Diäten, Bürokosten und am besten auch Übergangsgeld kassieren lassen. Per Brief verlangt Giegold vom obersten Verwaltungsbeamten des Parlaments, Klaus Welle, diese geplante Verschwendung von Steuergeldern mit allen rechtlichen Mitteln zu verhindern. Er liebe Sonneborns Witze auf Kosten von uns Politikern, aber lasse keine auf Kosten der Steuerzahler zu. gps Migration Koalitionskrach ums Asylrecht Gegen die Asylpläne von Bundesinnenminister Thomas de Maizière formiert sich breiter Widerstand in der SPD. Der Christdemokrat will die Regelungen zum Bleiberecht verschärfen. Nachdem schon das Bundesjustizministerium von Heiko Maas (SPD) in einer 60 Seiten langen Stellungnahme den Gesetzentwurf verrissen hatte, stellt sich auch die Migrationsbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özoguz (SPD), gegen de Maizière. Dessen Konzept enthalte viele Aspekte, die größtenteils nicht zustimmungsfähig seien. Vor allem de Maizières Pläne für schärfere Regeln bei der Abschiebungshaft würden erhebliche verfassungsrecht - liche Bedenken aufwerfen, schreibt Özoguz in ihrer 36 Seiten langen Bewertung an das Innen ministerium. Im Koalitionsvertrag habe man sich auch darauf geeinigt, Opfer von Menschenhandel leichter aufzunehmen. Dies wird mit dem Gesetzentwurf nicht hinreichend umgesetzt, kritisiert Özoguz. ama FOTO: DIRK GEBHARDT / DER SPIEGEL 16 DER SPIEGEL 23 / 2014

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18 Lupenreine Demokraten Europa Wer gewinnt, wird Chef der EU-Kommission. So hieß es vor der Wahl, aber hinterher zögert Angela Merkel und blockiert. Sie fürchtet Machtverlust und den Austritt der Briten. Lieber plant sie einen stillen Putsch gegen den Wählerwillen. Angela Merkel hat ihre Rede gerade begonnen, noch hat es keinen Applaus gegeben, da kommt sie schon zum Punkt. Sie hat beide Hände vor sich auf das Sprechpult im Audimax der Regensburger Universität gelegt. Sie muss etwas loswerden, hochbrisante Politik statt nachdenklicher Worte. Ich führe jetzt alle 18 DER SPIEGEL 23/ 2014 Gespräche genau in diesem Geist, dass Jean-Claude Juncker auch Präsident der Europäischen Kommission werden sollte, sagt die Kanzlerin. Die Nachrichtenagentur dpa verbreitet um Uhr am vergangenen Freitag eine Eilmeldung. Merkel: Juncker soll EU-Kommissionspräsident werden. Allein: Wenn sie es wirklich so haben will, hätte sie es schon am vergangenen Dienstag so haben können. Sie wollte aber nicht. Man kann also den Katholikentagsworten der Kanzlerin Glauben schenken. Oder man kann sie an ihren Taten messen. Die sprechen bislang eine andere Sprache, die Sprache einer Macht, die auf Wahlen pfeift. FOTO: LES ÉDITIONS ALBERT RENÉ/GOSCINNY UDERZO

19 Deutschland FOTO: KAY NIETFELD / DPA Der EU-weite Urnengang Ende Mai hat in eine wohl beispiellose Machtprobe zwischen dem EP, dem Europaparlament, und dem Rat geführt, dem Kreis der 28 Staats- und Regierungschefs. Die Wahl hat das Zeug, die EU stärker zu verändern als jede vor ihr. In den nächsten Wochen wird sich entscheiden, wie demokratisch die EU sein will; ob die Brüsseler Machtbalance neu justiert wird; ob Angela Merkel wirklich die Anführerin Europas ist. Und ob sie sich gefallen lässt, dass die SPD unbedingt mitmischen will im Brüsseler Poker. Das nämlich könnte der Berliner Koalition einen ersten handfesten Krach bringen, wenn nicht Schlimmeres. Setzt sich das EP bei der Berufung des nächsten EU-Kommissionspräsidenten durch, nimmt es den Staats- und Regierungschefs ein großes Stück Macht ab, vermutlich für immer. Das würde die EU demokratischer machen und einem Bundesstaat ähnlicher. Genau das jedoch könnte die Briten, die das partout nicht wollen, endgültig aus der EU treiben. Unterliegt das Parlament, sind alle Wähler betrogen, die geglaubt hatten, dass der Sieger der Wahl auch Kommissionschef werde. Helfen Sie mit Ihrer Stimme mit, dass Jean-Claude Juncker Präsident der Europäischen Kommission werden kann, hatte auch Angela Merkel einen Tag vor der Wahl bei einer Kundgebung gerufen. Wenn so etwas nach der Wahl nicht mehr gilt, nimmt die Demokratie Schaden. Wer einen Ausweg aus dem Dilemma sucht, stößt schnell auf große Fragen: Welche Legitimation für einen Politiker ist stärker, die einer Europawahl oder die einer nationalen Wahl? Was zählt mehr, die EP- Mehrheit hinter Jean-Claude Juncker, der Kommissionschef werden will? Die einer Bundestagswahl hinter Angela Merkel, die zögert? Oder die des britischen Unterhauses hinter David Cameron, der Nein sagt? Kurz: Was ist der europäische Volkswille, und wenn ja, wie viele? Von Angela Merkel darf man annehmen, dass sie diese Fragen am liebsten gar nicht beantworten möchte. Entschlossen demokratisches Neuland zu betreten ist nicht ihre Sache. Sie hält die gegenwärtige Machtbalance in Brüssel und den Zu - sammenhalt der EU für wichtiger als den Ausgang einer Abstimmung, die in vielen Mitgliedstaaten weniger eine europäische Richtungsentscheidung als eine rein nationale Denkzettelwahl war. Die Kanzlerin würde zur Not Juncker opfern, vorausgesetzt, sie stünde am Ende nicht als Wahlbetrügerin da. Um Merkel davor zu schützen, müsste Juncker selbst zurückziehen. Das zu erreichen scheint derzeit so schwer, wie sich einen eckigen Kreis vorzustellen. Wer also bestimmt den neuen EU-Kommissionschef, Herr über Mitarbeiter, Inhaber des Vorschlagsmonopols für alle EU-Rechtsvorschriften und Aufseher der Hüterin der Verträge? Die Wähler oder die Regierungen? Der geltende EU-Vertrag sagt: beide, irgendwie. Doch die Tage seit der Wahl haben gezeigt, dass beide Seiten das letzte Wort beanspruchen und eine Person sowieso: Angela Merkel. Für die Kanzlerin, die gern die Zeit für sich arbeiten lässt, nahm die Sache seit dem Wahltag einen überraschend rasanten Verlauf. Die beiden Spitzenkandidaten und das Parlament machten den ersten Zug. Merkel wurde überrumpelt. Gegen Mitternacht am Wahltag ist klar: Die Konservativen liegen vorn. Ein Kopfan-Kopf-Rennen ist das nicht mehr, murmelt ein Berater von Martin Schulz. Der SPD-Spitzenkandidat ist von Berlin nach Brüssel geflogen, wo es jetzt um alles geht. Er hat in der Nacht noch einen Termin: mit seinem Gegner, der nun sein Verbündeter werden soll. Um 1.15 Uhr am Montagmorgen trifft Juncker in einem Tross von Journalisten und Kameras im Paul-Henri-Spaak-Gebäude des Europaparlaments ein. Mit dem CDU-Chefin Merkel Der Wähler wählt, die Chefs bestimmen Fahrstuhl geht es in den neunten Stock, wo Schulz Präsidentenbüro liegt. Es gibt Sekt für den Sieger. Ich glaube, ich habe gewonnen, sagt Juncker. Ich will Kommissionspräsident werden. Aber der Christsoziale aus Luxemburg weiß, dass er dazu die Stimmen der Sozialisten im Europäischen Parlament und im Rat der Staats- und Regierungschefs benötigt. Deshalb bietet Juncker in dieser Wahlnacht dem Sozialdemokraten eine Große Koalition an. Er möchte, dass Schulz stellvertretender Kommissionspräsident wird. Ich will eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe, sagt Juncker, du bist ein echter Europäer, ich weiß das zu schätzen. Dann streckt er Schulz seine Hand entgegen. Der schlägt ein. Es ist ein Pakt auf Kosten einer Dritten, Angela Merkel. Die beiden wollen nicht nur versuchen, dem Rat den Kommissions - chef zu diktieren, sondern auch noch der Bundeskanzlerin die Auswahl des deutschen Kommissars. Nach 45 Minuten verlässt Juncker das Büro wieder. Der Kampf kann beginnen. Am Dienstagvormittag machen es die Sozialdemokraten offiziell: Sie unterstützen den EVP-Spitzenmann Juncker, damit hat er die Mehrheit einer Großen Koalition im Europaparlament hinter sich. Und noch etwas, das in den nächsten Wochen zählen wird, erreicht dieser Schachzug: Indem Schulz das Knie vor dem Konkurrenten beugt, verneigt er sich auch vor dem Wählerwillen. Von jetzt an sind die im Parlament die Guten, mindestens in der öffentlichen Wahrnehmung. Daraus wollen sie Kapital schlagen. Aber sie tun es vermutlich zu schnell, zu eifrig, wie sich zeigen wird. Um Uhr kommen die Vorsitzenden aller Parlamentsfraktionen zusammen: Bis zwei Tage zuvor haben sie Wahlkampf gegeneinander geführt, jetzt schließen sie die Reihen gegen den Europäischen Rat, jenes Gremium der 28 Staats- und Regierungschefs, das in der Eurokrise zum Macht - zentrum Europas geworden ist. Schulz, noch ist er ja Präsident des alten Parlaments, leitet die Sitzung. Juncker habe die Wahl gewonnen, sagt er beim Betreten des Sitzungssaals, nach den Regeln ist es der Stärkste, der mit den Verhandlungen beginnt. Dann schließen sich die Türen. In der Sitzung legt Schulz den Entwurf eines Briefs an Ratspräsident Herman Van Rompuy vor, den er am Abend zuvor zusammen mit dem konservativen und dem liberalen Fraktionschef entworfen hat. Die Fraktionsführer kündigen darin Konsultationen an mit dem Ziel, den Kandidaten für das Amt des Kommis - sionspräsidenten zu bestimmen. Das Schreiben ist eine Kampfansage an den Rat, eine bewusste Grenzüberschreitung: Denn käme es so, würde nicht einer aus DER SPIEGEL 23/

20 Deutschland dem Kreis der Regierungschefs nach Mehrheiten und Namen im Rat suchen, sondern einer aus dem Parlament. Das wäre neu. Die Parlamentarier haben ein Zusatzprotokoll des Lissabon-Vertrags gefunden, das ihre Position stärkt. Es ist die sogenannte 11. Erklärung. Darin steht, dass Vertreter des Europäischen Parlaments und des Europäischen Rates die erforderlichen Konsultationen führen werden. Beide EU-Institutionen sind gleichberechtigt, folgern die Parlamentarier daraus. In dem Brief, den die Fraktionsvorsitzenden von EVP und Sozialisten im Anschluss zu Herman Van Rompuy in den Rat bringen, stellt sich das Parlament hinter den Wahlgewinner: Der Kandidat der größten Fraktion, Herr Jean-Claude Juncker, wird als Erster versuchen, die notwendige Mehrheit zu organisieren. Als Angela Merkel wenig später in Brüssel landet und von ihrem Europaberater Nikolaus Meyer-Landrut über das Vorpreschen des Parlaments informiert wird, fällt das Wort Putsch, Putsch des Parlaments. Merkel weiß, dass es mehrere Staats- und Regierungschefs gibt, die sich vom Europa - parlament nichts aufzwingen lassen wollen. Einige, wie der Brite David Cameron oder der Schwede Fredrik Reinfeldt, stemmen sich nicht nur gegen den wachsenden Einfluss des Parlaments. Sie lehnen Juncker auch persönlich ab. Er erscheint ihnen zu föderalistisch, zu verbraucht, zu sehr Vertreter des alten Europa. Merkel selber wollte sich möglichst lange bedeckt halten. Jetzt weiß sie: Die Lage wird eskalieren. Am Nachmittag treffen sich die Anführer der europäischen Sozialdemokraten auf dem Kunstberg in der Brüsseler Innenstadt. Geschlossen sprechen sie sich für Juncker als nächsten Kommissionspräsidenten aus. Die anderen haben gewonnen, sagt der österreichische Bundeskanzler Werner Faymann, Jean-Claude Juncker hat den ersten Aufschlag. Auch der deutsche Vizekanzler Sigmar Gabriel ist erschienen. Er mahnt: Bleibt cool. Angela Merkel bleibt auch cool. Die Wahl Junckers werde kein Automatismus sein, das wird nicht einfach werden. Wenn die EVP sich nicht auf Juncker einigen könne, wäre das kein gutes Zeichen für die EVP und auch nicht für die Bundeskanzlerin, so Gabriel. Die wiederum sitzt zur selben Zeit im Vorabtreffen der konservativen Parteichefs, wenige Hundert Meter entfernt, im Brüsseler Akademie-Palast. Und sie ist wütend: Es sei eine Unverschämtheit, was das Parlament betreibe, der Brief sei eine Kriegserklärung. 20 DER SPIEGEL 23/ 2014 Wahlsieger Juncker und SPD-Kandidat Schulz schließen tief in der Nacht einen Pakt. Zulasten von Angela Merkel. Doch dann geschieht etwas Unerwartetes. Jean-Claude Juncker, der als Spitzenkandidat auch dabei ist, meldet sich zu Wort und widerspricht: Gemäß dem Lissabon-Vertrag gehe es jetzt darum, einen geeigneten Kandidaten zu finden. Seien wir doch froh, dass das Europaparlament so schnell gehandelt hat, sagt er. Es scheint, als habe er nicht begriffen, dass die Kanzlerin gerade die Fronten verschiebt. Es folgt ein Wortwechsel, den in dieser Schärfe wohl noch kein Mitglied der Europäischen Volkspartei erlebt hat. Die Fraktionen im neuen Europaparlament hätten sich doch noch gar nicht gebildet, wettert Merkel, die Mehrheiten seien folglich noch nicht klar. Der Brief des EP sei zudem von den scheidenden Fraktionsvorsitzenden überbracht worden. Es gibt so etwas wie die Kontinuität der Parlamente, kontert Juncker. Auch die designierten neuen Fraktionsvorsitzenden hätten zugestimmt: für die EVP der CSU-Mann Manfred Weber und als mutmaßlicher neuer Fraktionschef der Sozialisten Martin Schulz. Doch Merkel legt nach: Es dürfe nicht nur um die Personen gehen, der Rat wolle auch über das Arbeitsprogramm der nächsten Kommission reden. Es soll dabei um die Wettbewerbsfähigkeit des Kontinents gehen, um mehr Jobs, bessere Regeln für die Finanz- und Wirtschaftspolitik der EU, mehr Brüsseler Zurückhaltung bei kleinteiligen nationalen Belangen. Das sind nicht nur für Merkel wichtige Fragen, eine Art Regierungsprogramm nach der Wahl. Aber der Vorschlag riecht auch nach einem Spiel auf Zeit. Juncker wird wütend: Das Arbeitsprogramm der Kommission sei Sache des nächsten Kommissionschefs. Das geht den Europäischen Rat nichts an, ruft er, nur über meine Leiche! Mühsam verständigen sich die konservativen Parteiführer schließlich auf eine G/EFA Grüne/Europäische Freie Allianz S&D Progressive Allianz der Sozialdemokraten GUE/NGL Vereinte Europäische Linke/ Nordische Grüne Linke (z.t. Europaskeptisch) EVP Europäische Volkspartei Sitze gemeinsame Erklärung: 1. Juncker ist unser Kandidat. 2. Der Rat nimmt den Brief des Europaparlaments zur Kenntnis. 3. Van Rompuy führt Konsultationen mit Juncker und dem Europaparlament. Doch es ist ein brüchiger Frieden, der schon beim Abendessen zwei Stunden später auseinanderfällt. Um 19 Uhr kommen die Staats- und Regierungschefs im Brüsseler Ratsgebäude zusammen. Die Sozialdemokraten stellen zehn Regierungschefs, die Konservativen zwölf, der Rest sind Liberale oder Parteilose. Es ist Politik paradox: Ein Sozial - demokrat nach dem anderen spricht sich für den Konservativen Juncker aus. Juncker ist unser Mann, sagt Österreichs Kanzler Faymann. Ähnlich äußern sich Frankreichs Staatspräsident François Hollande, Italiens Premier Matteo Renzi und der Belgier Elio Di Rupo. Auch einige konservative Regierungschefs signalisieren Beistand für den Sieger: der Portugiese Pedro Passos Coelho, der Zyprer Nikos Anastasiadis, der Finne Jyrki Katainen, der Pole Donald Tusk. Dann sind die Zweifler an der Reihe. Juncker sei die allerletzte Wahl, sagt der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte. Der Schwede Fredrik Reinfeldt beruft sich auf sein Parlament und sagt, er sei nicht befugt, über Namen zu sprechen. Dafür ist es zu früh. Der Ungar Viktor Orbán sagt, er habe persönlich nichts gegen Juncker, aber es gelte, einen Automatismus zwischen der Spitzenkandidatur und dem Amt des Kommissionspräsidenten zu vermeiden. Schließlich meldet sich David Cameron. Es sei ein Fehler, die Kommission durch die Spitzenkandidaten zu politisieren, sagt er. Die Europäische Kommission ist nicht wie eine nationale Regierung, sie muss unparteiisch bleiben. Es sei nicht das Parlament, das einen Kandidaten wähle, und wir nicken das nachher nur ab. Wir sind alle gewählte Regierungschefs, wir sind nicht weniger demokratisch legitimiert als das Europaparlament. Gewählte Zwietracht Fraktionen und Sitze im Europaparlament Vorläufiger Stand; Quelle: Europäisches Parlament ALDE Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa EKR Europäische Konservative und Reformisten (Euro- und Europaskeptiker) EFD Europa der Freiheit und der Demokratie (Rechtspopulisten) Sonstige (Rechtspopulisten, Rechtsradikale) Fraktionslose (überwiegend Europaskeptiker)

21 FOTO: HENNING SCHACHT / BERLINPRESSPHOTO In einer Sitzungspause wird Cameron noch deutlicher: Ein Gesicht der Acht - zigerjahre kann nicht die Probleme der nächsten fünf Jahre lösen. Sollte er in einer Abstimmung unter den Chefs unterliegen und Juncker Kommissionschef werden, könne er für den Verbleib Großbritanniens in der EU nicht mehr garantieren. Teilnehmer der Runde verstehen ihn so: Eine weitere Niederlage könnte seine Regierung in London dermaßen destabilisieren, dass ein Austrittsreferendum vorgezogen werden müsste und sehr wahrscheinlich mit einem Nein der Briten zur EU enden würde. Für den konservativen polnischen Ministerpräsidenten Tusk ist das Meinungsbild klar. Er will noch in der Nacht eine Entscheidung erzwingen. Er schlägt vor, Juncker mit den Verhandlungen über die Bildung der nächsten EU-Kommission zu beauftragen. Dann werde sich ja zeigen, ob es eine ausreichende Mehrheit für Juncker gebe, also eine gegen Cameron, Orbán und Reinfeldt. Alle blicken nun auf Angela Merkel die in diesem Moment von ihrem Kandidaten Juncker abrückt. Im Falle einer Abstimmung werde sie sich den Gegnern anschließen und so für eine Konservative Juncker, Merkel: Kriegserklärung Sperrminorität sorgen, wie sie sagt. Damit wäre der Vorschlag Juncker vom Tisch gewesen. Die Abstimmung unterbleibt. Ein Halbsatz von ihr zugunsten von Juncker, und die Sache wäre erledigt gewesen, erzählt Frankreichs Staatspräsident Hollande hinterher Vertrauten. Aber Merkel hat sich entschieden, die Drohung Camerons hat gewirkt. Dabei ist es die Drohung eines Regierungschefs, der sein Land 2017 über einen Austritt aus der EU abstimmen lassen will und die Europawahl krachend verloren hat. Er hat eine Bundeskanzlerin auf seine Seite gezogen, die dagegen ein proeuropäisches Votum der großen Mehrheit der Deutschen im Rücken hat, aber wenig daraus macht. In vielen anderen Ländern dagegen war dieser Urnengang kein Erfolg beim Wähler. Der Trend stetig schrumpfender Beteiligung ist bei europaweit 43 Prozent bestenfalls gestoppt, aber fast nirgendwo gedreht. Gerade diese Wahlmüdigkeit hievte die Ergebnisse vieler antieuropäischer Populistenparteien auf phänomenale Prozentzahlen. So gesehen ist Europa eher geschwächt, von den Rändern her angefressen und im Zentrum verunsichert. Dennoch sagten 78 Prozent der Deutschen in einer SPIEGEL-Umfrage vor der Wahl, dass der Sieger aus dem Rennen Schulz Juncker Kommissionschef werden solle. So sieht es auch Österreichs Kanzler Werner Faymann: Es ist für die Demokratie verheerend, wenn wir vor der Wahl sagen, der siegreiche Spitzenkandidat soll Kommissionspräsident werden, und nach der Wahl davon nichts mehr wissen wollen. Faymann hat wenig Verständnis für seine deutsche Amtskollegin: Damit verspielen wir unsere Glaubwürdigkeit bei den proeuropäischen Bürgern und stärken die Europafeinde. Im Rat rätseln nicht wenige: Will die Kanzlerin Zeit gewinnen und die Tür für spätere Kompromisse offen halten? Oder will sie Juncker verhindern und versteckt sie sich dazu hinter dem polternden Briten weil auch sie in Wahrheit keinen Kommissionschef will, der das ganze Europaparlament und eine Wählermehrheit hinter sich hat? Was sie macht, ist aus ihrer Sicht vielleicht klug. Aus Sicht der deutschen Wähler und vieler am Tisch der Regierungschefs ist es ein Komplott. Ratspräsident Van Rompuy versucht zu beruhigen. Es geht hier nicht nur um den DER SPIEGEL 23/

22 Juncker-Gegner Orban, Cameron: Gesicht der Achtzigerjahre Sozialdemokraten Schulz, Gabriel: Ein dramatischer Wahlbetrug Chef der Kommission. Es gehe auch um die anderen Ämter, den des Hohen Vertreters und auch um seine Nachfolge. Und wir müssen über das Programm der nächsten Kommission diskutieren. Merkel schlägt schließlich vor, dass Van Rompuy bis zum nächsten EU-Gipfel Ende Juni mit allen 28 Regierungen sprechen soll, um eine Lösung auszuloten. Viele sind nicht einverstanden, aber sie widersprechen nicht mehr. Merkels Einfluss hat gewirkt. Sie ist die Chefin unter den Chefs. Doch einer im Kreis hat während der ganzen Sitzung konzentriert auf sein Handy eingetippt. Er gehört zu denen, die es für undemokratisch halten, vor der Wahl einen Spitzenkandidaten auszurufen und ihn nach der Wahl fallen zu lassen. Seine SMS gehen an den Luxemburger Jean-Claude Juncker. Der sitzt im Hotel und liest live mit, wie Merkel und Van Rompuy auf Druck von Cameron von ihm abrücken. Mit jeder Textnachricht, die er bekommt, wirkt er entschlossener und legt sich fest: Jetzt muss ich es machen. Als die Staatenlenker kurz vor Mitternacht auseinandergehen, beginnt Junckers Handy zu klingen, und es hört nicht mehr auf. Am Ende haben 22 der 28 Staats- und Regierungschefs angerufen und versichert, sie stünden zu ihm. Kommissionspräsident oder gar nichts, sagt Juncker zu einem von ihnen am Telefon. Er rechnet fest damit, dass Merkel ihm bald die Nachfolge Van Rompuys anbietet. Er will ablehnen. So unter Druck ist die Kanzlerin in Brüssel bisher nur selten gekommen. Bei der nächtlichen Pressekonferenz zeigt sie Nerven und stellt Juncker bei der Aufzählung der Aufgaben für die nächsten Jahre bloß: Die ganze Agenda kann von ihm, aber auch von vielen anderen durchgesetzt werden. Diese anderen standen allerdings nicht zur Wahl. Ein Mitarbeiter aus Merkels Entourage bleibt im deutschen Pressesaal des EU-Ratsgebäudes nach dem Merkel-Auftritt sitzen. Haben Sie Junckers Auftritt am Wahlabend gesehen, wie müde, wie leidenschaftslos er wirkte?, fragt er und sagt: Wenn Leute jetzt sagen, dass Merkel Juncker gerade beerdigt hat, muss man sich doch fragen: Hat er sich nicht selber beerdigt? Merkels Lager behält in den Tagen danach diese Tonlage bei: Juncker habe gar nicht recht gewollt. Er wirke oft wie ausgebrannt, er symbolisiere nicht den Aufbruch, seine Unterstützer würden ihm nicht lange treu bleiben. Und vor allem: Die Sache mit den Spitzenkandidaten interessiere in ganz Europa nur die Deutschen. Das ist die weiche Variante der Kampagne gegen den Wahlsieger. An der harten arbeitet bereits die Regierung in London. Niemand will wirklich Juncker, und doch könnte er es nun werden, sagt eine Vertraute Camerons. Und dann stünde ein gespaltenes und krisenbelastetes Europa mit einem geschwächten Kommissionspräsidenten da. Cameron werde nicht zögern, Junckers Schwächen im kleinen Kreis der Mächtigen offen anzusprechen, sagt sie, seine Alkoholprobleme, seine Skandale in Luxemburg. Ob so ein Mann wohl die mächtigste Behörde Europas, die EU-Kommission, leiten könne? So weit will Angela Merkel nicht gehen. Sie verfolgt eine Doppelstrategie: Die Briten sollen mit der Drohung in Zaum gehalten werden, dass zur Not doch gegen sie abgestimmt werden könnte. Das gab es schon einmal, als 2012 fast alle Mitgliedstaaten den europäischen Fiskalpakt zur Schuldenbegrenzung beschlossen und einen düpierten Cameron links liegen ließen. In den nächsten Wochen wird sie viele Gelegenheiten haben, auf den Briten einzuwirken; bei den D-Day-Feiern, gemeinsamen Gesprächen mit dem schwedischen Premier und beim G-7-Treffen. Zugleich will die Bundesregierung alle Personalentscheidungen hinauszögern. Das soll Juncker und seine Unterstützer ermüden, was ihn zum freiwilligen Verzicht bewegen könnte. Denn klar ist auch dem Kanzleramt: Ein Personalpaket muss wie üblich die Zustimmung des Parlaments und des Rates finden aber in diesem Fall auch die des Wahlsiegers Jean-Claude Juncker. Ohne sein Ja geht es nicht, heißt es in Regierungskreisen. Und so lautet die Frage, die über die künftige Demokratie in Europa entscheidet: Für wen spielt die Zeit? Weniger für Jean-Claude Juncker, den 59-jährigen Luxemburger, der in Europa schon so viel gesehen hat, dass ihn viele FOTOS: AFP (O.); HENNING SCHACHT / BERLINPRESSPHOTO (U.) 22 DER SPIEGEL 23/ 2014

23 Deutschland nicht mehr sehen können. Er ist kein Freund der Kanzlerin, und zu Anfang wollte er jenen Job tatsächlich nicht haben, den er jetzt haben wollen muss, damit die Demokratie in der EU erwachsener werden kann. Mit ihm an der Spitze würde die EU- Kommission stärker politisch geführt. Er und seine Kommissare könnten der selbstbewussten Beamtenelite in Brüssel klarere Vorgaben machen, eben weil sie das Wahlergebnis und das Parlament im Rücken haben. Und bei der nächsten Wahl würden sich namhafte Politiker bewerben, weil sie sicher sein dürften, bei einem Wahlsieg glatt ins Amt zu kommen. Bis dahin ist es noch weit, aber das Parlament will kämpfen. Daniel Cohn-Bendit, scheidender Ur-Grüner im Europaparlament, droht: Wenn die Staats-und Regierungschefs es darauf ankommen lassen, müssen sie fünf Jahre lang nicht in die Nähe des Parlaments kommen: Dann ist das für sie eine atomar verseuchte Zone. Und der FDP-Abgeordnete Alexander Graf Lambsdorff sagt: Ja klar, sie werden versuchen, uns darzustellen als die selbstbezogenen Parlamentarier, denen es nur um Verfahrensfragen geht. Aber wir sind gerade alle wiedergewählt worden. Wir haben alle Zeit der Welt. Vor allem braucht Juncker die anhaltende Unterstützung von Martin Schulz, der ihm mit seinen Sozialdemokraten die nötige Mehrheit der Abgeordneten sichern soll. Schulz will dafür einen Posten als herausgehobener Kommissar, kein unge - wöhnliches Geschäft in einer Großen Koa - lition. Das kann ihm Juncker allein nicht garantieren. Andere Länder wie Polen fordern ebenfalls einen prominenten Kommissarsposten und sie haben im Regionalproporz der EU einiges Gewicht. Vor allem aber erhebt die CDU Anspruch auf den deutschen Kommissarstuhl in Brüssel. Esden klaren Wunsch in meiner Partei, dass die Union wieder den nächsten deutschen EU-Kommissar stellt, sagt der deutsche Spitzenkandidat der CDU für die Europawahl, David McAllister. Denn CDU und CSU sind bei der Europawahl in Deutschland klar stärkste Kraft geworden mit acht Prozent Vorsprung vor der SPD. Im übertragenen Sinn haben wir also den,wahlkreis Deutschland gewonnen. Die Kanzlerin sieht das auch so. Die SPD hält dagegen: In Luxemburg werde der konservative Spitzenkandidat Juncker von den mitregierenden Sozialisten unterstützt. Dort werde europäisch und nicht national gedacht. Wenn für Schulz am Ende trotzdem nichts übrig bleibt, schmälert das den Rückhalt der Sozialdemokraten für Juncker. Sicher kann sich Angela Merkel ihrer Sache nicht sein. Etliche Regierungschefs wollen einen Beschluss spätestens beim EU-Staats- und Regierungschefs nach Parteizugehörigkeit konservativ sozialdemokratisch/sozialistisch liberal parteilos Portugal Irland Länder, die wahrscheinlich hinter Jean-Claude Juncker stehen Niederlande? Polen Deutschland Belgien Tschechien Lux. Slowakei? Österreich Ungarn Frankreich Slowenien Großbritannien Spanien Juni-Gipfel in Brüssel. Österreichs Kanzler Faymann: Ich wünsche mir, dass wir beim Europäischen Rat im Juni Juncker vorschlagen. Wenn die Skeptiker nicht zu überzeugen sind, müssen wir Juncker mit qualifizierter Mehrheit durchsetzen. Der Streit um den Chefposten in Europa birgt genug Zündstoff, um auch die Große Koalition in Berlin auseinanderzutreiben. Aufmerksam haben die Sozialdemokraten registriert, dass Merkel sich im Rat im Falle einer Abstimmung hinter Cameron stellen wollte. Die Regeln der Bundesregierung sehen in solchen Fällen eigentlich eine Enthaltung vor, weil die SPD anderer Meinung war. Unmittelbar nach Schließung der Wahllokale hatte die Kanzlerin noch SPD-Chef Sigmar Gabriel angerufen und versichert, dass sie die Große Koalition fortsetzen will, dass man auch in Brüssel gemeinsam eine Lösung finden werde. Inzwischen aber werden erste Risse sichtbar. Im kleinen Kreis sagte Gabriel in Brüssel: Es kann ja wohl nicht sein, dass der Anti-Europäer Cameron den Europäern vorgibt, wo es langgehen soll. Und ein sozialdemokratisches Kabinettsmitglied ätzt über Merkel: Sonst kann sie in Europa alles durchsetzen, nur jetzt nicht einen Kandidaten, den sie selbst mit auf den Schild gehoben hat? Auch Thomas Oppermann, der Fraktionschef, meldete sich: Das distanzierte Verhältnis der Union zu ihrem erfolgreichen Spitzenkandidaten ist merkwürdig. Dabei braucht Europa dringend beide: Jean- Claude Juncker und Martin Schulz. Die Kanzlerin hat freilich ihren eigenen Blick auf die europäischen Belange. In der Eurokrise seit Frühjahr 2010 hat sie ihr Vertrauen in die EU-Kommission verloren. Als politischer Taktgeber in der Krise habe Dänemark Schweden Italien Kroatien Malta? Finnland Rumänien Griechenland Estland Lettland Litauen Bulgarien Zypern die Brüsseler Beamtenzentrale versagt, ist ihr Fazit. Selbst als Zahlen und Prognosen produzierende Verwaltungseinheit hätte Brüssel nicht gut genug funktioniert. Die Staats- und Regierungschefs und die Europäische Zentralbank hätten an ihrer Stelle die Verantwortung übernehmen müssen. Doch nun wird sie die Geister nicht mehr los, die Martin Schulz rief, als er sich vor Monaten zum Spitzenkandidaten der Sozialdemokraten Europas aufschwang. Der Kanzlerin passte das Verfahren von Anfang an nicht, aber sie spielte mit und warb für den Wahlsieg jenes Mannes, der nun um seinen Lohn kämpfen muss. Weil sie selbst stets betonte, es gebe keinen Automatismus zwischen Wahlsieg und Amtsvergabe, unterschätzte sie, welche Dynamik das Kandidatenrennen in Deutschland bis zum Wahltag bekommen würde und noch entwickeln wird. Martin Schulz, der unterlegene Kandidat, gab für die nächsten Tage und Wochen den Ton vor, der auch Merkel entgegenschlagen könnte. Als Schulz am Dienstagabend auf dem Weg ins heimische Würselen ist, erfährt er davon, dass Merkel und Cameron seinem neuen Verbündeten Juncker die Zustimmung vorerst versagt haben. Das ist doch ein dramatischer Wahlbetrug! ruft er ins Handy. Das ist Volksverarschung der Extraklasse. Nikolaus Blome, Horand Knaup, Paul Middelhoff, Peter Müller, Ralf Neukirch, Christoph Pauly, Gregor Peter Schmitz, Christoph Schult Lesen Sie weiter zum Thema: Seite 82: Achtung, Frau Merkel. SPIEGEL-Gespräch mit Front-national- Chefin Marine Le Pen Seite 134: Psychoanalytiker Karl-Josef Pazzini legt Europa auf die Couch DER SPIEGEL 23/

24 Deutschland Doppelte Misere Demokratie Ist die Europawahl ungültig? Nicht nur Doppel - staatler wie der Zeit-Chefredakteur konnten zweimal wählen. Was gibt es Schöneres für einen Chefredakteur, als eine politische Debatte anzustoßen? Relevanz ist der Goldtaler des Medienbetriebes, und als Giovanni di Lorenzo vor gut einer Woche vor einen Millionenpublikum erzählte, er habe bei der Europawahl gleich zweimal gewählt, einmal als Deutscher und einmal als Italiener, da war die Aufregung plötzlich so groß, dass der Ausgang der Wahl für einen kurzen Moment unwichtig war. Inzwischen hat der Zeit-Chefredakteur seinen Fauxpas bereut. Ich bin mir sicher, dass nach meiner Geschichte niemand mehr dem Irrtum aufsitzt, bei der Wahl zwei Stimmen abzugeben, sagt er. Und auch die Staatsanwaltschaft, die den Vorgang prüft, wird wohl Milde walten lassen: Denn es steht ja außer Frage, dass nur edle europäische Gesinnung di Lorenzo zweimal an die Wahlurne geführt hat und nicht etwa Betrugsabsicht. Und so wird wohl bleiben, dass di Lorenzo wenn auch unfreiwillig den Blick auf einen gravierenden Mangel bei den Europawahlen gelenkt hat. Denn wie er hatten offenbar Millionen andere EU-Bürger zumindest die Möglichkeit, zweimal ihr Kreuz zu machen. Schlupflöcher bietet das Wahlrecht nicht nur für Doppelpass - inhaber wie di Lorenzo, sondern auch für jene Europäer, die nicht in ihrem Herkunftsland leben, sondern in einem anderen EU-Staat davon gibt es rund 13,6 Millionen. Juristen wie der ehemalige Verfassungsgerichtspräsident Hans-Jürgen Papier fragen sich, ob die Wahl überhaupt rechtsstaatlichen Grundsätzen entsprach. Das Kernproblem der Europawahl ist, dass die Behörden der einzelnen EU-Länder gar nicht wissen, ob ihre Bürger doppelt abstimmen. Sie müssen darauf vertrauen, dass die Bürger sich rechtstreu verhalten und nicht im demokratischen Überschwang gleich zweimal wählen. Das ist eine Gesetzeslücke, sagt eine Sprecherin des Europaparlaments. Ähnlich sieht das der deutsche Bundeswahlleiter. Allein ein Umzug von einem EU-Land ins andere kann genügen, um eine zusätzliche Stimme zu erhalten. Mehr als acht Millionen EU-Bürger im wahlfähigen Alter Giovanni di Lorenzo wohnen nicht in ihrem Herkunftsland, sondern in einem anderen Mitgliedstaat. Sind sie gleichzeitig in zwei EU-Ländern gemeldet, bekommen sie ihre Wahlunterlagen doppelt es sei denn, die nationalen Behörden kommunizieren miteinander. Doch das kommt nur selten vor. Beispiel Großbritannien: Das Melderecht ist liberal, man kann es auch chaotisch nennen. Es gibt keine Meldepflicht, einen Wohnsitz hat man als Einwanderer dann, wenn man es schafft, seinen Namen irgendwie auf die Wasser-, Gas- oder Stromrechnung eines Hauses oder Apartments zu bringen. Die Zulassung zur Wahl funktioniert ähnlich unkompliziert. Weil kein Melde - register existiert, führt jede Stadt- oder Bezirksverwaltung ein eigenes Wahlregister. Jeder EU-Bürger kann sich entweder online, per Post oder bei der lokalen Stadtverwaltung eintragen lassen. Niemand verlangt eine Bestätigung, dass man sich in seinem Heimatland abgemeldet hat. EU-Bürger, die im Ausland an Europawahlen teilnehmen wollen, müssen zwar ein Formular ausfüllen, in dem sie versichern, in keinem anderen Land ihre Stimme abzugeben. Doch das ist nur eine Absichtserklärung. Und weil wegen der fehlenden Kontrollen praktisch nie ein Doppelwähler überführt wird, schreckt auch das Strafrecht, das in vielen EU-Ländern Wahlbetrug ahndet, niemanden. Wie man Europawahlen korrekt organisieren könnte, macht das kleine Litauen vor. Dort registrierten sich 644 Deutsche an unterschiedlichen Orten zur Europawahl. Das wurde der litauischen Wahlkommission gemeldet, die wiederum den deutschen Bundeswahlleiter informierte. Große EU-Länder und solche mit vielen Zuwanderern verzichten auf diese Mühe. In Großbritannien etwa registrierten sich nach Angaben der Wahlkommission 1,57 Millionen EU-Ausländer als Wähler, in Frankreich gab es hiervon eine Million Wahlberechtigte, im verhältnismäßig kleinen Österreich fast Deren Namen abzugleichen ist offenbar zu mühselig. So gingen beim Bundeswahlleiter beispielsweise nur Hinweise über Deutsche ein, die sich in anderen EU-Ländern für die Wahl registriert haben. Obwohl schätzungsweise eine Million Deutsche im EU- Ausland leben. Prominente Verfassungsrechtler glauben deshalb, dass eine Klage gegen die Europawahl Aussicht auf Erfolg hat. Es sei elementar für Demokratien, dass jeder Bürger nur eine Stimme habe, sagt Hans-Jürgen Papier, früherer Präsident des Bundesverfassungsgerichts. Das gelte natürlich auch für die Europawahl. Ein Wahlrecht, das die Einhaltung dieser Prinzipien nur dem Zufall oder der Rechtstreue der Bürger überlässt, erscheint mir verfassungswidrig. Sollte eine Prüfung des Verfassungsgerichts ergeben, dass tatsächlich millionenfach doppelt abgestimmt worden sein könnte, könnte dies zur Ungültigkeit der Wahl führen. Denn die Sitzverteilung im EU-Parlament könnte verschoben worden sein. Zwar führe nicht jeder Systemfehler im Wahlrecht zwangsläufig zu Neuwahlen, sagt Papier. Aber zumindest dürfte Karlsruhe den Staat dazu verpflichten, vor der nächsten Wahl die nötigen Kontroll- und Schutzmechanismen zu schaffen. Die Legitimität der gesamten Europawahl steht infrage, sagt der Bonner Staatsrechtler Josef Isensee. Das europäische Wahlrecht sei nur so hingepfuscht. Das zeigt, wie wenig die Regierungspolitiker selbst das Europäische Parlament ernst nehmen. Der Vorsitzende des Bundestags-Innenausschusses, Wolfgang Bosbach (CDU), hält die laxen Vorschriften für rechtlich und politisch untragbar. Die Bundes - regierung sollte auf eine einheitliche europäische Regelung dringen, die sicherstellt, dass eine doppelte Stimmabgabe nicht mehr möglich ist. Der Protest der Bürger hat den Bundestag schon erreicht. Bis Ende vergangener Woche sind 13 Einsprüche gegen das Ergebnis der Europawahl eingegangen, darunter auch solche, die sich explizit auf die Problematik doppelter Stimmabgaben beziehen. Sollte der Wahlprüfungsausschuss zur Einschätzung gelangen, dass es grobe Unregelmäßigkeiten bei der Europawahl gab, müsste der Bundestag über deren Gültigkeit abstimmen. Aber selbst wenn die Abgeordneten die Wahl für rechtmäßig erklären, könnten die Beschwerdeführer dagegen klagen. Das letzte Wort hätte dann das Bundesverfassungsgericht. Melanie Amann, Isabell Hülsen, Ann-Katrin Müller, Sven Röbel, Christoph Scheuermann FOTO: STEFFENS / DDP IMAGES 24 DER SPIEGEL 23 / 2014

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26 CSU-Politiker Huber Die Zeit der einsamen Ansagen ist vorbei SPIEGEL-Gespräch Nach dem Debakel bei der Europawahl drängt der frühere CSU-Parteichef Erwin Huber, 67, auf eine zügige Regelung der Seehofer-Nachfolge und plädiert für eine Doppspitze. SPIEGEL: Herr Huber, bislang galt das Ergebnis, das Sie bei der Landtagswahl 2008 als Parteichef zu verantworten hatten, als Tiefpunkt in der CSU-Geschichte. Jetzt hat Ihr Nachfolger Horst Seehofer Ihr Ergebnis noch unterboten. Fühlen Sie ein bisschen Befriedigung? Huber: Nein. Ich leide mit meiner Partei. Das Wahlergebnis ist eine Zäsur. Ich beteilige mich deshalb aktiv an der Bewältigung, die nicht mal eben in einer Klausurtagung zu schaffen ist. SPIEGEL: Seehofer hat die politische Verantwortung für das Debakel übernommen. Genügt das? Huber: Nein. Die CSU steht vor der größten Bewährungsprobe ihrer Geschichte. Es geht schlicht darum, ob wir auf Dauer zukunftsfähig sind. Wir müssen uns auf die Wahlen von 2017 bis 2020 einstellen. Jetzt fallen die Würfel, ob die CSU starke Volkspartei bleibt oder absinkt. Ich bin zuversichtlich, weil wir viele kluge Köpfe, eine starke Verwurzelung und politischen Instinkt haben. SPIEGEL: Horst Seehofer sagt, er wolle 2015 erneut als Parteichef kandidieren und bis 2018 im Amt bleiben. Halten Sie das für richtig? Huber: Die CSU muss die Weichen stellen für die Zeit nach Seehofer. Der Parteichef Das Gespräch führte der Redakteur Peter Müller. 26 DER SPIEGEL 23 / 2014 hat diese Übergangsphase zu gestalten, aber nicht allein nach seiner persönlichen Lebensplanung. Die Zeit der einsamen Ansagen ist vorbei. Die inhaltlichen, strukturellen und personellen Entscheidungen müssen sich innerhalb der nächsten zwei, zweieinhalb Jahre anbahnen. Das ist eine delikate Aufgabe. Aus der Geschichte weiß man, wie blutig Erbfolgekriege sein können. SPIEGEL: Wann sollte der Wechsel eingeleitet werden? Huber: Horst Seehofer hat selbst erklärt, 2018 als Ministerpräsident aufzuhören. Vorher, bei der 2017 anstehenden turnusgemäßen Wahl des Parteivorsitzes, sollte es bereits eine neue Weichenstellung geben. Spätestens zur Bundestagswahl 2017 muss die neue Mannschaft stehen. SPIEGEL: Welche Kandidaten sehen Sie? Huber: Namen sind bekannt. Aber das Personal ist nicht alles. Wir müssen die Partei inhaltlich weiterentwickeln. Geradlinigkeit und Verlässlichkeit müssen zurückkehren. Wir müssen wieder Teamgeist pflegen, Entscheidungen gemeinsam treffen und uns nicht dem Diktat von oben unterwerfen. Und besonders wichtig: Die Umgangsformen müssen sich ändern, ziviler werden. SPIEGEL: Sie üben heftige Kritik am Parteichef, dabei war er es doch, der die CSU nach ihrer Niederlage in Bayern wieder zur absoluten Mehrheit geführt hat. Huber: Dieses Verdienst gebührt Horst Seehofer, und niemand wird ihm diesen Erfolg streitig machen. Ich erlaube mir aber schon die Nachfrage, wie nachhaltig dieser Erfolg eigentlich ist. Wir liegen bei der Europawahl heute 17 Prozentpunkte hinter dem Ergebnis von Und wir waren bei der Landtagswahl im vergangenen Jahr 13 Prozentpunkte hinter dem Resultat von Die Bindungskraft der CSU hat in zehn Jahren dramatisch abgenommen. SPIEGEL: Markus Söder würde Seehofer gern beerben. Doch er hat in seiner Heimat Nürnberg bei den Kommunal- und Europawahlen für die CSU schlechte Ergebnisse zu verantworten. Kann ausgerechnet er die Partei aus der Krise führen? Huber: Bei der Frage, wer Seehofer folgt, kommt es auf persönliche Glaubwürdigkeit, politische Intelligenz und überzeugende Geradlinigkeit an, dann stimmen auch die Wahlergebnisse. SPIEGEL: Und bei diesen Kriterien schneidet Söder besser ab als die CSU in Nürnberg? Huber: Sagen wir mal: Die Bewährungs - phase ist nicht abgeschlossen. SPIEGEL: Söders Kontrahentin, die ehema - lige Bundesagrarministerin Ilse Aigner, hat in Bayern bislang nicht Fuß gefasst und wirkt wie eine Befehlsempfängerin See - hofers. Ist sie aus dem Rennen? Huber: Ihr Start in Bayern war holprig. Ihre Stärke ist aber, dass sie gut mit Menschen FOTO: WOLFGANG MARIA WEBER / DER SPIEGEL

27 Deutschland umgehen und Geschlossenheit herstellen kann. Und diese Fähigkeit kann die CSU jetzt besonders gut gebrauchen. SPIEGEL: Ist es nicht vielmehr so, dass Seehofer Ilse Aigner schon so oft öffentlich und in Gremiensitzungen gedeckelt hat, dass sie als Nachfolgerin demontiert ist? Huber: Wer Opfer von Rempeleien wird, muss nicht automatisch Verlierer sein. Heute ist nichts entschieden. Wir dürfen uns nicht auf die von Seehofer installierten Kronprinzen beschränken. Die Nachfolgefrage geht uns alle in der Partei an. Es sollten noch mehr in die Auswahl kommen. SPIEGEL: Derzeit ist Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt Seehofers Liebling. Spielt er bei der Nachfolge eine Rolle? Huber: Er sagt selbst, er habe sich in Berlin die Schulterklappen wieder angelegt. Alexander Dobrindt muss jetzt im wichtigen Ministeramt zeigen, was er kann, zum Beispiel bei der Maut. SPIEGEL: Bisherige Versuche eines geordneten Übergangs endeten in der CSU zumeist im Chaos. Warum soll das dieses Mal anders sein? Huber: Die Endzeit von Edmund Stoiber ab 2005 bleibt ein Trauma für unsere Partei. Wir brauchen einen geordneten Übergang und keine Nacht der langen Messer. Wir brauchen einen anständigen, transparenten, überzeugenden Nachfolgeprozess. In der Mitmach-Partei sollten wir auch einen Mitgliederentscheid nicht ausschließen, wenn es keine Einigung gibt. Auch eine Doppelspitze ist ins Auge zu fassen. SPIEGEL: Auch mit solchen Doppelspitzen hat die CSU keine gute Erfahrung gemacht. Bei Günther Beckstein und Ihnen beispielsweise ging es gründlich daneben. Huber: Ich bleibe dabei: Wir haben jetzt fast sechs Jahre die Macht in einer Hand konzentriert, da ist überlegenswert, die Spitzenämter wieder auf zwei Leute zu verteilen. Das bringt Wettbewerb, setzt der Macht des Einzelnen Grenzen und ermöglicht zudem, die große Bandbreite einer modernen Volkspartei besser abzubilden. SPIEGEL: Also Aigner als Ministerpräsidentin und Söder als Parteichef? Huber: Oder umgekehrt. Oder es finden sich andere Kandidaten. Nahe liegend ist ein Stufenmodell: Die CSU wählt vor der nächsten Bundestagswahl ihren neuen Parteichef und stellt danach, vor der Landtagswahl, einen neuen Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten auf. SPIEGEL: Seehofer schützte bislang der Erfolg vor solchen Szenarien. Gibt es jetzt einen Aufstand der Gedemütigten? Huber: Keinen Aufstand. Wir sind keine revolutionäre Partei. Aber Seehofer muss seinen Führungsstil der heutigen Zeit anpassen. Befehl und Gehorsam war der Stil des 19. Jahrhunderts. Teilhabe, Mitnehmen das ist heute der Stil einer leben - DER SPIEGEL 23 /

28 Deutschland 28 DER SPIEGEL 23 / 2014 Parteifreunde Söder, Aigner, Seehofer Führungsstil des 19. Jahrhunderts digen Volkspartei. Politiker sollten Vorbilder sein, auch in der Art des Umgangs miteinander. Lästereien, die andere herabsetzen, beschädigen alle, auch den Spötter selbst. SPIEGEL: Seehofer hat Söder bei einer Weihnachtsfeier als gewissenlosen Ehrgeizling dargestellt, der auch vor Schmutzeleien nicht zurückschrecke. Söder hat das nicht geschadet. Huber: Im Gegenteil. Die Sympathien für ihn sind gestiegen, vor allem in der Landtagsfraktion. Die Leute spürten, dass Seehofers Attacken nicht fair waren. Das meine ich mit Stilfragen: Die B-Note, wie man im Eiskunstlauf sagt, ist wichtiger geworden. Auch wenn schwierige Personalentscheidungen anstehen wie beim Austausch der Bundesminister Peter Ramsauer und Hans-Peter Friedrich, müssen sie mit Anstand und Sensibilität abge - wickelt werden. SPIEGEL: Fehlt Seehofer diese Sensibilität womöglich deshalb, weil die Partei umgekehrt auch mit ihm nicht immer sanft umgesprungen ist? Da wurden beispielsweise Berichte über sein uneheliches Kind gestreut, um ihn im Rennen um den Parteivorsitz zu beschädigen. Huber: Im politischen Leben hat er sicher viel Negatives erlebt, aber auch viel Positives. Ich grüble auch, warum er als aus - gewiesener Sozialpolitiker oftmals einen verletzenden Umgang mit der Macht praktiziert. Politik ist kein Schachspiel mit Menschen. Ich habe zum Beispiel Schwierigkeiten zu verstehen, warum Seehofer Ilse Aigner erst als Wahlkampflokomotive für die Landtagswahl nach Bayern lockt und ihr jetzt bei der Energiewende das Leben schwer macht. SPIEGEL: Wie würden Sie Seehofers Führungsstil beschreiben? Huber: Er verfolgt primär einen populären Ansatz, er will bewundert werden. Er ist taktisch sehr versiert und verschleißt sich nicht in der Administration. Er nimmt für sich in Anspruch, die beste strategische Übersicht und das beste Bauchgefühl einsetzen zu können. Trotzdem gibt es auch neben ihm Leute an der Parteispitze, die etwas von Politik verstehen. Seehofers Führungsstil ist sehr autark, er hat kaum Vertraute. Er hat die Hand am Puls der Zeit und erliegt nicht selten den Moden des Zeitgeists. Die CSU aber sehnt sich nach Klarheit, Weitsicht und Standfestigkeit. Das gilt für die Frage des achtjährigen Gymnasiums genauso wie bei der Energiewende. SPIEGEL: Ist Seehofers Wendigkeit in Wahrheit nicht sein Erfolgsrezept? Huber: Das ist Stärke und Schwäche zugleich. Es ist nicht immer richtig, flexibel zu sein. Man muss auch einmal stehen können. Die Menschen wollen Orientierung, suchen einen Leuchtturm. Vor allem müssen wir unsere Entscheidungen danach ausrichten, was Bayern im Jahr 2025 braucht, und nicht allein danach, was momentan nutzt und Beifall bringt. Bei der Energiewende hat Seehofers Kurs die CSU Glaubwürdigkeit gekostet. In Bayern kommen noch immer fast 50 Prozent des Stroms aus Kernkraftwerken. Da kann man doch nicht den Eindruck erwecken: Wir wollen keine Stromtrassen, keine Windräder, keine Speicherkraftwerke, und die Stromversorgung ist trotzdem sicher. SPIEGEL: Woher kommt die Freude Seehofers, sein Personal zu demütigen? Huber: Er war sein Leben lang ein Einzelkämpfer und kein Teamspieler. Er unterscheidet stark zwischen Freund und Gegner. Allerdings wusste die CSU all dies, als sie Seehofer 2008 zu ihrem Chef machte. SPIEGEL: Aigner, Söder, Ramsauer das sind alles gestandene Leute. Warum leisten sie ihrem Chef keinen Widerstand? Huber: Es mag pathetisch klingen, aber sie stellen den Mannschaftsgeist über den Streit. Bei den Koalitionsverhandlungen in Berlin, so wurde breit berichtet, hat Seehofer die CSU-Minister auf offener Bühne vorgeführt. Wem hätte es genutzt, wenn einer der Betroffenen Krawall gemacht hätte? Seehofer hat das kühl kalkuliert. SPIEGEL: Kann man Seehofer mit Widerworten überhaupt bremsen? Huber: Ja, bei deutlichem Widerspruch hält er inne. Das ist der Vorwurf, den wir uns alle in der CSU machen müssen: Der Einzelne ist nur so mächtig, wie andere es zulassen. Es ist die Feigheit von vielen, die Seehofer so überdominant werden ließ. Übermut ist nur dann möglich, wenn anderen der Mut fehlt. SPIEGEL: Jenseits der einsamen Entscheidungen des Vorsitzenden was ist falsch gelaufen im Europawahlkampf? Huber: Die Leute wussten nicht: Ist die CSU für Europa oder dagegen? Der Spagat war zu groß. Einige haben das Spiel der AfD betrieben, die EU und den Euro bekämpft oder herabgesetzt, dazu noch Putin umarmt und Soldaten der Bundeswehr in Geiselhaft beleidigt. Das sind nicht nur Fehler, sondern politische Todsünden, die uneinsichtig weiter vertreten werden. Damit wurde womöglich eine Partei rechts von uns salonfähig gemacht. Protestparteien muss man bekämpfen; man darf nie ihre Parolen befördern. SPIEGEL: Die CSU hat die Europapolitik der Kanzlerin jahrelang mit roten Linien umstellt, dann aber dennoch mitgestimmt. War dieses widersprüchliche Verhalten nicht ebenso verwirrend wie der Wahlkampf der vergangenen Wochen? Huber: Klar. Das Wahlergebnis spiegelt die Irritationen mit der CSU-Europapolitik der vergangenen Jahre wider. Da war von Falschmünzern die Rede, und für Griechenland sollte das Seil gekappt werden. Am Ende haben wir im Bundestag Angela Merkels Kurs bei der Eurorettung mitgetragen. Das war im Ergebnis richtig, aber die Krawallrhetorik bis vor der Wahl passte nicht dazu. Prominente Wahlkämpfer wie Peter Gauweiler vertraten andere Positionen als die Kandidaten, das hat der Parteivorsitzende leider nicht geordnet. SPIEGEL: Die CSU lebt auch davon, dass sie in Berlin als kraftvolle Stimme wahr - genommen wird. Nach der Europawahl machen sich nun aus Sicht der CSU eher vernachlässigbare Nordlichter wie NRW- CDU-Chef Armin Laschet über Ihre Partei lustig. Wie lange lassen sich die Bayern diese Demütigung gefallen? Huber: Zu Seehofers unbestrittenen Fähigkeiten gehört, die CSU in Berlin kraftvoll zu vertreten, manchmal mächtiger, als sie wirklich ist. Der Stimmenrückgang bei der Europawahl könnte uns nachhaltig schaden. Nicht nur Seehofer hat Autorität verloren, auch der CSU droht dies. Aber ich warne die CDU, unsere momentane Schwäche auszunutzen, das könnte sich rächen. Immerhin ist die CSU immer noch stärker als alle CDU-Landesverbände, von denen keiner 40 Prozent erreicht hat. SPIEGEL: Sie raten Seehofer, von der Macht zu lassen. Sie selbst machen aber auch immer weiter. Warum finden Politiker keinen Schlusspunkt? Huber: Die meisten müssen von unplan - baren Ereignissen aus der Bahn geworfen werden, das stimmt. SPIEGEL: Als Sie sich für die Landtagswahl im vergangenen Jahr in Ihrem Stimmkreis noch einmal aufstellen ließen, scharrten die Jungen im Saal schon mit den Füßen. Wann hört der Huber endlich auf?, lautete ihre Frage. Huber: Ich bin nicht im Abklingbecken, sondern nach wie vor im Maschinenraum, aber ich kann Sie beruhigen, 2018 ist es vorbei. Dann höre ich auf, gemeinsam mit Horst Seehofer. SPIEGEL: Herr Huber, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. FOTO: ROLF H. SEYBOLDT / SEYBOLDT4MEDIA

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30 Deutschland Blick nach rechts Parteien Der Erfolg der AfD hat in der CDU eine Strategie debatte entfacht. Konservative sehen in der eurokritischen Partei einen neuen Bündnispartner. 30 DER SPIEGEL 23/2014 Erika Steinbach hat keine Berührungsängste mit der AfD. Man könnte sagen, dass die CDU-Politikerin schon vor Jahrzehnten mit der Spitze der Eurogegner kooperierte. Im Jahr 1977, Steinbach war frisch gewählte Stadtverordnete in Frankfurt, musste sie als Fraktionsassistentin Pressemitteilungen mit dem Büro des Oberbürgermeisters koordinieren. Dort saß ein CDU-Mann, der später gar hessischer Staatskanzleichef werden sollte und heute im Bundesvorstand der Alternative für Deutschland sitzt: Alexander Gauland. Wir haben uns sehr gut verstanden, sagt Steinbach. Ich wüsste nicht, wieso wir nicht auch heute in einer Koalition gut kooperieren könnten. Aber würde Steinbach sich heute mit Gauland politisch absprechen, würde sie sich gewaltigen Ärger mit CDU-Chefin Angela Merkel einhandeln. Denn die Parteispitze will die Eurogegner totschweigen. Keine Kooperation, schon gar keine Koalition, sogar Talkshows mit AfD-Funktionären will Unionsfraktions - chef Volker Kauder boykottieren. Dass Merkel die AfD jüngst auf einer Pressekonferenz erwähnte, war eine Rarität. Vielen Parteifreunden ist es jedoch unheimlich, dass eine Führungsfigur wie Kauder den Disput mit der AfD verweigert. Ich persönlich würde mich anders entscheiden, so Wolfgang Bosbach, Chef des Innenausschusses im Bundestag. Er findet es nicht so richtig plausibel, dass Kauder mit Spitzenkräften der Linken diskutieren will, nicht aber mit AfD-Chef Bernd Lucke. Wir sollten den Eindruck vermeiden, als hätten wir Angst vor einer politisch-inhaltlichen Auseinandersetzung mit der AfD. So sieht es auch der CDU-Abgeordnete Jens Spahn: Die AfD und ihre Parolen sollten wir stellen, indem wir ihre teils dumpfen Argumente widerlegen. Erika Steinbach geht noch weiter. Die AfD ist nach meinen Beobachtungen eine rechtsstaatliche, demokratische Gruppierung und damit ebenso unser Konkurrent wie unser möglicher Partner, sagt sie. Koalition? Aber ja! In unserer Demokratie müssen die Parteien dazu bereit sein, mit allen demokratischen Gruppierungen zu koalieren, die nicht radikal oder gewaltbereit sind. Wenn Parteien anfangen, sich einander zu verweigern, wird es sehr gefährlich für die Demokratie, sagt Steinbach. Genau das Gegenteil legte das CDU-Präsidium nach der Europawahl fest. Die Analysten in der Parteizentrale und der Ade - nauer-stiftung hatten die Nacht durchge - arbeitet, damit die Chefin rechtzeitig ihre Papiere auf dem Tisch hatte. Die Empfehlung: Man solle bloß nicht im Wettstreit mit der AfD gegen Europa zu Felde ziehen, wie es die CSU erfolglos vorgemacht hatte. Mit der Strategie sei auch David Cameron in Großbritannien gegen die Populisten der Ukip auf die Nase gefallen. Der Wähler bevorzugt eben das Original, nicht die Kopie. Im CDU-Präsidium herrschte denn auch Erleichterung über die sieben Prozent für die Eurogegner. Da hatten einige Schlimmeres erwartet. Generalsekretär Peter Tauber berichtete von einer Studie der Forschungsgruppe Wahlen, wonach 45 Prozent der AfD-Wähler ihre Stimmen anderen Parteien gegeben hätten wenn sie die Europawahl wirklich wichtig gefunden hätten. Weniger erfreulich für die Runde war der Bericht von Ministerpräsident Volker Bouffier, in dessen hessischem Hochtaunuskreis, eigentlich Hochburg der CDU, die AfD fast elf Prozent geholt hatte. Hessen ist das Geburtsland der AfD und fast nur Konservative der Hessen- CDU fordern die Öffnung zur AfD. Nach der Europawahl wagte sich der Landes - politiker Christean Wagner vor, ebenso Klaus-Peter Willsch, Fraktionsrebell im Bundestag. Der ist wegen seiner Eurokritik in der Bundestagsfraktion marginalisiert. Aber mit Steinbach spricht sich nun ein Mitglied des Fraktionsvorstands für eine AfD-Koalition aus. Ich halte wenig davon, unsere Partei abzuschotten, sagt Steinbach. Wenn die CDU nicht willens oder in der Lage ist, die Wähler der AfD inhaltlich zurückzugewinnen, müssen wir wenigstens offen dafür sein, unsere Werte in einer Koalition mit der AfD umzusetzen. Die Konservative Steinbach sieht in der Konkurrenz durch die AfD die Chance, ihre Partei wieder ein Stück nach rechts zu rücken. Sie beklagt schon lange, dass die Merkel-CDU zu sehr dem Zeitgeist folge und Positionen wie den Schutz der Familie zugunsten der Homo-Ehe aufgebe. Ob das Schweigekartell der CDU auch in der Landespolitik aufgeht, wird sich im Spätsommer bei den Wahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen zeigen. Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich will sich im Wahlkampf nur mit Parteien aus - einandersetzen, die schon im Landtag vertreten sind. Aber die AfD erzielte in Sachsen ihre besten Ergebnisse bei der Bundestags- und der Europawahl. Zur Landtagswahl tritt sie mit einem erzkonserva - tiven Programm an, in dem der Euro nur auf Rang drei rangiert. Auf Platz eins: die Familienpolitik. Melanie Amann, Philipp Wittrock CDU GESTERN UND HEUTE Wie die Partei unter Führung von Angela Merkel viele konservative Positionen aufgab WEHRPFLICHT BESCHLUSS DES BUNDESPARTEITAGS APRIL 2000: Wir setzen uns für die Erhaltung der allge - meinen Wehrpflicht ein. BESCHLUSS DES BUNDESPARTEITAGS NOV. 2010: Wir sehen eine sicherheitspolitische Not - wendigkeit für die allgemeine Wehrpflicht nicht gegeben. ENERGIE WAHLPROGRAMM 2002: Ein Ausstieg aus der Kernenergie löst nicht die Klimaproblematik, sondern verschärft sie und schafft eine Abhängigkeit Deutschlands vom Ausland. WAHLPROGRAMM 2013: Mit einer Versorgung, die auf erneuerbare Energien und einen geringeren Energieverbrauch setzt, schützen wir unsere Umwelt und fördern den Klimaschutz hatte die schwarz-gelbe Regierung nach der Fukushima-Katastrophe den Atomausstieg bis 2022 beschlossen. HOMO-EHE ERFURTER CDU-LEITSÄTZE APRIL 1999: Wir respektieren den Willen, in Partnerschaften ohne die rechtlichen Bindungen einer Ehe zu leben. Eine rechtliche Gleichstellung solcher Lebensformen mit der Ehe würde unserem Leitbild von Familie widersprechen. WAHLPROGRAMM 2013: Die Diskriminierung anderer Formen der Partnerschaft, auch gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften, lehnen wir ab, (weil) auch in solchen Beziehungen Werte gelebt werden, die grundlegend für unsere Gesellschaft sind. BILDUNG CDU-BESCHLUSS NOV. 2000: Die Hauptschule muss in der gesellschaftlichen Wahrnehmung aufgewertet werden. BESCHLUSS DES BUNDESPARTEITAGS NOV. 2011: Es gebe eine schwindende Bereitschaft, Kinder an der Hauptschule anzumelden. Die CDU wirbt für attraktive Schulformen, die Hauptund Realschule unter einem Dach bieten. ARBEIT KOALITIONSVERTRAG UNION/FDP 2009: Einen einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn lehnen wir ab. KOALITIONSVERTRAG UNION/SPD 2013: Mit einem gesetzlichen Mindestlohn... sorgen wir für faire Löhne. ZUWANDERUNG WAHLPROGRAMM 2005: Zuwanderung begrenzen : Es gibt Zuwanderer aus fremden Kulturkreisen mit erheblichen Integrationsdefiziten. WAHLPROGRAMM 2013: Deutschland ist ein erfolgreiches Integrationsland. Eine Willkommenskultur muss sichtbar und spürbar werden.

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32 Katja, die Grobe Karrieren Katja Kipping hat sich zur mächtigsten Frau in der Linken hochgearbeitet. Konkurrenten werden dafür gegeneinander ausgespielt oder abgeräumt mit zweifelhaften Methoden. Linken-Vorsitzende Kipping Oben auf der Bühne im Berliner Velodrom singt eine Liedermacherin Imagine. John Lennons Hymne aller Gutmenschen lässt auch die Parteivorsitzende Katja Kipping in der ersten Reihe mitwippen. Das Lied ist der Auftakt zum Bundesparteitag der Linken Anfang Mai. Kipping singt mit, beseelt und entspannt. Es wird Kippings Parteitag werden. Sie steht vor dem nächsten großen Schritt ihrer Karriere, der Wiederwahl zur Vorsitzenden. Sie geht gut vorbereitet in dieses Treffen. Wie gut, erfahren die Genossen erst, als alles vorbei ist und sie entsetzt auf die politischen Leichen blicken, die Kipping zurückgelassen hat. Wieder einmal. Die junge Frau aus Sachsen mit den leuchtend roten Haaren hat einen rasanten Aufstieg zur mächtigsten Frau der Linken hingelegt. Kipping hat dabei ein klares Ziel vor Augen: Sie will Gregor Gysi, den 66- jährigen Fraktionsvorsitzenden als einst unumstrittenes Machtzentrum der Partei beerben. Nach außen ist sie das fröhliche, frische Gesicht einer Partei, der noch immer das Image einer Versammlung übellauniger älterer Herren anhaftet. Intern haben viele Genossen schmerzhaft lernen müssen, dass die nette Kipping mit allen Wassern der klassischen Machtpolitik gewaschen ist. Geschickt spielt sie Konkurrenten gegeneinander aus, sie beherrscht das Prinzip Teile und herrsche genauso wie die klassische Intrige oder Günstlingswirtschaft: Katja, die Grobe. Auf ihrem Weg nach ganz oben geht Kipping ebenso zielstrebig wie skrupellos zu Werke. Auf dem Parteitag führte sie einen wohlkalkulierten Schlag gegen den Reformerflügel der Partei, indem sie Schatzmeister Raju Sharma und den Europaexperten Dominic Heilig ausbremste mit zweifelhaften Methoden. Laut einer internen Vorlage hatte die Parteiführung schon im Vorfeld ein Szenario entwickeln lassen, um die Wiederwahl Sharmas zum Schatzmeister im Falle einer konfliktorischen Auseinandersetzung zu verhindern. Das Papier dokumentiert eine Art Fahrplan, wie Kippings Wunschkandidat Thomas Nord durchgesetzt werden sollte, obwohl Sharmas Ruf in der Partei relativ gut sei, wie es darin heißt, und Nord eigentlich fachlich gar nicht qualifiziert sei. So sollten zum Beispiel unverdächtige Landesschatzmeister dazu gebracht werden, gegen Sharmas Kandidatur Widerspruch zu erzeugen. Tatsächlich kam es auf dem Parteitag in Redebeiträgen zu mehreren rufschädigenden Andeutungen über Sharma. Nord thematisierte in seiner Vorstellungsrede ausführlich einen Konflikt im Vorstand, der frühere stellvertretende Vorsitzende Jan van Aken, wie Nord ein Kipping-Getreuer, sprach in Bezug auf Sharma sogar von schmutziger Politik. Diese Andeutungen reichten aus. Alarmierte Delegierte fragten sich: Hatte Sharma in die Kasse gegriffen? Das hatte zwar niemand direkt so behauptet, aber in der Politik reicht oft ein Gerücht. Nach seiner Abwahl warf Sharma Kipping tief verletzt Stil- und Kulturlosigkeit politischen Handelns vor. Ist das dein Verständnis einer solidarischen Debattenkultur?, fragte er in einem Brief. Wolltest du nicht,fragend voranschreiten und die,kunst des Zuhörens praktizieren? Das sind die zwei Gesichter der Katja Kipping, die inzwischen viele Genossen staunen und schaudern lassen: Sie bedient sich genau jener Methoden, die sie gleichzeitig im hohen moralischen Ton ver - urteilt. Genossen werfen Kipping Ver - logenheit vor, beschreiben die Diskrepanz zwischen dem selbst formulierten Anspruch einer innerparteilichen Kultur des Mit einanders und der harten Machtpolitik. Die Methode, nach der sie vorgeht, hat Kipping 2012 unfreiwillig in einer Podiumsdiskussion mit Oskar Lafontaine offen - bart. Als junge Mutter lese sie ja jetzt öfter Märchen vor, sagte sie. Besonders gefalle FOTOS: HENNING SCHACHT / BERLINPRESSPHOTO (L.); SIMONE M. NEUMANN (R.) 32 DER SPIEGEL 23 / 2014

33 Deutschland ihr das Märchen vom tapferen Schnei - derlein. Als tapferes Schneiderlein kam Kipping vor zwei Jahren auf dem Parteitag in Göttingen an die Macht. Die beiden Riesen Oskar Lafontaine und Dietmar Bartsch lieferten sich damals im Vorfeld einen heftigen Kampf um den Vorsitz. Die Schlacht gipfelte in der legendären Rede Gysis über den Hass in der Fraktion. Der Partei drohte die Spaltung und damit ihr Ende. Doch die Krise der Linken war Kippings Chance: Sie präsentierte sich als dritten Weg im ewigen Kampf der Fundis und Realos, der beiden Riesen: Die zierliche Frau Kipping als versöhnende, friedliche Alternative. Sie gewann. Seit diesem kleinen Meisterstück im Machiavellismus vergleichen einige Genossen Kipping mit der Kanzlerin. Die saß auch jahrelang unscheinbar mit den Mächtigen ihrer Partei an einem Tisch und sah zu, wie die sich gegenseitig bekämpften. In der tiefsten Krise wendete sie deren Methoden gegen die Männer und übernahm den Laden. Die Parteifürsten in der CDU glaubten, das sei eine Übergangslösung. Bei Kipping glaubt das keiner mehr. Emsig arbeitet sie daran, das Machtzentrum der Linken von der ewig zerstrittenen Fraktion zu sich in die Parteizentrale zu verlagern. Wenn die Fundis Revolution schreien und die Realos von Reformpolitik reden, steht Kipping dazwischen, paktiert mal mit den einen und mal mit den anderen und nennt das Transformation. Ihr Fernziel ist eine neue, moderne Linke, sie will einen neuen Sound, weg von der ewigen Besserwisserei, genährt aus Ostalgie und Hartz-IV-Interessenvertretung. Sie will eine Wohlfühlpartei. Ihr Lieblingsprojekt ist das bedingungslose Grundeinkommen, das die Menschen vom Stress befreit und Zeit lässt für Lektüre, Rotwein und Tanz. Sozialismus mit menschlichem Antlitz. Prager Frühling heißt die Zeitschrift, in der sie diese Politik propagiert. Hinter dem menschlichen Antlitz verbirgt sich auch eine gewiefte Strippenzieherin. Schon vor der Bundestagswahl wurde in ihrem Vorstandsbüro schriftlich ein Konzept entwickelt, mit dem sie ihre Macht absichern sollte. Unter der Überschrift Führungspersonal, Prämissen, personelle No-Gos und zu schützende Personen wird detailliert aufgelistet, wo sie Sympathisanten installieren und wie sie Widersacher endgültig entsorgen kann. Im Zentrum steht der Umbau der Fraktion in ihrem Sinne. So heißt es unter personelle No-Gos : Die Fraktion darf nicht zur Reste-Rampe der Abgewählten oder Rausgeschmissenen werden. Sollten zum Beispiel die beiden Abgeordneten aus dem Realo-Lager Steffen Bockhahn und Halina Wawzyniak nicht wieder ins Parlament einziehen, so dürften diese Versorgungsfälle nicht etwa als Fraktionsmitarbeiter wieder irgendwo auftauchen. Auch der dritte Sprecher der Fraktionspressestelle sei überflüssig. Selbiges galt auch für den Mitarbeiter der Parteizentrale Mark Seibert, der den äußerst erfolgreichen Internetwahlkampf der Linken managte, aber nach der Wahl gehen musste. In einem Personalgespräch wurde ihm ein Dossier präsentiert, aus dem er schließen musste, dass er schon längere Zeit regelrecht von Kollegen beobachtet wurde, so wird es im Betriebsrat des Hauses erzählt. Seibert äußert sich dazu nicht. Über die Gründe und die Bedingungen des Auflösungsvertrags wurde Stillschweigen vereinbart. Kipping bestreitet, dass es in der Parteizentrale Dossiers über Mitarbeiter gebe. Seibert, Wawzyniak, Bockhahn und andere stehen bei Kipping im Verdacht, Kontrahenten Wagenknecht, Gysi: Eine politische Ich-AG als Anhänger von Dietmar Bartsch gegen ihren dritten Weg zu arbeiten. Bartsch und Sahra Wagenknecht sind auf Kippings Weg ihre härtesten Konkurrenten. Vorerst hat sich Kipping mit Wagenknecht verbündet. Sie benutzt die stellvertretende Fraktionsvorsitzende, um Schritt für Schritt die Demontage des letzten Alphatiers zu betreiben: Fraktionschef Gregor Gysi. Vor Vertrauten bezeichnet der Kipping als eine politische Ich-AG. Noch braucht Kipping Gysis Popularität für die Wahlkämpfe, gleichzeitig arbeitet sie schon systematisch gegen ihn. Einen ersten Stich versetzte sie ihm im vergangenen Jahr vor der Bundestagswahl. Gysi wollte gern alleiniger Spitzenkandidat werden. Kipping bastelte trotzdem ein sogenanntes achtköpfiges Kompetenzteam, streng nach Proporz von Ost und West, Mann und Frau und allen wichtigen Strömungen. Das Team wurde innerparteilich als Gysi und die sieben Zwerge verspottet. Tatsächlich aber machte es Gysi kleiner. Es war ein erstes Zupfen an der Mähne des Leitwolfs. Seitdem befindet sich der Oberlinke in einem permanenten Abwehrkampf gegen Ansprüche von Sahra Wagenknecht, die dabei auf Kippings Unterstützung setzen kann. Kaum stand am Wahlabend fest, dass die krisengeschüttelte Linke es mit einem ordentlichen Ergebnis wieder in den Bundestag geschafft hatte, meldeten Wagenknechts Fans in der Fraktion stellvertretend für sie den Anspruch auf die Frak - tionsführung an. Nur mit indirekten Rücktrittsdrohungen konnte Gysi ihre Wahl an seine Seite verhindern. Das Thema aber wird er nicht mehr los. Den nächsten Stich setzte Kipping auf dem Parteitag Anfang Mai. Der forderte von der Bundestagsfraktion, bis zum Jahresende eine Doppelspitze zu installieren. Der erwünschte Effekt trat sofort ein: Gysi wird seitdem permanent danach gefragt, wann er denn nun endlich Wagenknecht an seine Seite aufsteigen lasse. Oder ganz aufhöre. Die stete Forderung untergräbt seine Autorität. Im Kern, sagt ein Spitzengenosse, hat Kipping Gysi ein Verfallsdatum auf die Stirn geklebt. Die Arbeitsteilung zwischen Kipping und Wagenknecht funktioniert. Vorläufig. Kipping übernimmt die Partei, Wagenknecht will die Fraktion. Die Taktik dafür hat Kipping schon vor Jahren in ihrem Buch Ausverkauf der Politik beschrieben: Frauen sollten sich verbünden und ihrerseits untereinander klären, wer um welchen Posten kämpft. Da dieses Streben nach oben nicht ganz ohne Machtkämpfe und Auseinandersetzungen vonstattengeht, so schreibt die freundliche Frau Kipping, kann etwas Machiavelli für Frauen nicht schaden. Markus Deggerich DER SPIEGEL 23 /

34 Deutschland Gekränkte Souveränität NSA Entgegen jüngsten Berichten: Der Generalbundesanwalt tendiert zu Ermittlungen wegen der Ausspähung von Angela Merkels Handy. Die Vorwürfe gegen die ausländischen Agenten wogen schwer, daran ließ der Bundesanwalt keinen Zweifel. Seite um Seite trug er die Anschuldigungen vor, um am Ende zusammen - zufassen: Die hauptberuflichen Spione hätten enorme finanzielle Mittel und hoch professionelle technische Ausrüstung benutzt. Es gehe nun darum, sehr deutlich zu machen, dass der deutsche Staat eine Souveränitätskränkung solchen Ausmaßes, die mit derartigem operativen und technischen Aufwand gegen uns betrieben wird, in hohem Maß missbilligt. Das Plädoyer des Bundesanwalts vor dem Oberlandesgericht Stuttgart im vergangenen Sommer endete mit der Forderung nach siebeneinhalb und viereinhalb Jahren Haft für das russische Agentenpärchen Andreas und Heidrun Anschlag. Nur Tage danach legten die Leute von Generalbundesanwalt Harald Range einen Beobachtungsvorgang für einen anderen Spionagefall an: die Massenüberwachung deutscher Bürger durch den US-Militärgeheimdienst NSA, die die Enthüllungen des Ex-Agenten Edward Snowden nahelegen. Später kam ein weiteres Aktenzeichen hinzu jetzt ging es um das Überwachen des Mobiltelefons von Bundeskanzlerin An - gela Merkel. Snowdens Enthüllungen und Merkels Handy sind inzwischen Teil eines Geheimdienstskandals, der nicht nur Deutschland, sondern die Welt beschäftigt. Vieles spricht dafür, dass Range einen Teil dieser viel gravierenderen Souveränitätskränkung der Bundesrepublik nun ähnlich handhaben wird wie die Spionage der beiden Russen. Gesprächspartner des Generalbundes - anwalts gewinnen seit Monaten den Eindruck, dass der 66-Jährige dazu tendiert, wegen der Ausspähung von Merkels Handy ein Verfahren einzuleiten wegen des Verdachts geheimdienstlicher Agententätigkeit. Entgegen Berichten von Süddeutscher Zeitung, NDR und WDR aus der vorigen Woche ist der Vorgang noch offen, und Range und seine Ermittler wollen sich Anfang dieser Woche noch einmal intensiv beraten. Bleibt Deutschlands oberster Strafverfolger bei seiner Haltung und 34 DER SPIEGEL 23 / 2014 US-Botschaft in Berlin: In Amerika so viel Unruhe wie möglich stiften Generalbundesanwalt Range Freie Hand aus der Hauptstadt Gründe für eine Meinungsänderung waren Ende vergangener Woche nicht erkennbar, dürfte diese bereits in Kürze in eine entsprechende Entscheidung münden. Anders sieht es beim Vorwurf der Massenausspähung durch den US-Geheimdienst aus. Zwar nimmt der Generalbundesanwalt auch diesen sehr ernst, doch vorerst scheint den Ermittlern hier ein konkreter Ansatzpunkt zu fehlen. Range könnte sich allerdings dafür starkmachen, das Thema prinzipiell stärker in den Fokus zu nehmen. Offiziell gibt sich die Bundesanwaltschaft in beiden Komplexen schmallippig. Vergangene Woche ließen die Ermittler immerhin wissen, eine Entscheidung werde alsbald bekannt gegeben. Nach Monaten ohne offizielle Nachrichten und nach Gerüchten aus der Behörde, wonach leitende Beamte von Ermittlungen massiv abrieten, wirkte dies, als habe Range sich entschieden, nichts zu tun. Aus der Opposition, aber auch aus den Reihen der Regierungsparteien gab es deutliche Kritik. Sie könnte vorschnell gewesen sein. In der US-Regierung würde ein förmliches Ermittlungsverfahren in Sachen Handy - gate die Verwunderung über die datensensiblen Deutschen zwar weiter steigern. Das aber hat man im Kanzleramt offenbar schon seit längerer Zeit einkalkuliert. Angela Merkel selbst ist noch immer empört über die amerikanischen Praktiken, trotz eines mehrstündigen Gesprächs mit dem US-Präsidenten Barack Obama Anfang Mai in Washington. Eine Rückkehr zur Tagesordnung könne und werde es nicht geben, sagte sie bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Obama. So scheint die Regierung nicht nur bereit, Ärger aus Übersee hinzunehmen klammheimlich stellte sie dafür sogar die Weichen. In vertraulichen Gesprächen einigten sich die Häuser von Justizminister Heiko Maas, Außenamtschef Frank-Walter Steinmeier und Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (alle SPD) mit den Ressorts von Innenminister Thomas de Maizière und Kanzleramtschef Peter Altmaier (beide CDU), dass sie Range sollte er springen wollen freie Hand lassen würden. Dass der Generalbundesanwalt ein Verfahren dieser Tragweite ohne Rückendeckung der Politik einleitet, ist ohnehin kaum vorstellbar. Das Justizministerium ist gegenüber der Karlsruher Behörde sogar weisungsbefugt. Im Haus von Minister Maas aber denkt man nicht daran, Range zu bremsen. Im Gegenteil: Auf Fachebene signalisierten Maas Leute dem Generalbundesanwalt, er solle sich keine Sorgen um Paragraf 153d der Strafprozessordnung machen. Danach kann die Bundesanwaltschaft von Straf verfolgung absehen, wenn andernfalls ein schwerer Nachteil für die Bundesrepublik entstünde. Auch fände man es befremdlich, sollten die Bundesanwälte nicht ermitteln wollen, weil sie voreilig keine Aussicht auf Erfolg vermuten, so verlautete aus dem Justizministerium. Bei ihren Prüfungen kamen die Karlsruher Ermittler aber über Monate kaum FOTOS: HC PLAMBECK / LAIF (O.); ULI DECK / PICTURE ALLIANCE / DPA (U.)

35 voran. Zwar schrieben sie Briefe und baten um Informationen, unter anderem an das Kanzleramt, den Bundesnachrichtendienst, das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik und das Bundesamt für Verfassungsschutz. Die Ergebnisse waren jedoch dürftig. Die Regierungsstellen lieferten nichts, was die Einleitung eines Verfahrens gerechtfertigt hätte. Im Februar bot dann Edward Snowdens deutscher Anwalt Wolfgang Kaleck an, sein Mandant könne an einem Strafverfahren mitwirken. Karlsruhe antwortete kühl, man prüfe derzeit ja nur, ob tatsächliche Anhaltspunkte gebieten, ein Verfahren einzuleiten. Für die Durchführung von Ermittlungen, schrieben die Bundesanwälte, namentlich die Vernehmung von Zeugen, ist daher kein Raum. Snowden würde indes nicht gehindert, sich direkt oder über ihre Kanzlei schriftlich zu äußern. Das klang so, als wollten die Bundes - anwälte gar nicht ans Werk gehen. Kaleck übergab keine Schriftstücke und Karlsruhe traf weiterhin keine Entscheidung. Ranges Fachleute für Spionage waren skeptisch, weil sie glaubten, ein Verfahren wegen der Massenüberwachungspraxis der NSA hätte sowieso keine Aussicht auf Erfolg. Ein Rechtshilfeersuchen an die USA, so argumentierten sie intern, würde ins Leere laufen. Und gegen wen überhaupt solle man ermitteln? Obama? Oder Snowden? Der sagte vergangene Woche dem Stern, er sei für Kommunikation aus Deutschland zuständig gewesen. Der Vorgang um Merkels Mobiltelefon ist da schon greifbarer. Immerhin gibt es einen Eintrag in der NSA-Datenbank Nymrod, der ein Handy der Kanzlerin als Zielobjekt des US-Geheimdienstes ausweist. Eine Abschrift des Eintrags hatte der SPIEGEL der Bundesregierung im vergangenen Oktober übergeben. Und es gibt die Aussage des deutschen EU-Parlamentariers Elmar Brok (CDU): Er sei dabei gewesen, als der ehemalige NSA-Chef Keith Alexander in Washington einräumte, die NSA überwache Merkels Handy nicht mehr. Sollte Range nun juristische Konsequenzen verkünden, dürfte er sich des Beifalls nicht nur der Opposition sicher sein. Wir sollten innenpolitisch in Amerika so viel Unruhe wie möglich stiften, sagt etwa der Unions-Innenpolitiker Armin Schuster. Die Wirkung, die der Generalbundesanwalt mit einem Verfahren entfalten könnte, wäre ungleich größer als die des Untersuchungsausschusses, so der Christdemokrat. Und der SPD-Innenexperte Michael Hartmann sagt: Bei allem Respekt vor dem Generalbundesanwalt: Zumindest ein Verfahren einzuleiten wäre kein schlechtes Signal. Auch um zu zeigen, dass Deutschland nicht alles hinnimmt. Hubert Gude, Jörg Schindler, Fidelius Schmid DER SPIEGEL 23 /

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38 Deutschland Besser als Einheimische Integration Demografieexperte Reiner Klingholz, 60, schwärmt von einer neuen Generation Einwanderer. Ohne sie seien Firmen nicht überlebensfähig. SPIEGEL: Herr Klingholz, Sie weisen in Ihrer Studie Neue Potenziale auf ein Paradox hin: Deutschland entwickelt sich zum Einwanderungsland*. Gleichzeitig bleiben die Probleme der Integration ungelöst. Klingholz: Deutsche Unternehmen ziehen inzwischen Migranten an, die im Schnitt besser qualifiziert sind als die einheimische Bevölkerung. Im Jahr 2010 waren mehr als ein Drittel der Zuwanderer aus Südeuropa Akademiker. Sie tragen erheblich zur guten Wirtschaftslage bei. Wer in früheren Jahrzehnten als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen ist, war im Allgemeinen kaum qualifiziert. Das bedeutet für diese Leute bis heute oftmals schlecht bezahlte Jobs, gar keine Arbeit und geringe Renten. Zudem bleiben ihre Nachkommen häufig in der Bildungsferne gefangen. Nur jedes vierte Kind türkischer Migranten erreicht die Hochschulreife. Unter den Kindern einheimischer Eltern sind es 43 Prozent. SPIEGEL: Warum tun sich Kinder und Enkel türkischer Migranten in der Schule und am Arbeitsmarkt besonders schwer? Klingholz: Quer durch die gesamte Bevölkerung in Deutschland hat der Bildungsstand der Eltern einen großen Einfluss auf den Schulerfolg der Kinder. Insofern ist es kein Wunder, dass es Jugendliche aus türkischen Gastarbeiterfamilien mit am schwersten haben. Hinzu kommt, dass diese Haushalte oft schlechte Erfahrungen bei der Integration gesammelt haben. Sie werden aufgrund ihrer Herkunft bei der Jobsuche trotz entsprechender Qualifi - kation benachteiligt. Daraus resultiert manchmal die Einstellung: Auch mit mehr Bildung werden wir den sozialen Aufstieg nicht schaffen. SPIEGEL: Gerade erst haben Tausende Deutschtürken in Köln den türkischen Premier Erdogan gefeiert. Ist das ein Zeichen für ein anhaltendes Fremdeln dieser Menschen mit Deutschland? * Das Berlin-Institut stellt seine Studie Zur Lage der Integration in Deutschland am Dienstag dieser Woche vor. SPIEGEL-Titel 9/2013 Begehrt am Arbeitsmarkt Klingholz: Für den Jubel gibt es unterschiedliche Gründe. Es haben Türkeistämmige aller Schichten gejubelt. Aber wer hierzulande geringe Chancen hat und sich nicht aufgenommen fühlt, sehnt sich gewiss nach Stärke und Heimat. Erdogan steht in den Augen dieser Menschen für eine wirtschaftlich erfolgreiche und starke Türkei, auch wenn es dort in Wirklichkeit erhebliche Probleme gibt. SPIEGEL: Wie kann die Integration gerade von Migranten aus niedrigen sozialen Schichten besser gelingen? Klingholz: Die Kinder gehören früh in eine Kita, in der Deutsch gesprochen wird. Alles, was Elternhäuser nicht bieten können, muss in der öffentlichen frühkind - lichen Bildung nachgeholt werden. Und es braucht Vorbilder. Junge Migranten müssen sehen, dass es aus ihrer Gruppe Aufsteiger gibt, dass dafür aber eigenes Engagement nötig ist. Auch so gut wie ein Mesut Özil wird man nicht ohne Anstrengungen. SPIEGEL: Die Große Koalition ist mächtig stolz auf den neuen Doppelpass. Zu Recht? Klingholz: Der Gesetzesentwurf ist sinnvoll, weil er in Deutschland geborenen Kindern ausländischer Eltern nach ein paar Jahren erlaubt, beide Staatsbürgerschaften zu tragen. Für Zuwanderer aber ist der Erwerb eines Doppelpasses nur für bestimmte Länder, etwa EU- Staaten, zulässig das ist nicht nachvollziehbar. SPIEGEL: Ist das Thema Integration im Innenministerium grundsätzlich falsch aufgehoben? Klingholz: Beim Innenministerium spielen Fragen der inneren Sicherheit eine große Rolle. Bei der Zuwanderung geht es aber heutzutage vor allem darum, wo die Unternehmen ihre Fachkräfte herbekommen. Insofern gehört dieses Thema eher in das Wirtschafts - ministerium. SPIEGEL: In Deutschland ist die Angst vor Armutsmigranten aus Osteuropa groß. Klingholz: Dabei kommen aus Osteuropa überproportional viele Hochqualifizierte, etwa Ärzte oder Ingenieure zum Beispiel waren mehr als 40 Prozent der rumänischen und bulgarischen Migranten zwischen 30 und 64 Jahren Akademiker. Unter den gering Qualifizierten aus diesen Ländern sind viele Saisonarbeiter. Beide Gruppen sind auf dem Arbeitsmarkt gefragt. Es gibt daneben natürlich immer auch eine Zuwanderung in die Sozial - systeme. Die Arbeitslosenquote unter Rumänen und Bulgaren lag in der Bundesrepublik 2010 bei zehn Prozent. SPIEGEL: Ihrer Studie zufolge ist Deutschland auf Einwanderer angewiesen. Klingholz: Die Babyboomer, also die ge - burtenstarken Jahrgänge, stehen vor dem Eintritt ins Rentenalter. Um das Jahr 2030 werden jährlich doppelt so viele Menschen verrentet, wie Junge ins Erwerbsalter hineinwachsen. Weder können die Unternehmen ohne Zuwanderer überleben, noch lassen sich die Sozialsysteme finanzieren. SPIEGEL: Kann Einwanderung den demografischen Wandel stoppen? Klingholz: Nein, aber abfedern. Migranten kommen zwar meist im Alter zwischen 20 und 30 Jahren ins Land, haben im Schnitt etwas mehr Kinder als die Einheimischen und verjüngen damit die Bevölkerung. Aber auch sie werden alt, und nach etwa einer Generation sind die Kinderzahlen auf das hiesige niedrige Niveau abge - sunken. Interview: Maximilian Popp FOTO: SEELIGER / IMAGO (O.) 38 DER SPIEGEL 23 / 2014

39 FOTO: GERHARD WESTRICH / LAIF Rote Wangen Ernährung Viel Fleisch, zu wenig Obst und Gemüse eine neue Studie bemängelt die Verpflegung in Kitas: Die Kinder essen nicht gesund. Kita-Kinder am Mittagstisch 1,8 Millionen Mahlzeiten pro Tag Pfannkuchen gehen immer, ob süß oder salzig. Auch Spaghetti stehen häufig auf dem Speiseplan, mit Hackfleischsoße oder vegetarisch. Wenn es Fleisch gibt, dann am liebsten Hähnchen oder Pute, das ist billiger. Was Kinder in der Kita essen, weiß Ulrike Arens-Azevêdo, Professorin an der Hochschule für Angewandte Wissen - schaften in Hamburg. Gemeinsam mit zwei weiteren Autorinnen untersuchte die Ernährungswissenschaftlerin die Kost der Kleinen. Dabei wollte sie nicht herausfinden, wie das Essen schmeckt, sondern wie gesund es ist. Is(s)t Kita gut? heißt die Studie, die jetzt die Bertelsmann Stiftung veröffentlicht. Die Antwort der Exper tinnen: Nein, sie is(s)t nicht gut. Nur 12 Prozent der Kitas servieren zum Mittagessen genügend Obst, nur 19 Prozent ausreichend Salat oder Rohkost. Auf den Speiseplänen steht zu oft Fleisch und zu selten Fisch. Es bestünden begründe - te Zweifel, dass für alle Kita-Kinder ein gesundheitsförderndes Mittagessen sicher - gestellt wird. Für die Tagesstätten gilt offenbar nichts anderes als für die Kantinen: Alle reden von gesunder Ernährung und auf den Tisch kommen dann Currywurst und Pommes. Rund 1,8 Millionen Jungen und Mädchen essen jeden Tag in einer Kita oder in einem Kindergarten zu Mittag. Und diese Zahl dürfte weiter steigen, schließlich existiert seit vorigem Jahr ein Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz ab dem Alter von einem Jahr. Über dem rasanten Ausbau dürfe nicht die Kita-Qualität vergessen werden, mahnen seit Längerem Fachleute wie der Frühpädagoge Wolfgang Tietze Fragebögen an Betreuungseinrichtungen haben Arens-Azevêdo und ihre Kolleginnen verschickt, rund 1000 gaben Auskunft. Ungefähr die Hälfte der Kitas lässt das Essen warm anliefern, ein Drittel kocht vor Ort. Nur drei Prozent der Einrichtungen nutzen, was etliche Experten preisen: cook and chill in einer Zentralküche gekochte Speisen werden schnell heruntergekühlt und am Essensort zu Ende gegart. Wir brauchten dringend bundesweit geltende Qualitätsstandards, sagt Kathrin Bock-Famulla, zuständige Projektleiterin der Bertelsmann Stiftung. In den Bundes- und Landesgesetzen für Kitas ist vom Essen kaum die Rede, ein vom Bundes familienministerium angekündigtes Kita-Qualitätsgesetz steht aus. Dabei gibt es anerkannte Leitfäden: Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung, an deren Handreichung sich auch die Forschergruppe um Arens-Azevêdo orientierte, fordert ein tägliches Angebot an Rohkost, Salat oder gegartem Ge - müse, einen Menüzyklus von mindestens vier Wochen und kurze Warmhaltezeiten. Das kostet wie viel genau, versucht die Studie zu beziffern, abhängig vom Alter der Kinder und von der Art der Zubereitung. Unter 4,41 Euro pro Mittagessen sei bei den Vier- bis Sechsjährigen nichts zu machen, so lautet die Kalkulation der Autorinnen, wenn für 25 Kinder auf einmal gekocht werde. Teurer wird s natürlich, wenn das Essen auch Biozutaten enthalte und im Ein - zelhandel eingekauft werde. Erheblich billiger allerdings ist das Essen zu haben, wenn es in einer Groß küche hergestellt wird. Bei 300 Mittagessen pro Tag sinkt der Preis für eine Portion auf 2,42 Euro. Das aber wollten viele Eltern nicht, sie misstrauen den Essensfabriken. Die Väter und Mütter träumen von einer rotwan gigen Köchin, die vor Ort das Biogemüse schnippelt und frisch aufkocht, sagt Volker Peinelt, Professor am Fach - bereich Oecotrophologie der Hochschule Niederrhein. Gute Gemeinschaftsverpflegung habe aber viel mit strikter Hygiene zu tun, mit gut ausgebildeten Küchen - kräften, mit hochwertigen Großgeräten und einem straff organi sierten Einkauf. Je professioneller, desto besser. Jan Friedmann DER SPIEGEL 23 /

40 Abgeschmiert BER Der wegen Korruptionsvorwürfen suspendierte Technikchef des Flughafens konnte offenbar nahezu unkontrolliert lukrative Aufträge vergeben. Hauptstadtflughafen BER: Seit vergangenem Jahr weiß Mehdorn von bedenklichen Vergaben Für die Ingenieure der Dresdner Gicon begann der Mai als rechter Wonnemonat. Beim Firmenlauf durch die Innenstadt der Sachsenmetropole gehörten ihre Mitarbeiter zu den schnellsten. Und für den Bau einer schwimmenden Windradanlage durfte sich das Management über 5,25 Millionen Euro Fördermittel freuen. In der letzten Maiwoche riss die Erfolgsserie jedoch jäh ab: Am vergangenen Dienstagmorgen rückten Fahnder in der Gicon-Zentrale ein und schleppten große Aktenbestände aus der Gründerzeitvilla. Sie blieben bis in den späten Abend. Dem Durchsuchungsbeschluss konnten die Mitarbeiter entnehmen, dass ihr Chef Jochen Großmann in einen handfesten Korruptionsskandal verwickelt sein soll. Und zwar ausgerechnet bei jenem Projekt, das dem Unternehmen weiteren Ruhm verschaffen sollte: dem Umbau der untauglichen Entrauchungsanlage am Hauptstadtflughafen BER. Die Korruptionsspezialisten der Staatsanwaltschaft Neuruppin legen Großmann zur Last, als Berater der Flughafengesellschaft von einer Planungsfirma eine halbe Million Euro Schmiergeld gefordert zu haben. Sollte sich der Verdacht der Ermittler bestätigen, droht dem Unternehmer eine Geld- oder Freiheitsstrafe. Und BER-Chef Hartmut Mehdorn bekäme ein weiteres gravierendes Problem in dem vermurksten Flughafenneubau. Denn im Zuge der Korruptionsermittlungen gegen Großmann kann nun erstmals eine Strafverfolgungsbehörde Licht in die mitunter intransparente Vergabepraxis von Millionenaufträgen beim BER bringen. Dass Flughafenberater Großmann nahezu unkontrolliert lukrative Planungsaufträge verteilen konnte, legen interne Dokumente nahe. Demnach wiesen auch andere Vergaben Ungereimtheiten auf, die Mehdorn bereits seit Herbst vorigen Jahres bekannt waren. Alarmiert sind inzwischen auch die Eigentümer der Flughafengesellschaft, die Länder Berlin und Brandenburg sowie der Bund. Bereits am Montag wird sich der Aufsichtsrat auf einer Sondersitzung mit der Causa Großmann befassen. Schließlich war der Berater aus Dresden erst vor wenigen Wochen von Mehdorn zum Technikchef berufen worden, der vor allem das Brandschutzproblem des Pannen-Airports lösen sollte. Großmanns Engagement für den BER begann im Frühsommer 2013 mit einem kleinen, auf wenige Monate befristeten Sachverständigenauftrag. Er sollte das Brandschutzkonzept auf seine Genehmigungsfähigkeit überprüfen, der Job war mit mehreren zehntausend Euro dotiert. Das war für Großmann keine bedeutende Summe aber sehr wohl ein bedeutender Schritt, um seine Gicon-Gruppe ins Geschäft beim BER zu bringen. Der promovierte Maschinenbauingenieur ist einer von jenen in der DDR ausgebildeten Wissenschaftlern, die nach dem Zusammenbruch des Sozialismus schnell die Vorzüge der Marktwirtschaft für sich entdeckten. Gleich nach der Einheit gründete er sein erstes Ingenieurbüro in Dresden. Inzwischen sind es mehr als ein Dutzend Unternehmen im In- und Ausland, die Großmann gehören oder an denen er wesentliche Anteile hält. Die Gicon-Gruppe entwickelt Konzepte zur Reinigung von Abwässern, plant Windenergieanlagen und Biogaskraftwerke allesamt Geschäftsfelder, in denen staatliche Subventionen fließen. Schon deshalb legte Großmann stets viel Aufmerksamkeit auf ein tragfähiges politisches Netzwerk. Der Ingenieur engagierte sich in der Denkfabrik des Dresdner Minis - terpräsidenten Stanislaw Tillich und der sächsischen CDU. Im Herbst vorigen Jahres gelang Großmann dann sein Meisterstück: Flughafenchef Mehdorn übertrug dem freien Mitarbeiter die Verantwortung für den Umbau der zentralen Entrauchungsanlage des Terminals. Zwar hatte Großmanns Gicon in der Vergangenheit für andere Unternehmen 50 Brandschutzkonzepte erstellt, eine Anlage in BER-Dimension aber noch nie konzipiert. So schloss die Flughafengesellschaft im Jahr 2013 insgesamt drei Verträge mit der Gicon. Ende vorigen Jahres waren bis zu 20 Gicon-Mitarbeiter für den Airport tätig. Bis April sollen die Kosten für die Dienstleistungen der Gicon nahezu eine Million Euro betragen haben, schätzen Insider. Ein Sprecher der Flughafengesellschaft lehnt unter Verweis auf das Betriebsgeheimnis eine Stellungnahme dazu ab. Um solche Honorare zu rechtfertigen, konnte die zu bewältigende Aufgabe gar nicht groß genug sein. Und so haben in- 40 DER SPIEGEL 23 / 2014

41 Deutschland FOTOS: PATRICK PLEUL / DPA (L.); PATRICK PLEUL / PICTURE ALLIANCE / DPA (R.) zwischen auch BER-Mitarbeiter das Gefühl, dass Großmann das Problem mit der Entrauchungsanlage, die er ein Monster nannte, ein wenig hochfrisiert hat. Im Dezember hatte Alfredo Di Mauro, der ursprüngliche Schöpfer der Brandschutztechnik, Großmann Änderungen vorgeschlagen. Die Kosten für die Umplanungen bezifferte Di Mauro wenig später auf Euro. Großmann lehnte ab, womöglich nicht nur aus technischen Gründen. Denn bereits Wochen zuvor hatte der Unternehmer jenen Auftrag eingefädelt, der nun die Staatsanwaltschaft beschäftigt. Ende November soll er nach Erkenntnissen der Ermittler mit einem Berliner Vertreter des niederländischen Planungs- und Projektkonzerns Arcadis über einen Auftrag zur Umplanung der Entrauchungsanlage verhandelt haben. Der Arcadis-Mann nannte Kosten in Höhe von 1,4 Millionen Euro. Großmann soll vorgeschlagen haben, Arcadis möge das Angebot um Euro erhöhen, dann werde das Unter - nehmen den Zuschlag bekommen. Allerdings habe, so jedenfalls die bisherigen Erkenntnisse der Staatsanwaltschaft, Großmann den Differenzbetrag für sich ge - fordert. Im Februar schließlich hätten sich der Arcadis-Mitarbeiter und Großmann darauf verständigt, wie das Kickback funktionieren könnte. Arcadis sollte einen Dienstleistungsvertrag mit Großmanns Firma Gicon Ingenieur Consult über rund Euro abschließen. Kurz darauf erhielt Arcadis den Zuschlag für den Auftrag. Dass das vermeintliche Schmiergeld nicht gezahlt wurde, lag offenbar an der Compliance-Abteilung der Arcadis-Zentrale in Amsterdam. Den Sittenwächtern BER-Technikchef Großmann Anlage zum Monster hochfrisiert kam der Vertrag wohl merkwürdig vor. Anfang Mai informierte Arcadis die Flughafengesellschaft. Mehdorns Kontrolleure ermittelten daraufhin unternehmensintern und übergaben am 21. Mai ihre Erkenntnisse der Staatsanwaltschaft Neuruppin. Noch in derselben Woche leitete die ein Korruptionsermittlungsverfahren gegen Großmann und den Berliner Arcadis-Mitarbeiter ein. Jochen Großmann will sich unter Verweis auf die laufenden Ermittlungen nicht äußern, seine Firma werde aber voll - umfänglich mit der Staatsanwaltschaft zusammenarbeiten, um die Vorwürfe schnellstmöglich zu entkräften, sagt ein Gicon-Sprecher. Die Amsterdamer Arcadis-Zentrale bestätigt den Korruptionsversuch, erklärt aber, der Berliner Mit - arbeiter habe davon umgehend seinen Vorgesetzten berichtet. Die Berliner Flughafengesellschaft will nun alle Auftragsvergaben, an denen Großmann beteiligt war, überprüfen. Auffällig ist aber schon jetzt, dass die Aufträge an Unternehmen gingen, mit denen die Gicon langjährige Geschäftsbeziehungen pflegt. Es gilt null Toleranz für Korruption, kündigt Mehdorn an. Eine recht späte Erkenntnis. Denn bereits seit vergangenem Jahr bekommt der Topmanager hausintern Informationen über rechtlich zumindest bedenkliche Praktiken bei der Auftragsvergabe. Sie sind zusammengefasst in den Quartalsberichten der Arbeitsgemeinschaft Transparenz, mit der auch die Anti-Korruptions- Organisation Transparency International zusammenarbeitet. Der vertrauliche Bericht zum vierten Quartal 2013 etwa listet eine Reihe von Verstößen auf. So wurden Aufträge in Höhe von 2,7 Millionen Euro freihändig vergeben, obwohl sie europaweit hätten ausgeschrieben werden müssen. Mehrere Vergaben seien unzureichend dokumentiert, Anschlussaufträge als Nachträge deklariert. Der Arbeitsgemeinschaft hätten für die Bewertung maßgebliche Unter - lagen nicht vorgelegen, erklärt dazu ein Flughafensprecher. Auch dass ein externer Berater wie Großmann über die Auftragsvergaben der Flughafengesellschaft mitentscheiden konnte, war im Management umstritten. In einem 21-seitigen Brandbrief vom 27. März hatte Harald Siegle, der damalige Immobilienverantwortliche des BER, seinem Vorgesetzten Mehdorn unter an - derem vorgeworfen, zu sehr auf externe Berater zu vertrauen und dabei auch auf Großmanns Mehrfachfunktion als Auftraggeber, Auftragnehmer und Planer hingewiesen. Für den Berater hatte das damals keine Konsequenzen. Für Siegle schon. Er wurde fristlos gefeuert. Andreas Wassermann

42 Rathausplatz in Kempten Drogenfahnder N. Die Schickeria und der Kommissar Kriminalität In Kempten wurde der Chef des Rauschgiftdezernats mit 1,6 Kilogramm Kokain erwischt. Der Fall bringt eine verdächtige Zurückhaltung bei der Drogenbekämpfung ans Licht. Auf diesen Wert war der Herr Kommissar besonders stolz: minus 54 Prozent. Von 2006 bis 2012 hatten sich die polizeilich registrierten Drogen - delikte in seinem Beritt um mehr als die Hälfte reduziert. Armin N., Leiter des Rauschgiftdezernats in Kempten, feierte das als persönlichen Erfolg. Es war eine unverfrorene Interpretation. Denn Drogenhandel ist ein sogenanntes Kontrolldelikt. Das bedeutet: Straftaten werden nur bekannt, wenn die Polizei von sich aus aktiv wird. Während nach einem Einbruch fast immer Anzeige erstattet wird, haben weder Dealer noch Konsument ein Interesse, die Polizei zu rufen. Wie es in Wahrheit um die Drogen - kriminalität im Herzen des Allgäus bestellt ist, davon bekam die Öffentlichkeit im vergangenen Februar eine Ahnung. Eine Poli - zeistreife war des Nachts zu einem Einsatz wegen häuslicher Gewalt geschickt worden. Die Beamten fanden einen Mann vor, der offenbar nach übermäßigem Kokainkonsum die Selbstkontrolle verloren hatte: Kriminalhauptkommissar Armin N., 52. Bei der anschließenden Durchsuchung seines Büros fanden die Ermittler rund 1,6 Kilogramm Kokain. Dass es in dem malerischen Voralpenort keine Rauschgiftszene gebe, haben Experten sowieso nie geglaubt. Im Gegenteil: Die grenznahe Stadt liegt auf der Drogenroute von den Häfen Hamburg, Rotterdam und Antwerpen Richtung Italien. Clans der Cosa Nostra und der Ndrangheta sind im Allgäu seit Jahrzehnten verwurzelt. Immer wieder wurden dort hochrangige Mafiosi verhaftet. Ein Papier des Polizeipräsi - diums Kempten sieht die Region als Rückzugs- und Investitionsraum für Personen, die der Mafia zugerechnet werden. Italienisches Flair ist in Kempten allgegenwärtig, seit in den Fünfzigerjahren die Textilmaschinenfabrik Allma Arbeitskräfte im sizilianischen Adrano suchte. Die Fabrik stellt heute Hightechmaschinen zur Produktion von Industriefasern her. Die herausgeputzte Innenstadt wird von Pizzerien und Trattorien dominiert. Auch Kommissare des örtlichen Rauschgift - dezernats genossen regelmäßig den Espresso im Caffè Roma. Im Jahr 2009 geriet das Idyll jedoch in Unruhe. Die Kriminalpolizeiinspektion mit Zentralaufgaben (KPIZ) nahm den Restaurantbesitzer Giuseppe C. ins Visier. Die Sondereinheit ist im gesamten Allgäu für die Bekämpfung organisierter Kriminalität zuständig. Sie operiert von Neu- Ulm aus, und aus 90 Kilometer Distanz scheint so manches klarer erkennbar. Die KPIZ schickte in der Causa Giuseppe C. ihre besten Fahnder nach Kempten, unbekannte Gesichter, in Zivil. Und was sie vor Ort entdeckten, schockierte sie. Man habe eine offene Drogenszene vorgefunden, sagt einer der Ermittler, in der hemmungslos gedealt worden sei. Die Konsumenten seien keine verelen de - ten Junkies gewesen, sondern eine Schickeria, die in den Küchen angesagter Restaurants kokste und damit quasi unter den Augen von Armin N. Der Kripokommissar ist ein eindrucksvoller Mann, groß, kahl rasiert, dandyhaft. Er sei dominant, aber kein Macho, so beschreiben ihn Bekannte. Für einen Beamten des gehobenen Dienstes hat er als Erster Kriminalhauptkommissar das Maximum erreicht. Seit 2000 leitete er das Rauschgiftdezernat in Kempten. Während es für ihn beruflich steil nach oben ging, gab es in seinem Privatleben Brüche. Eine Ehe scheiterte, einige Jahre wohnte er zusammen mit seiner neuen Frau in einem Einfamilienhaus nahe Kempten schien die Karriere des Kommissars in Gefahr. Armin N. stritt sich mit seiner Partnerin, er schlug zu, angeblich so hart, dass Schäden blieben. Die Polizei ermittelte zwar, einer Anklage entging er aber angeblich, weil die Frau keine Strafanzeige erstattete und die Aussage verweigerte. FOTO: JOSÄ ANTONIO MORENO / AGEFOTOSTOCK / AVENUE IMAGES (L.) 42 DER SPIEGEL 23 / 2014

43 Deutschland Karl Heinz Alber, der das Sachgebiet Verbrechensbekämpfung im Polizeipräsidium Kempten leitet, kennt die Umstände. Doch ohne eine Anzeige, erklärt er, habe er gegen seinen Kommissar disziplinarisch nicht vorgehen können. Bedrohlich wurden für Armin N. offenbar auch die fortwährenden Ermittlungen der KPIZ in Kempten. Je weiter die Spezialisten aus Neu-Ulm in die örtliche Drogenszene vordrangen, umso mehr geriet der Dezernatschef in Erklärungsnot. So hatten die KPIZ-Beamten zwei Fälle an die Kemptener Kollegen abgegeben, von denen sie sicher waren, dass sie zu einer Anklage führen müssten. Doch angeblich konnten die einheimischen Polizisten nichts finden. Wohnungen durchsuchen. Der Kemptener Gastronom Giuseppe C. wurde im Februar 2013 wegen Kokainhandels zu viereinhalb Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Die Suche nach den Lieferanten des Kokains erfuhr jedoch im April 2013 einen empfindlichen Rückschlag. Ein Ermittler der KPIZ, der maßgeblich am Erfolg des Verfahrens gegen Giuseppe C. beteiligt war, wurde vom Dienst suspendiert. Er hatte mit der Exfreundin des verurteilten Restaurantbesitzers angebandelt und dies seinem Chef gesagt. Dass der Vorgesetzte dieses Wissen für sich behielt, wurde auch ihm zum Verhängnis. Er wurde seines Postens ent - hoben und von einem Beamten aus dem Kemptener Präsidium ersetzt. kannt gewesen. Er habe öffentlich keinen Hehl daraus gemacht, so Albanesi, dass ihm mitunter Leute, die er beruflich verfolgen müsse, sympathischer seien als manche Kollegen. Wer Armin N. wirklich gewesen ist, das versuchen Ermittler des bayerischen Landeskriminalamts seit Wochen herauszu - finden. Dafür, dass der langjährige Chef des Rauschgiftdezernats nicht nur selbst kokste, sondern mit Kokain dealte, sprechen die enorme Menge und die Qualität des Stoffs. Das Rauschgift in seinem Büro habe aus einem Kiloblock mit über 90 Prozent Reinheitsgehalt bestanden, so, wie es in Südamerika verschickt wird. Die restlichen 600 Gramm seien bereits verschnitten und in kleineren Einheiten Bei einer Telefonüberwachung tauchten sogar Hinweise auf, dass Informationen über die Ermittlungen zu Verdächtigen durchgesickert seien. Angeblich hatte ein Kemptener Drogenfahnder seinem Tennis - kumpel davon erzählt, der gut im Italie - nermilieu vernetzt ist. Haupttäter Giu - seppe C. habe daraufhin nach der Telefon - nummer des Tennisspielers gefragt, um sich bei dem Polizisten nach dem Ermittlungsstand zu erkundigen. Die Fahnder der KPIZ waren entsetzt. Sie schrieben einen Vermerk an das Polizeipräsidium Kempten. Doch nichts geschah. Erst jetzt, so heißt es unter Ermittlern, nach der Festnahme von Armin N., werde den Hinweisen nachgegangen. Kriminaldirektor Alber will sich dazu nicht äußern: Es wird noch ermittelt. Trotz aller Hemmnisse führten die Neu- Ulmer Fahnder ihren Fall zu Ende. Im Mai 2012 ließen sie 20 Restaurants, Büros und Seit der Festnahme von Armin N. wird gerätselt, ob die beiden KPIZ-Ermittler in Wahrheit aus einem anderen Grund gehen mussten: weil sie zu viel von der Kemptener Drogenszene wussten und so früher oder später Armin N. auf die Schliche gekommen wären. Diese These bestreitet das Polizeipräsidium Kempten vehement. Es gebe keinen inhaltlichen Zusammenhang, heißt es. Poli zeipräsident Hans-Jürgen Memel hat - te keine Zeit, um sich gegenüber dem SPIEGEL zu dem Fall zu äußern. Er wird in zwei Monaten in den Ruhestand verabschiedet. Abwegig erscheint der Gedanke dennoch nicht. Gerüchte, dass der Chef der Drogenfahndung selbst Konsument war, gab es hier schon lange, sagt der Kemptener Linkenpolitiker Stefan Albanesi. Der Polizist sei häufig zu Technopartys in die Schweiz gefahren und in der Szene beverpackt gewesen, heißt es in Polizeikreisen quasi fertig für den Verkauf. Insgesamt hat das bei Armin N. sichergestellte Kokain einen Straßenverkaufswert von Euro. Der Kommissar sitzt an einem ge - heimen Ort in Untersuchungshaft. Er besteht darauf, den Stoff nur für dienstliche Schulungszwecke besessen zu haben. Sein Anwalt Wilhelm Seitz bestreitet jeglichen Handel und auch Kontakte seines Mandanten zur Mafia. Der Strafverteidiger ist Experte auf dem Gebiet. Er hatte bereits den ver - urteilten Drogenhändler Giuseppe C. vertreten. Die Statistik, die ihm früher so wichtig war, spricht jedenfalls kaum für Armin N. Seit er nicht mehr das Drogendezernat leitet, sagt Kripochef Alber, werde in Kempten wieder mehr Rauschgift sichergestellt. Conny Neumann, Andreas Ulrich DER SPIEGEL 23 /

44 Deutschland Mit einem Schlag Ausländer Prozesse Auf einer Klassenreise wird der 15-jährige Sohn eines Taiwaners Opfer einer Gewalt attacke. Die Polizei findet Hinweise auf rassistische Motive. In der Anklage ist davon keine Rede. Eine Woche nach dem Angriff hat sich das Hämatom im Gesicht des 15-Jährigen gelb verfärbt. Dreimal hatten die Täter zugeschlagen, aufs Kinn, auf die Schläfe, aufs linke Auge, die Ärzte diagnos - tizierten einen Splitterbruch des Augen - höhlenbodens. Für ein paar Tage bestand die Gefahr, dass Floris H. erblindet. Zwei Klassenkameradinnen sind zu Besuch gekommen in den Kindertrakt der Hamburger Uni-Klinik. Auf dem Schränkchen neben dem Krankenbett stapeln sich Bücher und selbst gebastelte Pappfiguren. Auf einer steht: Du bist nie allein. Die Freundinnen machen sich Vorwürfe, weil sie in der Jugendherberge ihre Zimmertür abschlossen, als sie nachts um drei Uhr die fremden Männer auf dem Gang sahen statt Floris H. zu helfen. Ihr hättet nichts machen können, beruhigt er die Mädchen und erzählt, dass er sich bei einer Kampfsportschule angemeldet habe. Nächstes Mal wolle er sich wehren können, sagt er. Der Gymnasiast hat beschlossen, sich nicht in seine Rolle als Opfer zu fügen. Floris Vater stammt aus Taiwan, seine Mutter ist Deutsche. Während einer Klassenreise ins sächsische Bad Schandau geriet der Hamburger Schüler vor neun Monaten in einen Strudel, der den Jungen in seinen Grundfesten erschütterte. Zunächst fand er sich blutend auf den weißen Fliesen einer Toilette wieder; danach wurde er erstmals mit dem Gedanken konfrontiert, ein Ausländer im eigenen Land zu sein; und schließlich sah er sich veranlasst, die Schule zu wechseln. Floris sagt, er könne erst beginnen, einen Schlussstrich unter diese Ereignisse zu ziehen, wenn seine drei Peiniger für das verurteilt werden, was sie aus seiner Sicht sind: Männer, die aus rassistischen Motiven zuschlagen. In dieser Woche beginnt der Prozess gegen die mutmaßlichen Täter David K., 26, Raumausstatter, Felix Kr., 18, Berufsschüler, und Nico H., 20, Maurer, vor dem Amtsgericht Pirna. Das Verfahren wirft eine heikle Frage auf: Was gilt in Deutschland als rechtsmotivierte Tat? Die drei Beschuldigten haben den Überfall gestanden, sie sind wegen gemeinschaftlich begangener gefährlicher Körperverletzung angeklagt. Ein politisches Motiv für die Attacke auf den Zehntklässler konnte die Staatsanwaltschaft Dresden nicht erkennen. 44 DER SPIEGEL 23 / 2014 Floris H. wird nicht im Gerichtssaal sein, er will den Männern nicht noch einmal begegnen, will auch nie wieder nach Sachsen reisen. Die Schläge haben mehr zerstört als bloß einen Gesichtsknochen des Jungen. Sie haben den Schüler herausgerissen aus einer Gewissheit, auf die er bislang sein Leben baute: dass man sich nur genug anstrengen muss, um sicher zu sein. Dass Erfolg unverwundbar macht. Migranten, das waren für Floris H. bis zu jenem 7. September 2013 immer die anderen. Kinder, die benachteiligt sind, deren Eltern kein Deutsch sprechen, ihnen bei den Hausaufgaben nicht helfen können. Auf jeden Fall keine Einser-Schüler wie er und seine ältere Schwester, deren Fotos die Website des Hamburger Goethe-Gymnasiums schmückten, weil sie im Schul - orchester die Erste Geige spielten. Seinen Vater hat Floris H. kaum kennengelernt, seine Mutter, eine Linguistin, hat ihm ein bisschen Chinesisch beigebracht. Erst das Geschehen in Bad Schandau hat Floris zum Asiaten gemacht, zu einem mit Migrationshintergrund. Der Schüler mit Begabtenstipendium spricht jetzt von wir und meint damit zum ersten Mal all jene in Deutschland, die nicht blond und blauäugig sind. Er sagt: Ich will, dass bekannt wird, wie die Nazis zuschlagen. Drei zehnte Klassen des Goethe-Gymnasiums, insgesamt 87 Schüler und 6 Lehrer, waren in der Jugendherberge von Bad Schandau im Ortsteil Ostrau untergekommen. Die gelben Häuser liegen etwas abseits über dem Elbtal, ein Metalltor trennt die Unterkunft der Fremden von den Einheimischen, die am Abend des 6. September wenige Hundert Meter entfernt ein Dorffest mit Bieranstich feiern. Aus den Ermittlungsakten der Polizei lässt sich das Geschehen rekonstruieren: Obwohl die Lehrer es ausdrücklich verboten haben, verlassen einige Schüler das Gelände der Jugendherberge, auch Floris H. ist dabei. Da es ihm jedoch schon bald zu kalt wird, geht er zurück und legt sich schlafen. Rund zehn seiner Klassenkameraden besuchen das Dorffest und treffen dort unter anderem auf David K. und Nico H. Die Einheimischen machen anzügliche Sprüche. Die Hamburger, darunter auch ein schwarzes und zwei muslimische Mädchen, würden ihr sächsisches Dorf verschmutzen, sollten sich schnellstmöglich verpissen. Das sollen die Männer aus Schüler Floris H. Sie trafen mich nicht zufällig dem Ort laut Aussagen der Schüler gerufen haben. Die Jugendlichen suchen Schutz bei einer Gruppe aus der Parallelklasse, die am Dorfteich Shisha raucht. Die Männer, die sie anpöbelten, seien betrunken und aggressiv gewesen, sagen die Schüler später aus. Einer der Ein - heimischen soll einen Gymnasiasten angerempelt haben, man wisse, wo die Jugendherberge sei, und könne alles auch mit Fäusten und Schlägen klären. Es sei auch darum gegangen, ob die Hamburger HSVoder St.-Pauli-Fans seien. Einer der Gymnasiasten macht laut Akte einen Witz über die Zahl 53 auf dem Pulli von Nico H. 53 steht für das Gründungsjahr von Dynamo Dresden. Die Schüler kehren danach in die nicht einmal 300 Meter entfernte Jugendherberge zurück; eine halbe Stunde später entscheiden sich die Einheimischen offenbar, ihnen nachzugehen. Gegen drei Uhr wacht Floris H. in seinem Zimmer auf. Er muss zur Toilette und FOTO: DMITRIJ LELTSCHUK / DER SPIEGEL

45 ist noch im Halbschlaf, als ihm drei Männer folgen, ihn von hinten angreifen und dann brutal zuschlagen. Jetzt lachst du nicht mehr, hört Floris, als die Fremden endlich von ihm lassen. Benommen schleppt er sich zurück auf sein Zimmer. Kurze Zeit später versammeln sich etwa zwölf Personen im Hof der Jugendherberge, rütteln an den Türen und grölen. Schüler und Lehrer haben sich im Haus ver - barrikadiert, warten auf die Polizei und den Notarzt. NSDAP, wir vergessen nie, wollen die verängstigten Gymnasiasten gehört haben, ein Nachbar vernimmt Heil Hitler, ein Lehrer hört Türkenfotze, und einer Schülerin soll durchs Fenster zugerufen worden sein, sie solle Deutsch lernen oder zurückgehen in ihr Land. Es war wie im Krieg, erinnert sich Floris. Wie eine Belagerung. Wir hatten Todesangst. Nach dem Überfall werden im Freistaat Sachsen altbekannte Reaktionen abgespult. Bloß nicht die ganze Region in Sippenhaft nehmen, warnt Klaus Brähmig, der Vorsitzende des Tourismusverbands Sächsische Schweiz. Innenminister Markus Ulbig (CDU) spricht mit Bedauern von einem schrecklichen Einzelfall. Man versucht, den Imageschaden zu begrenzen. Neonazis kosten Touristen. Floris Mutter glaubt nicht an einen Einzelfall. Sie ist eine strenge Frau, die schnell denkt und schnell redet. Sie geht von einem rechtsradikalen Hintergrund der Tat aus, und das schreibt sie dem Goethe-Gymnasium in einer . Sie beklagt sich auch, erst knapp sieben Stunden nach dem Überfall informiert worden zu sein. Floris wurde verboten, mich anzurufen, sagt sie. Und als sich ein Lehrer endlich bei ihr meldete, habe er berichtet, ihr Sohn sei in eine kleine Schlägerei verwickelt gewesen. Sich wegzuducken und die Reihen zu schließen, das sei der Nährboden für das, was Floris passiert sei, glaubt die Mutter. Der Schulleiter erklärt zum Vorwurf des späten Anrufs, man habe die Mutter nicht in der Nacht wecken und beunruhigen wollen, Floris habe dem zugestimmt. Und in einer bittet die Klassenlehrerin die Mutter um Besonnenheit: Es lägen bisher keine Beweise vor, die auf rechtsradikales Gedankengut der Täter hinweisen. Die Mutter ist da längst der Ansicht, die Schule stehe nicht auf der Seite ihres Sohnes. Sie beschließt, für ihn ein neues Gymnasium zu suchen. Und sie schreibt eine Dienstaufsichtsbeschwerde, die inzwischen abgewiesen wurde. Ich hätte es nicht aushalten können, jeden Schultag wieder mit der Nacht von Bad Schandau konfrontiert zu sein, sagt Floris H. Er ist ein bescheidener Jugendlicher, der schon früh seine alleinerziehende Mutter unterstützen und im Haushalt anpacken musste. In den Tagen nach dem Überfall sorgt er sich, den Anschluss zu verlieren, in der Schule, im Tischtennis, seiner Leidenschaft, in der er es schon zu Meisterehren gebracht hat. Fürs Verletztsein hat er eigentlich gar keine Zeit. Ein paar Wochen später, als er bereits auf eine andere Schule gewechselt ist, spielt er beim Weihnachtskonzert des Goethe-Gymnasiums im Hamburger Michel mit: Vivaldi, Konzert in a-moll. Sein Geigensolo hätte so schnell niemand erlernen können, er wollte seine Musiklehrerin nicht hängen lassen, sagt er. Als er am letzten Schultag vor den Ferien seine alte Klasse besuchen will, lässt ihn die Klassenlehrerin jedoch nicht in den Unterrichtsraum. Weil sie in Bad Schandau aus der Jugendherberge ausgebüxt waren, haben Floris alte Klassenkameraden Strafarbeiten bekommen. Zusätzliche Reinigungs- und Aufräumarbeiten, so bestätigt der Schulleiter. Schließlich hätten seine Schüler durch ihr grob regelwidriges Verhalten alle Zehntklässler auf der Klassenreise in Gefahr gebracht. Waren die Gymnasiasten also selber schuld, dass ein paar Einheimische plötzlich die Jugendherberge stürmten? Die Ermittlungen übernahm das Operative Abwehrzentrum der Polizei in Leipzig, das in Sachsen für Rechtsextremismus zuständig ist. Ein fremdenfeindlicher Hintergrund der Tat wird von den Ermittlern zunächst eindeutig bejaht. In den Polizeiberichten sind die rassistischen Ausfälle vom 6./7. September ausführlich dokumentiert. In der Anklage gegen Floris Peiniger, die im Januar erhoben wird, ist von rassistischen Sprüchen nicht mehr die Rede. Ein Sprecher der Dresdner Staatsanwaltschaft teilt mit, dass die Ermittlungen von Polizei und Staatsanwälten diesen ersten Verdacht nicht mit der notwendigen Sicherheit bestätigen konnten. Auch ein Streit über Fußball könne der Anlass für den Angriff gewesen sein, ein konkretes Tatmotiv habe nicht festgestellt werden können. Die Ermittlungen gegen das Dutzend weiterer Personen im Hof der Jugendherberge werden eingestellt. Was sie womöglich gerufen haben, lasse sich nicht mehr in Erfahrung bringen, heißt es. Außerdem habe niemand einen Strafantrag wegen Beleidigung gestellt. Einen gemeinsamen Tatplan der Schläger und der Gruppe im Hof hätten die Ermittlungen nicht ergeben, so die Staatsanwaltschaft. Im vergangenen Jahr, so hat es ein regionaler Opferberatungsverein zusammengezählt, gab es in der Sächsischen Schweiz 17 rechtsmotivierte oder rassistische Übergriffe. Bei der Europawahl erzielte die NPD dort mit 5,7 Prozent ihr bundesweit bestes Ergebnis. Alle drei Angeklagten, die Floris überfielen, sind auf Facebook mit Mario W., einem ehemaligen Kader der inzwischen verbotenen Skinheads Sächsische Schweiz, und mit dem neuen NPD-Gemeinderatsmitglied Martin Hering aus Gohrisch befreundet. Laut einer Zeugenaussage aus dem Umfeld von Felix Kr. und David K. hören die beiden rechte Musik, Letzterer habe mal eine Reichskriegsflagge als Tischdecke benutzt. Bei den Hausdurchsu - chungen wurde jedoch lediglich nach der Kleidung des Tattags und nach Mobil - telefonen gefahndet. David K. hat in einer Vernehmung gesagt, er hege Sympathie für einige rechte Positionen. Von Felix Kr. existiert ein Video, darin bespuckt er einen Polizisten und deutet eine Onaniergeste an, später zeigt er auch noch den Hitler- Gruß. In der Anklage wegen Körperverletzung spielt das kaum eine Rolle. Hier wird vor allem benannt, was als Provokation der Hamburger Jugendlichen gewertet werden konnte: Nickeligkeiten, Störungen durch Klingelstreiche. Ein mögliches Tatmotiv Alle drei Angeklagten sind auf Facebook mit Skinhead- und NPD-Kadern befreundet. sei, dass die Gymnasiasten negativ über den Pulli mit der 53 von Nico H. gesprochen hätten. Es wird Aufgabe des Gerichts sein festzustellen, ob die Schüler die Männer womöglich allein dadurch provozierten, dass man sie in Bad Schandau als Fremde wahrnahm. Als Türken, Schwarze, Chinesen. Im Februar hat Floris einen Brief von David K. erhalten, Hallo Floris!, so steht es handschriftlich auf Linienpapier aus einem College-Block. Es tut mir von Herzen leid, wie dieser Abend endete. Er habe wegen des Elbehochwassers vom Juni 2013 vier Monate lang nicht in seiner Wohnung übernachten können. Es habe sich viel Frust aufgebaut. Der Angriff habe aber keinen nationalen Hintergrund gehabt. Alle drei Angeklagten beteuern, nicht aus Rassismus zugeschlagen zu haben. Floris H. will die Entschuldigung nicht annehmen. Sie trafen mich nicht zufällig, davon ist er überzeugt. Wenige Tage vor Prozessbeginn sitzt er in seinem Kin - derzimmer unter der Dachschräge. Die Wände hat er orange gestrichen, auf einer kleinen Konsole sind 13 Tischtennispokale aufgereiht. Er habe sehr gute Noten in der neuen Schule, sagt er, aber die Freunde vom Goethe-Gymnasium fehlten ihm. Lena Kampf DER SPIEGEL 23 /

46 FOTO: LOOK-FOTO Biergarten in München Stramm durch den Slalom Verkehr Politik und Polizei fordern niedrigere Promillegrenzen für Radfahrer. Doch eine Studie lieferte überraschende Erkenntnisse über deren Fahrvermögen. 46 DER SPIEGEL 23 / 2014 Polizeidirektor Udo Weiss und sein Team haben viel versucht, um Münsters Radler zur Vernunft zu bringen. Sie verteilten Flugblätter mit Bildern von Unfallopfern, zogen durch Schulklassen und lauerten spätabends an Radwegen, um Alkoholkontrollen durchzuführen. Doch geholfen habe es nicht viel, sagt Weiss. Hier, sagt er und öffnet einen Papphefter mit Polizeimeldungen vom Wochenende, wieder viele betrunkene Radfahrer dabei. Zum Beispiel eine Studentin, die mit einer Blutalkoholkonzentration von 1,0 Promille in eine Fußgängerin krachte und diese schwer verletzte. Und ein junger Mann, der mit 1,34 Promille auf der Autobahn fuhr. Als sich die beiden betrunken auf ihren Sattel schwangen, taten sie noch nichts Verbotenes. Fahrradfahrer dürfen hierzulande mit bis zu 1,6 Promille unterwegs sein; erst darüber gelten sie als absolut fahruntüchtig und müssen eine Strafe bezahlen, unter Umständen ihren Pkw-Führerschein abgeben. Bei niedrigeren Promillewerten drohen ihnen diese Konsequenzen nur, wenn sie einen Unfall bauen oder eindeutig durch unsichere Fahrweise auffallen. Polizist Weiss findet die gültigen Regeln unzureichend, weil man schon bei deutlich unter 1,6 Promille ein Sicherheits - risiko sei. Eine 40-jährige Frau mit einem Körpergewicht von 60 Kilogramm und einer Größe von 1,70 Metern müsste zum Beispiel innerhalb von vier Stunden mehr als eine Flasche Wein und vier Schnäpse trinken, um diesen Wert zu erreichen. Die meisten leiden schon bei etwas mehr als der halben Menge unter Tunnelblick oder anderen Ausfallerscheinungen. Dass von beschwipsten Radfahrern ein erhöhtes Unfallrisiko ausgeht, belegt die Statistik. 4,6 Prozent aller Pedaltreter, die an Unfällen mit Verletzten beteiligt waren, waren alkoholisiert, aber nur 2,4 Prozent aller Auto- und 1,7 Prozent aller Motorradfahrer. Weil man nur mit gutem Zureden nicht mehr weiterkomme, fordert Weiss seit Jahren niedrigere Promillegrenzen und höhere Strafen für betrunkene Fahrradfahrer. Doch nun gibt es neue Erkenntnisse, die sogar die 1,6-Promille- Grenze infrage stellen. Hintergrund ist eine Studie der Unfallforschung der Versicherer (UDV). Sinn - gemäß erging dafür folgender Auftrag an Wissenschaftler der Universität Düsseldorf: Bier, Wein und Schnaps kaufen und etwa 80 Menschen einladen, die ganz normale Trinkgewohnheiten haben. Alle Probanden ordentlich abfüllen, sie zwischendurch aufs Fahrrad setzen und schauen, was passiert. Das Experiment gelang: Es wurde ge - bechert wie am Ballermann, und auch das Radfahren funktionierte ganz gut. Zu gut, könnte man sagen. Denn einige der 18 bis 53 Jahre alten Testpersonen konnten den aufgebauten Hindernisparcours auf einem Gelände in Neuss wider Er - warten auch oberhalb von 1,6 Promille noch sicher absolvieren: Sie bremsten immer an den richtigen Stellen, fuhren souverän durch einen Slalom und bewältigten auch alle anderen Aufgaben, die ihnen gestellt wurden. Die Annahme der deutschen Gerichte, dass ausnahmslos jeder Radfahrer ab 1,6 Promille fahruntüchtig ist, konnten wir nicht bestätigen, resümiert UDV-Leiter Siegfried Brockmann. Dieser Satz hat es in sich. Denn ein Radfahrer, der demnächst bei einer Kontrolle mit 1,6 Promille auffällt und eine Strafe zahlen soll, könnte auf das Kollektivbesäufnis in Neuss hinweisen und auf jene Probanden, die auch oberhalb von 1,6 Promille noch gut unterwegs waren. Nach dem Motto Im Zweifel für den Angeklagten könnte der alkoholisierte Radler dann Chancen haben, Recht zu bekommen. Ganz glücklich sind Brockmann, Weiss und viele andere mit diesem Studienergebnis nicht. Ihnen missfällt der Gedanke, dass Fahrradfahrer pünktlich zur Grillfestund Biergartensaison noch ein bisschen besoffener sein dürfen, wenn sie auf ihr Gefährt steigen. Vielen Verkehrsexperten wäre es am liebsten, wenn Radler zukünftig nicht nachsichtiger, sondern ähnlich streng behandelt werden könnten wie Autofahrer. Die gelten laut mehreren Studien zwar auch erst ab 1,1 Promille als absolut fahruntüchtig, bekommen aber ab 0,5 Promille eine Art Warnschuss: Sie kassieren dann ein Bußgeld in Höhe von mindes - tens 500 Euro, zwei Punkte in Flensburg und bis zu drei Monate Fahrverbot. Die deutsche Innenministerkonferenz (IMK), die sich schon im vergangenen Jahr mit dem Thema beschäftigte, ist für eine Verschärfung der Regeln für Alkohol am Lenker aufgeschlossen. Wir sind uns einig, dass sich etwas tun muss, sagt Nordrhein- Westfalens Innenminister Ralf Jäger, derzeit IMK-Vorsitzender. So streng wie für Autofahrer dürften die Regeln für Radler aber nicht werden, findet Roland Huhn, Rechtsreferent des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC). Ein betrunkener Mensch auf einem Fahrrad gefährde schließlich in ers ter Linie sich selbst. Außerdem bewiesen die Unfallstatistiken, dass man mit 0,5 Promille in der Regel noch sicher unterwegs sei. Huhn und dem ADFC schwebt vor, Radlern ab 1,1 Promille eine Ordnungswidrigkeit vorzuwerfen. Das würde auch durch die Düsseldorfer Studie gedeckt: Ab diesem Wert erreichte nämlich kein einziger Proband mehr seine Leistungsfähigkeit wie am Anfang des Experiments. Münsters Polizeidirektor Weiss favorisiert dagegen einen Wert von unter 1,0 Promille. Tatsächlich dürften 1,1 Promille dem einen oder anderen schon erheblich zusetzen. Um diesen Alkoholspiegel zu erreichen, müsste ein 40-jähriger Mann mit einem Körpergewicht von 80 Kilogramm und einer Größe von 1,85 Metern zum Beispiel inner halb von vier Stunden mindestens zwei Liter Bier trinken. Und fünf Korn dazu. Guido Kleinhubbert

47 Deutschland Mama, ich bin dumm Bildung Längst nicht alle Eltern behinderter Kinder sind von der Idee der Inklusion begeistert: In NRW kämpft eine Initiative für den Erhalt der Förderschulen. Vor einem Jahr beschloss Tina Brune, dass es so nicht weitergehe. Die Mutter aus Plettenberg in Nordrhein- Westfalen saß bei der Klassenlehrerin ihres jüngsten Sohnes, um das Deutschdiktat zu besprechen. Die kleine Hexe sollte die Überschrift lauten. Max, ein lernbehinderter Junge mit Seh- und Hörstörungen, hatte nur drei Buchstaben zu Papier gebracht: K, L, H. Die Lehrerin erkannte darin Wortfragmente, die Mutter aber einen Beleg für die hoffnungslose Überforderung ihres Sohnes. Sie meldete ihn von der Schule ab. Aus meinem fröhlichen war ein trauriges Kind geworden, sagt die Krankenschwester. Max habe häufig geweint, beim Aufstehen, auf dem Weg in die Schule, beim Abholen, bei den Hausaufgaben. Seine tägliche Klage: Mama, ich bin dumm. Seit der achtjährige Max die Vier-Täler- Schule in Plettenberg besucht, eine Förder - schule für Lernbehinderte, gehe es ihm besser, sagt seine Mutter. Diese Erfahrung hat sie zu einer Kämpferin gemacht. Frau Löhrmann, erhalten Sie die Förderschulen in NRW, so lautet ihr Onlineaufruf, den sie an Nordrhein-Westfalens Schulministerin Sylvia Löhrmann (Grüne) richtet Unterstützer haben bereits unterschrieben, im Herbst will Brune die Petition dem Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf an Förderschulen an Regelschulen Quelle: Kultusministerkonferenz Förderschüler Max in Plettenberg: Stärkung durch ausgebildete Sonderpädagogen Landtag übergeben. Ihre Initi - ative rückt eine Schulform in den Blick, die derzeit einen schweren Stand hat. Angesagt ist Inklusion: Behinderte Schüler sollen als Folge einer Uno-Kon - vention vermehrt an Regel - schulen unterrichtet werden. Förderschulen gelten als Einrichtungen von gestern. Den Ton geben Betroffene wie die Mutter des elfjährigen Henri aus Baden-Württemberg vor, die ihren Sohn aufs Gymnasium schicken will, obwohl der Junge mit Down - syndrom dort dem Unterricht nicht folgen könnte. Als Henris Mutter vor zwei Wochen in der Talkshow von Günther Jauch zu Gast war, flankierten sie dort drei Inklusionsbefürworter und nur ein Skeptiker. Die Redaktion hatte auch bei Tina Brune angefragt, dann aber abgesagt. Andere Gäste würden bereits die Position abdecken, lautete Brune zufolge die Begründung. Vielerorts löst die Inklusion indes Sorgen und Spannungen aus. In Nordrhein- Westfalen etwa tritt zum August ein verändertes Schulgesetz in Kraft, das behinderten Kindern einen Rechtsanspruch auf einen Platz an einer Regelschule garantiert. Für Lern-Förderschulen wie in Plettenberg gilt künftig eine Mindestgröße von 144 Schülern, derzeit hat die Schule 92. Kritiker dieser starren Größenvorgabe wie Udo Beckmann, der Vorsitzende des Verbands Erziehung und Bildung (VBE), sprechen von einer kalten Schließung der Förderschulen. Die Politik kann nicht einerseits den Elternwillen hochhalten und andererseits den Eltern die Optionen nehmen, so Beckmann. Eine VBE-Umfrage wies sinkende Zustimmungsraten zur Inklusion in Nordrhein-Westfalen aus. Und der Verband Sonderpädagogik berichtet von einer wachsenden Zahl ernüchterter Inklusions-Eltern, die ihre Kinder von den Regelschulen nehmen. Unser Sohn wurde behandelt wie alle anderen Kinder, sagt Sonja Maibach aus Koblenz, Sozialarbeiterin und Mutter des zwölf - jährigen Christian. Aber er kann nicht alles leisten, was andere Kinder leisten. Christian hat eine Lernbehinderung und eine Entwicklungsverzögerung. In der Grundschule hielt er noch mit, doch als er in die Integrationsklasse einer Realschule wechselte, begannen die Probleme: Der Schulalltag war ihm zu hektisch, der Pausenhof zu laut, die Lehrer zu unge - duldig. Wir sind von der Inklusion enttäuscht, sagt seine Mutter. Seit Januar besuche Christian eine Förderschule; er habe dort nur noch neun Mitschüler. Marianne Schardt, Sprecherin des Verbands Sonderpädagogik, fordert die Politik auf, die Lehrer besser zu schulen entsprechend der Ausbildung der Sonder - pädagogen. Es gehe eher um die Stärkung des Kindes als nur darum, Wissen zu vermitteln. Doch die Lehrer, die nun mit behinderten Kindern zu tun haben, werden darauf oft nur in Crashkursen vorbereitet. Die Inklusion sei die größte Herausforderung für unsere Schulen, sagt Mecklenburg-Vorpommerns Bildungsminister Mathias Brodkorb (SPD). Seine Kollegin Löhrmann, derzeit Präsidentin der Kultusministerkonferenz, appellierte unlängst an den Bund, seiner Verantwortung bei der Umsetzung der schulischen Inklusion nachzukommen, also mehr Geld zu spendieren. Auch wir haben den Anspruch, unsere Schüler in die Gesellschaft zu integrieren, sagt Peter-Paul Marienfeld, Leiter der Vier- Täler-Schule. Marienfeld verweist auf Werkräume und Kurse zur Berufsvorbereitung. Er will der Abwicklung seiner Schule dadurch entgehen, dass sie mit der Förderschule im 25 Kilometer entfernten Lüdenscheid fusioniert, als Filiale muss die Schule nur 72 Schüler haben. Doch angesichts des politischen Willens und sinkender Schülerzahlen sei er sich nicht sicher, wie lange das Aufschub gewähre, sagt Marienfeld. Hoffnung habe er auf lange Sicht. Alle Schüler ins Regelschulsystem zu integrieren sei illusorisch, sagt der Schulleiter. In ein paar Jahren wird uns die Politik wohl wieder einführen, unter neuem Namen. Jan Friedmann, Lena Greiner DER SPIEGEL 23 / FOTO: OLIVER TJADEN / DER SPIEGEL

48 Sechserpack Da wo die Molle zischt, fühlt sich sein Herz erfrischt, heißt es bierselig über den Hauptstädter im Schlager Berlin bleibt doch Berlin. Nun bleibt nach einem Volksentscheid das Tempelhofer Feld das Tempelhofer Feld, das in anderen Metropolen erstklassiger Baugrund wäre: In Berlin bleibt es eine Spielwiese, vermüllt (1, 6), vergnügt (3, 4, 5), vergangen (2). Europa Wie macht man Politik für Tiere, Herr Eck? Stefan Bernhard Eck, 58, aus Saarbrücken, zog als einziger Abgeordneter der deutschen Tierschutzpartei ins Europäische Parlament ein. Er bekam Stimmen. SPIEGEL: Herr Eck, feiern Sie noch? Eck: * SPIEGEL: Eines Ihrer großen Wahlkampfthemen war der Mord an Straßenhunden in Rumänien. Wie wollen Sie nun als Abgeordneter Hunde retten? Eck: SPIEGEL: Auch Frischluft war ein wichtiges Wahlkampfthema für Sie. Eck: SPIEGEL: Wie wollen Sie diese Forderung umsetzen? Eck: SPIEGEL: In welchen Ausschüssen wollen Sie mitarbeiten? Eck: SPIEGEL: In einem Ihrer Wahlwerbespots heißt es: Der Fleischkonsum wird bald verboten werden, weil er für den Menschen zu gefährlich ist. Wie meinen Sie das? Eck: SPIEGEL: Wollen Sie Fleischkonsum verbieten? Eck: SPIEGEL: Ihre Wahlwerbung war Satire? Eck: SPIEGEL: In Ihrem Wahlprogramm steht: Wir setzen uns für ein komplettes Verbot der Jagd ein. Wie wollen Sie das als Abgeordneter erreichen? Eck: SPIEGEL: In Ihrem Wahlprogramm fordern Sie auch eine generelle Abrüstung. Sie sind Werbekaufmann, woher haben Sie Ihre Kompetenzen in der Verteidigungspolitik? Eck: SPIEGEL: Ja. Eck: SPIEGEL: Wie viel werden Sie als Abgeordneter verdienen? Eck: * Stefan Bernhard Eck hat am Telefon jede dieser Fragen beantwortet. Der SPIEGEL gab ihm die Gelegenheit, das Interview zu autorisieren, wie das beim SPIEGEL üblich ist. Eck strich alle Antworten ersatzlos. Die Fragen zu Frischluft und seiner Kompetenz in der Verteidigungspolitik wollte er ebenfalls streichen. Er wünschte sich außerdem, ein paar Fragen selbst zu formulieren. Der SPIEGEL lehnte diese Vorschläge ab. twu FOTOS: FLORIAN BÜTTNER / DER SPIEGEL (6, O.)); JOHANNES KRUCK / WAZ FOTOPOOL (U.) 48 DER SPIEGEL 23 / 2014

49 FOTO: CATERS / BULLSPRESS Übergärig Eine Meldung und ihre Geschichte Wie ein Brite damit lebt, ständig betrunken zu sein Matthew Hogg hat darum gebeten, ihn nicht zu früh anzurufen. Nicht am Vormittag, er schlafe meist länger. Der Nachmittag sei gut, der frühe Nachmittag sei in Ordnung. Dann werde er bereit sein. 15 Uhr also, an einem normalen Werktag. Matthew Hogg nimmt den Anruf in seiner Wohnung in Middlesbrough, Großbritannien, entgegen, und das Erste, was man hört, ist ein Seufzen, so als ob sich jemand vom Sofa hochstemme, dann ein, zwei Sekunden Stille und schließlich: Hm? Mister Hogg? Hogg, schläfrig: Ja? Wie geht es Ihnen? Ganz okay, danke. Sie sind müde, oder? Bin ich viel zu oft. Seit drei Jahrzehnten, fast sein ganzes Leben lang, ist Matthew Hogg müde. Seit drei Jahrzehnten ringt er mit einem Gegner, dem er nicht entkommen kann. Es ist sein Körper, der sein Leben zu einer grotesken, quälenden Party macht. Hogg kämpft gegen seinen Verdauungsapparat, der seine Arbeit nicht ordentlich verrichtet. Statt Kohlenhydrate einfach aufzuspalten, verwandelt Hoggs Darm sie in Alkohol. Isst Hogg einen Teller Pasta oder Brot oder Reis; isst er Cracker, Kartoffeln, Fast Food; trinkt er Limonade, Cola, Fanta dann ist er hinterher betrunken. Jede dieser Mahlzeiten garantiert einen Rausch, der mehrere Stunden anhält, gefolgt von einem Kater. Und selbst wenn er sich von diesen Dingen fernhält, wenn er nur Fleisch, Fisch, Gemüse, Öl und Wasser zu sich nimmt, gärt es unkontrolliert in seinem Innern. Die Krankheit, die dies verursacht, nennt sich Eigenbrauer-Syndrom, und Hogg ist einer von wohl nur einer Handvoll Kranken weltweit. Er ist eine medizinische Kuriosität, ein Rätsel für fast alle Ärzte. Weil es nur so wenige Erkrankte gibt, ist er leider uninteressant für die Pharmaindustrie. 34 Jahre alt ist Hogg mittlerweile, arbeitslos seit Langem, chronisch müde, die Leber geschädigt, das Immunsystem aus der Balance, und angesichts seines Schicksals stellen sich ein paar einfache Fragen: Wie lebt man unter diesen Umständen? Und wie gibt man dem eigenen Leben einen Sinn? Die ersten 20 Jahre waren für Hogg eine Achterbahnfahrt. Vor allem seine Jugend wurde bestimmt von Räuschen, die scheinbar aus dem Nichts kamen, von verkaterten Morgen, obwohl er am Abend zuvor keinen Schluck getrunken hatte, und von gestammelten Entschuldigungen, nachdem er Hogg, Lebensgefährtin Von der Website vice.com Gesellschaft zu Hause, bei Freunden, in der Schule mal wieder ausgerastet war. Mit seiner Mutter suchte er eine Erklärung für dieses Verhalten, für seine dauernde Müdigkeit, für die massiven Koliken, die monströsen Blähungen, die ihn peinigten. Seine Odyssee führte ihn in Krankenhäuser, Kliniken, zu Psychologen, Psychiatern, zu alternativen Heilern bis ihm schließlich ein Arzt in London die Diagnose nannte, die allem einen Sinn gab: Er ist ein Eigenbrauer. Offenbar war die Immunabwehr seines Körpers geschwächt, wodurch auch immer, das hatte die Flora seines Darms durcheinandergebracht. Jeder Mensch hat Hefen, also Pilze, in seinem Körper. Bei Menschen wie Hogg vermehren sie sich so stark, dass sie eine alkoholische Gärung in Gang setzen, die außer Kontrolle gerät. Sie kann so stark sein, dass der Alkoholspiegel im Blut messbare Werte erreicht. Hoggs erste Reaktion war Erleichterung. Es gab also doch eine Erklärung für all das, was ihm widerfahren war. Seine zweite Reaktion war Trotz. Er wollte kein Freak sein. Hogg studierte zu dieser Zeit Informatik an der Universität von Sheffield, und er wollte normal sein, wollte mit seinen Freunden ausgehen, abends, am Wochenende mit ihnen im Pub sitzen, Fast Food essen und ein paar Bier trinken. Und das tat er auch. Aber schon sehr bald wollten viele seiner Freunde das nicht mehr. Ich war oft unberechenbar, sagt Hogg. Auch fiel es ihm schwerer, sich von den nächtlichen Exzessen zu erholen. Er schlief immer mehr, immer länger, aber der Schlaf brachte keine Er - holung. Hogg brach das Studium schließlich ab. Die folgenden Jahre verbrachte er damit, auf eigene Faust nach einer Therapie zu suchen. Es war sein privater Kreuzzug gegen die Mächte im eigenen Körper. Er leerte die Sparkonten der Familie, fuhr zu neuen Heilern, zu anderen Akupunkteuren, sogar nach Mexiko, wo er sich mehrere Wochen lang in einer Spezial - klinik behandeln ließ, ohne Erfolg. Hogg erkundete die Grenzgebiete der Medizin, diskutierte die Vorzüge der Eigen urin behandlung, gab selbst der Fäkal therapie eine Chance, und natürlich las er alle Fachbücher, die auch nur im Entferntesten hätten hilfreich sein können. Heute ist Hogg ein Experte des menschlichen Verdauungssystems, er kennt seine Feinheiten, seine Details, kann lange referieren über die Flora des Dünndarms, er unterhält eine Website zum Thema, aber trotz seines Expertentums ist er immer noch krank. Hogg hat den Kampf gegen seinen Körper verloren, aber das ist nicht der Eindruck, der sich einstellt, wenn man sich mit ihm austauscht am Telefon, in s. Dann trifft man einen Mann, dem es gelungen ist, seine Krankheit zu akzeptieren. Matthew Hogg hilft jetzt vor allem anderen chronisch Kranken, gibt ihnen Ernährungstipps, Hinweise zur Lebensführung. Die Krankheit, die er hat, ist nach wie vor ein Fluch. Aber es geht ihm besser, seit er versucht, sie auch als Geschenk zu sehen. Uwe Buse DER SPIEGEL 23/

50 Einweihungsfeier am Ground Zero im Mai Das Wissen der Wildbirne 11. September Nach langem Streit ist die Gedenkstätte am Ground Zero eröffnet. Jeder Baum dort erzählt davon, wie schwer sich New York mit den Anschlägen weiterhin tut. Der Mann, der die Plaza bepflanzt hat, wünscht sich Manhattan als Wald. Von Alexander Osang

51 Gesellschaft FOTOS: XINHUA / IMAGO (L.); DIRK EUSTERBROCK / DER SPIEGEL (R.) Als der letzte Baum gepflanzt ist, läuft Tom Cox ins Millennium Hotel zurück, das wie ein schwarzer Glassarg am Ground Zero steht. Es ist sechs Uhr morgens, frühe Touristen und Geschäftsleute streifen durch die Lobby, Cox sieht zwischen den frisch rasierten Männern aus, als hätte er eine komplizierte Geschichte zu erzählen. Er trägt fleckige Jeans, schwere Stiefel und einen grauen Bart. Er hat drei Nächte durchgearbeitet, aber er weiß, dass er noch nicht schlafen kann. Zu viel Adrenalin. Er fährt mit dem Aufzug in den 52. Stock des Hotels zu seiner Suite. Er bucht immer das höchste Zimmer, das er kriegen kann. Er zieht die Vorhänge auf. Milchiges Morgenlicht füllt den Platz, der höchste Turm Amerikas, nebenan, ist in weißen Dunst gehüllt. Cox Bäume sind von hier oben winzige grüne Punkte. 396 Punkte. Weißeichen. In ein paar Tagen werden ihre Blätter den Platz grün färben, in 5 Jahren wird man Ende Mai auf eine dichte Blätterdecke schauen, in 50 Jahren wird es eher ein Park als ein Mahnmal sein, glaubt Tom Cox, in 300 Jahren ein Wald. So denkt er. Die Bäume werden den Platz erobern, sie werden ihn eines Tages übernehmen, und sie werden noch da sein, wenn keiner der Wolkenkratzer mehr steht. Am Ende, da ist sich Cox sicher, gewinnt der Baum. Die Amerikanische Weißeiche ist besonders frosthart, verträgt Salz, ihr Holz wird für Whis - keyfässer verwendet. Sie ist der Staatsbaum von Connecticut, Maryland, Illinois und West Virginia. Sie wird 25 bis 30 Meter hoch. Die Indianer nutzen ihre Rinde als Medizin. Der Baum wurde für seine Aufgabe hier in New York ausgewählt, weil sein ge - riffelter Stamm an die Fassade des zerstörten World Trade Center er - innert, vor allem aber, weil er an der Spitze dieser lauten, lichtlosen Steinstadt die besten Chancen hat, in die Zukunft zu reisen. Cox zieht die Vorhänge zu und schaut im öffentlichen Fernsehen eine Dokumentation über Willy Messerschmitt, den deutschen Flugzeugbauer. Er geht schlafen, mit vielen Fragen im Kopf. Was bleibt übrig von all der Trauer, der Wut, der Ohnmacht, wann schließt sich die größte Wunde in der amerikanischen Geschichte? Wie lange kann eine Stadt wie New York weinen? 52 Stockwerke unter Tom Cox Bett haben sich am Vormittag Angehörige von Opfern des 11. September 2001 versammelt. Männer und Frauen mit Gesichtern, denen man das jahrelange Trauern ansieht. Sie tragen Bilder ihrer ermordeten Angehörigen. Sie stehen vor dem großen Bronze - relief, das an der Feuerwache der Ladder 10 hängt, die direkt am Ground Zero liegt. Das Relief zeigt die brennenden Türme, die kämpfenden Feuerwehrleute und wirkt so aufrichtig und ungelenk, als wäre es 200 Jahre alt. Man würde sich nicht wundern, wenn irgendwo, hinter einem der rauchenden Schuttberge, Lincoln herumstehen würde. Oder Washington. Unsere Söhne sind amerikanische Helden, sagt die Mutter eines Feuerwehrmannes. Die Verantwortlichen schaffen die menschlichen Überreste unserer Kinder in ein Museum, für das man 20 Dollar Eintritt bezahlen muss. Wir wollen, dass die Helden endlich Ruhe finden. Die Mütter und Schwestern und Väter anderer Opfer nicken. Sie protestieren dagegen, dass die unidentifizierten menschlichen Überreste, die an der Unglücksstelle Baumexperte Cox: Monster aus Märchenfilmen gefunden wurden, in einem Raum unter der Gedenkstätte gelagert werden. Die DNA-Proben werden dort in Kühlkammern aufbewahrt, um eine zukünftige Identifizierung möglich zu machen. Osama Bin Laden ist mit mehr Würde beerdigt worden als unsere Söhne, ruft die Mutter eines Feuerwehrmanns, der am 11. September umkam. Ein Opferanwalt hält eine Petition in Fernsehkameras, die sie an Präsident Obama gesandt haben. Seine Hände zittern, er weint. Im Hintergrund laufen Touristen mit dicken Einkaufstüten aus dem Warenhaus Century 21 vorbei. Sie schauen zerstreut zu den älteren Menschen vorm Bronzerelief, die in all dem Trubel unbeweglich und aus der Zeit gefallen wirken. Wie Querulanten. Der Tag im September vor 13 Jahren hat Kriege ausgelöst, die Zehntausende Menschen töteten und Chaos brachten, aber keine Erlösung. Seit 13 Jahren kämpfen Politiker, Architekten und Immobilienmakler darum, das gefräßige, schwarze Loch an der Spitze Manhattans zu füllen. Es hat Milliarden Dollar geschluckt und viel Zeit. Der Turm, der aus der Mitte des Platzes wuchs, sollte einmal Freedom Tower heißen, er sollte die Form der Freiheitsstatue spiegeln und sich mit elegantem Schwung symbolische 1776 Fuß hoch in den New Yorker Himmel winden. Im Jahr 1776 ist die amerikanische Unabhängigkeitserklärung unterzeichnet worden, nun sollte der Turm eine gläserne Spitze tragen und in den obersten Etagen mit Gartenlandschaften gefüllt sein, das höchste Gewächshaus der Welt. Die Zeit und die Streitereien haben die großen Ideen und Gefühle zerrieben. Das Haus heißt jetzt Tower Number One und sieht aus wie eine gläserne Wurst. Eine 1776 Fuß hohe gläserne Wurst. Fragt man drei verschiedene Verantwortliche, wann der Tower Number One nun endlich eröffnet, der höchste Turm Amerikas, bekommt man drei verschiedene Antworten. Der Direktor des Hilton Millennium sagt: nächstes Jahr im Sommer. Daniel Libeskind, Autor des Masterplans zur Bebauung von Ground Zero, sagt: spätestens im Frühjahr. Und Janno Lieber, Chef der Immobilienfirma, die den Turm vermietet, sagt: noch Ende dieses Jahres. Man kann die Geschichte von Ground Zero an diesem Haus erzählen, es geht aber auch mit den Amerikanischen Weißeichen. Sie sind so unscheinbar wie der Turm, aber aufgeladen mit Symbolik, Erwartungen und Angst. Jeder Baum ein Dollar-Investment, jahrelang gehegt, aufwendig umgepflanzt, in Spezialerde gezogen. Nach zweieinhalb Stunden Schlaf kommt Tom Cox in den Frühstücksraum des Hilton Millennium. Er bestellt ein Müsli mit Früchten wie jeden Morgen. Die Kellner kennen ihn. Cox hat ausgerechnet, dass er in den vergangenen sieben Jahren etwa 500-mal im Millennium übernachtet hat. Die Nacht kostete durchschnittlich 400 Dollar. Das macht Dollar Hotelkosten. Nur für ihn. Cox ist der Geschäftsführer von Environmental Design, einer texanischen Firma, die in der ganzen Welt Bäume unter extremen Bedingungen pflanzt, aufzieht und bewegt. Er hat am 18. Loch des berühmten Golfkurses von Pebble Beach eine 200 Jah- DER SPIEGEL 23 /

52 Gesellschaft re alte Zypresse versetzt und in Jaffa, Israel, einen 1000 Jahre alten Feigenbaum, weil er einer Autobahn im Weg stand. Er hat Bäume in einem tibetischen Kloster in 4000 Meter Höhe gepflanzt und in der Eingangshalle des Apple-Hauptquartiers. Er versetzt für amerikanische Milliardäre fünfzig Meter hohe und Hunderte Jahre alte Eichen, eine Dienstleistung für alte, reiche Männer, die das als Gartenarbeit verstehen. Cox hat Fotos auf seinem Handy, auf denen riesige Bäume durch die Luft schweben wie Monster aus Märchenfilmen, zum Vergleich steht immer einer seiner Arbeiter neben dem Stamm, ameisengroß. Aber das dort unten, Ground Zero, ist sein Opus magnum, sagt Tom Cox. Das bleibt. Es gibt eigentlich keine schlimmeren Bedingungen, unter denen ein Baum in der Stadt wachsen kann, als in Downtown Manhattan, sagt Cox. Es gibt nur wenig Erde, es gibt kaum Licht, es gibt sehr viele Abgase, es ist heiß und kalt und windig. Und unter jedem Baum befinden sich acht, neun unterirdische Stockwerke. Vor dem Fenster nieselt Mairegen auf das Gerippe des Bahnterminals, das einst direkt unter den Türmen des World Trade Center lag. Sein Neubau wurde vom spanischen Stararchitekten Santiago Calatrava entworfen und wird der teuerste U-Bahnhof in der Geschichte der Menschheit. Er soll an einen startenden Vogel erinnern, sieht aber zurzeit aus wie der Rücken eines plumpen, pflanzenfressenden Dinosauriers. Daneben steht der Stumpf von World Trade Center drei, dessen Bauarbeiten erst fortgesetzt werden, wenn die Finanzierung stimmt. Ob World Trade Center zwei jemals gebaut wird, weiß niemand. Cox Augen sind winzig und rot. Zum Zeitpunkt der Begegnung sind es noch drei Tage bis zur Eröffnung der Plaza, der Präsident hat sich angekündigt, Obama soll es schön haben. Cox und seine Männer setzen Bäume die ganze Nacht. Er lächelt schief. Eigentlich hätte seine Arbeit schon vor fünf Jahren erledigt sein sollen. Jetzt sind es insgesamt acht geworden, die plötzliche Eile kurz vor der Eröffnung findet er lächerlich. Vor allem, wenn er sie mit der Mentalität der Bäume vergleicht. Europäer pflanzen einen Baum für ihre Enkel und sehen ihm beim Wachsen zu, sagt Cox. Amerikaner wollen ihn sofort groß haben. Die ersten Bäume tauchten vor zwölf Jahren auf, in dem Entwurf von Daniel Europäer sehen einem Baum beim Wachsen zu, sagt Cox, Amerikaner wollen ihn sofort groß haben. Libeskind, den er der Weltöffentlichkeit gut ein Jahr nach dem Fall der Türme präsentierte. Libeskind gab den New Yorkern die Hoffnung zurück. Ein kleiner Mann, von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, der lachte, während er redete. Er begann seine Rede damit, wie er als Junge nach New York kam und die Freiheits - statue sah, von da an füllte er den Raum mit seinen Träumen, Wasserfällen, unterirdischen und überirdischen Gärten, einer sich aufschwingenden Häusergruppe, die gekrönt wurde vom stolzen, 1776 Fuß hohen Turm. New York würde wiederauferstehen, schöner und größer als je zuvor. Als er das letzte Wort gesprochen hatte, war klar, dass sein Entwurf gewinnen würde. Protestierende Angehörige von Terroropfern am Ground Zero: Eine hohe gläserne Wurst Von da an ging es mit Libeskind bergab. Er wurde von Politikern zu symbolischen Grundsteinlegungen und Einweihungsfeiern geschleift, die verschleiern sollten, dass alles stillstand. Er war der Partyclown von Ground Zero. Libeskind lächelte, während sein Plan zerfiel. Die falschen Grundsteine wurden im Schutz der Dunkelheit nach Staten Island geschafft. Es gab neue Archi - tekten, die seinen Masterplan interpretierten, vereinfachten, versachlichten. Libeskind blieb immer ein Fremder zwischen den Politikern, Maklern und pragmatischen Architekten. Ein Träumer eher, manche sagen auch, ein Propagandist. Er ist kein guter Networker, sagt er. Er habe Angst vor Konferenztischen und Leuten im Anzug. Einmal, als gar nichts mehr übrig zu bleiben schien von ihm, rief er verzweifelt: Ich bin der Architekt des Volkes! Libeskind sagt heute, dass der Geist seines Masterplans überlebt habe. Er ist immer noch enthusiastisch. Er sprudelt. Er hat immer mehr Worte im Mund, als er aussprechen kann. Er sagt, die Gegend habe sich belebt. Downtown war tot, es lag im Schatten der Türme, heute ist es eine Wohngegend. Die Zahl der Anwohner habe sich mehr als verdoppelt, er selbst wohnt auch hier. Fremde kämen auf der Straße auf ihn zu und bedankten sich, sagt er. Er hat seinen Frieden damit gemacht, dass er der Meisterplaner war, der eine Linie vorgab. Für die anderen. Stolz ist er darauf, dass nur die Hälfte der sechseinhalb Hektar Land für kommerzielle Zwecke genutzt werden darf. Das war sein Vorschlag. Und natürlich wollte ich Bäume. Viele Bäume, sagt Daniel Libeskind. Ich wollte den Platz in einen Park verwandeln, ihn freundlicher, lebenswerter machen für die Menschen, die dort leben und arbeiten. Was für Bäume wollte er denn? Einfach Bäume, sagt Daniel Libeskind. Auf dem Entwurf von Arad gab es ein paar Bäume, nicht viele. Michael Arad war ein junger israelischer Architekt, der überraschend den Wettbewerb für die Gedenk- Plaza gewann. Er sollte die drei Hektar füllen, die nicht für kommerzielle Zwecke genutzt werden. Arad hatte ein Modell von zwei großen Wasserbecken gebaut, die das Verschwinden, die Leere symbolisieren sollten. Neben die großen, schwarzen Becken hatte er ein paar Bäume gemalt, nicht viele. Die Bäume waren ihm nicht wichtig. Wichtig war das ewige Wasser, das in die Tiefe stürzte, endlos. Die Jury mochte die Pools, deren Ränder sich deckten mit den Grundrissen der eingestürzten Türme. Ein Nordpool und ein Südpool. Sie fand es berührend, aber zu dunkel für einen Platz in der Mitte der Stadt. Deswegen teilte sie Arad, der Mitte dreißig war, den erfahrenen kalifornischen Landschaftsarchitekten Peter Walker zu, der schon Mitte siebzig war. Walker hatte Ende der Fünfzi- FOTO: DIRK EUSTERBROCK / DER SPIEGEL 52 DER SPIEGEL 23 / 2014

53 Downtown Manhattan*: Symbol für das Verschwinden und die Leere FOTO: NOAA gerjahre den Alice in Wonderland -Garten im Central Park angelegt. Zehn Jahre bevor Arad geboren wurde. Er zog durch amerikanische Wälder und Universitäten, um den perfekten Baum zu finden. Bäume in New York wachsen durchschnittlich zehn Jahre lang, sagt Walker. Dann stoppen sie, oder sie sterben. Die Umweltbelastung ist riesig, nicht so schlimm wie in Peking, aber schlimm genug. Sie nehmen die Gifte über Wurzeln, aber auch Blätter auf, deswegen wollte ich keine immergrünen Bäume. Er zitiert eine Studie der Cornell-Universität, die die besten Bäume empfiehlt. Roteichen, Ahorn, Platanen wären infrage gekommen. Walker entwickelte ein urbanes Recy - cling system für die Bewässerung, wahrscheinlich das größte der Welt, und eine perfekte Erdmischung. Er schuf eine Baumordnung, in der die Bäume aus bestimmten Perspektiven in einer Art militärischen Ordnung stehen, aus anderen Blickwinkeln aber im kompletten Durcheinander. Er gab jeder Weißeiche eine Nummer und wies ihr einen Platz zu. Die Symbolik ist natürlich gewaltig. Es ist kein normaler Parkjob, sagt Walker. Es gab mit den Weißeichen keine Probleme, es war die kleine Gruppe Amberbäume, mit der Walker einen Akzent setzen wollte. Die Amerikaner nennen den Amberbaum Sweet Gum Tree, weil sein zäher, süßer Saft früher auch als Kaugummi verwendet wurde, ein Baum des Südens. Michael Arad, der Architekt, störte sich daran, dass sich seine Blätter im Herbst feuerrot färben. Er dachte, dass die Bäume, gerade im September, wenn die Zeit der Erinnerung kommt, zu sehr von den Namen der Opfer ablenken könnten, die er in die Umrandung seiner Todespools hatte gravieren lassen. Arad beschwerte sich bei Bürgermeister Bloomberg über den Amberbaum. Unglücklicherweise waren die 50 Amberbäume aber ein Geschenk des Staates Maryland an die Gedenkstätte. Sie wurden 2008 in einer großen Veranstaltung entge- * Luftaufnahme vom 23. September gengenommen und in eine Baumschule nach New Jersey gebracht, wo sie zusammen mit den 450 Weißeichen auf ihren historischen Einsatz am Ground Zero warteten beschloss man, die Bäume weiterzuspenden. Sie schickten sie nach Shanksville, Pennsylvania, wo gerade eine Gedenkstätte für die Opfer des Flugs UA93 entstand, der dort über Feldern am 11. September endete. Deshalb stehen jetzt 40 Amberbäume auf einem struppigen Stück Grasland in Pennsylvania. Sie wurden vom dortigen Landschaftsarchitekten in sein Konzept eingebaut. 40 Bäume für 40 Opfer. Die Bäume stehen hinter einer Wand aus weißen Marmorplatten, in die die Namen der Opfer eingraviert sind, deren Maschine vermutlich das Kapitol oder das Weiße Haus in Washington treffen sollte, aber vorher abstürzte. Alles ist so mit Symbolen aufgeladen, dass es knistert. Wissen Sie, sagt ein Wächter der Gedenkstätte von Shanksville, wir und DER SPIEGEL 23 /

54 Kennzeichnung von Weißeichen am Ground Zero: Nach zehn Jahren stoppen oder sterben sie die Angehörigen möchten das Wort Opfer im Zusammenhang mit den Toten eigentlich nicht benutzen. Es wirkt so passiv, und die Menschen an Bord haben sich ja gewehrt. Die Gedenkstätte von Shanksville ist beeindruckend, schlicht und gewaltig. Bis Mitte der Neunzigerjahre war hier ein Tage - bau, der zugefüllt und mit Wildgras besät wurde. Hier und da standen ein Kran und eine Baracke herum. An den Rändern hatten ein paar Bäume überlebt. Eichen, Hicko rys, Ahorn. Man fährt kilometerweit durch diese trostlose Landschaft, man kann sich vorstellen, wie das gekaperte Flug - zeug über die Hügelketten taumelte. Diese Landschaft war das, was die Menschen an Bord als Letztes sahen. Die Maschine schlug im Nirgendwo auf. Alles, was sie am Boden zerstörte, waren ein paar Bäume, zumeist Kanadische Hemlocktannen. Die überschüssigen Amberbäume, zehn Stück, die es nicht auf den Ground Zero und auch nicht nach Shanksville schafften, wurden verkauft. Ein Hedgefonds-Manager von der Firma Cantor Fitzgerald, die im Nordturm arbeitete, kaufte sie für seinen Garten. Stückpreis Dollar. Tom Cox mochte die Amberbäume. Er hat jeden einzelnen persönlich ausgesucht, genau wie alle Weißeichen, die er und seine Leute aus den sieben Bundesstaaten, die an New York grenzen, zusammentrugen und auf das Feld einer Baumschule in New Jersey brachten, die sie vor acht Jahren angemietet hatten. Jeder Baum bekam einen handgezimmerten Kasten, in dem sein Wurzelsystem überleben konnte, ohne zu groß zu werden. Die Bäume standen dort wie ein Garderegiment. Acht Jahre lang. Ein Mitarbeiter von Cox Firma betreute sie rund um die Uhr wie ein Krankenpfleger. Er steht im Regen, müde, schwermütig, und wird ein wenig philosophisch. Der Baummann sagt: New York ist Kampf. Er lebte in einem Wohnwagen auf dem Acker. Ab und zu kamen wechselnde Kommissionen aus der Stadt angereist, begutachteten die Bäume und empfahlen, hier und da einen Ast abzuschneiden. Zwei Tage vor dem Präsidenten sind die vorläufig letzten Bäume aus New Jersey nach Staten Island gereist, wo sie, aufgrund irgendwelcher Gewerkschaftsrechte, zwischengelagert werden mussten, um dann von New Yorker Lastwagenfahrern an den Ground Zero transportiert zu werden. Sie trafen kurz vor 20 Uhr am West Side Highway ein, wo Tom Cox wartete. Um 23 Uhr schwebte der erste Baum durch die dunkle, feuchte Luft. Cox winkte ihn hinein wie ein Dirigent. Seinen ersten Baum pflanzte er vor drei Jahren auf die Plaza. Er trägt die Nummer 107. Cox findet ihn im Schlaf. Beim zehnjährigen Jahrestag des 11. September durfte er die Namen der Opfer verlesen, zusammen mit der Tochter eines Toten, Pam Tamayo. Bloombergs Büro hatte ihm vorher eine CD geschickt, auf der er sich anhören sollte, wie die Namen ausgesprochen werden. Einen Moment lang dachte er, er breche zusammen. Aber das Mädchen schaffte es ja auch. Über New York geht ein Gewitter nieder, Cox sieht zu den Türmen hinauf, die wie sanfte Riesen aus der Nacht leuchten. Einige sind bereits eröffnet worden, stehen aber leer. Sie finden keine Mieter. Cox glaubt nicht, dass diese Bürotürme noch unseren Bedürfnissen entsprechen. Das digitale Zeitalter verändert unser Konzept vom Zusammenarbeiten, sagt Cox. Er steht im Regen, müde, schwer - mütig, und wird ein wenig philosophisch. Der Baummann sagt: New York ist Kampf. Hier muss man um alles kämpfen. Parkplätze, Restauranttische. Die Stadt ist gnadenlos mit dem Langsamen, dem Faulen. Auch die Bäume kämpfen um Licht. Zur Eröffnung der Gedenkstätte durch den amerikanischen Präsidenten kommen Daniel Libeskind und Michael Arad. Peter Walker, der Landschaftsarchitekt, hat einen Job in Cleveland. Dafür sind Robert De Niro da und die tapfer lächelnde Jill Abramson, die gerade von der New York Times entlassen wurde. Die Bürgermeister Giuliani, Bloomberg und de Blasio kommen, die Gouverneure Pataki, Cuomo und Christie. Die Clintons sitzen in der ersten Reihe wie ein Königspaar. Cox ist nicht da, er ist auf dem Weg nach Bahrain, wo er einen großen Platz mit 19 indischen Mandelbäumen bepflanzt. Obama hält eine kurze Rede, in der es um einen Retter mit einem roten Staubtuch vorm Gesicht geht. Sie ist ergreifend, wenn auch bereits etwas märchenhaft. Es wird eine traurige, perfekt durchchoreografierte Veranstaltung. Der Präsident verlässt das Museum nach zehn Minuten während eines Einspielfilms. Obama achtet nicht auf die Bäume, zwischen denen er zu seiner Limousine eilt, auch nicht auf den einzigen Baum der ursprünglichen World Trade Center Plaza, der den Anschlag überlebt hat. Er steht heute in der Mitte des Platzes zwischen den Weiß eichen, krumm und schief, mit Bändern gestützt, ein Weiser unter den Jungen, ein Baum, der alles gesehen hat. Sein lateinischer Name ist Pyrus calleryana, benannt nach einem französischen Sinologen, der ihn aus China nach Europa brachte. In Deutschland nennt man ihn Chinesische Wildbirne. Es ist ein typischer New Yorker Stadtbaum. Er widersteht Frost und Abgasen, fällt aber bei Wind schnell um. Er lebt in der Regel 20 Jahre, dann wird er durch einen neuen Baum ersetzt. Nicht dieser Baum. Tom Cox nennt ihn den umsorgtesten Baum der Welt. Die Chinesische Wildbirne hat eine Mission zu erfüllen. Sie fanden sie im Geröll auf der Church Street. Eine Frau, die für die Stadt arbeitete, sah ein grünes Blatt in der Asche. Rebecca Clouth, Becky. Der Baum war kaum noch am Leben, er hatte die meisten seiner Äste eingebüßt, eine Hälfte war komplett verbrannt. Sie gruben ihn aus und transportierten ihn in der Dunkelheit. Sie schafften die Wildbirne an den äußersten Stadtrand, eine Baumschule in der Bronx, ganz im Norden. Van Cortland Park. Sie wussten damals noch nicht, wie symbolisch der räudige Straßenbaum einmal werden könnte. Bei einem Sturm fiel er um, lehnte tage - lang an einem Maschendrahtzaun, Cox erfuhr, dass sein Baum stirbt, er flog nach New York und pflegte die Wildbirne gesund. Im Frühling ist sie der erste Baum, der blüht. FOTO: DIRK EUSTERBROCK / DER SPIEGEL 54 DER SPIEGEL 23 / 2014

55 Gesellschaft FOTO: WOLFRAM SCHEIBLE / DER SPIEGEL STUTTGART Pappappap Ortstermin In Stuttgart verhandelt das Verwaltungsgericht darüber, ob es ein Bürgerrecht auf Taubenfüttern gibt. Die Stadt verändert sich, wenn man sie mit den Augen von Tauben sieht. Oder mit den Augen von Tauben - verstehern. Stuttgart ist eine enge Stadt. Eine Stadt voller Pommes- Reste, die von den Tauben gepickt werden; das bekommt ihnen nicht. Eine Stadt mit wenigen betreuten Taubenschlägen, 6 sind es zurzeit, die Taubenversteher hätten gern 15 oder 20 oder mehr. Therese D., Taubenversteherin, steht mit ihrer Mutter, ihrem Anwalt und einer Frau vom Tierschutzverein, die sich speziell um Tauben kümmert, im Flur vor Saal 4 im Stuttgarter Verwaltungsgericht und diskutiert sich warm. Therese D. betrachtet sich als Tierfreundin. Die Frau im Hosenanzug, die auf einer Bank sitzt und schmallippig allem zuhört, tut das auch. Es ist der letzte Dienstag im Mai, die fünf - köpfige 5. Kammer des Gerichts verhandelt den Fall der Klägerin Therese D. gegen die Stadt Stuttgart, wg. Taubenfütterungsverbot und Zwangsgeldandrohung. Es geht um Columba livia, die Stadt- und Felsen taube, und um die Frage der Verantwortung, die der Mensch ihr gegenüber trägt. Der Mensch hat Häuserschluchten gebaut und Felsentauben zu Haustauben gezähmt, von denen viele wieder verwildert sind; die fühlen sich in den Häuserschluchten besonders wohl. Erst waren es wenige. Dann, nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem, waren die Städte Ruinen, perfekt für Columba livia, sie kam, vermehrte sich und blieb. Und der Mensch, der früher an Schnäbeln, Liebe und Frieden dachte, wenn er eine Taube sah, denkt heutzutage: Parasit. Schätzungsweise bis Stadttauben leben in Stuttgart, von denen jede jährlich etwa zwölf Kilogramm Nasskot produziert. Nasskot ist das offizielle Wort. Auch wegen des Nasskots gibt es eine Polizeiverordnung vom März 1997, die das Taubenfüttern verbietet und gegen die Therese D. verstieß. Die alte Frau und die Tauben, man kennt das, aber Therese D. ist nicht alt. Therese D., 35, Sprachwissenschaftlerin, eloquent, findet, dass es eine gute Sache ist, Tauben mit Körnern zu füttern. Sie wurde beobachtet, wie sie es tat. Sie gibt es zu, sagt aber, sie habe an den Tat-Tagen nur verletzte Tauben einfangen und ihrer Mutter bringen wollen, damit sie die Tiere pflegt. Links von Therese D. und ihrem Anwalt sitzt die Frau im Hosenanzug, es ist Dr. Heike Roloff, Amtstierärztin bei der Stadt. Sie findet nicht, dass dieses Füttern eine gute Sache ist. Sie verweist auf die Werke des Stadttaubenforschers Daniel Haag-Wackernagel und dessen Votum: Vertreiben hilft nicht. Töten auch nicht. Auch die Taubenpille nicht. Was hilft, ist das Fütterungsverbot, kombiniert mit überwachten Brutstätten, wo man die echten Taubeneier gegen künstliche tauscht. Der Eieraustausch ist gut, da sind Dr. Roloff und Therese D. sich einig. In allem anderen nicht. Dr. Roloff hat Bilder dabei, sie bringt sie nach vorn an den Richtertisch, Richter, Tierärztin und Anwalt beugen sich darüber. Zu sehen ist eine Taube, die im Kot zu brüten versucht. Dr. Roloff spricht von Biomathematik, anders als andere Leute argumentiere sie nicht nach dem Bauchgefühl, sie habe Tiermedizin studiert und auch ein paar Semester Biologie. Sie rechnet Überlebenszahlen vor. Wenn zu viel Futter da sei, werde zu viel gebrütet, die Tauben streiten sich und müssen an üblen Orten ihre Jungen aufziehen. Therese D. widerspricht. Der vorsitzende Richter fragt, ob sie sich verpflichten könne, künftig nicht mehr zu füttern. Sie sagt Nein. Der Richter, seufzend, verspricht eine Entscheidung für den nächsten Tag. Draußen eilt Dr. Roloff kommentarlos zum Treppenhaus, aber Mutter und Tochter D. haben noch Zeit. Sie wollen den Bahnhof zeigen und wie es den Tauben dort geht. Zwei dunkelhaarige Frauen, beide gehbehindert, Gertraude D. erzählt, dass sie Kriegskind sei und Hunger kenne. Sie erinnere sich noch, wie es ihr schlecht ging, vor ein paar Jahren, und wie sie hungrige Tauben sah, und sie gab ihnen was, und dann ging es Therese D., Gertraude D. im Hauptbahnhof: Zwölf Kilo Nasskot ihr besser. Sie erzählt, wie sie anfing, verletzte Vögel zu pflegen, und dabei den Hass von Nachbarn ertrug. Die beiden führen zum Hauptbahnhof, von Tauben umflattert. Zwei Polizisten schauen hinter ihnen her. Gertraude D. spricht von Zora, ihrem Liebling, sie wurde 14 Jahre alt. Sie spricht davon, wie es ist, wenn zehn zufriedene Pfleglinge einen zu Hause angurren, sie macht es vor: Pappappap. Das Bauprojekt Stuttgart 21, das wollen Mutter und Tochter klarmachen, ist nicht gut für die Tauben. Sie zeigen, wo bis vor Kurzem noch ein Taubenhaus stand, einer der betreuten Schläge, auf einer Mauer bei Gleis 1. Jetzt ist er weg. Ein paar Tauben sitzen und flattern und picken jetzt auf halb vergammelten Gepäckschließfächern, heimatlos vielleicht. Therese D. sagt, sie sehe eine große Verantwortung des Menschen. Er habe das Leben der Tiere verändert, nun müsse er eigentlich alle füttern, mit dem Futter, das ihnen bekommt. Am nächsten Tag dann die Nachricht: Die Klage ist abgewiesen. Gertraude D. sagt am Telefon, sie wollten Hilfe suchen bei Tierschützern, man müsse weitermachen, wenn möglich in der nächsten Instanz. Barbara Supp DER SPIEGEL 23 /

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57 Medien Entertainment Analoges Abenteuer Für die Wunschzielgruppe des Münchner Senders ProSieben ist die Idee, ohne Smartphone oder Facebook eine fremde Stadt zu entdecken, offenbar so anarchisch, dass der Kanal daraus gleich ein neues Programm entwickelt hat. Die Pro - Sieben-Entertainerin Palina Rojinski wird ab 17. Juli für jeweils ein Wochenende in eine Großstadt geschickt und muss dort ohne digitale Hilfe ihres Smartphones oder ipads und ohne Geld spezielle Aufgaben bewältigen. Den Anfang macht Tel Aviv, wo die 29-Jährige ein Street- Art-Kunstwerk erbauen soll. Ausgestrahlt wird Offline Palina World Wide Weg donnerstagabends nach der Tanzshow Got to Dance dort sitzt Rojinski schon in der Jury. Gesetzt sind drei Folgen, weitere drei werden gerade gedreht und sollen ab Herbst gezeigt werden. Produziert wurde das Format von der Berliner Firma Florida TV, die auch schon die Moderatoren Joko Winterscheidt und Klaas Heufer-Umlauf im Duell um die Welt schickte. ih Rojinski FOTOS: SUPPLIED BY PALINA ROJINSKI/INSTAGRAM.COM/FACE TO FACE (O.); PATRICK LUX / GETTY IMAGES (U.) DSL-Ausbau Schnelleres Internet fürs ganze Land Alexander Dobrindt, Bundesminister für Verkehr und digitale Infrastruktur, treibt den Ausbau des schnellen Internets in Deutschland voran. Der CSU-Politiker verständigte sich mit der EU-Kommission darüber, dass Kommu nen künftig wieder DSL- Projekte mit öffentlichen Geldern fördern dürfen. Eine entsprechende finanzielle Unterstützung war seit Anfang des Jahres nicht mehr möglich. Die nun erfolgte Anpassung der Bundesrahmenregelung Leerrohre hilft vor allem ländlichen Regionen. Dort haben noch immer beträchtliche Teile der Bevölkerung und etliche Firmen keinen Zugang zum schnellen Internet, da der Netzausbau für die etablierten Telekommunikations - konzerne unwirtschaftlich ist. Dobrindt erreichte in den Verhandlungen auch eine Anhebung des Schwellenwerts für die Förderung: Künftig können Projekte dort bezuschusst werden, wo die Geschwindigkeit unter 30 Megabit pro Sekunde liegt, zuvor galt die Grenze von 25 Megabit. böl Google Transparenter löschen Als Reaktion auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zum Recht auf Vergessenwerden hat Google vergangene Woche ein Löschformular online gestellt. Wer Einträge über sich selbst gelöscht haben will, kann das dort beantragen. Allerdings will die größte Suchmaschine der Welt Einträge nicht einfach entfernen. Aus Transparenzgründen wollen wir neben dem Hinweis, dass bei den Suchergebnissen Treffer nicht angezeigt werden, auch Informationen über das Ausmaß der Löschanfragen insgesamt geben, heißt es bei Google. Das könnte in Zukunft etwa im Rahmen des halbjähr - lichen Transparenzberichts geschehen, den das Unternehmen seit 2010 erstellt. Bislang können gelöschte Ein- träge auf chillingeffects.org, einem Projekt mehrerer US-Universitäten und einer Bürgerrechtsorganisation, einzeln nachvollzogen werden. Auch wer eine Löschung beantragt hat, ist in der Datenbank der Website sichtbar. Das wird bei Suchtreffer-Entfernungen auf Grundlage des EuGH-Urteils so nicht sein. Wir werden auf den Schutz der Anonymität achten, sagt ein Google- Sprecher. Allein am vergangenen Freitag erreichten Google europaweit bereits Lösch gesuche, heißt es im Unternehmen. Anders als Google möchte Konkurrent Bing vorerst abwarten und kein Löschformular einrichten. Derzeit erreichten die Suchmaschine nur sehr wenige Löschgesuche, so Bing-Betreiber Microsoft. Dies liegt wohl auch daran, dass Bing in Deutschland nur einen Marktanteil von drei Prozent hat. mum DER SPIEGEL 23/

58 Wir Couch-Kommissare TV-Phänomene Lange galt der ARD-Krimi als piefiges Überbleibsel vergangener Zeiten. Inzwischen versammeln sich sonntags fast zehn Millionen Zuschauer vor dem Bildschirm. Wie macht die Reihe das? Komödianten Prahl, Liefers

59 Titel FOTO: MARKUS TEDESKINO / WDR Wenn der Tatort auf die Wirklichkeit trifft, kann das schon mal zu Irritationen führen. Wie vor ein paar Jahren in einem Berliner Supermarkt, als Klaus J. Behrendt am Kühlregal entlangschlich, um den Standort der Butter zu ermitteln, und dabei mit einer alten Dame zusammenstieß. Langsam schaute sie an dem Schauspieler empor. Als ihre Blicke sich trafen, erschrak sie, tippte ihn an und zischte verschwörerisch: Ballack! Zumindest was die Bedeutung ihres Gegenübers anging, lag die Frau richtig. Sie war mit einer nationalen Ikone kollidiert: Tatort -Kommissar Max Ballauf aus Köln. Auch sein Spiel dauert 90 Minuten. Auch von ihm hängt das Wohlbefinden der Deutschen ab. Sind Ballauf und Kollegen in Form, ergeht die Republik sich in wohligem Schauer. Dilettieren sie, jault das Land auf. Mal für Mal schalten Millionen ein. Der,Tatort funktioniert wie die Bundesliga, sagt Behrendt. Jedes Team hat seine Fans. Galt der Tatort noch vor einigen Jahren als Opa-Fernsehen, muss man nun selbst bei jungen Leuten damit rechnen, dass sie sonntags ab Uhr nicht mehr ans Telefon gehen. Oder höchstens ans Smartphone, um über den Krimi zu twittern. Wie einst ihre Großeltern laden sie Freunde zum Fernsehabend ein, und am Montag ist der Tatort der kleinste gemeinsame Nenner fürs Bürogespräch. Gespanne, die seit mehr als einem Jahrzehnt ermitteln, stellen gerade ihren persönlichen Quotenrekord auf. Manche Tatort -Chefs der ARD laufen montags schon mit traurigem Gesicht herum, wenn sie nicht die Zehn-Millionen-Marke geknackt haben. Zu den 50 meistgesehenen Sendungen des vergangenen Jahres zählen 23 Tat- orte, ähnlich populär waren nur Fußballübertragungen. Es ist ein erstaunlicher Erfolg. Warum setzen sich jeden Sonntag Millionen Bundesbürger vor den Fernseher, um sich von einer vorhersehbaren Handlung unterhalten zu lassen: ein Mord, Ermittler, Rätselraten, ein paar Irrläufer, dann aber garantiert die Auflösung? Was hat es auf sich mit diesem Sofa - ritual, bei dem so zentrale Begriffe des Zusammenlebens verhandelt werden wie Schuld, Verantwortung und Gerechtigkeit? Hat der Erfolg damit zu tun, dass der Tatort in Zeiten von YouTube und Internet- TV das letzte Fernseherlebnis ist, mit dem gesellschaftlicher Konsens herzustellen ist? Animation: Der Tatort in Zahlen spiegel.de/app232014tatort oder in der App DER SPIEGEL Es spricht vieles dafür, dass der Siegeszug der Reihe in Münster seinen Anfang nahm. Mit Hauptkommissar Frank Thiel und Rechtsmediziner Prof. Dr. Karl-Friedrich Boerne, die jeden Todesfall zur Nummernrevue machen. Mit Boerne und Thiel begann 2002 für den Tatort eine neue Zeitrechnung. Was die beiden trieben, war kein Krimi, sondern eine holzschnittartige Variante des verrückten Paars Walter Matthau und Jack Lemmon. Thiel, der Schluffi, Boerne, der Gockel. Innig verbunden im Dauerclinch. Der Kriminalfall ist bei uns oft nur eine in Kauf genommene Nebensache, sagt Axel Prahl, der den Kommissar Thiel spielt. Wichtiger ist, welche Kabinettstückchen die beiden daraus entwickeln. Dabei war ursprünglich eine andere Konstellation vorgesehen. Ulrich Noethen hätte Prahls Konterpart geben sollen, sagte jedoch kurz vor Drehbeginn ab. So kam Jan Josef Liefers zu der Rolle des überkandidelten Rechtsmediziners. Prahl sagt, der Erfolg sei ihm von vornherein unheimlich gewesen. Unsere erste Folge hatte fast neun Millionen Zuschauer, schon damals bin ich erschrocken. Als es dann mit elf und zwölf Millionen losging, wurde es gespenstisch. Ich stelle mir immer vor, das ist eine Stadt, dreimal so groß wie Berlin, und alle starren auf den Kasten mit uns beiden drin. Das jagt mir bis heute einen Schauer über den Rücken. Auf die Frage, wie lange er noch er - mitteln will, antwortet er stets: Maximal 25 Jahre. Immer wieder gab es Gerüchte, Prahl und Liefers wollten hinschmeißen. Genährt wurden die auch dadurch, dass die beiden vor zwei Jahren beim WDR vorstellig geworden waren, um sich über die Qualität eines Drehbuchs zu beschweren. Ausgerechnet diese Folge aber er - reichte die beste Tatort -Einschaltquote seit Den nächsten Fall mit den beiden zeigt das Erste im September, ein weiterer wird im Herbst gedreht. Die Verträge der Darsteller laufen noch bis Jahresende, gerade verhandelt der WDR mit ihnen über eine Verlängerung. Die größte Nummer soll aber noch kommen. Der Sender plant einen Kinofilm mit Boerne und Thiel. Mehrere Autoren arbeiten bereits an einem Drehbuch, auch wenn rechtliche Fragen und die Finanzierung noch geklärt werden müssen. Tatort als großes Lichtspiel, das hat es seit Schiman - skis Zabou von 1987 nicht mehr gegeben. Ob die Zuschauer aber auch für einen Blödelkrimi ins Kino gehen? In Münster tun sie es bereits. Dort zeigt der WDR den lokalen Tatort stets ein paar Tage vor der TV-Ausstrahlung und füllt damit mehrere Säle. Die Voraufführung soll ein Dank an die Münsteraner sein. Dabei wird ein großer Teil gar nicht DER SPIEGEL 23 /

60 Titel in ihrer Stadt gedreht, sondern in Köln, wo der WDR seinen Sitz hat und für die 40-köpfige Filmcrew keine Übernachtungskosten anfallen. Zu den Vorführungen in Anwesenheit der Darsteller kommen vor allem Studenten. Besonders hat es ihnen Claus Dieter Clausnitzer angetan, der Thiels kiffenden, Taxi fahrenden Vadder spielt. Wenn sie dem 75-Jährigen im Kino gegenüberstehen, behandeln sie ihn wie ein Denkmal: Dürfen wir Sie mal anfassen? Und ist Not am Mann, sind die Fans selbstverständlich für ihre Helden da: Als Til Schweiger voriges Jahr mit 12,74 Millionen Zuschauern den Bestwert des Teams Münster übertraf, der bei 12,19 Millionen lag, startete ein junger Münsteraner eine Facebook-Aktion. Unter dem Motto Rekord-Quote für Münster rief er dazu auf, den nächsten Fall einzuschalten, in der Hoffnung, dass viele der Angespro - chenen eine Quoten-Messbox zu Hause hätten. Tatsächlich kam der Fall auf fast 13 Millionen Zuschauer. Wie groß der Face - book-beitrag gewesen sein mag, ist unklar doch Schweiger war besiegt. Letztlich aber nutzen die Teams einander mehr, als dass sie einander schaden. Tatsächlich schwören in der ARD viele, die starken Münsteraner hätten die anderen Teams mit nach oben gezogen. Sogar die kleine Ostschwester Polizeiruf 110 hat davon profitiert. Erfolg schafft Erfolg. Oder wie es ein ARD-Fernsehfilmchef formuliert, der damit nicht zitiert werden möchte: Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen. Um den Höhenflug des Tatorts zu erklären, muss man noch einmal in die Welt des Fußballs blicken, auf die WM Die brachte den Deutschen das gemeinschaftliche Fernsehen bei, auf Marktplätzen, in Fußballstadien oder Kneipen. Ohne diese Weltmeisterschaft im eigenen Land hätte sich Public Viewing bei uns wohl nicht so schnell durchgesetzt, sagt der Karlsruher Literaturwissenschaftler und Tatort -Forscher Stefan Scherer. Wenig später begannen die Gastwirte mit sonntäglichen Tatort -Übertragungen. Statt mit Bällen wurde nun mit Patronen geschossen, anstelle der Nationalhymne stimmte die Tatort -Melodie auf den Abend ein. Plötzlich zeigte sich, wie sehr eine Krimireihe Gemeinschaft zu stiften vermag, so Scherer. Zwar waren Tatort Kiel und Tatort Konstanz längst nicht so cool wie CSI Miami und CSI Las Vegas. Schon bald aber trat eine Reihe abgenutzter Ermittler ihren Ruhestand an, darunter Biedermänner wie der schwäbelnde Bienzle. Ihre jüngeren Nachfolger sind körperlicher. Und vermeiden trotz regionaler Verankerung jeden Anschein von Provinzialität. In welcher Stadt ermittelt wird, ist bisweilen nur am Dialekt der Sekretärin zu erkennen. Der bundesweiten Akzeptanz mag das dienlich sein. Eine vier Jahrzehnte alte Krimireihe ist so zum Volkssport geworden. Doch wirklich alt ist beim Tatort nur der Vorspann. Wie sehr die Nation selbst daran hängt, zeigte die hitzige Debatte über den Vorschlag Til Schweigers, man könne das olle Ding doch aufmöbeln. Ansonsten hat sich der Klassiker ständig gehäutet. Wie, das kann Tatort -Forscher Scherer erklären. In den zurückliegenden drei Jahren haben er und seine Kollegen im Rahmen eines Forschungsprojekts 500 von mehr als 900 Folgen gesichtet. Die Erkenntnisse wollen sie im Oktober in einem umfangreichen wissenschaft - lichen Werk vorlegen. Die Kurzform geht ungefähr so: Anfangs war der Tatort experimentell, ein kritisches Fernsehspiel. Wie in der Nouvelle Vague wurde schon mal die Handkamera eingesetzt. Der erste Fall Taxi nach Leipzig war ein Roadmovie, Kommissar Trimmel paffte und trank sich durch den Film, ließ sich zur Vernehmung ein Gläschen Cognac eingießen und brachte mit Sätzen wie Det lassen wir mal, Junge einen Angreifer dazu, die Waffe stecken zu lassen. Mit Hansjörg Felmy als Kommissar Haferkamp wurde die Reihe bürgerlicher. Aus den Achtzigerjahren blieb eigentlich nur Schmuddelkommissar Horst Schimanski im Gedächtnis. In den Neunzigern wurden die Folgen wieder kunstvoller, unter der Regie von Dominik Graf entstand Frau Bu lacht, der vielen bis heute als bester Film der Reihe gilt. Seit den Nullerjahren erfährt man viel über das Privatleben der Ermittler. Was wenig erbaulich ist, da viele verkrachte Existenzen sind. Die überraschendste Erkenntnis war für Scherer: Die Figuren entwickeln sich kaum. Die wenigsten Folgen knüpfen an Vorangegangenes an. Das hat auch wirtschaftliche Gründe: Episoden, die kein Wissen voraussetzen, lassen sich problemlos wiederholen. Kommissar Leitmayr aus München, dem gerade noch ein Messer im Rücken steckte, soll in der nächsten Folge wieder durch die Gegend springen, als wäre nichts gewesen. Erst in der jüngsten Zeit hat der WDR versucht, eine Ermittlung doch mal auf mehrere Episoden auszudehnen. In Dortmund versucht Kommissar Faber seit seinem Dienstantritt 2012, den Tod seiner Frau aufzuklären. Scherer führt diese Entwicklung auf den Einfluss der amerikanischen Serien zurück, die über eine ganze Staffel die Spannung halten. Die Schauspielerin Maria Furtwängler wiederum ließ sich eine Schwangerschaft ins Drehbuch schreiben, als Zeichen der Vereinbarkeit von Mutterschaft und Beruf. Inzwischen zweifelt sie daran, ob das so klug war. Denn nicht immer lässt sich der kleine Sohn dramaturgisch sinnvoll einbinden. Man kann ja nicht nur zeigen, wie ich ihn zur Kita bringe oder dort abhole. Aber jetzt ist er nun mal da. Ein Lieb - haber kann in der nächsten Folge erschossen werden. Ein Kind nicht, sagt sie. Furtwänglers Tatorte zählen zu den wenigen, bei denen mehr Frauen als Männer einschalten. Grundsätzlich ist die Begeisterung für den Sonntagskrimi auf beide Geschlechter gleich verteilt. Kann man diese Liebe der Deutschen zu ihrem Tatort als Ausdruck einer Art neuen Patriotismus werten? Weil sie sich darin wiedererkennen, ihre Lebenswirklichkeit und Gewohnheiten reflektiert sehen? Als Spiegel der Gesellschaft taugt die Reihe nur bedingt. Tatort -Deutschland ist verseucht von Gier und Habsucht, ein FOTOS: FRANKUDO.COM (O.); RÖHNERT / ULLSTEIN BILD; KPA / SÜDD. VERLAG; NDR 3 Tatort Krimi-Chronik 1970 Taxi nach Leipzig In der ersten Folge ermittelt Kommissar Paul Trimmel (Walter Richter) auf eigene Faust in der Ostzone Tote Taube in der Beethovenstraße Irritierende Krimi-Montage des US-Regisseurs Samuel Fuller. Musik von der Kölner Avantgarde-Band Can. Lief in den USA im Kino Tote brauchen keine Wohnung Landet für 20 Jahre im Giftschrank, weil die Handlung um einen Miethai (Walter Sedlmayr) linkslastig geriet Tod im U-Bahnschacht Ein Türke illegal in Deutschland. Franz Josef Strauß beschwert sich beim Sender über die brutale Darstellung eines Mordes DER SPIEGEL 23 / Exklusiv! Bereits 1969 gedreht. Damals noch nicht für den Tatort vorgesehen. Somit älteste Folge überhaupt. Richter in Taxi nach Leipzig 1974 Nachtfrost Eine Einschaltquote von 76 Prozent für Klaus Schwarzkopf als Kommissar Finke Kneipenbekanntschaft Gastauftritt von Udo Lindenberg mit seinem Panikorchester.

61 Tatort -Dreharbeiten in Köln: Das Spiel dauert 90 Minuten Land voller Dramen, Verzweiflung und sozialer Ungleichheit. Dort wird geschossen, vergewaltigt, vergiftet, erdolcht. Die Botschaft lautet: Trau niemandem, dem netten Nachbarn so wenig wie deiner Ehefrau. Möchte man in diesem Land leben? Nicht um Uhr, wenn die Leiche ans Ufer geschwemmt wird. Nicht um Uhr, wenn der Kommissar in einen Hinterhalt gelockt wird. Umso lieber aber um Uhr, da trinken die Ermittler an der Würstchenbude mit Domblick ihr Kölsch oder feiern auf dem Polizeirevier den Geburtstag einer Kollegin. Der Bundesbürger kann mit gutem Gefühl zu Bett gehen, hat er doch wenigstens für kurze Zeit Orientierungshilfe bekommen. Der Sonntagabend ist zur Verschnaufpause geworden, bevor sich der Wahnsinn einer immer komplexeren Welt am Montagmorgen von Neuem Bahn bricht. Der Philosoph Wolfram Eilenberger nennt die sonntägliche Leichenschau ein gesellschaftsdeckendes Reinigungs- und Reflexionsritual. Der kollektive Läuterungsprozess habe sich vom morgend - lichen Kirchgang auf den Abend ver - schoben, schreibt er in dem gerade erschienenen Buch Der Tatort und die Philosophie. Der Tatort sei Aufklärung par ex - cellence, so Eilenberger: Er inszeniere den absehbaren Siegeszug einer moralischen Vernunftordnung gegen die triebhaften Kräfte der Unvernunft. Zunächst verborgene Ursachen und Gründe würden ans Licht gebracht, schlüssige Erklärungsketten geknüpft, und der Schuldige werde so einer gerechten Strafe zugeführt, ohne Rücksicht auf seinen Stand und seine Herkunft. Seit Beginn der Reihe sind die meisten Fälle der Lebenswelt der Zuschauer entnommen. So hat es der Tatort -Erfinder und spätere WDR-Fernsehfilmchef Gunther Witte 1970 festgelegt, als Gegenstück zur ZDF-Reihe Der Kommissar, die, wie später Derrick, bevorzugt in Münchner Villenvierteln spielte. Häufig diktiert die Wirklichkeit die Inhalte. Der Überfall auf den Geschäftsmann Dominik Brunner an einer Münchner S-Bahn-Haltestelle etwa hat gleich zwei Drehbuchautoren der Reihe inspiriert. Die Grimme-Preisträgerin Dorothee Schön sagt, genau deshalb schreibe sie so gern Drehbücher für den Tatort : Hier kann ich mich mit gesellschaftlich relevanten Themen auseinandersetzen. In Deutsch Reifezeugnis Nacktszenen kurz nach der Tagesschau. Start zweier Weltkarrieren: für Nastassja Kinski und den Regisseur Wolfgang Petersen ( Das Boot ) Rot rot tot Curd Jürgens in der Hauptrolle. Der Tatort mit den meisten Zuschauern: 26,6 Millionen Der Mann auf dem Hochsitz Erste Ermittlerin: Nicole Heesters als Kommissarin Buchmüller. Krug in Haie vor Helgoland 1984 Haie vor Helgoland Debüt von Manfred Krug als Kommissar Stoever. Später nutzen echte Gangster den Krimi als Vorlage für ihren Raub auf einem Passagierschiff Kinski, Schwarzkopf in Reifezeugnis 1981 Duisburg Ruhrort Götz George als Schimanski: ein Kommissar in dreckiger Unterhose entfacht eine Debatte um das Polizistenbild im Fernsehen Grenzgänger Erstes Tatort -Drehbuch von Felix Huby alias Eberhard Hungerbühler. Mit Scripts für 34 Folgen häufigster Autor Wat Recht is, mutt Recht bliewen Einmaliges Experiment: ein plattdeutscher Tatort mit hochdeutschen Untertiteln. DER SPIEGEL 23 /

62 Titel land ist das nirgends so gewünscht wie im Krimi. Allerdings unterscheidet sich die Sonntagswirklichkeit vom echten Leben. Entgegen der Kriminalstatistik sind die Täter im Tatort selten Ausländer oder Migranten. Schon allein, um die Reihe nicht dem Rassismusverdacht auszusetzen. Eine Ausnahme bildet der Kampf gegen den kurdischen Astan-Clan bei Til Schweiger, der im kommenden Jahr mit einer Doppelfolge sein Ende finden soll. Oder der berühmt gewordene Aleviten- Tatort mit Maria Furtwängler von 2007, der einen solchen Massenprotest der Religionsgruppe nach sich zog, dass der damalige Vizekanzler Frank-Walter Steinmeier vor einem Kulturkampf warnte. Die Folge wird seither im Giftschrank des NDR verwahrt. Die Aufklärungsquote der Tatorte liegt bei nahezu hundert Prozent. Denn Ordnung muss sein in deutschen Wohnzimmern, sonntags um Viertel vor zehn. Sonst gehen die Zuschauer auf die Barrikaden. NDR-Fernsehfilmchef Christian Granderath hat das 2012 erlebt, als er einen Hannover- Tatort mit Maria Furtwängler ausstrahlte, der sich über zwei aufeinanderfolgende Sonntage erstreckte. Es ging um Menschenhandel und Zwangsprostitution. Nach der ersten Folge hatte die Kommissarin den falschen Täter gefasst. Scheinbar hatte das Unrecht gesiegt. Manche Zuschauer hatten aber nicht mitbekommen, dass es eine Woche später den zweiten Teil geben würde, und waren entsetzt, sagt Granderath. Das NDR-Team habe Hunderte Beschwerdebriefe und -anrufe bekommen. Noch ein Jahr später hätten verstörte Zuschauer ihm den Ausgang der ersten Folge bei einer Podiumsdiskussion vorgeworfen. Unmut über den Tatort entsteht nicht nur in der Altersgruppe, die sonst typisch ist für die öffentlich-rechtlichen Sender. Die Diskussionen haben sich längst in die sozialen Netzwerke verlagert, die ureigene Domäne jüngerer Fernsehzuschauer. Sie haben die in sparsamen 140 Zeichen pointiert zusammengefasste Kritik am Tatort zur neuen Stil- und Kommunikationsform erhoben. Die Unterhaltung, so scheint es, entfaltet für manche erst dann ihren vollen Genuss, wenn sie den Tatort auf Twitter mit Spott übergießen können. Dabei geht es entweder ernsthaft zu, wie etwa bei jenen Innen- und Rechtspolitikern der Grünen, die eine Zeit lang jede Folge darauf abklopften, ob die Kommissare mal wieder die Bürger rechte verletzten. Oder mit ironisch-bissigem Unterton, wie beim ersten Einsatz Til Schweigers. Hier echauffierte man sich auf Twitter über den Nuschel-Til und die angeblich mangelhafte darstellerische Kraft seiner Tochter. Die Süddeutsche Zeitung nennt diese Zuschauer Twitter-Spießer und ihre Tweets ein allsonntägliches Fest der hämisch schlechten Laune. Gebhard Henke hingegen findet für dieses Phänomen freundliche Worte. Der Fernsehfilmchef des WDR tummelt sich gern in den sozialen Netzwerken. Auch wenn es manchmal wehtut: Viele Kommentare sind brillant. Selbst Schimpf und Schande macht er sich zu eigen: Die Erregung über das, was einem nicht gefällt, ist Teil der Begeisterung. Twitter ist eine Form der Wertschätzung. Henke ist nicht nur für die Kriminaler in Köln, Münster und Dortmund zuständig. Er ist auch der Tatort -Koordinator der ARD. In dieser Funktion hat er alle Ermittler gleich lieb. Viel reinreden kann er ihnen ohnehin nicht. Jede ARD-Anstalt ist für ihre Krimis selbst verantwortlich. Henke achtet lediglich darauf, dass Teams nicht zu dicht hintereinander zum Einsatz kommen. Und dass sich die Themen nicht doppeln. Trotzdem kommt es vor, dass innerhalb weniger Monate zwei Tatorte im Zirkus spielen und zwei im Gefängnis. Henke sagt, manchmal lasse sich das nicht vermeiden. Er nennt das koordinierte Anarchie. Zu seinen Aufgaben gehört zudem der Schutz der Marke. Henke bestimmt, wer den Namen und das Logo der Reihe benutzen darf. Und das wollen viele. Absagen bekamen etwa der Privatdetektiv, der seine Website mit dem Fadenkreuz schmücken wollte. Die beiden Pastoren, die zu einem Tatort-Gottesdienst einladen wollten. Oder Gaststätten, die sich offiziell Tatort-Kneipe nennen wollten. Mit Bierdeckeln, Fußabdruck-Aufklebern und Flugblättern, die auf die sonntägliche Aus strahlung hinweisen, versorgt die ARD sie dagegen gern. Auch eine Tatort -App ist in Planung. Noch lieber als auf Twitter betreibt Henke seine Zuschauerforschung in der U-Bahn. Bevorzugt montagsmorgens, auf der Fahrt von seiner Wohnung zum WDR am Appellhofplatz. Er will wissen, ob die Leute über den Tatort sprechen. Über ihre fiktiven Mitbürger Ballauf und Schenk hört er die Kölner manchmal reden wie über alte Bekannte. Am Morgen nach dem jüngsten Fall belauschte Henke zwei Frauen, beide Mitte vierzig. Der einen dämmerte gerade, dass sie offenbar das Ende verpasst hatte. Sie hatte den Fernseher nach der obligatorischen Szene an der Würstchenbude ausgeschaltet, die üblicherweise die Folgen abbindet. Ihre Begleiterin erklärte sie daraufhin für blöd. Henke sagt, er unterscheide zwei Arten von Zuschauern: jene, die eine Freundschaft mit den Kommissaren eingehen und auch deren Privatgeplänkel mögen. Ihm zufolge bilden sie die Mehrheit. Die andere Gruppe aber artikuliert sich lauter. Die nennt er Puristen. Sie fordern etwa, dass die Kommissare sich mehr auf ihre Ermittlungen konzentrieren sollen. Der Mannheimer François Werner, 40, gehört dann wohl zur zweiten Kategorie. Er betreibt die Seite tatort-fundus.de, auf der Fans sich über aktuelle Folgen und die Historie der Reihe austauschen. Werner hat ein Buch in Vorbereitung mit 1000 Tatort -Fakten und ein Quiz zur Reihe. Beides soll im Herbst auf den Markt kommen. Seinen ersten Fall hat er als Zehnjähriger gesehen. Ich war ein Schlüsselkind und habe oft ferngeschaut. Fasziniert hat ihn damals, dass im Tatort so viel mehr drinsteckte als in den immer gleichen ZDF- Krimis Der Alte oder Ein Fall für Zwei. Schon als Kind interessierte es ihn, FOTOS: KRAUSE-BURBERG / SWR (O.); HARDY SPITZ / MDR; CINETEXT; KPA / SÜDD. VERLAG 1985 Zahn um Zahn Erster Kinofilm der Tatort -Reihe folgt noch Zabou, beide Male mit Schimanski. Klaus Lage komponiert den Ohrwurm Faust auf Faust Moltke Erster Grimme- Preis für einen Tatort Unter Brüdern Erste Koproduktion zweier Erfolgsserien: Westdeutsche Tatort -Kommissare tun sich mit den ostdeutschen Ermittlern vom Polizeiruf 110 zusammen Der Tausch Dieter Bohlen komponiert einen erfolgreichen Titelsong: Midnight Lady, gesungen von Ex-Smokie- Sänger Chris Norman. George in Zahn um Zahn Sodann in seinem letzten Fall Die Falle, Ein Fall für Ehrlicher Der erste von 45 Fällen, die Peter Sodann als sächsischer Kommissar bis 2007 aufklären muss. Damit ist er einer der fleißigsten Ermittler.

63 Schauspielerin Folkerts als Tatort -Kommissarin Lena Odenthal: Wie viel echtes Leben vertragen die Deutschen am Sonntagabend auf der Couch? wenn Bild mal wieder gezählt hatte, wie oft Schimanski pro Film Scheiße sagte. Werner kann von mehr als drei Jahrzehnten Tatort -Liebe schwärmen. Ohne - hin glaubt er, dass der heutige Erfolg im Wesentlichen auf dem beruht, was in den frühen Jahren gesät wurde. Gerade aber sorgt er sich ein bisschen um eine Reihe. Kritisch sieht er vor allem die Überflutung mit Teams, 22 sind es inzwischen, inklusive Wien und Luzern. Sogar Franken hat jetzt eigene Ermittler. Und er bemängelt, dass die Beamten neuerdings immer persönlich in den Fall involviert sind. Im jüngsten Tatort mit Wotan Wilke Möhring etwa war die Tote eine Liebschaft des Kommissars. Eine Woche später wiederholte sich das Muster bei den Münchnern. Am Sonntag darauf wurde dann Max Ballauf vor die Kölner U-Bahn geschubst. Werner sagt, er wünsche sich mal wieder einen Kriminalfall, der nur ein Kriminalfall ist. Früher hat das doch auch funktioniert. Manchmal allerdings hat die Betroffenheit der Beamten ganz banale Gründe. So wie in Stuttgart. Dort hadert Felix Klare als Kommissar Sebastian Bootz gerade mit dem Auseinanderbrechen seiner Familie. Schuld daran trägt die Schauspielerin Maja Schöne, die bisher seine Frau spielte. Als sie der Redaktion verkündete, keine Lust mehr auf den Tatort zu haben, war die Bestürzung groß. Was also tun? Sie durch eine andere Darstellerin zu ersetzen erschien albern. Gegen den Tod Miroslav Nemec, Udo Wachtveitl in Frau Bu lacht der Figur sperrte sich ihr Filmgatte Felix Klare: Ich hätte da ja mindestens acht Folgen lang dran knabbern müssen. Das hätte eine Schwere über die ganzen Filme gelegt. Stattdessen trennen die beiden sich nun, und das über mehrere Folgen hinweg. Daraus ist so etwas wie das Markenzeichen des Schauspielers geworden. Leute sagen auf der Straße: Sie sind doch der aus Stuttgart, dem die Frau weggelaufen ist? Der nächste Stuttgarter Fall läuft am Pfingstmontag. Darin bekommt Bootz per Post die Scheidungspapiere, die ihn sichtlich mehr mitnehmen als die neben ihm liegende Leiche. Es wird die letzte Erstausstrahlung bis August sein. Denn mit dem Tatort ist es wie mit den Schokopralinen von Mon Chéri: Im Sommer gibt es keine neuen. Aber selbst die Wiederholungen werden vermut Stoevers Fall Ein Kommissar Lindemann wird vom Hitparaden - Moderator Dieter Thomas Heck gespielt und die Musi spielt dazu Die 300. Tatort -Folge feiern die Münchner Leitmayr und Batic mit einem Gastauftritt in der Lindenstraße Tod im All Gleich drei Gastauftritte bei Kommissarin Lena Odenthal: Anke Engelke, Ingolf Lück und Nina Hagen. Ulrike Folkerts mit Lück und Engelke 1995 Heck mit Manfred Krug 1995 Frau Bu lacht Zum 25-jährigen Tatort - Jubiläum inszeniert Dominik Graf eine Folge, die den Preis für den besten deutschen Film erhält (Hofer Filmtage) Manila Kammerspiel um Kindesmissbrauch und Sextourismus mit offenem Ausgang. Anschließend diskutieren Klaus J. Behrendt und Dietmar Bär in einer Talksendung mit Sabine Christiansen. DER SPIEGEL 23 /

64 Titel Tatort -Dienstorte seit Sendebeginn 1970 aktuelle ehemalige lich höhere Quoten erreichen als viele anderen Filme bei ihrer Premiere. Der Erfolg der Reihe, so könnte man meinen, müsse die Sender durchweg mutiger machen. Trotzdem sind viele Folgen nach Schema F gebaut. Leiche, Kommissar, bei der Ehefrau klingeln: Wo waren Sie gestern zwischen zehn und elf? Axel Prahl sagt, er würde sich mal einen Fall wünschen, in dem kein Mord geschieht, sondern einer verhindert wird. Auch Ulrike Folkerts hat einen Tatort -Traum. Als Lena Odenthal ist sie in Ludwigshafen die dienst älteste Ermittlerin der Reihe. Mit ihrem 60. Fall begeht sie im Oktober ihr 25-jähriges Dienstjubiläum. Hätte sie alle Freiheiten, eine Folge zu gestalten, sähe die so aus: Lena wäre verliebt, am Feiern, Lachen und in glücklichen Momenten zu sehen, sie würde mal zu viel vom wahren Leben einatmen, den Fall als störend empfinden, weil er ihre Freiheit und Freizeit beschränkt, sie wäre für ihre Kollegen eine Zumutung und permanent hin und her gerissen zwischen Liebe und Tod. Doch beides wird vorerst Wunschtraum bleiben. Spricht man mit Tatort -Machern, kommt man früher oder später auf die Frage: Wie viel kann man den Zuschauern eigentlich zumuten? Wie viel echtes Leben vertragen die Deutschen am Sonntagabend auf der Couch? Ziemlich viel, gerade beim Tatort, glaubt Drehbuchautorin Schön. Sie würde gern mal einen schwulen Kommissar erfinden. Oder ein Team, das aus zwei Frauen besteht. Überhaupt würde sie gern mehr Experimente wagen in ihren Drehbüchern. Der Zuschauer denkt weit weniger schematisch, als mancher Fernsehredakteur glaubt, sagt Schön. Gibt es in den ersten Minuten keine Leiche, kann ein Redakteur schon mal nervös werden. Der Zuschauer nicht. Kiel 30 2 Lübeck Hamburg 81 Bremen 32 Berlin 27 Hannover 75 Essen Duisburg 26 Münster Dortmund Leipzig Dresden 15 Düsseldorf 41 1 Erfurt Köln 2 Bonn 1 Weimar Wiesbaden Frankfurt 4 Mainz 67 1 Heppenheim Ludwigshafen 59 2 Mannheim Saarbrücken 34 1 Heilbronn 1 Heidelberg Stuttgart 3 Karlsruhe Ulm Baden-Baden München 1 Freiburg 93 Konstanz 26 ÖSTERREICH Bern 1 Cuxhaven 1 Stade 12 6 Luzern SCHWEIZ 1 Friedrichshafen Quelle: Tatort -Fundus 16 Tatorte hat sie bereits verfasst, für verschiedene Teams. Die nächste Münster- Folge, in der es um einen Pharmaskandal gehen wird, stammt von ihr. Sie ist überzeugt, dass die übliche Krimidramaturgie, in der nacheinander die Verdächtigen abgeklappert werden, inzwischen auch den Zuschauer langweilt. Wenn einer finster in die Kamera guckt, glaubt heute doch niemand mehr, dass das der Mörder ist. Je verdächtiger sich einer am Anfang verhält, desto schneller weiß der Zuschauer: Der war es nicht. Wer als Autor die bekannten Pfade des Erzählens verlassen will, muss bei den Sendern Überzeugungsarbeit leisten. Meist gelingt Schön das. Nur einmal hat sie sich mit den Tatort -Verantwortlichen eines Senders verkracht. Weil denen ihr Drehbuch nicht klamaukig genug erschien, schrieben sie noch ein paar groteske Wendungen hinein, die Wien 75 Schön bis heute peinlich sind. Im Abspann tauchte dann der Name eines Koautors auf, den es nie gegeben hat. Es war das Pseudonym des Produzenten. Mit den Anstalten müssen Autoren und Produzenten nicht nur über die Frage diskutieren, was der Zuschauer verträgt. Sondern auch darüber, wie viel das Filmteam aushält. Denn die Budgets der Tatorte sind trotz des wachsenden Erfolgs nicht gestiegen, teil - weise sogar ge sunken. Selbst am Leuchtturm Tatort wird gespart auch wenn es dem Zuschauer meist nicht auffällt. Die Teams in Köln oder Münster etwa teilen sich seit je die Pathologie, die drei SWR-Ermittler sogar ein ganzes Haus am Sendersitz Baden-Baden. Im Erdgeschoss befindet sich das Büro von Lena Odenthal, im ersten Stock sitzt Klara Blum, im zweiten sind die Stuttgarter. Unter Fans hat das Tatort -Haus deshalb Berühmtheit erlangt. Manchmal aber leidet die Produktion darunter, dass nicht ein paar Millionen Euro pro Folge zur Verfügung stehen wie für die gepriesenen amerikanischen Serien. Sondern eben nur die üblichen 1,3 bis 1,5 Millionen. Es sei denn, der Haupt - darsteller heißt Til Schweiger. Aus Spargründen werden Drehbuch - autoren schon mal angehalten, eine Sprechrolle zum Statisten zu schrumpfen. Denn wer nicht redet, erhält nur eine mickrige Gage. Außendrehs sollen am liebsten in Innenräume verlagert werden, Nachtszenen in den Tag. Dreharbeiten mit Kindern oder Tieren: schwierig, da unberechenbar. Auch die Anzahl der Drehtage hat bei vielen Teams abgenommen. Früher waren für einen Tatort schon mal 25 Tage üblich, heute sind es im schlechtesten Fall 21. Schauspieler wie Klaus J. Behrendt, die sich das erlauben können, haben sich eine Mindestanzahl von 23 Tagen vertraglich zusichern lassen. Dabei ist der Tatort inzwischen so stark, dass seine Kraft auf andere aus- FOTOS: HORST OSSINGER; BR 2001 Bestien Löst heftige Diskussionen um eine Lynchjustiz unter Mithilfe der Kommissare Ballauf und Schenk aus Im Visier Aufregung bei der Münchner Polizei: Die Polizeitaktik bei einer Geiselnahme wird so detailliert dargestellt, dass ein Maulwurf unter den Beamten vermutet wird Außer Gefecht Erste Folge in Echtzeit. Die Handlung spielt zwischen und Uhr Quartett in Leipzig Je zwei Kommissare aus Köln (WDR) und Leipzig (MDR) ermitteln gemeinsam. Armin Rohde, Klaus J. Behrendt und Dietmar Bär in Bestien Wachtveitl und Nemec in Außer Gefecht

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66 Titel strahlt. Andere Medien leben gut von ihm. Und er von ihnen. Die Süddeutsche Zeitung begleitet jede Folge mit einer Vorkritik, SPIEGEL ONLINE kommentiert live via Twitter. Bild und neuerdings auch faz.net warten nach der Ausstrahlung mit einem Faktencheck auf, der Krimi und Wirklichkeit abgleicht. Die dritten ARD-Programme erzielen mit den Wiederholungen Bestwerte. Und Günther Jauch profitiert, wenn der vorangehende Krimi ihm den roten Teppich auslegt. Vom letzten Fall aus Köln hatte Jauch das Thema Jugendkriminalität übernommen. Klaus J. Behrendt war zum Talk eingeladen, ging aber nicht hin, weil ich zwar meine persönliche Meinung zum Thema Jugendgewalt habe, aber denke, dass diese in einer Expertenrunde nicht relevant ist. Jauch erreichte mit der Sendung die bis dahin beste Quote des Jahres. Am Segen des Tatorts möchte auch so manche sächsische Stadt teilhaben, deren Oberbürgermeister bereits beim MDR vorstellig geworden ist. Der Sender sucht gerade ein neues Team für seinen Sachsen- Tatort. Da man sich noch nicht auf einen Ort festgelegt hat, bewerben sich die Stadtoberen mit einem Elan, als ginge es um die Ausrichtung der Olympischen Spiele oder mindestens der Bundesgartenschau. Vermutlich werden sie wenig bewirken können. Denn es wird weniger auf die Anmut einer Stadt ankommen als auf das passende Konzept. Auf die Ausschreibung des MDR hin haben 35 Produzenten Vorschläge für das neue Ermittlerteam eingereicht. Im Sommer will der Sender darüber entschieden haben. Mehr will Fernsehfilm chefin Jana Brandt dazu nicht verraten. Fest steht: Simone Thomalla und Martin Wuttke, die beiden Ermittler aus Leipzig, werden noch zwei Folgen drehen, die im kommenden Jahr zu sehen sind. Das war s dann. Über die Gründe für die Absetzung schweigt Brandt, sagt nur etwas vom Wunsch, die Krimifamilie des MDR neu Maria Furtwängler in Wem Ehre gebührt Action-Darsteller Schweiger Nuschel-Til aufzustellen. Auch die beiden Darsteller wollen sich zu ihrem Aus nicht äußern. Im Sender heißt es, die beiden hätten sich ausgezeichnet verstanden. Doch habe die Boulevard-Berühmtheit Thomalla stets versucht, mit der Schauspielkunst von Theaterstar Wuttke mitzuhalten, was ihr sichtlich schwerfiel. Wuttke wiederum, heißt es, habe eigentlich gar nicht so recht Lust aufs Fernsehen. Warum also zusammenpressen, was nicht passt? Eine Marke zu pflegen bedeutet auch, sie von Ballast zu befreien. Beim Tatort ist das immer ganz gut gelungen. Anders als dem ZDF mit Wetten, dass..? ist es dem Ersten geglückt, sein wertvollstes Erbe in Schuss zu halten. Doch schon sorgt man sich innerhalb der ARD, wie lange das noch gut gehen wird. Auf jedes Hoch kann eine Abwärtskurve folgen, warnt Jana Brandt vom MDR. Die Frage ist, wie sehr wir die Grenzen ausdehnen können. Im Moment treibt Brandt vor allem die Frage um, wie viel Gewalt der Sonntagskrimi verträgt. Die hat ihrer Ansicht nach zuletzt erheblich zugenommen. Und das nicht nur in Hamburg, wo Schweiger als Nick Tschiller schon mal Nägel in die Axel Milberg und Sibel Kekilli in Borowski und der freie Fall Schulter getackert wurden. Gemeinsam mit Tatort -Koordinator Henke hat Brandt für Mitte Juni alle Fernsehfilmchefs zu einer Tagung einberufen in Begleitung der sendereigenen Jugendschützer. Auch HR-Fernsehfilmchefin Liane Jessen sorgt sich um die Marke. Sie sagt: Wir müssen schauen, dass wir das Ding nicht zu sehr aufblähen. Sonst fliegt es uns irgendwann um die Ohren wie die Immo - bilienblase. Noch aber pumpt Jessen kräftig mit. Innerhalb der Tatort -Riege ist ihre Redaktion das Zentrum des produktiven Wahnsinns. Denn sie verantwortet die Fälle von Ulrich Tukur alias Kommissar Felix Murot, der gerade von seinem Gehirntumor Lilly befreit wurde, mit dem er sich in den ersten beiden Folgen unterhalten hatte. Der nächste Tukur-Fall, der im Oktober zu sehen ist, wird als Rekord in die Tatort -Geschichte eingehen: Zu verzeichnen sind 47 Tote. Mehr als doppelt so viele wie beim bisherigen Leichenrekord, dem zweiten Schweiger-Fall. Der Film beginnt mit einem Theatermonolog im Stile Shakespeares, gleitet über in eine Szene auf einem Bahnsteig, die an Spiel mir das Lied vom Tod erinnert. Die Massenschießerei, auf die alles zuläuft, ist gefilmt im Stil Quentin Tarantinos, Blut spritzt, das Bild gefriert. Das Massaker wird unterlegt mit Verdi-Chören, die Filmmusik gestaltet das HR-Sinfonieorchester. Man muss Grenzen austesten, um das Bestehende zu erhalten, sagt Jessen. Mit dem,tatort ist es wie mit einer guten Ehe. Man muss über die Stränge schlagen, damit man den Alltag behalten darf. Und wer schon diese Tukur-Folge für irre hält, sollte sich die übernächste anschauen. Zu Beginn des Films soll der Tatort -Darsteller Ulrich Tukur verhaftet werden. Am Ende trifft er auf Kommissar Murot, die von ihm gespielte Figur, und beginnt mit ihm einen Dialog. Tukur spricht mit Tukur. Die Quadratur des Tatorts. In der ARD sind sie sich noch nicht einig, wie sie die anstehenden Auswüchse des HR einordnen sollen. Als neue Dimension im Erzählen von Kriminalgeschichten. Oder als Anfang vom Ende. Alexander Kühn 2013 Willkommen in Hamburg Erster Einsatz für Til Schweiger als nuschelnder Tatort - Kommissar Nick Tschiller. FOTOS: NIKO SCHMID-BURGK / PHOTOSELECTION; CHRISTINE SCHOEDER /OBS; PICTURE ALLIANCE / DPA Wem Ehre gebührt Inzestfall in einer alevitischen Familie. Nach der Sendung kommt es zu Protestaktionen der Aleviten in Deutschland Borowski und der freie Fall Um einen Mord aufzuklären, muss das Ermittler- Duo den Tod Uwe Barschels weiter erforschen Gegen den Kopf Die tödliche Attacke zweier Jugendlicher auf einen U-Bahn-Gast ist angelehnt an den Fall des Dominik Brunner.

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68 Energie Geld zurück für Gaskunden Verbraucherverbände haben einen weiteren Sieg für Gaskunden erzielt. Viele Bürger erhalten in diesen Tagen Erstattungen für zu hohe Abrechnungen. Bundesweit hatten sich Kunden gegen die sogenannte Wärmemarktklausel zur Wehr gesetzt. Damit behielten sich Energieversorger wie E.on oder RWE das Recht vor, bei bestimmten Kunden den Gaspreis einseitig erhöhen zu können. Verbraucherzentralen und Grund - eigentümerverbände stuften diese Klausel als unwirksam ein und haben im Namen von Verbrauchern Rückforderungs - ansprüche gestellt. In zwei Klageverfahren haben Hamburger Gerichte rechtskräftig entschieden, dass die von E.on verwendete Preisanpassungsklausel unwirksam und damit sämtliche daraus folgenden Preisänderungen ungültig sind. E.on verzichtet nun auf Rechtsmittel und stimmte zur Vermeidung langwieriger Gerichtsverfahren einem Vergleich zu. Vergangene Woche informierte das Unternehmen klagende Kunden in Hamburg, die Rückzahlungen in zum Teil vierstelliger Höhe bekommen sollen. E.on will jedoch unbedingt vermeiden, dass viele Verbraucher davon erfahren. In den Schreiben an die betroffenen Kunden heißt es, dass die Parteien strengstes Stillschweigen zu bewahren hätten. Denn Sondervertragskunden, die sich den Klagen nicht angeschlossen haben, können noch gegen E.on vorgehen. Die Verjährungsfrist endet drei Jahre nach Kenntnis der möglichen Rückforderungsansprüche. Die Chancen auf Erfolg stünden gut, heißt es beim Hamburger Grundeigentümerverband. Bereits 2013 hat der Bundesgerichtshof festgestellt, dass in RWE-Sonderverträgen die einfache Bezugnahme auf die Regelung für Tarifkunden nicht genügt und daher als Preisänderungsklausel unwirksam sei. red Autoindustrie Noch mehr Unfälle mit GM-Modellen General Motors (GM) gerät wegen der Probleme mit Zündschlössern immer stärker unter Druck. Der Autokonzern gestand nun ein, dass nicht wie bislang behauptet 32, sondern 47 Unfälle auf die schadhaften Bauteile zurückzuführen sind. Die mangelhaften Zündschlösser konnten dazu führen, dass der Motor sich bei voller Fahrt abschaltet und Airbags deaktiviert werden. Nach Konzernangaben soll dies zu 13 Todesfällen geführt haben. Die US-Verkehrssicherheitsbehörde NHTSA dagegen geht davon aus, dass es noch mehr Todesopfer gibt. Ein Anwalt in Texas sagt, er allein vertrete Familienangehörige von 63 Menschen, die bei Unfällen mit GM-Modellen wegen dieses Sicherheitsmangels ums Leben gekommen seien. Das Problem war GM seit 2001 bekannt, wurde aber nicht behoben, weil es zu viel Zeit in Anspruch genommen und zu viel Geld gekostet hätte. Insgesamt musste General Motors in den vergangenen fünf Monaten bereits Rückrufaktionen für über 15 Millionen Fahrzeuge starten. Das sind mehr Autos, als der Konzern pro Jahr produziert. haw Hypo Real Estate Brandbrief an Bundesregierung Die Chefin der verstaatlichten Krisenbank Hypo Real Estate (HRE), Manuela Better, legt sich mit der Bundesregierung an. In einem Brandbrief an den Bankenrettungsfonds Soffin übt Better massive Kritik an der Entscheidung des Bundes, die HRE-Tochter Depfa abzuwickeln. Der Lenkungsausschuss des Soffin, in dem unter anderem das Bundesfinanzministerium vertreten ist, hatte Mitte Mai entschieden, den geplanten Verkauf der Depfa abzubrechen und die Bank stattdessen in der staatlichen Bad Bank FMS Wertmanagement (FMSW) abzuwickeln. Der Bund geht davon aus, dass so für den Steuerzahler mehr Geld herauszuholen ist. HRE-Chefin Better bevorzugte den Verkauf an ein Investorenkonsortium und warnt nun, die Entscheidung zur Abwicklung könne die Depfa destabili - sieren. So seien die Aufsichtsbehörden in den USA und Irland beunruhigt. Auch werde der Verlust in diesem Jahr höher ausfallen als erwartet. Die Mit - arbeiter empfänden zudem die Abwicklung als feindliche Übernahme durch die FMSW. Diese müsse nun schnell die Verantwortung bei der Depfa übernehmen. Weder HRE noch FMSW wollten sich zu dem Brief äußern. Der Verkauf der Depfa galt auch als Testlauf für die Privatisierung der HRE, die der Bund auf Geheiß der EU-Kommission 2015 loswerden muss. Better warnt vor Kollateral - schäden durch die Absage des Depfa-Verkaufs. In Berlin sorgt ihr Better Brandbrief für Irri - tationen. böl, mhs FOTOS: ROLAND MAGUNIA / DAPD (L.O.); OLIVER LANG / DAPD (L.U.); RAINER WEISFLOG (R.) 68 DER SPIEGEL 23/ 2014

69 Tierschutz Die Verantwortung der Ärzte Die deutschen Tierärzte streiten sich über ihre Rolle bei der Massentierhaltung. Anlass ist ein Artikel im Branchenblatt VET Impulse, der sich mit den offenbar tierquälerischen Zuständen im Vion- Schlachthof in Bad Bramstedt befasst. Ein Amtsveterinär hatte dort über Wochen Verstöße dokumentiert und angezeigt, Vion weist die Vorwürfe zurück. In dem Artikel suggeriert Thomas Blaha, Spitzenfunktionär des Berufsstandes und Professor an der Tierärztlichen Hochschule Hannover, der Amtsveterinär sei damit über das Ziel hinausgeschossen. Jetzt wird Blaha gleich in Dutzenden Leserbriefen von seinen Berufskollegen hart angegriffen. Einen Missstand aufzudecken, so der Tenor, sei immer richtig. Besonders pikant: Blaha ist Vorsitzender der Tierärztlichen Vereinigung Tierschutz und des Ethikausschusses der Bundestierärztekammer. Dem SPIEGEL sagte Blaha, eine Anzeige sei immer dann berechtigt, wenn es dem Anzeigenden um die Sache geht, also um echte Verfehlungen. Der Bad Bramstedter Veterinär hatte mit der Anzeige gezögert, weil vor Jahren auf demselben Schlachthof eine Amtsärztin die bundesweit ersten BSE-Fälle öffentlich gemacht hatte. Sie verlor deshalb ihren Job. nkl Lebensmittel Milliardenstrafe für Hersteller Das Bundeskartellamt hat in den vergangenen zehn Jahren allein durch Verfahren gegen Lebensmittelhersteller Bußgelder in Höhe von rund einer Milliarde Euro eingenommen. In acht Fällen ermittelte die Behörde wegen illegaler Preisabsprachen unter anderem gegen Produzenten von Kaffee, Schokolade, Bier, Zucker und Mehl. Das geht aus einer münd - lichen Anfrage der Grünen an die Bundesregierung hervor. Und die Summe könnte noch höher werden: Derzeit untersuchen die Wettbewerbshüter das sogenannte Wurstkartell und prüfen mögliche Preisabsprachen unter Herstellern von Fleischund Wurstwaren. Die Strafzahlungen fließen allerdings nicht an die Kunden zurück oder kommen etwa der Arbeit von Verbraucherschutzzentralen zu, sondern gehen direkt an die Staatskasse. Aktuell zahlen die Verbraucher zwar die überhöhten Preise, über die Bußgelder freut sich aber einzig der Finanzminister, kritisiert deshalb Grünen-Vizefraktions - chefin Bärbel Höhn. sam Internet Die Musik spielt beim Streaming Die Umsätze mit Downloads von Musiktiteln, etwa aus Apples itunes-store, gehen zurück. Dafür steigt die Zahl der Kunden, die ihre Musik aus Streaming-Diensten wie Beats oder Spotify beziehen. Dies dürfte auch der Grund sein, warum Apple vergangene Woche für drei Milliarden Dollar den Streaming-Anbieter Beats übernommen hat. gt Umsätze mit digital verbreiteter Musik Veränderung gegenüber 2012 Downloads z.b. itunes ,01 Mrd.$ Streaming z.b. Spotify ,73 Mrd.$ 2,1% +51% ,93 Mrd.$ ,1 Mrd.$ Quelle: IFPI Wirtschaft Krankenhäuser Qualitätsvergleich im Netz Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe will mit öffentlichen Klinikvergleichen eine angemessene Fehlerkultur in deutschen Krankenhäusern durchsetzen. Die geplante Reform der gesetzlichen Kassen, über die der Bundestag an diesem Donnerstag entscheidet, sieht für 2015 die Einrichtung eines neuen Qualitätsinstituts vor. Es soll unabhängig arbeiten und verlässliche Kriterien für Klinik-Rankings im Internet entwickeln. Fehler, noch dazu solche mit schweren Folgen, dürfen nicht unter den Teppich gekehrt werden, sagte Gröhe. Umgekehrt sei aber auch ein Generalverdacht gegen das Gesundheitswesen völlig unangemessen. Die Patienten hätten ein Recht darauf zu erfahren, wo sie gute Qualität bekämen. Die Folgen des geplanten Gesetzes können für die Krankenhäuser weitreichend sein: So sollen erfolgreiche Kliniken künftig besser bezahlt werden als solche mit schlechterer Qualität. Die Kosten für das neue Institut schätzt der Gesetzentwurf auf bis zu 14 Millionen Euro jährlich. cos Fußnote 562 Millionen Gramm Cannabis im Gesamtwert von mehr als fünf Mil - liarden Euro wurden im Jahr 2012 in der Europäischen Union sichergestellt. Die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht schätzt, dass fast viermal so viel konsumiert wird. gt DER SPIEGEL 23/

70 Medizinroboter im OP Die Menschmaschinen Automatisierung Sie saugen den Fußboden, mähen den Rasen, melken Kühe, assistieren im OP: Serviceroboter dringen in das tägliche Leben vor, die intelligenten Helfer erreichen Marktreife. Etablierte Industrien konkurrieren mit IT-Anbietern. Im Souterrain ihres Bielefelder Werks haben die Ingenieure des Hausgeräteherstellers Miele ein Wohnzimmer eingerichtet, das so behaglich wirkt wie eine mexikanische Gefängniszelle. Auf 20 Quadratmetern verteilen sich ein Sofagestell ohne Polster, ein Lampenfuß ohne Leuchte, ein Kabel ohne Elektrogerät und ein paar leere Tische. Der Raum ist das Versuchslabor für den neuen Miele-Saugroboter, die Gegenstände haben nur einen Zweck, sagt Martin Kornberger: Wir wollen ihm das Leben schwer machen. Kornberger ist der Entwicklungschef hier, ein bedächtiger Mann, der Gästen nicht gleich auf die Nase bindet, dass er bei etwa zwei Dutzend Patenten als Erfinder genannt wird. Der Ingenieur verfolgt, wie das Gerät, rund und flach wie eine Keksdose, auf dem Holzboden seine Bahnen zieht bis es sich einem Tischbein nähert. Es bremst ab, wartet kurz, scheint nachzudenken, dann wendet es sich zur Seite, fährt vor und zurück und umkreist Drohnen wie dieser Hexacopter sind in der Luft im Einsatz und inspizieren Windkraftanlagen und Brücken oder vermessen die Umgebung. das Möbelstück, bis die Bürsten jeden Winkel erreicht haben. Es ist der erste Saugroboter im Sortiment von Miele, Westeuropas größtem Hersteller von Bodenstaubsaugern. Lange hat das Unternehmen mit dem Einstieg gezögert, weil die Saugkraft solcher Geräte eher mäßig ist. Doch die Ver - braucher scheint dies nicht weiter zu stören, Saug roboter sind die Renner unter den Haushaltsgeräten. Viele schätzen den Komfortgewinn offenbar mehr als die perfekte Saugleistung. Das hat uns überrascht, räumt Kornberger ein. Deshalb ist Miele verspätet eingestiegen in ein Geschäft, dem das zentrale Kompendium des Gewerbes, World Robotics, 70 DER SPIEGEL 23 / 2014

71 Wirtschaft FOTOS: JAVIER LARREA / AGEFOTOSTOCK (L.O.); KIVA SYSTEMS (R.U.) eine große ökonomische Zukunft bescheinigt. Fast 1,9 Millionen Saugroboter wurden 2012 weltweit verkauft, zwischen 2013 und 2016 sollen laut den Schätzungen gut 13 Millionen dazukommen. Die intelligenten Haushaltshelfer dringen inzwischen an vielen Stellen in den Alltag der Bürger vor und stehen ihnen hilfreich zur Seite. Sie saugen den Boden, mähen den Rasen, putzen die Fenster, reinigen die Regenrinne oder säubern das Schwimmbad. Manche Anwendung mag noch nicht ganz ausgegoren sein, ein rundum sauberes Fenster bleibt wohl bis auf Weiteres das Ergebnis von Handarbeit. Doch vielfach haben die Geräte Marktreife erreicht, oder sie ist nicht mehr fern. Noch weiter ist die Entwicklung von Service robotern, die in professioneller Umgebung im Einsatz sind. Im Krankenhaus assistieren sie am OP-Tisch und stechen zitterfrei und zielgenau Biopsienadeln ins Gewebe. Im Warenlager bewegen sie Güter auf dem schnellsten Weg zur Packstation. Im Stall melken sie Kühe, auf dem Feld ernten sie Erdbeeren; ob die Früchte reif sind, erkennen Sensoren an der Farbe. Auch Wartungsaufgaben erledigen heute Roboter, oft aus der Luft: Drohnen inspizieren Stromleitungen oder Staumauern. Und sie dienen militärischen Zwecken, als Minenräumer oder Luftaufklärer. Roboter sind auf dem Vormarsch, in der verarbeitenden Industrie, aber zunehmend auch im täglichen Leben, sagt Martin Hägele vom Stuttgarter Fraunhofer- Institut für Produktionstechnik und Automatisierung und Autor von World Robotics. Die neuesten Entwicklungen sind von Dienstag dieser Woche an auf der Automatica zu sehen, der weltgrößten Robotermesse in München; in diesem Jahr liegt der Schwerpunkt auf Servicerobotik. Es ist ein uralter Traum, der jetzt in Erfüllung zu gehen scheint: Roboter erledigen Tätigkeiten, mit denen bislang Menschen beschäftigt sind. Die Idee des Homunkulus, des künstlichen Menschen, fasziniert Schriftsteller seit Jahrhunderten und Filmemacher seit Generationen. Die Androiden hießen Maria ( Metropolis ), C-3PO ( Star Wars ) oder Sonny ( I, Robot ). Sie konnten laufen, tragen, sehen, hören und manchmal sogar fühlen. Die Filmemacher haben vorweggenommen, was die Ingenieurskunst heute entwickeln will. Die Fiktion nimmt Gestalt an, auch wenn sie nicht eben wie ein Mensch aussieht. Sondern höchstens wie eine mächtige Armprothese, so jedenfalls wirkt der LBR Iiwa, ein neues Leichtbaumodell des Roboterherstellers Kuka. Gut 22 Kilo ist er schwer, gefertigt aus Aluminiumguss, zahllose Sensoren machen ihn so feinfühlig wie einen Masseur. Bei der Montage eines Displays ruckelt der Iiwa das Fenster passgenau in den Rahmen. Beim Knochenfräsen im Operationssaal begrenzt er den Arbeitsbereich des Chirurgen und verhindert so das Abrutschen. Und in der Autofertigung rüttelt der Iiwa Kupplung und Getriebe gefühlvoll zusammen, er verleiht dem Arbeiter quasi eine dritte Hand. Kommt man ihr zu nahe, werden die Gelenke weich und federn zurück. Soft Robotics ist eine neue Erfahrung für das Augsburger Unternehmen, das neben Fanuc, Yaskawa und ABB weltweit an der Spitze der Roboterhersteller steht. Bislang war Kuka vor allem bekannt für klassische Industrieroboter, stählerne Ungetüme, die blitzschnell und mit brutaler Präzision Werkteile zusammentackern, ihre Arbeit aber aus Sicherheitsgründen hinter Barrieren verrichten. Mit dem Iiwa will Serviceroboter 24,7 Mrd. Dollar wird die Branche laut World Robotics -Schätzung zwischen 2013 und 2016 an Umsatz erzielen, 7,6 Milliarden im häuslichen Umfeld, 17,1 Milliarden Dollar in professioneller Umgebung. das Unternehmen nun den Markt für Serviceroboter aufrollen. Schutzzäune sind dort unnötig, sagt Kuka-Vorstandschef Till Reuter: Wir lassen den Roboter aus dem Käfig. Reuter sitzt am Tisch des Besprechungszimmers in der Augsburger Zentrale und schwärmt davon, wie Roboter in Beruf und Alltag zum Assistenten des Menschen werden. Er deutet auf die Gläser, Tassen und Teller vor sich, das Aufräumen könnte ein Roboter übernehmen, meint der Manager: Der Iiwa kriegt das hin. Noch rechne sich ein solcher Einsatz nicht, das werde sich aber ändern, ist Reuter überzeugt: Der technologische Fortschritt wächst exponentiell. Immer billiger und besser werden die Roboter, die Taktgeber der Entwicklung sitzen neuerdings in Amerika. Dort machen IT-Giganten wie Amazon, Apple und Google enorme Summen locker, um auf diesem Feld schnell Kompetenz zu er - werben. Amazon hat für 775 Millionen Dollar Kiva Systems übernommen, einen Spe - zialisten für Logistikroboter. Die Idee: In den Verteillagern des Onlinehändlers sollen anstelle von Mitarbeitern autonome Schlepper die Ware einsammeln und zur Packstation befördern. Apple will mehr als zehn Milliarden Dollar in neue Technologien stecken, vor allem in Roboter. Und Google hat sich innerhalb weniger Monate gleich acht Robotikunternehmen einverleibt. Roboter werden in einem guten Sinne omnipräsent in unserem Leben, prognostizierte Google-Verwaltungsratschef Eric Schmidt auf einer Konferenz im März. Kurz zuvor hatte das Unternehmen Boston Dynamics gekauft, bekannt für Lauf roboter Pflegeroboter wie dieser Prototyp bringen Getränke und spielen Musik. Mähroboter schneiden den Rasen und kehren von allein zur Ladestation zurück. Logistikroboter finden selbstständig Waren im Lager und bringen sie zur Packstation. DER SPIEGEL 23 /

72 Wirtschaft wie Cheetah, der schneller rennen kann als der Sprintstar Usain Bolt. Bislang lebte Boston Dynamics großenteils von Aufträgen des US-Verteidigungsministeriums, wie manch andere amerikanische Roboterfirma auch. Der Weltmarktführer bei Saugrobotern, irobot, hatte sich bereits einen Namen bei der Minensuche gemacht, bevor das Unternehmen seine Navigationskenntnisse in der zivilen Welt zum Einsatz brachte. Dass nun die Internetkonzerne und nicht mehr das Pentagon die Impulse setzen, verleiht der gesamten Roboterbranche Rückenwind. Das Volumen an Wagniskapital für junge Gründerfirmen hat sprunghaft zugenommen, nicht nur im Silicon Valley. In Frankreich hat ein Fonds namens Robolution 80 Millionen Euro eingesammelt, um das Geld ausschließlich in Unternehmen zu investieren, die sich mit Servicerobotern beschäftigen. Auch die EU ist groß eingestiegen. Sie hat eine Initiative gestartet, um den industriellen Vorsprung in der Servicerobotik in der Europäischen Union auszubauen, so die Brüsseler Digitalkommissarin Neelie Kroes. Mit mehr als 700 Millionen Euro fördert die EU-Kommission den Robotik sektor. Der Ingenieur Andreas Drost staunt über so viel Dynamik: Es ist unglaublich, was da heute an Forschungsgeld hineingesteckt wird. Drost, 34, ist Geschäftsführer von MT Robot, einem 2008 gegründeten Unternehmen mit Sitz in Zwingen nahe Basel, das fahrerlose Transportsysteme (FTS) herstellt. Der gebürtige Lörracher kann sich noch gut daran erinnern, wie schwer es war, Geldgeber in Deutschland zu finden. Bei rund dreißig Adressen sei er abgeblitzt, bevor ein Privatmann in der Schweiz, ein sogenannter Business Angel, in sein Projekt investierte, erzählt Drost. Damals hätten Wagniskapitalgeber alles finanziert, was nach grüner Technologie aussah für Roboter habe sich niemand interessiert. Jetzt beschäftigt der Unternehmer gut ein Dutzend Mitarbeiter, zu seinen Kunden gehört eine kleine Basler Klinik, in der seine FTS im Einsatz sind. Sie ähneln Palettentransportern, rollen selbstständig durch die Gänge des Hospitals und stoppen automatisch, wenn ein Hindernis auftaucht; nach einer Lernfahrt haben sie sich die Umgebung eingeprägt. Sie erledigen Botengänge, sie holen Getränkekisten und Medikamente und bringen sie auf die Station. Demnächst sollen sie auch die Böden wischen und sogar Speisen austeilen. 72 DER SPIEGEL 23 / 2014 Softroboter wie der LBR Iiwa dienen Industriearbeitern als dritte Hand. Solche Roboter, die Transportaufgaben erledigen, sind heute bereits in vielen Unternehmen anzutreffen. In den Katakomben der Universitätsklinik Köln befördern sie etwa die Schmutzwäsche. In der Phaeton-Produktion von VW in Dresden versorgen sie die Monteure mit Kabelsträngen oder Schalttafeln. Und in der niederländischen Molkerei Campina bringen sie die gestapelten Käselaibe gemäß ihrem Reifegrad vom Lager zur weiteren Bearbeitung. Die autonomen Fahrzeuge werden oft von Unternehmen mit IT-Hintergrund entwickelt, die sich auf Sensorik und die Verarbeitung von Navigationsdaten verstehen. Mit dieser Kompetenz attackieren sie eta blierte Industriebetriebe, zum Beispiel einen Gabelstaplerhersteller wie Jung - heinrich. Das Hamburger Unternehmen hat einige fahrerlose Stapler im Programm, auf deren Dach sich permanent ein Gerät dreht, das wie ein Espressokocher aussieht. Per Lasernavigation sucht es die Umgebung nach Reflektoren ab, die in der Werkhalle befestigt sind, misst permanent Abstand und Winkel und findet sich so zurecht. Auf diese Weise bewegt das Fahrzeug Paletten auf fünf Millimeter genau. Jungheinrich wird nun von reinen FTS-Anbietern herausgefordert, Miele tritt gegen irobot an: Die klassische Industrie wetteifert mit der modernen IT-Wirtschaft darum, wer im Geschäft mit Servicerobotern die Nase vorn hat. Wie der Wettlauf ausgeht, ist noch nicht absehbar. Fest steht nur: Es gewinnt, wer viel in die Forschung investiert oder einen guten Draht zu wissenschaftlichen Instituten hat. Kuka hätte wohl kaum einen Leichtbauroboter wie den Iiwa so schnell auf den Markt gebracht, wenn nicht Wissenschaftler vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt im 50 Kilometer entfernten Oberpfaffenhofen Vorarbeit geleistet hätten. Und als vor zwei Wochen auf einer Logistikfachmesse das Dortmunder Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik das vielleicht ausgeklügeltste Konzept für ein modernes Warenlager präsentierte, pilgerten scharenweise Logistikunternehmer an den Stand. Sie ließen sich den so ge - nannten Rackracer erklären, einen Kletterroboter, der teilweise im 3-D- Drucker gefertigt wird. Der Rackracer, der fahrerlose Stapler oder der Leichtbauroboter verfolgen letztlich denselben Zweck: Sie automatisieren Prozesse. Wegezeiten werden verkürzt, Mitarbeiter gespart. Erst haben Roboter die Produktionshallen fast menschenleer gemacht, folgen nun also Warenlager und Wartungsdienste oder gar Krankenhäuser und Pflegeheime? Zumindest einfache Tätigkeiten werde der Roboter immer häufiger übernehmen, erwartet Kuka-Chef Reuter: Es ist nicht die Frage, ob man es machen sollte, sondern wer der Erste ist, der es tut. Zur Disposition stehen Tätigkeiten, in denen Abläufe oft wiederholt werden und die weniger Fingerfertigkeit bedürfen. Doch das ist erst der Anfang: Die Roboter wachsen mit ihren Aufgaben. Am Ende steht der digitale Alleskönner, die Vision eines Roboters, der im professionellen Umfeld nicht mehr nur assistiert, sondern selbst agiert. Und der zu Hause die Aufgaben eines persönlichen Butlers übernimmt: der Kaffee kocht, die Betten macht, die Spülmaschine ausräumt oder den Blutdruck kontrolliert der einen Rundumservice bietet, wie ihn insbesondere eine ältere Generation benötigt. Und der möglicherweise auch menschliche Züge trägt, beinahe schon zu einem sozialen Wesen wird. Derzeit aber ist das Zukunftsmusik. Das ist noch ein langer Weg, sagt der Miele-Entwickler Kronberger. Bislang ist es selbst den gescheitesten Köpfen der Roboter szene nicht gelungen, eine menschliche Hand mit all ihren Fähig - keiten zu kopieren. Alexander Jung Video: Das können Serviceroboter spiegel.de/app232014roboter oder in der App DER SPIEGEL

73 Wirtschaft Ins Knie geschossen FOTO: STEFAN BONESS / IPON Soziale Gerechtigkeit Der Wirtschaftsweise Peter Bofinger, 59, wirft Starökonom Thomas Piketty vor, bei seiner Kapitalismus- Kritik falsche Schlüsse zu ziehen. Ökonom Bofinger zeit. Die Vermögenden und viele Unternehmen investieren nicht. Stattdessen sitzen sie auf ihrem Geld wie Dagobert Duck. SPIEGEL: Piketty schlägt eine Vermögensteuer vor, um das Geld von den Reichen zu den Armen umzuverteilen. Unterstützen Sie diesen Vorschlag? Bofinger: Eine Vermögensteuer muss auch bezahlt werden, wenn ein Unternehmen Verluste macht. Das kann dessen Substanz gefährden; deshalb bin ich dagegen. Anders ist es bei einer Erbschaftsteuer: Diese ließe sich so ausgestalten, dass auch ein Familienunternehmen nicht in die Knie gezwungen wird, und trotzdem mehr Geld für den Staat hereinkommt, als es heute der Fall ist. SPIEGEL: Man hätte eigentlich erwartet, Sie würden mit Piketty sympathisieren. Im- 6% 5% 4% 3% 2% SPIEGEL: Herr Bofinger, Ihr französischer Kollege Thomas Piketty hat mit seinem Buch Das Kapital im 21. Jahrhundert eine Gerechtigkeitsdebatte ausgelöst. Werden im Kapitalismus die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer? Bofinger: Piketty hat insofern recht, als unser Wohlstand zunehmend ungleich verteilt wird. Das ist in der Tat ein Problem für die Legitimation einer marktwirtschaftlichen Ordnung. Leider enthält Pikettys Buch einen fundamentalen Widerspruch: Er stellt eine Theorie auf widerlegt sie dann aber mit seinen eigenen Zahlen. Damit hat er sich selbst ins Knie geschossen. SPIEGEL: Laut Piketty ist es eine Gesetzmäßigkeit im Kapitalismus, dass die Rendite aus Vermögen, r, größer ist als das reale Wirtschaftswachstum, g. Seine Formel lautet: r größer g. Deshalb gehe die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander. Was stimmt daran nicht? Bofinger: Wer sich die Mühe macht, in Pikettys Buch nicht nur das Vorwort zu lesen, findet auf Seite 356 eine Schautafel. Sie zeigt, wie sich r und g historisch entwickelt haben. Demnach stimmt Pikettys Theorie von Christi Geburt bis zum Jahr 1913: Die Rendite des Kapitals lag tatsächlich über dem realen Wirtschaftswachstum; r war größer als g. Doch seit 1913 ist es genau andersherum: Die Kapitalrendite liegt deutlich unter der realen Wachstumsrate, also: r kleiner als g. SPIEGEL: Piketty sagt, dass sich das Verhältnis in Zukunft wieder umkehren wird. Bofinger: Das ist seine Prognose. Doch es ist merkwürdig, dass seine Zauberformel ausgerechnet für die am besten dokumentierten hundert Jahre, in denen sich die Marktwirtschaft erst so richtig entfaltet hat, nicht zutrifft, sondern das Gegenteil. Würde ich feststellen, dass meine Theorie und meine Zahlen dermaßen auseinandergehen, hätte ich schlaflose Nächte. SPIEGEL: Die Financial Times wirft Piketty Tricksereien vor. Bofinger: Es handelt sich womöglich eher um eine Reihe von Fehlschlüssen. Piketty setzt zum Beispiel Sparen und Investieren gleich. Aber man kann auch sparen, indem man Geld hortet. Genau das geschieht dermerhin gelten Sie als der einzige Linke unter den Wirtschaftsweisen. Bofinger: Hier geht es nicht um Sympathie, sondern um Glaubwürdigkeit. Ich kann als Wissenschaftler doch nicht über einen fundamentalen Widerspruch hinwegsehen, nur weil mir die Grundrichtung gefällt. SPIEGEL: Stimmt denn wenigstens Pikettys Beobachtung, wonach die Reichen zuletzt immer reicher geworden sind? Bofinger: In Deutschland ist die Vermögenskonzentration sehr hoch; sie ist höher als in allen anderen Ländern des Euroraums. Aber sie ist seit Jahren konstant. Das größte Problem ist die wachsende Ungleichheit bei der Einkommensverteilung. Weltweit bekommen Arbeiter und Angestellte ein immer kleineres Stück vom Kuchen. Der Anteil der Arbeitseinkommen am Volkseinkommen sinkt seit Jahrzehnten, während der Anteil der Zinseinnahmen und Kapitalerträge steigt. Deshalb haben wir nicht nur ein Gerechtigkeits-, sondern auch ein riesiges Nachfrageproblem. SPIEGEL: Inwiefern? Bofinger: Arbeitnehmer geben sehr viel mehr von ihrem Einkommen aus als Unternehmer und Vermögensbesitzer. Die Umverteilung zulasten der Arbeitnehmer führt zu riesigen Geldersparnissen der Vermögenden und bremst so das weltweite Wachstum aus. SPIEGEL: Zuletzt haben sich die Gewerkschaften mit höheren Lohnforderungen aber durchgesetzt. Bofinger: Zum Glück! Schon Ludwig Erhard hat sich für eine freizügige Lohnentwicklung ausgesprochen. Die Einkommen der Arbeitnehmer müssen mit dem allgemeinen Wirtschaftswachstum steigen, um Wohlstand für alle zu erreichen. Dass es Deutschland derzeit vergleichsweise gut geht, hat auch damit zu tun, dass die Löhne endlich wieder steigen. SPIEGEL: Sollten wir also lieber Erhard als Piketty lesen? Bofinger: Erhard zu lesen ist immer hilfreich. Interview: Alexander Neubacher r größer g? Entwicklung von Kapitalrendite und Wirtschaftswachstum nach Thomas Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert Kapitalrendite (r) 1% 0% Reales Wachstum (g) PROGNOSE DER SPIEGEL 23 /

74 Wirtschaft Dicke Bertha reloaded Geldpolitik Die Europäische Zentralbank will diese Woche mit einem Maßnahmenpaket südeuropäische Unternehmen von ihren Kreditsorgen befreien. Doch es gibt bessere Förderinstrumente. Pilar Mejías Leceta, eine vollschlanke Frau im lila Pullover, strahlt und steht auf dem blank geputzten Fußboden im Verkaufsraum des spanischen Autohändlers Sealco. Die Kunden kommen, und die Banken rufen wieder an, sagt die Direktorin des spanischen Mittelständlers, die einige Autohäuser an den Ausfallstraßen Madrids führt. In den vergangenen fünf Jahren war das anders. So lange dauerte die Krise in Spanien, so lange ging es auch für Sealco nur ums Überleben. Von heute auf morgen hatten viele Banken aufgehört, Finanzmittel zur Verfügung zu stellen. Notgedrungen entließ man Mitarbeiter, die Verwaltung wurde zentralisiert. Doch seit Anfang des Jahres läuft es wieder besser. Die Autoverkäufe legten im zweistelligen Prozentbereich zu, begünstigt durch ein staatliches Förderprogramm. Leceta hat ein paar zusätzliche Verkäufer eingestellt und will die Lackiererei ausbauen Euro bekam ihr Unternehmen dafür vor ein paar Tagen von der Großbank Santander geliehen, für fünf Jahre und zu einem Zinssatz von knapp sechs Prozent. Das ist im Vergleich zu Deutschland vielleicht nicht besonders günstig. Doch Leceta will nicht klagen. Wir haben überlebt, sagt die Managerin. Hauptsache, das Geld fließe wieder. Den Optimismus von Leceta teilen derzeit nicht alle im Gegenteil. Der Mangel an verfügbaren Krediten hemmt den Aufschwung in belasteten Ländern, klagte Mario Draghi vergangene Woche auf einer Konferenz in Portugal zum wiederholten Mal. Ebendiese vermeintliche Kreditklemme hat der Chef der Europäischen Zentralbank (EZB) als einen der Gründe für die niedrigen Inflationsraten in der Eurozone ausgemacht, die derzeit bei 0,7 Prozent liegen. Obwohl die EZB eigentlich knapp unter zwei Prozent anpeilt. Um die daraus resultierende Deflationsgefahr zu bekämpfen und der Wirtschaft in den Krisenländern auf die Beine zu helfen, wollen die Frankfurter Zentralbanker diese Woche aktiv werden und die Zinsen noch einmal senken. Zudem sollen zögerliche Banken, die ihr Geld über Nacht bei der Notenbank parken, statt es in Form von Krediten weiterzugeben, demnächst eine Art Strafzins zahlen. Dahinter steckt die Hoffnung, dass die Banken ihr Geld dann lieber doch verleihen, bevor sie eine Aufbewahrungsgebühr bezahlen müssen. 74 DER SPIEGEL 23/ 2014 EZB-Neubau in Frankfurt am Main Entkoppelt Unternehmenskredite und Wirtschaftswachstum im Euroraum, Veränderung seit 2002 in Prozent Quellen: EZB, EU-Kommission Kreditvolumen der Banken im Euroraum gegenüber Unternehmen Nominales Wirtschaftswachstum der Euroländer Doch die Währungshüter wollen noch weiter gehen. Sie arbeiten beispielsweise an einem neuen Kreditprogramm zu bisher nie dagewesenen Konditionen: Banken sollen sich Geld für die Dauer von bis zu vier Jahren leihen können. Die Ausgestaltung ist im Rat freilich umstritten vor allem die Frage, ob ein va - riabler Zins oder ein Festzins verlangt werden soll. Letzterer könnte womöglich nur die Höhe des aktuellen Leitzinses von dann wohl sensationell niedrigen 0,15 Prozent haben. Vorbild für den Sonderkredit ist ein dreijähriges sogenanntes längerfristiges Refinanzierungsgeschäft, dem Draghi selbst zur besseren Verständlichkeit scherzhaft den Namen Dicke Bertha verpasst hatte, nach dem Geschütz aus dem Ersten Weltkrieg. Weil sich die Bankenbosse vor gut zwei Jahren für das billige Geld aber gern mit Staatsanleihen ihrer Heimatländer eindeckten, statt neue Kredite zu vergeben, soll dieses Mal Geld nur an solche Institute vergeben werden, die es tatsächlich an die Wirtschaft weitergeben. Beispielsweise könnte jeder Bank nur so viel zur Verfügung gestellt werden, wie sie für neue Mittelstandskredite ausgibt. Funding for lending, lautet das Motto. Die Frage freilich ist, ob eine neue Dicke Bertha überhaupt sinnvoll ist. In Spaniens Hauptstadt Madrid ist von einer Kreditklemme dieser Tage nicht viel zu sehen. Im Zentrum werben die großen Banken mit Plakaten penetrant um den Mittelstand. Vorwärts. In dieser Zweigstelle gibt es eine Finanzierung, lockt etwa die Großbank BBVA. Der Banco Popu lar wirbt sogar mit einer 100-Prozent-Finanzierung für Investitionen kleiner und mittlerer Unternehmen. Selbst internationale Investoren interessieren sich seit Neuestem wieder für den jahrelang am Boden liegenden spanischen Immobilienmarkt. Offenbar haben die spanischen Banken, die viele faule Immobilienkredite bei einer halbstaatlichen Bad Bank abladen konnten, wieder Mut gefasst. Wenn Unternehmen die lange Wirtschaftskrise überlebt haben, stellen sie wohl kein großes Risiko dar. Es war nicht wirklich schwierig mit dem Kredit, berichtet auch Fabián de Torres. Der Besitzer einer Privatschule mitten in Madrid bekam vor Kurzem anstandslos rund 2,5 Millionen Euro von einer Bank geliehen, die er zur Renovierung seines FOTO: JAN-PETER BOENING / ZENIT / LAIF

75 Internats einsetzen will. Den Kredit mit 3,5 Prozent Zinsen und einer Laufzeit von sieben Jahren hätte er in Deutschland kaum günstiger haben können. Noch im vergangenen Jahr wäre das deutlich teurer gewesen, sagt Torres. Doch wie passt das mit den Zahlen der EZB zusammen? Viele der lebensfähigen spanischen Unternehmen hätten demnach Kreditprobleme, monierte Draghi kürzlich. Auch in Italien ist die Lage EZB-Daten zufolge angespannt. Carlo Messina mag genau das aber nicht glauben. Wir würden gern mehr Kredite vergeben, aber die Nachfrage ist zu gering, sagt der Vorstandsvorsitzende der italienischen Großbank Intesa Sanpaolo. Er sitzt auf dem Rand einer braunen Sofa ecke in einem Golfhotel in Portugal und berichtet mit lebhaften Gesten von seinen Anstrengungen, Kunden zu finden: Seine Bank sitze auf rund 60 Milliarden Euro, die Messina vor allem in sehr kurz laufende Anleihen steckt. Für mich wäre es besser, diese Mittel zur Kreditvergabe zu verwenden. Doch kleinere und mittlere Unternehmen würden in wirtschaftlich schwierigen Zeiten eben wenig investieren. Natürlich schauen die Institute nach der Finanzkrise schärfer hin bei Sicherheiten oder neuen Geschäftsideen. Genau das verlangt die Weltgemeinschaft allerdings auch, weil die rasant wachsenden Kreditbücher der Häuser schließlich maßgeblich zur Finanzkrise beigetragen haben (siehe Grafik). Die EZB selbst unterzieht die Geldhäuser deshalb gerade einem beispiellosen und monatelangen Stresstest. Dazu kommt: In Ländern wie Portugal oder Griechenland halten sich die Verbraucher beim Konsum zurück, weil viele Menschen arbeitslos sind und die Sozialleistungen zusammengestrichen wurden. Auch das bereitet den dortigen Unternehmen gewaltige Probleme und bremst ihre Investitionslust. Nur der Export wächst langsam. Portugal meldete 2013 den ersten Leistungs - bilanzüberschuss seit über dreißig Jahren. Lauter als vor dem Mangel an Krediten warnen viele Unternehmer deshalb vor einem ganz anderen Phänomen: dem beängstigend starken Euro, der ihre Produkte verteuert und damit international wenig wettbewerbsfähig macht. Um die Nachfrage nach Produkten zu befeuern, muss man beim Wechselkurs intervenieren, drängt auch Bankchef Messina. Für seinen Landsmann Draghi ist die starke Währung ebenfalls ein echtes Ärgernis. Der Wechselkurs sei ein Grund für ernsthafte Sorgen im EZB-Rat, erklärte er nach der letzten Sitzung des Entscheidungsgremiums weil der Höhenflug der Währung die Erholung in den Krisenländern ausbremst und damit ein wichtiger Grund für die niedrigen Inflationsraten ist. Deshalb soll das Maßnahmenpaket, das Draghi diese Woche gemeinsam mit den Notenbankchefs der Euroländer schnüren will, den Kursanstieg bremsen. Investoren sollen so in alternative Währungen getrieben und der Kurs des Euro geschwächt werden. Ein negativer Einlagenzins etwa half vor wenigen Jahren in Dänemark, den Aufwertungsdruck auf die Krone zu verringern. Ob das auch im Euroraum funktioniert, bleibt allerdings fraglich. Viele Anleger ANZEIGE haben die absehbaren Maßnahmen der EZB bereits in ihre Entscheidungen eingepreist und die Wirkung dadurch vorweggenommen. Außerdem ist der Euro durch die Ukraine-Krise zur Fluchtwährung geworden das kann auch Draghi kaum ändern. In Deutschland könnten die geplanten Schritte zudem genau das Gegenteil dessen bewirken, was sich die Notenbanker in Frankfurt versprechen: Statt den Konsum anzukurbeln, könnten niedrigere Zinsen in Deutschland dazu führen, dass die Verbraucher mehr sparen. Auf diese paradoxe Wirkung wies kürzlich der Essener Volkswirt Ansgar Belke zusammen mit seinem Brüsseler Kollegen Daniel Gros hin. Wenn die Bürger etwa ein bestimmtes Sparguthaben fürs Alter anpeilen, müssen sie bei sinkenden Zinsen einen größeren Anteil ihres Einkommens zurücklegen. Dieses Geld steht dann aber nicht mehr für den Konsum zur Verfügung was die Binnennachfrage zumindest kurzfristig dämpft. Doch selbst wenn es so weit nicht kommen sollte, durchschlagende Wirkung erwarten sich weder Notenbanker noch Ökonomen von den geplanten Maßnahmen. Es geht eher um die Signalwirkung als um den wirklich großen Effekt, sagt Markus Brunnermeier, Notenbankexperte an der Princeton-Universität. Es ist freilich eine Signalwirkung, für die die EZB womöglich wieder viel Geld ausgeben wird. Die Geldpolitik kann das nicht richten, sagt Brunnermeiers Kollege Gros deshalb zu den Problemen in der Eurozone. Stattdessen müsse endlich die Politik handeln. Dass das geht, zeigt sich gerade in Spanien. Sowohl der Privatschulbesitzer Torres als auch die Autohändlerin Leceta profitierten davon, dass die Europäische Investitionsbank (EIB) ein Förderinstitut der Europäischen Union spanischen Banken zinsgünstige Kredite zur Verfügung stellt, um gezielt den Mittelstand zu fördern. Dafür müssen Santander & Co. unterschreiben, dass sie bei diesen Kunden niedrigere Zinsen verlangen und längere Laufzeiten als üblich anbieten. Über spanische Mittelständler profitierten im vergangenen Jahr, sagt Klaus Trömel, Kreditchef der Luxem - burger Förderbank EIB, die den Mitgliedstaaten der EU gehört. Mit einem Volumen an Neukrediten über zehn Milliarden Euro ist Spanien 2013 der größte Kunde der Förderprogramme gewesen, auch weil es neben den privaten Banken staatliche Organisationen gibt, die Kredite durch - leiten. In den Krisenländern Griechenland, Portugal und Zypern aber fehlen solche Partner, dort musste die EIB improvisieren. In Griechenland, seit April auch in Portugal, übernimmt sie deshalb Handelsfinanzierungen. Immer wieder war es vorgekommen, dass Unternehmen nicht exportieren konnten, weil die Handelspartner im Ausland den lokalen Banken misstrauten. Immerhin ist Portugal mithilfe der EIB und der deutschen KfW dabei, eine nationale Förderbank zu gründen, mit der beispielsweise der eigene Mittelstand unterstützt werden kann. In Griechenland scheiterte das bisher an der fehlenden Bonität des Landes, nun soll ein von Deutschland unterstützter Förderfonds helfen. Manchmal müssen Krisen eben sechs Jahre dauern, bis sich Dinge ändern. Christoph Pauly, Christian Reiermann, Anne Seith DER SPIEGEL 23/

76 Wirtschaft Messbarer Raubbau Umwelt Ist ein Hybrid auto sauberer als ein Benziner? Baumwolle ökologischer als Synthetik? Ein neues Buch zertrümmert scheinbare Gewissheiten. Ein Auto mit Hybridantrieb fährt mit Batterie und mit Verbrennungs - motor, so verbraucht es weniger Benzin und gilt gemeinhin als ökologisches Wunderwerk. Nur nicht in den Augen von Friedrich Schmidt-Bleek. Wer etwas für die Umwelt tun wolle, solle seinen alten Käfer weiterfahren, sagt er lakonisch. Der Wissenschaftler hat noch mehr solcher Ratschläge auf Lager. Er empfiehlt, Tüten aus Plastik jenen aus Papier vorzuziehen, ein Synthetikhemd zu tragen statt eines Modells aus Baumwolle und das Butter brot besser in Plastikfolie einzu - wickeln als in Aluminium. Der 81-Jährige ist kein ignoranter Umweltmuffel, sondern das Gegenteil: Schmidt-Bleek, von Haus aus Chemiker, gilt als Pionier der Ökobewegung. Er war Vize präsident des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie, bekleidete führende Posi tionen beim Umweltbundesamt und bei der OECD. Jetzt zieht der Umwelt-Papst (Frankfurter Rundschau) auf 304 Seiten eine Bilanz, die verblüfft. Vieles von dem, was die Deutschen stolz als ökologische Errungenschaft feiern, bezeichnet er als grüne Lügen *. Seit Jahren schon verfolge die Umweltpolitik einen falschen Kurs, lautet seine Diagnose, sie leide unter fundamentalen Konstruktionsfehlern, das Ergebnis sei fatal: Die Umweltpolitik schade der Natur mehr, als ihr zu helfen. Das Problem: Heute werde Umweltschutz hauptsächlich auf ein Ziel reduziert, die Verringerung von CO -Emissionen, findet Schmidt-Bleek, und das sei zu kurz ² gegriffen. Wenn die Politik den Klima - wandel stoppen wolle, müsse sie an der Wurzel des Übels ansetzen, am Verbrauch natürlicher Ressourcen: von Sand und Kalk, von Kupfer und Eisen, von Öl und Gas. Von Stoffen also, die nicht beliebig erneuerbar sind. Der Wissenschaftler hat ein Verfahren entwickelt, das den Raubbau an der Natur messbar macht. Er ermittelte * Friedrich Schmidt-Bleek: Grüne Lügen. Ludwig Verlag, München; 304 Seiten; 19,99 Euro. Ökopionier Schmidt-Bleek für eine Vielzahl von Stoffen und Pro - dukten die Menge an Material, die für ihre Herstellung innerhalb der Prozess - kette bewegt wird, vom Bergwerk bis zum Händler. Um zum Beispiel ein Kilogramm Kupfer zu gewinnen, werden der Natur rund 500 Kilogramm Ressourcen entnommen. Für die Produktion von Aluminium wird das 85-Fache des Eigengewichts benötigt, für ein Gramm Gold sogar eine halbe Tonne ausgegraben. Und ein Smartphone besteht aus Bestandteilen, für deren Herstellung rund 450-mal so viel Material nötig ist, wie das Gerät selbst wiegt. So besitzt jeder Gegenstand einen ökologischen Rucksack, den er unsichtbar mit sich trägt. Seine Größe drückt aus, wie stark die Natur bei seiner Erzeugung in Anspruch genommen wurde. Die Umweltqualität von Produkten, so Schmidt- Bleek, wird völlig neu bewertet. Gerade grüne Hoffnungstechnologien entpuppen sich aus Sicht des Wissenschaftlers als ökologisch fragwürdig, weil sie häufig beträchtliche Mengen an Res - sourcen verschlingen. Der ökologische Rucksack eines Hybridautos wiegt durch den zusätzlichen Antrieb und den hohen Kupfereinsatz fast doppelt so viel wie der eines herkömmlichen Fahrzeugs. Es verbrauche zwar etwas weniger Benzin, doch diesen Vorteil machten die Schäden an der Ökosphäre wieder zunichte, weil mehr Masse bewegt und Abfall erzeugt wird. Auch die Herstellung scheinbar so ökologischer Güter wie Baumwolle oder Papier schadet demnach der Umwelt, und zwar mehr als etwa die Produktion von Plastik, weil sie enorme Mengen an Wasser verschlingt. Selbst Klarsichtfolie ist nach dieser Logik rund 200-mal ressourcen - sparender als Aluminium. Schmidt-Bleeks Konzept lässt die unterschiedliche Giftigkeit von Stoffen vollkommen außer Acht und zwar bewusst: Was für den Menschen schädlich sei, bedeute für die Natur noch lange keine Gefahr. Sand kann für die Natur giftiger sein als Dioxin, formuliert der Chemiker zugespitzt. Wenn der Wind große Mengen Sand verteile, werde selbst das satteste Grün irgendwann unfruchtbar. Da wundert es wenig, dass Schmidt- Bleek auch die Energiewende für grüne Augenwischerei hält, teuer und fragwürdig. Vonnöten sei vielmehr eine Ressourcenwende. Heute verbrauche jeder Deutsche im Schnitt 70 Tonnen Natur pro Jahr, akzeptabel seien 6 bis 8 Tonnen, findet der Professor. Erreichbar sei dieses Ziel mithilfe einer Steuerreform, die den Faktor Arbeit entlastet und dafür den Verbrauch von Ressourcen erheblich verteuert. Selbst Werbung sei zu besteuern, schließlich fördere sie den Verbrauch wertvoller Ressourcen. Schmidt-Bleeks Ansatz ist radikal und mit den Vorstellungen keiner politischen Partei zu vereinbaren nicht mal mit denen der Grünen. Er habe sich extra durch die 327 Seiten ihres Wahlprogramms gekämpft, erzählt der Wissenschaftler. Ergebnis: Die Verschwendung von Ressourcen spielt darin so gut wie keine Rolle. Alexander Jung FOTO: HC PLAMBECK / DER SPIEGEL 76 DER SPIEGEL 23 / 2014

77 Zahltag im Maracanã Fußball Ein Berliner Forscherteam hat mit wissenschaftlichen Methoden die Endspielpaarung der bevorstehenden WM ermittelt: Spanien gegen Deutschland. Nein, dieses Mal kein Schlenzer mit dem linken Innenrist ins lange Eck wie im Halbfinale der Fußball-WM 2006 gegen Italien, der den Traum vom Gewinn der Weltmeisterschaft im eigenen Land zerstörte. Und auch kein wuchtiger Kopfstoß vom Elfmeterpunkt wie 2010 in Südafrika, mit dem die Spanier mitten ins deutsche Fußballherz trafen. Stattdessen kann am 13. Juli im Stadion Maracanã in Rio de Janeiro alles anders werden. Die Chancen stehen nicht schlecht, dass Deutschland im Finale um den WM-Titel gegen Spanien gewinnen könnte jedenfalls wenn Jürgen Gerhards, Michael Mutz und Gert Wagner recht behalten. Die drei sind zwar fußballbegeistert, aber weder Kartenleger, noch verfügen sie über die seherischen Fähigkeiten des mittlerweile verblichenen Orakel-Kraken Paul, der bei der WM 2010 den Ausgang aller Spiele der deutschen Nationalmannschaft richtig vorhersagte. Gerhards, Mutz und Wagner sind Wissenschaftler, renommierte Professoren für Soziologie, für Sportsoziologie und für Empirische Wirtschaftsforschung. Seit 2006 sagen die Forscher vor jeder Europa- und Weltmeisterschaft den künftigen Sieger voraus, und die Prognose wird in diesem Jahr als Wochenbericht des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) veröffentlicht. Diesmal liegen die Favoriten Spanien, Deutschland, Brasilien, Argentinien und Frankreich zwar ziemlich nah beieinander, sagt Jürgen Gerhards, Direktor des Instituts für Soziologie an der FU Berlin. Doch wenn das Modell der Forscher stimmt, werden im Endspiel Spanien und Deutschland aufeinandertreffen. Zwar wären die Spanier leichter Favorit, aber die Chancen der deutschen Nationalmannschaft waren lange nicht besser als bei dieser WM, sagt Ökonom Wagner, Vorstandsmitglied des DIW. Grundlage der Prognose ist die profane Fußballweisheit: Geld schießt Tore, die die Wissenschaftler zur sogenannten Marktwert-Methode weiterentwickelt haben. Dahinter steht die Annahme, dass sich nicht in jedem Spiel, aber in der Regel im Fußball die Mannschaft mit den teuersten Spielern durchsetzt. Und die stellt dieses Mal mit einem Marktwert des vorläufigen Kaders von rund 650 Millionen Euro Spanien, gefolgt von Deutschland mit 575 Millionen Euro und Brasilien mit 468 Millionen Euro. Auf die Idee kamen die Forscher bei einer jener Gelegenheiten, denen die Menschheit manchen Geistesblitz zu verdanken hat in der dritten Halbzeit beim Bier. Auf einem Fest vor der WM 2006 debattierte das Trio die Erkenntnis, dass kein anderer Markt mittlerweile so transparent und globalisiert ist wie der internationale Fußball, sagt Wagner. Spieler sind eine weltweit weitgehend frei gehandelte Ware, stets im Blick von Kameras. Ihre Leistungsdaten sind jederzeit abrufbar. Deshalb spiegelt der Marktwert die Leistungsfähigkeit des einzelnen Spielers ebenso wider wie der Preis einer gesamten Mannschaft deren Spielstärke, sagt der Wirtschaftsforscher. Ihre Daten holen die Forscher sich über die Internetplattform transfermarkt.de. Sie verlassen sich auf das, was die Wissenschaft die Weisheit der vielen nennt: Aus vorhandenen Daten und den Einschätzungen der Community wird dort der Marktwert von Fußballern taxiert. Mit Lionel Messi (120 Millionen Euro) und Cristiano Ronaldo (100 Millionen Euro) schicken Argentinien und der deutsche Gruppengegner Portugal die teuersten Spieler aufs Feld. Doch der vermeintliche Vorteil ist zugleich ein Manko. Zwickt Ronaldo der Muskel, wie es am Ende der Saison häufiger der Fall war, oder befällt Messi wie eigentlich immer im National dress ein Unbehagen schon ist der Marktwert der gesamten Mannschaft perdu. Im deutschen Team hingegen ist das Preisgefälle begrenzt. Diese Homogenität Brasilien Niederlande Kolumbien England Deutschland Russland Frankreich Bosnien-Herzegowina Geld schießt Tore Die DIW-Prognose für die Finalrunde bei der Fußball-WM 2014 Kaderwert* in Euro ca. 575 Mio. ca. 650 Mio. Deutschland Spanien *Stichtag 28. Mai birgt Vorteile, sagt der Soziologe Gerhards. Im deutschen Kader schlummern gar stille Bewertungsreserven. Weil Miro - slav Klose mit seinen bald 36 Jahren eher als Abschreibungsfall zu gelten hat, wird er konsequent nur mit einer Million Euro gehandelt dabei fehlt dem Mittelstürmer nur noch ein Treffer bis zur Spitze der ewigen Rangliste der WM-Torschützen. Hinzu kommt: Die Marktwert-Methode hat sich bislang als ähnlich treffsicher erwiesen wie Mittelstürmer Robert Lewandowski für Dortmund in der abgelaufenen Bundesligasaison hatten die Forscher Italien als Favoriten auf der Rechnung, und auch die EM- und WM-Siege Spaniens in den vergangenen Jahren sagten sie jeweils richtig voraus. In der Qualifikation für die WM 2014 traten 204 Mannschaften in 820 Spielen gegeneinander um 31 Startplätze in Brasilien an. 30-mal setzten sich in den Gruppen und Play-offs die wertvollsten Mannschaften durch. Allerdings ist dieses Mal die Prognose schwieriger als bei allen Turnieren zuvor, weil die Marktwerte der Spitzenteams eng beieinanderliegen, sagt Michael Mutz. Also kommt spätestens ab der K.-o.-Runde auch die Tagesform ins Spiel. Deshalb haben er und seine Kollegen noch einen Geheimfavoriten Belgien. Das Team wird spielerisch unterschätzt, sagt der Sportsoziologe: Der Kader liegt mittlerweile auf Rang sieben der Marktwert-Tabelle. Bleibt eine weitere Unwägbarkeit für das deutsche Team: Im Fußball spielt im Gegensatz zu vielen anderen Sportarten der Zufall eine zentrale Rolle. Weil pro WM-Partie im Schnitt weniger als drei Tore fallen, kann auch ein Fehlpass, ein abgefälschter Schuss oder ein Fehlpfiff des Schiedsrichters ein Spiel entscheiden. Wenn Geld schießt Tore dieses Mal allein nicht reicht, kehrt in Brasilien vielleicht ein anderer lang vermisster Fußballmythos zur Nationalmannschaft zurück der Bayern-Dusel. Markus Dettmer Spanien Kroatien Italien Elfenbeinküste Argentinien Schweiz Belgien Portugal DER SPIEGEL 23 /

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80 Flucht über den Zaun Fast sieben Meter hoch sind die Sperrzäune zwischen Marokko und der spanischen Exklave Melilla, aber die Flüchtlinge aus Afrika lassen sich nicht aufhalten. Immer wieder riskieren sie ihr Leben bei dem Versuch, die Grenze zu stürmen, am vorigen Mittwoch waren es über tausend Menschen gleichzeitig. Gut 400 schafften es sie hoffen nun auf Asyl in Europa. Indien Es ist ihnen einfach egal Usha Vishwakarma, Anführerin der Mädchengruppe Rote Brigaden, über die Gewalt gegen Frauen in ihrem Bundesstaat Uttar Pradesh. Dort wurden vergangene Woche zwei junge Mädchen von mehreren Männern vergewaltigt, stranguliert und an einem Mangobaum aufgehängt. Als wir von diesem Fall erfuhren, sind wir auf die Straße gegangen und haben protestiert, wir waren 60 Leute. Diese Verbrechen würden nicht so häufig passieren, wenn die Polizisten sie wirklich verhindern wollten. Aber oft kümmern sie sich nicht um Menschen, die zu niedrigeren Kasten gehören, oder sie lassen die Täter laufen. Außerdem sind die Frauen kaum geschützt, in den Dörfern haben die Häuser meist keine Toiletten, die Frauen müssen nachts allein hinaus. So war es wohl bei diesen beiden Mädchen. Zudem gibt Erhängtes Mädchen im Dorf Katra es oft keine Straßenlaternen, auch in meinem Viertel nicht. Das ist wie eine Einladung zur Vergewaltigung. Warum lässt die Regierung keine Laternen aufstellen? Warum pa- trouillieren keine Polizisten? Es ist ihnen einfach egal! Und wie sollen wir unseren Politikern vertrauen, wenn sie die Opfer verhöhnen? Als neulich drei Männer wegen Vergewaltigung in Mumbai verurteilt wurden, sagte der Chef der Samajwadi-Partei:,Jungs sind Jungs. Die machen Fehler. Und ein hochrangiger Polizeibeamter hat gerade zugegeben, dass laut offizieller Statistik jeden Tag zehn Vergewaltigungen in unserem Bundesstaat gemeldet werden. Sie wissen also, wie schlimm die Lage ist. Aber sie tun nichts. Deshalb müssen wir lernen, uns selbst zu schützen. Wir haben bisher 8500 Mädchen in Selbstverteidigung ausgebildet. Leider beschuldigt uns die Polizei nun, Gewalt zu lehren. Aber das wird uns nicht von unserer Mission abhalten. sas 80 DER SPIEGEL 23 / 2014

81 Ägypten Das war ein Schauspiel Noha Wagih, 27, Demokratie- Aktivistin, über den Ausgang der Präsidentschaftswahl SPIEGEL: Der frühere Armeechef Abd al-fattah al-sisi ist Ägyptens neuer Präsident. Haben Sie für ihn gestimmt? Wagih: Nein, ich habe die Wahl boykottiert. Ich wollte diese Farce nicht mit meiner Stimme legitimieren. Das Ergebnis war von Anfang an klar. Deswegen ist Wahl sowieso das falsche Wort, das war ein Schauspiel. SPIEGEL: Die Ägypter hatten also gar keine Wahl? Wagih: Das Volk ist seit Langem entmündigt. Jede Abstimmung seit der Revolution von 2011 diente dazu, das alte System zu schützen. Es stimmt mich traurig, dass viele Ägypter dies nicht begriffen haben. SPIEGEL: Haben Sie die Hoffnung auf ein demokratisches Ägypten verloren? Wagih: Ich bin oft enttäuscht, aber dann erinnere ich mich daran, dass ich zu einer Generation gehöre, die vor drei Jahren einen Volksaufstand ausgelöst hat. Das gibt mir Hoffnung. Wir brauchen mehr Zeit, echte Veränderungen geschehen nicht über Nacht. SPIEGEL: Wird eine säkulare Regierung wenigstens die Lage der Frauen verbessern? Wagih Ausland Wagih: Nein, sie werden weiter an den Rand gedrängt. In einem TV-Interview hat Sisi gesagt, dass Frauen in Führungspositionen nicht in diese Zeit passten. Damit hat er sich als genauso rückschrittlich wie die meisten alten Männer in diesem Land geoutet. dst Fußnote 40 Millionen Euro sind seit Dezember auf einem Sonderkonto der griechischen Regierung eingegangen. Durch die freiwillige Rückzahlung von Schwarzgeld erhoffen sich wegen Korrup - tion oder Steuerhinterziehung Angeklagte ein milderes Urteil. Antonis Kantas, einst hoher Beamter im Verteidigungsministerium, überwies als einer der Ersten zehn Millionen Euro Bestechungsgelder zurück, die er wegen des Kaufs deutscher Panzer erhalten hatte. mer Gedenkstätte für Amokopfer in Santa Barbara USA Waffenverbot für psychisch Kranke Nach dem tödlichen Amoklauf eines jungen Studenten in Santa Barbara erwägt Kalifornien eine Verschärfung des Waffenrechts. Damit soll es Menschen mit psychischen Problemen erschwert werden, legal Waffen zu erwerben. Vor gut einer Woche hatte Elliot Rodger, 22, erst drei Mitbewohner im gemeinsamen Apartment erstochen, dann nahe der Universität drei weitere Menschen erschossen und mehrere verletzt, bevor er sich selbst richtete. Rodger besaß drei auf seinen Namen registrierte Handfeuerwaffen, obwohl er in psychiatrischer Behandlung war; seine Eltern hatten die Polizei sogar vor ihrem Sohn gewarnt. Zur Diskussion steht nun eine Regelung, nach der ein Richter solche Fälle auf Antrag prüfen können soll. Ähnliche Gesetze gibt es bereits in mehreren Bundesstaaten. Seit 20 Jahren übernimmt Kalifornien eine führende Rolle dabei, die epidemische Waffengewalt einzudämmen, argumentiert die Vorsitzende der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung Renée Binder: Eine solche richter liche Anordnung wäre der nächste Schritt. Am Tag nach der Bluttat hatte der Vater eines der Opfer in einem bewegenden Appell dazu aufgerufen, die Waffengesetze drastisch zu verschärfen. Über den Gesetzentwurf könnte das Parlament in Sacramento noch in diesem Sommer abstimmen. hst DER SPIEGEL 23 / FOTOS: SANTI PALACIOS / AP / DPA (L.O.); AP / DPA (L.U.); LUCY NICHOLSON / REUTERS (R.U.)

82 Ausland SPIEGEL: Frau Le Pen, Sie sind mit dem Front national bei der Europawahl die große Siegerin: 25 Prozent der Stimmen in Frankreich. Wie konnte das passieren? Le Pen: Die Franzosen wollen wieder Herr im eigenen Land werden. Sie wollen über ihre Wirtschaft bestimmen, ihre Einwanderungspolitik. Sie wollen, dass ihre Gesetze über denen der EU stehen. Die Franzosen haben verstanden, dass die EU nicht der Utopie entspricht, die man ihnen verkauft hat. Sie hat sich weit entfernt von einer demokratischen Funktionsweise. SPIEGEL: Dabei hieß es doch vor den Wahlen immer, dass mit den Spitzenkandidaten Juncker und Schulz die Demokratie in der EU gestärkt werde. Le Pen: Das ist kompletter Unsinn. Alle wussten, dass nicht das Parlament über den nächsten Kommissionspräsidenten entscheidet. SPIEGEL: Wollen Sie Europa zer - stören? Le Pen: Ich will die EU zerstören, nicht Europa! Ich glaube an das Europa der Nationen. Ich glaube an Airbus und an Ariane, an 82 DER SPIEGEL 23 / 2014 ein Europa der Kooperationen. Aber ich will nicht diese europäische Sowjetunion. SPIEGEL: Die EU ist ein gewaltiges Friedensprojekt, das dazu geführt hat, dass es seit 70 Jahren keinen Krieg mehr gab. Le Pen: Nein. Europa, das ist der Krieg. Der Wirtschaftskrieg. Das ist die Zunahme der Feindseligkeiten zwischen den Ländern. Die Deutschen werden als grausam beschimpft, die Griechen als Betrüger, die Franzosen als Faulpelze. Frau Merkel kann in kein europäisches Land reisen ohne Hundertschaften von Polizisten zu ihrem Schutz. Das ist nicht Brüderlichkeit. SPIEGEL: Sie wollen nach Brüssel, nur um das System zu bekämpfen. Le Pen: Warum auch nicht? Die EU ist ein großes Verhängnis, ein antidemokratisches Monster. Ich will verhindern, dass es fetter wird, weiter atmet, mit seinen Pfoten alles anfasst und mit seinen Tentakeln in alle Ecken unserer Gesetzgebung greift. Wir hatten in unserer glorreichen Geschichte Millionen von Toten, um ein freies Land zu bleiben. Heute lassen wir uns das Recht auf Selbstbestimmung einfach so stehlen. SPIEGEL: Eigentlich haben Sie doch nicht wegen der EU gewonnen, sondern weil die Franzosen wütend sind über die schlechte Wirtschaftslage und auf Präsident François Hollande. Haben Sie ihn angerufen, um sich zu bedanken? Le Pen: Nein, dann hätte ich auch Nicolas Sarkozy anrufen müssen. Frankreich befindet sich in dieser Situation, weil sich die konservative UMP und die Sozialisten europäischen Verträgen unterworfen haben. Diese vertreten ziemlich gut die Inter - essen Deutschlands, aber ziemlich schlecht die Interessen Frankreichs. SPIEGEL: Deutschland ist schuld an der französischen Misere? Le Pen: Wann immer ich hier und da deutschenfeindliche Aussagen höre, sage ich: Ihr könnt nicht Deutschland vorwerfen, dass es seine Interessen vertritt. Ich kann Frau Merkel nicht vorwerfen, dass sie einen starken Euro bewahren will. Die Vorwürfe mache ich unseren eigenen Anführern, die unsere Interessen nicht vertreten. Ein starker Euro ruiniert unser Land. SPIEGEL: Wie kommen Sie denn darauf, dass der Euro nur Deutschland nützt? Le Pen: Aus einem ganz einfachen Grund: Er ist von Deutschland und für Deutschland geschaffen worden. Achtung, Frau Merkel SPIEGEL-Gespräch Die französische Rechtspopulistin Marine Le Pen über den Sieg ihres Front national bei der Europawahl, die deutsche Dominanz und ihre Bewunderung für Wladimir Putin SPIEGEL: Es war François Mitterrand, der den Euro wollte, um Deutschland einzubinden. Die Deutschen haben sich schwergetan, die D-Mark aufzugeben. Le Pen: Das ist etwas anderes. Mitterrand wollte mit dem Euro die Integration voran - treiben. Aber aus wirtschaftlicher Sicht ist der Euro deutsch. Wenn wir zu nationalen Währungen zurückkehrten, würde die D-Mark als einzige aufgewertet, das wäre ein Wettbewerbsnachteil für Deutschland. Der Franc hingegen würde abgewertet, das würde uns Luft verschaffen. SPIEGEL: Die Stimmen für die EU-skeptischen Parteien sind also Stimmen gegen Deutschland? Le Pen: Das Modell, das wir vertreten, ist weniger vorteilhaft für Deutschland als das heutige Modell. Deutschland ist zum wirtschaftlichen Herzen der EU geworden, weil unsere Anführer schwach sind. Aber Deutschland sollte nie vergessen, dass Frankreich das politische Herz ist. Was heute bei uns passiert, nimmt vorweg, was sich im Rest Europas in den nächsten Jahren ereignen wird: die große Rückkehr der Nationen, die man auslöschen wollte. SPIEGEL: Ist Angela Merkel für Sie ein Feindbild? Le Pen: Ich habe Respekt für Anführer, die die Interessen ihrer Länder verteidigen. Ihre Politik ist für Deutschland positiv leider aber schädlich für alle übrigen Länder. Ich warne: Achtung, Frau Merkel. Wenn sie die Leiden nicht sieht, denen die übrigen europäischen Völker unterworfen sind, wird Deutschland sich verhasst machen. Sie glaubt, man könne Politik machen gegen die Bevölkerungen. Das würde sie in Deutschland nicht tun, dort werden Wahlergebnisse respektiert. Den anderen aber will sie etwas aufzwingen. Das wird zur Explosion der Europäischen Union führen. SPIEGEL: Wollen Sie ernsthaft aus dem Euro austreten? Le Pen: Das sage ich seit dem Präsidentschaftswahlkampf, es ist ein schwieriges Thema, und ich bin damit volles Risiko eingegangen. Ich weiß genau, dass die politische Klasse dem Volk Angst einjagt: Ohne Euro wird die Sonne erlöschen, die Flüsse werden versiegen, wir werden in eine Eiszeit eintreten SPIEGEL: Ein Ende des Euro würde doch zu einem ökonomischen Desaster führen. Le Pen: Das glaube ich überhaupt nicht. Es wäre eine unglaubliche Chance. Wenn wir nicht aussteigen, explodiert der Euro. Entweder gibt es einen Volksaufstand, weil die Leute sich nicht mehr ausbluten lassen. Oder die Deutschen sagen: Schluss, wir können nicht mehr für die Armen zahlen. SPIEGEL: Sie ziehen nun mit 24 Abgeordneten nach Brüssel Le Pen: als viertgrößte Abordnung nach CDU, italienischem PD und SPD. SPIEGEL: Für eine Fraktion benötigen Sie aber Abgeordnete aus sieben Ländern. Zwar haben Sie Abmachungen mit dem Niederländer Geert Wilders, mit der österreichischen FPÖ, der italienischen Lega Nord, dem belgischen Vlaams Belang, das reicht aber nicht. Le Pen: Ich bin optimistisch, dass wir eine Fraktion gründen können. Ich habe bald eine ganze Reihe von Treffen. SPIEGEL: Die britische Ukip, die gleich viele Sitze gewonnen hat, will nicht mit Ihnen kooperieren. Ihr Chef Nigel Farage nennt den Front national antisemitisch. Le Pen: Und David Cameron sagt über die Ukip, sie seien Spinner und Rassisten. Ich finde es gut, dass die Ukip so stark ist wie wir. Aber sie haben bereits eine Fraktion, nun sehen sie uns als Konkurren-

83 FOTO: ERIC GARAULT / PASCOANDCO / DER SPIEGEL ten. Deshalb diese infamen Beschuldigungen. SPIEGEL: Würden Sie gern mit der Ukip zusammenarbeiten? Le Pen: Es wäre möglich. Wir haben die gleiche grundsätzliche Haltung zu Europa. SPIEGEL: Sie und Ihre möglichen Alliierten sind zwar alle gegen die EU, aber was haben Sie darüber hinaus gemeinsam mit jemandem wie Geert Wilders? Le Pen: Das reicht doch! SPIEGEL: Er ist für die Rechte der Schwulen, Sie sind gegen die Homo-Ehe. Le Pen: Warum soll mich das kümmern? Mir genügt der Kampf für die Souveränität der Nationen. Jeder soll wählen können, seinen Werten und seiner Geschichte gemäß, innerhalb einer europäischen Zivilisation, der wir alle angehören. SPIEGEL: Eine Zusammenarbeit mit Extremisten wie der griechischen Goldenen Morgenröte oder der NPD haben Sie ausgeschlossen. Und mit der AfD? Le Pen: Sie haben bisher keinen solchen Wunsch geäußert. Wir teilen mit der AfD gewisse Einschätzungen, aber sie ist keine volkstümliche, sondern eine elitäre Partei mit einer ganz anderen Struktur. SPIEGEL: Ist Frankreich eigentlich in einem Zustand der Depression? Le Pen: Da ist etwas dran. Wir waren eines der reichsten Länder der Welt, nun befinden wir uns auf dem Weg in die Unterentwicklung. Diese Austerität, die den Menschen auferlegt wird, funktioniert nicht. Die Leute werden sich nicht erdrosseln lassen, ohne aufzubegehren. SPIEGEL: Aber die französischen Schulden sind nun einmal gewaltig. Le Pen: Die französischen Schulden werden gewaltig bleiben. Denn je mehr Austerität man verordnet, desto mehr leidet das Wachstum, desto niedriger sind die Steuereinnahmen, desto mehr steigt das Defizit. Außerdem spart die Regierung bei den nützlichen Ausgaben statt bei den schädlichen. Sparen muss man bei der Groß - zügigkeit der Sozialsysteme, die unseren Bürgern den gleichen Schutz einräumen wie illegalen Einwanderern. Und beim Sozialbetrug und bei den Beitragszahlungen an die EU, die jedes Jahr steigen. SPIEGEL: Wünscht sich der Front national das Frankreich der frühen Sechzigerjahre zurück? Einen protektionistischen Staat, der die Wirtschaft lenkt, einen autoritären Staatschef, weniger Einwanderer? Le Pen: Damals waren die Franzosen unbestreitbar in einer besseren Lage. Ich schaue nicht in den Rückspiegel. Aber warum mussten wir seither ein Ende des sozialen Fortschritts erleben? Es ist nicht vernünftig, dass wir innerhalb von 30 Jahren zehn Millionen Ausländer aufgenommen haben. SPIEGEL: Glauben Sie, dass sich Frankreich vor der Welt verstecken kann? Die EU ist ein antidemokratisches Monster. Ich will verhindern, dass es fetter wird, dass es weiter atmet und mit seinen Pfoten alles anfasst.

84 Ausland Ex-Präsident Sarkozy, Ehefrau Carla Bruni: Als Kandidat für die Präsidentschaftswahl 2017 ist er erledigt Le Pen: Ich spreche nicht von Autarkie, ich bin nicht verrückt. Wir brauchen einen intelligenten Protektionismus. Wir brauchen Zölle nicht im Handel mit Ländern, die das gleiche soziale Niveau haben wie wir. Das ist faire Konkurrenz. Das Problem ist die totale Öffnung der Grenzen, das Gesetz des Dschungels: Je weiter ein Unternehmen heute geht, um Sklaven zu finden, die es wie Tiere behandelt, für einen Hungerlohn, ohne die Umweltgesetze zu beachten, desto mehr verdient es. SPIEGEL: Ist der Freihandel wirklich nur schlimm? Le Pen: Wir haben immer Handel getrieben. Aber früher haben wir strategische Interessen verteidigt. Können Sie sich vorstellen, dass die USA Alstom erlaubten, General Electric zu kaufen? Ich denke nicht. Und ich will nicht, dass Siemens Alstom kauft. Ich will, dass Alstom französisch bleibt. Das ist für die Unabhängigkeit meines Landes strategisch wichtig. SPIEGEL: Alstom hat aber große Probleme. Le Pen: Man könnte ein Unternehmen verstaatlichen, sei es auch nur vorübergehend, um es zu stabilisieren. SPIEGEL: Hätten Sie gedacht, als Sie den Front national 2011 in desolatem Zustand von Ihrem Vater Jean-Marie übernahmen, dass er stärkste Partei würde? Le Pen: Natürlich, sonst würde ich das hier nicht machen. Wenn ich nicht glaubte, dass wir an die Macht kommen können, dann würde ich mich um meine drei Kinder kümmern oder um meinen Garten. SPIEGEL: Sie haben, seit Sie die Partei führen, daran gearbeitet, den Front national zu entteufeln ist das nach diesem Ergebnis nun endgültig vollbracht? Le Pen: Im Volk bestimmt, die Eliten verteidigen sich natürlich weiterhin. Werden * Mit Redakteur Mathieu von Rohr in der Parteizentrale in Nanterre. 84 DER SPIEGEL 23 / 2014 wir behandelt wie jede andere Partei? Nein. Nicht von der Presse und schon gar nicht von der politischen Klasse. SPIEGEL: Was ist der wahre Front national? Auf der einen Seite gibt es Ihren jungen Vize Florian Philippot, der sich als Gaullist bezeichnet. Auf der anderen Seite Ihren Vater, der neulich sagte, Monseigneur Ebola könnte die globale Bevölkerungsexplosion binnen drei Monaten lösen. Le Pen: Er hat nicht könnte gesagt. Und das war kein Wunsch von ihm, sondern eine Sorge. Wissen Sie, über den Gaullismus hieß es einmal, er sei die Metro um sechs Uhr abends. Da sind Jean-Marie Le Pen und Florian Philippot, da sind Handwerker, Unternehmenschefs, Beamte. Wir wollen das ganze französische Volk repräsentieren, mit Ideen, die weder links noch rechts sind: Patriotismus, Verteidigung der Identität und Souveränität des Volkes. Wenn man, wie ich, zugleich als links - extrem und als rechtsextrem bezeichnet wird, liegt man wohl richtig. SPIEGEL: Der Front national ist eine Anti- Einwanderungs-Partei, laut Umfragen ist das die größte Sorge Ihrer Wähler. Le Pen: Ja, wir sind für einen Einwanderungsstopp. SPIEGEL: Warum diese Xenophobie? Le Pen: Xenophobie, das bedeutet Fremdenhass. Ich hasse niemanden. Le Pen beim SPIEGEL-Gespräch* 99 Prozent der Journalisten sind links SPIEGEL: In Deutschland gibt es heute viel mehr Einwanderung als in Frankreich und dennoch keine Partei wie die Ihre. Le Pen: Wir haben Millionen Arbeitslose und können uns keine Einwanderung mehr leisten. Wo sollen wir diese Leute unterbringen? Das kann nicht funktionieren. SPIEGEL: Ist Ihr Erfolg dem Versagen der Eliten geschuldet? Die sozialistische Politikerin Samia Ghali sagte: Die Franzosen wollten, dass man mit dem Herzen zu ihnen spreche, und leider täten das nur Sie. Le Pen: Unsere politische Klasse hat keine Überzeugungen mehr. Man kann nur den Glauben verströmen, den man hat. Die glauben nicht mehr an Frankreich, die haben eine postnationale Weltsicht. Ich nenne sie Frankoskeptiker. Deshalb fällt die Demokratie bei uns in sich zusammen. SPIEGEL: Premier Manuel Valls hat doch auch Überzeugungen. Nur nicht dieselben wie Sie. Le Pen: Das glaube ich nicht. Er hat keine einzige Überzeugung. Genau wie Nicolas Sarkozy. Das sind Leute, die Ihnen alles erzählen, nur um ihre kleine persönliche Karriere voranzubringen. SPIEGEL: Sagen Sie das nicht, weil Valls als einziges Mitglied der Regierung sogar bei Ihren Wählern populär ist? Le Pen: Er ist populär, weil die anderen in der Regierung unpopulär sind. Innenminister sind immer beliebt, weil sie den Leuten das Gefühl geben, sie kümmerten sich um Sicherheit, auch wenn es Leute mit harten Worten und weicher Hand sind. SPIEGEL: Sehen Sie sich bei der Präsidentschaftswahl 2017 im zweiten Wahlgang? Le Pen: Das ist eine sehr glaubwürdige Hypothese, ja. Das geben alle zu. Schauen Sie sich die Umfragen an. Wir haben mindestens so viel Potenzial bei den Nichtwählern wie bei den Wählern. Ich glaube, dass wir in den nächsten zehn Jahren an die Macht kommen. Vielleicht schneller, als sich manch einer vorstellt. FOTOS: BENOIT TESSIER / REUTERS (O.); ERIC GARAULT / PASCOANDCO / DER SPIEGEL (U.)

85 SPIEGEL: Hollande ist so unbeliebt wie kein Präsident vor ihm. Sind Sie für den Präsidentschaftswahlkampf schon ganz auf Nicolas Sarkozy konzentriert? Le Pen: Ich feuere nicht auf einen Krankenwagen. Sarkozy ist als Kandidat erledigt. SPIEGEL: Sie meinen wegen seiner Verstrickung in den Finanzierungsskandal seiner UMP, wegen der schon Parteichef Jean- François Copé zurücktreten musste? Le Pen: Ja. Jetzt ist es aus. Er hat betrogen. Er hat die Gesetze der Republik verletzt und für seinen Wahlkampf doppelt so viel ausgegeben wie erlaubt. Damit ist er disqualifiziert. Das bedauere ich übrigens. Ich hätte ihn gern als Gegner gehabt. SPIEGEL: Warum? Le Pen: Weil er er ist. SPIEGEL: Warum unterstützen Sie eigentlich in der Ukraine-Krise Putin gegen Europa? Le Pen: Ich unterstütze nicht Putin gegen Europa, das ist eine Karikatur. Ich bin für eine föderalistische Ukraine. Die EU hat Öl ins Feuer gegossen, als sie einem Land, das zur Hälfte nach Osten blickt, eine wirtschaftliche Partnerschaft angeboten hat. SPIEGEL: Bewundern Sie Putin? Le Pen: Ich habe eine gewisse Bewunderung für Wladimir Putin, denn er lässt sich nicht von diesem oder jenem Land Entscheidungen aufzwingen. Ich glaube, er denkt zuerst an das Interesse Russlands und der Russen. Insofern habe ich für Putin den gleichen Respekt wie für Frau Merkel. SPIEGEL: Putin ist kein Demokrat. Le Pen: Ach, wirklich? Er ist kein Demokrat? In Russland gibt es keine Wahlen? SPIEGEL: Es gibt zum Beispiel keine Pressefreiheit. Le Pen: Aber Sie glauben, in Frankreich gebe es eine echte Pressefreiheit? 99 Prozent der Journalisten sind links! SPIEGEL: Das behaupten Sie. Aber man bringt Journalisten nicht um und sperrt sie nicht ein. Le Pen: Ehrlich gesagt, es werden viele Dinge über Russland gesagt, weil es seit Jahren auf Anordnung der USA verteufelt werden soll. Es gehört zur Größe eines europäischen Landes, sich selbst eine Meinung zu bilden und nicht alles durch die US-Brille zu sehen. Wir haben Russland keine Lektionen zu erteilen, wenn wir Katarern, Saudi-Arabern und Chinesen den Teppich ausrollen. SPIEGEL: Sie sind also weniger für Russland als gegen Amerika? Le Pen: Die Amerikaner versuchen, ihren Einfluss in der Welt auszudehnen, vor allem in Europa. Sie verteidigen ihre Inter - essen, nicht unsere. Ich bin für eine multipolare Welt, in der Frankreich erneut an der Spitze der blockfreien Staaten steht, nicht mit den USA, nicht mit Russland, nicht mit Deutschland. Man soll weder Sklave sein wollen noch Meister. SPIEGEL: Frau Le Pen, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. DER SPIEGEL 23 /

86 Ausland Keine Wahl Essay Warum Syriens Diktator Baschar al-assad nicht das kleinere Übel ist Von Christoph Reuter Rund Syrer drängten sich am vergangenen Mittwoch vor der syrischen Botschaft in Beirut. Mehr als einen Kilometer lang war allein die Reihe der geparkten Busse, mit denen sie aus allen Teilen des Landes gekommen waren; herbeigekarrt von der schiitischen Hisbollah-Miliz, die an Baschar al- Assads Seite kämpft. Sie alle wollten ihre Stimme abgeben, bei dieser Wahl, mit der sich der Herrscher für weitere sieben Jahre im Amt bestätigen lässt. Im Ausland fand sie bereits einige Tage früher statt, an diesem Dienstag wird in Syrien abgestimmt. Vor der Botschaft riefen die Regimetreuen: Mit Blut und Seele opfern wir uns für dich, oh Baschar. Manche markierten den Wahlzettel sogar mit ihrem Blut. Aber weiter hinten in der Schlange sagten auch einige leise, sie seien hier aus Furcht vor Repres - salien. Ein Mann schrieb die Namen aller Familienmitglieder auf die Rückseite, ein Wahlschein als Versicherungspolice gegen den Verdacht, man könne gegen Assad sein. Mit diesem Andrang hatten wir gar nicht gerechnet, verkündete der syrische Botschafter: Das zeigt das Ende der Verschwörungen! Wählen durfte allerdings nur, wer offiziell in den Libanon eingereist ist, was nicht einmal auf die Hälfte der vermutlich zwei Millionen Syrer im Land zutrifft. Und für alle gab es nur dieses eine Wahllokal. Wahlen zu inszenieren, während man Krieg gegen sein Volk führt, während das halbe Land in Trümmern liegt und neun Millionen Menschen auf der Flucht sind, das ist zynisch. Diese Wahlen unter das Motto Gemeinsam! zu stellen ist nur noch verrückt. Und folgt doch einem präzisen Kalkül. Denn weltweit hat sich mittlerweile still und leise die Ansicht durchgesetzt, dass Assad inzwischen das kleinere Übel ist, angesichts der Furcht vor den Islamisten. So hört man es jetzt auch immer öfter von ratlosen Politikern, etwa dem britischen Expremier Tony Blair. So widerwärtig es scheint, aber der einzige Ausweg ist eine bestmögliche Einigung, selbst wenn das bedeutet, dass Präsident Assad für gewisse Zeit bleibt. Da Assad sich leider durch Drohungen nicht zum Abtreten bewegen ließ, soll er nun eben weiterherrschen. Die demokratische Welt hat kapituliert. Auch dass die US- Regierung die Präsidentschaftswahl als Farce bezeichnet hat und Präsident Barack Obama in seiner außenpolitischen Grundsatzrede vorige Woche mehr Unterstützung für die Rebellen ankündigte, verschleiert nur maßvoll, dass man sich in Washington längst mit Assad abgefunden hat. Als die Zahl der Toten in Syrien noch bei einigen Tausend lag, verkündete die damalige Außenministerin Hillary Clinton, Assad müsse abtreten. Heute, da über Menschen im Bürgerkrieg umgekommen sind, spricht davon niemand mehr. Giftgas gegen die eigene Bevölkerung? Bleibt folgenlos, solange Assad anschließend seine Chemiewaffen abgibt. Selbst die Uno, im Sicherheitsrat vom Veto Russlands und Chinas blockiert, hat inzwischen das Zählen der Opfer eingestellt. 86 DER SPIEGEL 23 / 2014 Was muss man tun, um ungestört möglichst viele Menschen umzubringen? Offenbar noch mehr Menschen umbringen. Es müsse eine politische Lösung geben, hieß es stets in Washington und Berlin, vor allem nach dem Trauma der Kriege im Irak und in Afghanistan. Doch der fundamentale Unterschied ist: Beide Kriege waren feindliche Invasionen, anders als in Syrien, wo das Volk sich auflehnte. Es gab nie eine politische Lösung, es konnte sie nicht geben, nicht ohne militärischen Druck, nicht ohne eine Flugverbotszone oder Waffenhilfe für die Rebellen. Assad-Plakat in Damaskus: Die demokratische Welt hat kapituliert Denn es war nie die Logik des syrischen Regimes, sich auf eine Machtteilung einzulassen. Dabei gab es genug Warnungen, aber keiner wollte sie hören. Eine politische Lösung das klang doch viel vernünftiger und zivilisierter. Das müsste doch, so dachten viele, auch Assad eines Tages begreifen. Aber warum sollte er? Es gibt in der jüngeren Geschichte kein anderes Regime, das sein eigenes Staatsgebiet derart in Schutt und Asche gelegt hat. Und zwar mit Ansage und voller Absicht: Assad für immer, oder wir brennen das Land nieder!, schrieben die Soldaten schon Anfang 2012 in zenti - meterbreiten Lettern an die Mauern der von ihnen verwüsteten Dörfer und Städte. Diese Zerstörungsbereitschaft ebenso wie die fast schon surreale Dauerpropaganda haben ihre Ursache im Herrschaftsgefüge des Hauses Assad: Die Familie gehört zur Minderheit der den Schiiten nahestehenden Alawiten, die nur zehn Prozent der Bevölkerung stellen und vor dem Putsch des Dynas - tiegründers Hafis al-assad nicht zur Elite des Landes zählten. Seither herrschen die Assads über Syrien, als sei das Land ihr Privatbesitz, und das lässt ihnen nur zwei Optionen: absolute

87 Macht oder den Rückfall in die Bedeutungslosigkeit. Jede Konzession wäre der Beginn des Untergangs, nur ein Sieg über die Aufständischen kann das Regime retten. Und zwar nicht bloß ein militärischer Sieg, sondern eine totale Unterwerfung. Aber wozu braucht das Regime überhaupt Wahlen, wenn doch ohnehin Millionen Syrer bereits mit den Füßen abgestimmt und das Land verlassen haben? Es braucht Wahlen eben gerade, um seinen Allmachtsanspruch zu zementieren. Und der mit Sicherheit vorherzusagende, überwältigende Wahlsieg Assads gegen zwei handverlesene Gegenkandidaten bedeutet das Ende aller Verhandlungen in Genf und anderswo. Dass selbst der hart - gesottene Uno-Sondergesandte Lakhdar Brahimi vor wenigen Wochen aufgab, offenbart das Scheitern aller politischen Be mühungen. Doch die Vorstellung, dass Assads Verbleib an der Macht eine Rückkehr zu jener schläfrigen Diktatur bedeuten würde, die Syrien bis Anfang 2011 war, ist ein mehrfacher Irrtum. Dieses Land ist verschwunden, abgebrannt, entvölkert. Und wie lange werden Syriens Nachbarn bereit sein, Millionen verzweifelter und verarmter Flüchtlinge bei sich aufzunehmen? Selbst nach Homs, der mittlerweile von der Armee kontrollierten, einst drittgrößten Stadt des Landes, sind nur wenige Syrer zurückgegangen. Zwei Drittel der Flüchtlinge im Ausland fürchten, nie wieder heimkehren zu können. Wo sollten sie auch hin? Häuser und Fabriken, ganze Städte sind verwüstet. Spricht man mit den Geflohenen im Ausland und mit Gebliebenen in den Vorstädten von Damaskus, so ist die Sehnsucht nach Norma - li tät groß. Aber niemand glaubt, dass diese Normalität eines Tages wieder möglich ist. Denn was, so heißt es oft, werde die Rache der Sieger zügeln, deren Blutzoll ebenfalls hoch war? Wer könne die Milizen stoppen, die den Staat ersetzt haben, die plündern und morden dürfen, weil sie die Herrschaft Assads sichern? Deswegen sind diese Wahlen für das Regime so wichtig, als ein weiterer Baustein jener Inszenierung, die seit Beginn des Aufstands läuft. Stets war die Rede von einer ausländischen Verschwörung, von Terroristen, die Syrien destabilisieren wollten. Dabei war es das Regime, das Hunderte echte wie vermeintliche Qaida-Anhänger bereits im Frühjahr 2011 aus den Gefängnissen entließ und ihnen noch die Busfahrkarte nach Hause zahlte, während Armee und Polizei auf unbewaffnete Demon s - tranten schossen, bis aus Protesten ein Krieg geworden war. All das ist endlos erscheinende drei Jahre her, in denen die Propaganda auf Hochtouren lief. Eine ganze Stadt eingeäschert? Die Synagoge in Dschubar zerstört, der Markt in Aleppo, das älteste Minarett in Daraa? Giftgas auf die Vorstädte von Damaskus? Immer waren Terroristen schuld. Die Stichhaltigkeit dieser Behauptungen war bedeutungslos. Es ging nur darum, eine eigene Version aufrechtzuerhalten. Denn irgendwann würde das Interesse der Welt nachlassen, würde nur in Erinnerung bleiben, dass es in diesem Konflikt zwei legitime Versionen gibt. Darüber hinaus hat das Regime in Damaskus mit seinen Lügen die tiefsitzenden Ängste des Westens vor den bärtigen Fanatikern von al-qaida genährt. Nach und nach wurde der bewaffnete Widerstand tatsächlich religiöser und radikaler, kamen Dschi - hadisten aus Tunesien, Saudi-Arabien und Europa. Die Furcht, die Unterstützung der gemäßigten Rebellen könnte den Extremisten zugutekommen, hat am Ende das Gegenteil bewirkt: Die Gemäßigten wurden geschwächt und die Extremisten gestärkt, denen es an Geld und Waffennachschub nie mangelte. Die Welt ließ sich von Assad täuschen, auch weil das Bild von den bärtigen Fundamentalisten etwas Entlastendes hatte. Wenn beide Seiten furchtbar sind, entfällt der moralische Druck einzugreifen. Die Aufständischen wollen aber, anders als viele im Westen glauben, keinen Gottesstaat. Für dieses Ziel kämpft nur eine Gruppierung: die Dschihadisten vom Islamischen Staat im Irak und in Syrien. Die allerdings bekriegen, und damit wird die Angelegenheit richtig kompliziert, nicht das Regime, sondern ausschließlich andere Rebellengruppen. Und von Assads Truppen werden sie in Ruhe gelassen. Denn sie sind ein viel zu nützlicher Gegner. FOTOS: LOUAI BESHARA / AFP (L.); REUTERS (R.) Zerstörte Stadt Homs: Nicht nur ein Sieg, sondern totale Unterwerfung Während Assads Propagandaapparat virtuos die Ängste des Westens bespielt, hat er diesen Krieg zum exakten Gegenteil dessen gemacht, was er behauptet: nicht zur tapferen Abwehr von Glaubensfanatikern durch sein angeblich säkulares Regime sondern zum ersten internationalen Dschihad der Schiiten. Tausende Fanatiker strömen aus dem Libanon, dem Irak, Iran und selbst aus Afghanistan nach Syrien, um dort auf Assads Seite gegen die Sunniten zu kämpfen. Offiziell zum Schutz der schiitischen Schreine in Damaskus, de facto im ganzen Land. Weitgehend unverstanden ist vor allem im Westen, dass dies längst nicht mehr ein Krieg zwischen Regimetreuen und Rebellen ist, sondern zwischen den zwei großen, seit 1400 Jahren verfeindeten Glaubensrichtungen des Islam. Ganz offen sprach es gerade erst Hossein Hamedani aus, ein General der iranischen Revolutionswächter: Baschar al-assad kämpft diesen Krieg als unser Stellvertreter. Und sollte er weitere Hilfe benötigen, stehen trainierte Kämpfer bereit. Eine Art alawitische Hisbollah soll nach dem Willen der Generäle in Teheran die syrischen Sunniten in Schach halten. Ob dies Baschar al-assad gefällt oder nicht, ist dabei zweitrangig: Er hat gar keine andere Wahl, will er an der Macht bleiben. Doch auf den Herrscher kommt es womöglich längst nicht mehr an. Wird Syrien erst vollständig zum Schauplatz eines Glaubenskriegs, wird dieser weiterbrennen, auch ohne Assad. DER SPIEGEL 23 /

88 Ausland Prorussische Separatisten vor der besetzten Gebietsverwaltung in Donezk Bataillon der Bärtigen Ukraine Kämpfer aus dem Kaukasus verstärken die Separatisten im Osten, während Kiew Truppen und die Luftwaffe schickt. Was als Aufstand begann, könnte sich zum Krieg ausweiten. Der Mann mit dem schwarzen Vollbart sitzt zufrieden auf einem Holzstuhl, er trägt eine schwarze Baseballkappe mit weißen Streifen, die Kalasch - nikow hat er neben sich auf den Tisch gelegt. Die Bewaffneten sprechen ihn unterwürfig mit Komandir an, mit einer lässigen Handbewegung entscheidet er, wer die Gebietsverwaltung von Donezk betreten darf und wer nicht. Auf Fragen antwortet der Bärtige kurz angebunden auf Russisch, mit einem harten kaukasischen Akzent. Ob er hier der Chef sei? Ja, offenbar. Aber er sei nicht von hier? Siehst du doch. Dann klingelt sein Mobiltelefon. Der Bärtige redet in einer kaukasischen Sprache. Auf Tschetschenisch? Warum willst du das wissen, mein Lieber? Nach Monaten der Verschleierungstaktik wird nun die direkte Einmischung Russlands auch in der Ostukraine sichtbar. Spätestens seit voriger Woche ist klar: Russische und tschetschenische Söldner unterstützen die Separatisten in Donezk; sie kämpfen Seite an Seite mit Ukrainern gegen die Truppen Kiews. Erst waren das nur Gerüchte, doch dann verließ am Donnerstag eine Wagenkolonne mit 34 in rotes Tuch gehüllten Särgen Donezk in Richtung Grenze. Zwei Drittel der rund 50 Aufständischen, die bei den schweren Kämpfen am vergangenen Montag starben, waren russische Staatsbürger. Manche Kämpfer in Donezk erzählten Journalisten offen, sie seien im Auftrag Kadyrows gekommen. Der tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow sagte lediglich: Wenn jemand in der Konfliktzone einen Tschetschenen gesehen hat, dann ist das seine Sache. Anfang vergangener Woche schien es, als könnten Kiews Truppen nach Wochen des Zögerns die Oberhand gewinnen. Den von Separatisten besetzten Donezker Flughafen eroberte die Armee schnell zurück. Doch die östliche Flanke bleibt offen: Auf der Fahrt von der russischen Grenze nach Donezk ist kein ukrainischer Soldat zu sehen, am Stadtrand grüßen Kämpfer eines Separatisten-Bataillons namens Wostok, Osten, die Kalaschnikow im Anschlag. Das Bataillon ist jetzt in Donezk die führende Kraft. Es besteht zwar nur aus einigen Hundert Kämpfern, die allerdings sind mit Panzerfäusten, Maschinengewehren und Flugabwehrgeschützen bewaffnet. Damit ist aus der im April begonnenen Besetzung von Gebietsverwaltungen ein ernsthafter territorialer Konflikt geworden. Was im Osten vor sich geht, ist eine Neuauflage der Oktoberrevolution, sagt Jurij Luzenko im 600 Kilometer entfernten Kiew, er ist Berater des neu gewählten Präsidenten Petro Poroschenko. Auf den Barrikaden standen bislang Abenteurer, Kriminelle und Leute aus dem Lumpenproletariat, die keine Arbeit mehr hatten. Ganz wie in Petrograd Und Wiktor Janukowytsch hat jedem Kämpfer anfangs 400 Dollar pro Tag gegeben, so wie der deutsche Generalstab einst Geld an Lenins Männer zahlte. Aber jetzt gibt es dort Söldner und russische Waffen. Luzenko, 49, war ein Pionier der Orange Revolution. Unter Ministerpräsidentin Julija Tymoschenko war er zweimal In - nenminister, bis Janukowytsch die Macht übernahm. Der ließ ihn 2010 wegen Amts- missbrauchs einsperren. Auf Druck der Westeuropäer kam Luzenko im April 2013 wieder frei. Jetzt arbeitet er mit Poroschenko zusammen, der Ende dieser Woche sein Amt antreten wird. Luzenko wird als Chef des Nationalen Sicherheitsrats gehan- FOTO: MAXIM DONDYUK / DER SPIEGEL 88 DER SPIEGEL 23 / 2014

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90 Ausland Beerdigung eines Milizionärs in Donezk: Hier findet ein europäischer Krieg statt delt. Und er soll Poroschenkos bislang bedeutungslose Solidarnost -Partei zu dessen Machtbasis ausbauen. Bis es soweit ist, sitzt er in den Räumen des von ihm gegründeten Thinktanks im Stadtviertel Podil. An der Wand hängt ein Ölgemälde, Perschy heißt es, der Erste. Es zeigt einen erschöpften Ukrainer, der die Augen geschlossen hält, als sammle er seine letzten Kräfte. Für Luzenko ist das Gemälde ein Sinnbild für den Maidan. Sehen Sie genau hin, was jetzt im Osten passiert, sagt Luzenko. Die Separatisten fordern längst nicht mehr eine Föderalisierung oder einen besseren Status für die russische Sprache. Sie wollen den Reichtum der Oligarchen aufteilen, in diesem Falle den des Milliardärs Rinat Achmetow. Er greift zu einem Stück Papier und zeichnet die Umrisse Russlands und der Ukraine. Putin will nicht den Donbass. Er hat andere Ziele: Erstens Anarchie in der Region zu säen, weil sie wirtschaftlich für uns extrem wichtig ist und die Ukraine ohne sie nicht wieder auf die Beine kommt, sagt Luzenko. Und zweitens will er, dass die Separatisten so viel Selbstständigkeit bekommen, dass sie gegen jede Entscheidung Kiews ihr Veto einlegen können. Damit wäre der Staat lahmgelegt und würde de facto von Moskau regiert. Luzenko lehnt sich zurück, atmet durch und sagt: Wir haben keine Wahl. Geben wir Donezk auf, wird Putin bald auch in Odessa sein. Er ist dabei, einen Cordon sanitaire um Russland zu legen. Und die Ukraine ist jetzt wie Polen einst der Puffer zu Europa. Hier findet kein lokaler, sondern ein europäischer Krieg statt. Allerdings: Militärisch scheint Kiew trotz des Einsatzes von Luftangriffen und Artillerie nicht in der Lage zu sein, die abtrünnigen Gebiete zurückzuholen prorussische Milizionäre kämpfen laut Luzenko derzeit im Donezker Gebiet gegen die Zentralregierung, 5000 im Gebiet Luhansk. Und diese Männer sind besser organisiert und bewaffnet als Armee, Geheimdienst und Polizei. Erst am Don - nerstag voriger Woche schossen die Aufständischen wieder einen Transporthubschrauber der Nationalgarde ab, zwölf Soldaten kamen ums Leben. Die Armee habe kein Geld und keinen Treibstoff, sagt Luzenko, sie sei praktisch nicht mehr existent. Für den Kampf gegen die Separatisten brauche man Hubschrauber, aber die Generäle hätten die meisten nach Afrika verscherbelt. Die wenigen russischen Hubschrauber, die es noch gebe, seien schlecht bewaffnet, man könne sie wie Luftballons abschießen. Wir haben nicht mal mehr Blendgranaten, um die Kämpfer in den Städten auszuschalten wir können in Slowjansk ja nicht mit Panzern vorrücken. Polen habe jetzt wenigstens eine Ladung Granaten geliefert. Die Wahl vom 25. Mai hat allerdings etwas geändert: Petro Poroschenko wurde mit überraschenden 54,7 Prozent zum Staatschef der Ukraine gewählt, er hat nun ein starkes Mandat. Selbst seine Rivalin Julija Tymoschenko resignierte. Eigentlich wollte sie noch am Wahlabend Anhänger auf die Straße schicken, um das Ergebnis anzufechten. Aber bei einem Abstand von rund 42 Prozentpunkten zu Poroschenko konnte sie schlecht von Wahlfälschung sprechen. Auch Moskaus Behauptung, das Land sei hoffnungslos gespalten, wurde durch das Wahlergebnis widerlegt. Selbst in Regionen wie Odessa oder Saporischja, deren Bewohner Russland wohlgesinnt sind, haben um die 40 Prozent für Poroschenko gestimmt. Doch die Aufgaben, die der neue Präsident zu bewältigen hat, sind riesig: Es gibt keine funktionierende Polizei, keine Steuerbehörde, keinen Grenzdienst, keinen Justizapparat. Das Gas-Ultimatum der Russen ist abgelaufen, der Maidan soll geräumt, das Parlament aufgelöst werden. Mittwoch will Poroschenko sich in Warschau mit US-Präsident Obama treffen, Freitag zum D-Day-Gedenken in die Normandie fliegen, Samstag soll die Amtseinführung stattfinden. Und dann will er nach Donezk reisen, wo die Militäroperation läuft. Poroschenko will sie effektiver führen, sagt sein Berater Luzenko, er will Nationalgarde, Geheimdienst und Armee in einer Befehlsvertikale zusammenfassen. Und von den Amerikanern erhofft sich der Präsident Waffen, Treibstoff und Lebensmittel zu günstigen Preisen. Einen neuen Lend-Lease Act hat er das genannt, in Erinnerung an Roosevelts Hilfe für die Verbündeten im Zweiten Weltkrieg. Bis dahin wird es allerdings dauern, im Moment setzt Poroschenko daher auf Rinat Achmetow, der Menschen beschäftigt, die meisten davon in der Ost - ukraine. Der Oligarch hat bereits ange - kündigt, seine Angestellten würden eine unbewaffnete Bürgerwehr aufstellen. Aber noch sitzt Achmetow in Kiew und traut sich nicht nach Donezk zurück. Dort liegt die Macht auf der Straße, wie ein Sprichwort in Russland lautet, und die Vertreter der Donezker Volksrepublik versuchen jetzt, diese Macht an sich zu reißen. Das elfgeschossige Gebäude der Gebietsverwaltung, in dem sich seit der Besetzung Kriminelle und Obdachlose niedergelassen hatten, wurde am Donnerstag von den Wostok -Milizionären gereinigt, so jedenfalls drückte es der selbsternannte Premier Alexander Borodai aus. Am selben Tag räumten Bulldozer die Barrikaden vor dem Gebäude. Die Zeit der Revolutionswirren sei vorbei, sagte Borodai. Ab heute ist dies der offizielle Regierungssitz der Donezker Volksrepublik. Die meisten Geschäfte in der Innenstadt sind seit der Schlacht um den Flughafen geschlossen, die Menschen verharren im Schockzustand. Mit ihrem Referendum im Mai hatten sie eine klare Botschaft gegen die faschistische Junta in Kiew gesendet, zumindest hatte die russische Propaganda ihnen das eingeredet. Nun wird in ihrer Stadt Krieg geführt. Menschen, die eine Umwandlung ihrer Heimat in eine eigenständige Volksrepublik ablehnen, reden derzeit aus Sicherheitsgründen nur heimlich, so wie zu So - wjetzeiten, sagt Alexander, ein 30-jähriger Elektriker. Er hat vor einigen Tagen einen Lastwagen mit bewaffneten bärtigen Kaukasiern durch seine Heimatstadt fahren sehen. Was will dieses Gesindel hier?, fragt er. In der Donezker Volks - republik, sagt der Vater von zwei Kindern, sehe er für seine Familie keine Perspektive mehr. Moritz Gathmann, Christian Neef FOTO: MAXIM DONDYUK / DER SPIEGEL 90 DER SPIEGEL 23 / 2014

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92 Wir kriegen dich Albanien Leonard ist 14 Jahre alt, er würde gern Fußballer werden und auf Partys gehen. Doch weil es in seiner Heimat die Blutrache gibt, muss er sich seit Jahren verstecken, um nicht getötet zu werden. Von Katrin Kuntz und Maria Feck (Fotos) Nachts, wenn ein kräftiger Wind die Wolken über die Berge jagt und durch das Fenster den Geruch von geschnittenem Gras hereinbläst, kann Leonard ein wenig ruhiger schlafen. Die morsche Haustür klappert dann, die Scharniere des Tores quietschen laut, und wenn der Mörder käme, denkt der Junge, würde er dessen Schritte und das Klicken der 92 DER SPIEGEL 23 / 2014 schallgedämpften Pistole zwischen all den anderen Geräuschen nicht hören. Der kleine Bruder im Zimmer nebenan könnte ruhig weiterschlafen, seine Mutter würde nicht aufwachen. Und er selbst, Leonard Qukaj, 14 Jahre alt, ein schüchterner Junge mit leisem Humor und hellblauen Augen, ein Talent im Zeichnen und ein Fan des FC Bayern, würde es wohl nicht mehr spüren, wenn eine Kugel seinen Kopf durchbohrte. Mein Leben, sagt er, wäre dann einfach vorbei. Natürlich, sagt er, wäre es am nächsten Morgen nicht schön, wenn die Mutter ihn tot in der Küche entdecken würde, in der sein Bett direkt neben dem Ofen steht. Doch vielleicht wäre sie auch froh, weil es mit seinem Tod neue Hoffnung auf Frieden

93 Ausland geben würde. Weil er den Rächern ihre Ehre zurückgeben würde. Weil sein Tod die Möglichkeit zur Versöhnung böte und ein Ende der Blutrache bedeuten könnte, in die seine Familie wegen eines irrsinnigen Streits seit Jahren verstrickt ist. Schon oft hat Leonard über diesen Moment nachgedacht, in den vier Jahren, in denen er sich aus Angst vor den Rächern in seinem Haus versteckt, sein Rücken ist krumm geworden vom Sitzen; tagsüber, wenn es nichts zu tun gibt, sieht er sich italienische Serien im Fernsehen an, lieber noch Fußball, oft legt er sich aufs Sofa und schaut nur an die Decke. Manchmal sitzt seine Mutter Gjelina daneben oder sein zehnjähriger Bruder Florijan oder seine Katze, die so ähnlich heißt wie er, Quoki. Gesuchter Leonard Qukaj im Elternhaus Mein Leben wäre dann einfach vorbei Shkoder Tirana ALBANIEN Die Familie lebt in einem weiß gekalkten Haus in Shkoder, einer Stadt mit Einwohnern im Nordwesten, nahe den albanischen Alpen. Vor dem Haus fahren Pferdewagen über Schotterwege, auf den Bürgersteigen liegen Tomaten zum Verkauf, und in den Parks spielen Männer Domino. Es gibt eine Universität in Shkoder, Restaurants, Bars und Frauen, die auf hohen Absätzen über die Pflastersteine stöckeln, zugleich ist Shkoder eine Stadt mit Armut und hoher Arbeitslosigkeit, die an den Rändern nach Abfall und nassen Feldern riecht. Shkoder ist so zerrissen wie ganz Albanien, das einerseits ein Land in Aufbruchstimmung ist, das dieses Jahr EU-Beitrittskandidat werden will; und andererseits ein Land, in dem es noch immer Korruption, Menschenhandel und organisiertes Verbrechen gibt. Und wo die Blutrache gilt, wegen der Leonard bald sterben könnte. Auf Blut nehmen folgt Blut geben, so schreibt es der Kanun vor, das Gewohnheitsrecht der Albaner, das aus dem 15. Jahrhundert stammt. Es bringt eine Paralleljustiz mit sich, die um Ehre, Schuld und Sühne kreist, und vor allem in den Bergen und auch hier in Shkoder nach wie vor gilt. Sie bedroht ganze Familien, oft auch Kinder und Jugendliche, nicht selten beginnt alles mit einem harmlosen Streit. Leonard, der Junge der Qukajs, will von diesem Streit erzählen, der sein Leben verhindert. Er sitzt an einem Morgen im April auf dem zerschlissenen Sofa im Wohnzimmer unter einem Bild der heiligen Maria und kocht auf dem Gaskocher süßen Mokka, zum Empfang in einem Zuhause, das sein Gefängnis ist. Sein Gesicht ist blass, es hat einen trotzigen Ausdruck, der verschwindet, wenn er lächelt. Er freut sich über Besuch, über Abwechslung in diesen drei Zimmern, in einem Haus, in dem es kein fließendes Wasser gibt. Vor vier Jahren, so beginnt Leonards Geschichte, gab es oben in den Bergen, wo die Qukajs früher lebten, einen Streit um eine Wassermühle. Es ging um die Frage, ob Leonards Familie kostenlos das Wasser nutzen dürfe, das in einem Bach über das Grundstück der Nachbarn, der Prrojs, fließt. Die Prrojs wollten dafür eine Gebühr berechnen und beleidigten die Qukajs. Es war eine schwere Verletzung der Ehre. Um sie wiederherzustellen, erschoss Leonards Onkel einen Mann der Nachbarsfamilie. Zwei Jahre später rächten sich die Prrojs und töteten zwei Mitglieder der Qukajs. Abwechselnd brachte jetzt ein Mitglied der einen Sippe ein Mitglied der anderen um. Auch Leonards Cousine Marija wurde vor zwei Jahren erschossen. Leonard setzt sich mit dem Mokka in der Hand auf eine Treppenstufe zum Garten, der von einer hohen Mauer umgeben ist, um von ihr zu erzählen. Marijas Geschichte ist ein Teil seiner eigenen. Er weiß, dass Frauen im Kanun als Schläuche bezeichnet werden, aus denen die Nachkommen entstehen; dass ihr Leben als wertlos betrachtet wird und sie deshalb nicht als Opfer der Blutrache infrage kommen. Doch Marija, die 17 war, hatte in weiten Hosen und Hemd auf dem Feld ihres Großvaters die Erde geharkt. Sie sah aus wie ein Junge. Deswegen starb sie, ebenso wie ihr Großvater. Ihr Tod machte Schlagzeilen, Marija wurde zur Ikone, ihr Sterben zeigte die ganze Sinnlosigkeit der Blutrache, offenbarte die Rückständigkeit des Landes. In der Hauptstadt Tirana gab es Protestmärsche, aber Leonard ging nicht hin. Denn eigentlich, sagt er, war Marijas Tod ein Missverständnis. Der Schuss habe ihm gegolten. Nun möchte auch noch Marijas Vater, dass ich tot bin. Er habe ihm gesagt: Wir kriegen dich. Seither versteckt Leonard sich nicht nur vor den Prrojs, sondern auch vor seinen eigenen Verwandten. Meine Eltern lassen mich nicht hinaus, sagt er leise. Nur wenige Tage ist er in den letzten Jahren zur Schule gegangen. Immer, wenn ich so aggressiv wurde, dass meine Mutter es nicht mehr aushielt, sagt er. Leonard könnte die Sache mit Marija wiedergutmachen, aber dafür müsste er selbst töten, einen der Prrojs. Oder die Prrojs müssten zur Versöhnung bereit sein. Beides wird nie passieren, flüstert er. Als die letzten Schüsse fielen, am 8. April 2014, war Leonard gerade im Garten. Seine Mutter rief ihn ins Haus und sagte, dass sein Onkel versucht habe, Rache für Marija zu nehmen. Aus der Ferne habe er 30 Kugeln auf das Familienoberhaupt der Prrojs gefeuert, mit einer Kalaschnikow. Der Mann sei getroffen worden, aber er habe überlebt. Der Onkel hat seine Pflicht getan, sagte die Mutter. Es war eine Nachricht, die Leonard nicht überraschte. Er wuchs mit dem Wissen auf, dass seine Familie zu den rund 3000 Familien gehört, die in Albanien in Blutfehden verstrickt sind. Seit dem Ende des Kommunismus kamen auf diese Weise Menschen ums Leben, so schätzt es das Komitee für Nationale Versöhnung. Während einer Staatskrise 1997 plünderten viele Albaner die Armeedepots, von den Waffen wurde nur ein Bruchteil konfisziert. Doch der Staat spielt das Problem seit Jahren herunter. Die Blutrachefälle seien DER SPIEGEL 23 /

94 Getöteter Großvater, Enkelin Marija: Auf Blut nehmen folgt Blut geben Stadt Shkoder: 208 Blutrachemorde gab es seit 1991, etwa 1500 Jugendliche verstecken sich dramatisch zurückgegangen, sagt der Polizeichef von Shkoder, seit 1991 habe es nur 208 Morde in der Region gegeben. Stattdessen hätten allein dieses Jahr bereits tausend Albaner Asyl im Ausland gesucht und dabei angegeben, dass sie durch eine Fehde bedroht seien. Sie missbrauchten die Tradition, um ein besseres Leben in Europa zu finden, sagt der Polizeichef. Aber die Regierung hat die Strafen trotzdem verschärft. Drohten den Tätern bis vor Kurzem maximal 25 Jahre Haft, sind es jetzt bis zu 40 Jahre. Leonard, seine Cousins und bald auch sein Bruder werden bei dieser Tradition zu Gejagten, sie verstecken sich zu Hause, etwa 1500 Jugendlichen im Land geht es so, schätzen Nichtregierungsorganisa - tionen. Oder sie werden, wenn sie erwachsen sind, von Gejagten zu Jägern und rächen ihre Familie durch einen Mord. In dem Moment, in dem er die Nachricht von den Schüssen erhielt, abgegeben von seinem Onkel, habe er nichts gefühlt, sagt Leonard. Ich bin ins Haus gegangen, sagt er. Obwohl das Grundstück der Qukajs vor Eindringlingen geschützt ist, erschien es ihm im Garten plötzlich zu gefährlich. Er habe sich aufs Sofa gesetzt, die Arme um die angezogenen Beine geschlungen und gewartet, ohne zu wissen, worauf. Erst am Abend, als der Vater nicht heimkam, sondern anrief und sagte, dass er sich für ein paar Monate bei Freunden verstecken werde, als die Mutter leise weinte und der kleine Bruder die Spielzeugautos über den Boden schob und nicht mehr sprechen wollte, kam die Angst in Leonard hoch. Und dann die Wut. Und als er nachts im Bett lag, presste er die Knöchel seiner Hand gegen die Wand, bis sie weiß wurden. Kurz nach dem ersten Mord vor vier Jahren ist Leonards Familie aus dem Dorf in den Bergen hinunter in die Stadt gezogen. Das Leben erschien ihnen hier sicherer. Der Vater suchte trotz der Gefahr, in der auch er sich befand, Arbeit auf dem Bau; die Kinder gingen zur Schule. Sie richteten ein Heim ein, das sie mit einer hohen Mauer umgaben. Hinter der Mauer flattert auch heute die Wäsche an Leinen, wachsen Zwiebeln und Salatköpfe in geharkten Beeten. Würde man von oben hinunterblicken, sähe man die Geometrie eines geordneten Lebens, die Aneinanderreihung von kleinen Träumen. Doch dann zogen auch die Prrojs in die Stadt, und fortan lebten die Qukajs in Angst. Der Kanun, den die Familien aus den Bergen mitbrachten, entstand in einer Zeit, in der es in Albanien weder Gesetze noch Richter gab. Er regelt in 1263 Paragrafen auch gute Dinge, Gastfreundschaft etwa oder dass man sein Ehrenwort halten soll. Aber er hat auch eine veraltete Vorstellung von Ehre, bei der ein Mord nur durch Mord gesühnt werden kann. Ich kann damit nichts anfangen, sagt Leonard. Inzwischen ist es Nachmittag geworden, sein Bruder Florijan kommt nach Hause, er darf noch zur Schule gehen, er ist ja erst zehn Jahre alt. Zwei Jahre noch, sagt seine Mutter. Wenn er ein Mann wird, wird auch er sich verstecken müssen. Es wird so kommen, wir können es nicht ändern. Frauen und Kinder sind eigentlich ausgenommen vom Kreislauf der Familienrache. Aber da niemand sich mehr an die Regeln hält, kann die Blutrache auch Jungen treffen, die gerade zu Männern werden. Leonard rennt in ein anderes Zimmer, als seine Mutter über den Bruder redet, rennt wieder raus, zündet Streichhölzer im Garten an, stapelt Holz; er zerknüllt Papier und faltet es wieder auf, knallt die Türen. Er will auch Florijans Geschichten über die Klassenkameraden und die Mädchen nicht hören. Seine Freunde besuchen ihn schon lange nicht mehr, viele wissen nicht einmal, warum er zu Hause bleiben muss. Er will sich ohnehin nicht zeigen, so schwach und blass; und obwohl er dieses Jahr 15 wird, hat er noch nie ein Mädchen geküsst. Ein normales Leben, sagt er, wenn man ihn nach seinen Wünschen fragt. Doch um die Fehde zu beenden, muss die Familie des Täters der Familie des Opfers mehrere Tausend Euro zahlen. Eine hohe Summe, die Leonards Familie nicht besitzt. In Shkoder arbeiten verschiedene Or - ganisationen daran, die verfeindeten Fami - lien zur Aussöhnung zu bewegen: die Organisation Justitia e Pax etwa, die ein Fotoprojekt mit eingeschlossenen Jugend - lichen gemacht hat. Zwei Nonnen aus der Schweiz, die jeden Dienstag einen Blut - rachekreis veranstalten und die Jugend - lichen für zwei Stunden aus ihren Häusern herausholen. Und dann ist da noch Nikoll Shullani vom Nationalen Versöhnungs - komitee, ein herzlicher Mann mit Versöhnungszertifikaten unterm Arm. Shullani kennt viele Geschichten, die sich um Schuld und Sühne drehen, um falsch verstandene Ehre, aber auch um die Hoffnung auf Europa und den Wunsch der jungen Albaner, der Tradition zu entkommen. Er kennt auch die Geschichten der Familien Qukaj und Prroj, und er trifft bei beiden auf die gleiche Hilflosigkeit, die gleiche Wut. Man muss viel Raki trinken bei dieser Arbeit. Leonards Jäger wollen in der Woche nach dem Mordversuch niemanden empfangen. Shullani ist bereits dreimal erfolglos zwischen den Pfützen hindurch zu ihrem Haus gegangen. Jetzt klopft er noch einmal an ihrer Tür. Die Prrojs sitzen im Wohnzimmer, einige Nachbarn sind auch um den Tisch ver- 94 DER SPIEGEL 23 / 2014

95 Ausland sammelt. Auf einem Computer hat der 28- jährige Sohn bei Google Maps eine Karte geöffnet, die die Brücke in den Bergen zeigt, auf der sein Vater angeschossen wurde. Nik Prroj hält sich die Schulter, dann holt er die durchlöcherte Wolljacke aus dem Flur; seine Frau bringt selbst gemachten Raki und Zigaretten. Sie reden, aber sie reden nicht gern und auch nicht über alles. Sie beantworten keine Fragen zur Blutrache oder zu Marija. Bis heute hat sich niemand zu diesem Mord bekannt. Was ist letzte Woche passiert? Zwei Männer haben mir in den Bergen aufgelauert. Sie wollten mir eine Kugel in die Stirn jagen, sagt Nik Prroj. Aber sie waren zu weit weg oder zu dumm. Was ist Ehre wert? Sie ist wichtiger als das Leben. Sagt er das auch den Kindern? Ja. Was ist mit Frieden? Ich habe der Regierung in einem Brief geschrieben, dass ich Angst vor Rache habe. Sie haben mich nicht beschützt. Wir müssen das selbst regeln. Der alte Prroj zeigt den Brief. Er schenkt sich nach. Dann verstummt er. Das mit Marija war ein Versehen, sagt schließlich einer aus der Familie. Wir wollten kein Mädchen erwischen. Und jetzt geht! Heute, sagt Nikoll Shulloni vom Versöhnungskomitee, gehe es meist nicht mehr um die genaue Einhaltung des Kanun. Jeder mache sich seine eigenen Regeln, niemand respektiere mehr das Alter der Kinder; auch die Häuser, die der Kanun eigentlich als Schutzraum vorsieht, seien nicht mehr sicher. Meistens gehe es nicht mehr um Ehre, sondern um Frustration. In Shkoder endet ein weiterer Tag, im Haus von Leonard Qukaj ist es still, sein Bruder Florijan ist bei einem Freund, Mutter Gjelina beim Einkaufen, nur die Katze liegt auf dem Sofa, Leonard hat sie damals beim Umzug unter sein T-Shirt gesteckt und in die Stadt mitgenommen. Er erzählt, dass er am Morgen mit seiner Mutter alle Teppiche gewaschen hat, sie haben die Wände frisch gestrichen und den Boden gefegt. Wir wissen, dass ich lange hier bleiben muss, sagt er. Leonard hat sich an diesem Tag ein lilafarbenes Trikot angezogen und sich die Haare gekämmt, als würde er ausgehen. Er tritt vom Wohnzimmer in den engen Hof und schießt seinen Fußball gegen das eiserne Tor. Er ist jetzt still, er mag nicht mehr reden, nicht mehr denken. Eine Stunde lang konzentriert er sich auf sein Spiel, so lange, bis der Himmel über den Bergen sich blauschwarz verfärbt und es Zeit ist, wieder ins Haus zu gehen. Video: Die Gejagten spiegel.de/app232014albanien oder in der App DER SPIEGEL DER SPIEGEL 23 /

96 Oasenstadt Hotan Die Wut im Westen China Am entlegensten Rand ihres Reiches erwächst Pekings Führern ein Terrorproblem. Sie haben die Region Xinjiang rücksichtslos erschlossen, doch nun begehren die muslimischen Uiguren auf. Von Bernhard Zand Um zwei Uhr früh beginnt die Schicht für Delmurad und Mullabika. Es ist stockfinster, ein Schneesturm zieht auf, kaum ein Mensch ist auf dem Karakorum-High way zu sehen, der China mit Pakistan verbindet. Die beiden jungen Männer, sie nennen nur ihre Vornamen, gehören zur Anti-Terror-Einheit der chinesischen Polizei. An ihren Lippen und Fingerkuppen ist die Haut von der Kälte aufgesprungen, ihre Gesichter sind von der Sonne verbrannt. Jede Nacht patrouillieren sie mit ihrem schwarzen Van durch das Grenzstädtchen Tashkurgan, auf der Suche nach verdächtigen Reisenden, und morgens schauen sie aus müden Augen. Eine halbe Autostunde nördlich von Tashkurgan zweigt eine Passstraße nach Tadschikistan ab, eine halbe Stunde südlich öffnet sich der Wakhan-Korridor nach Afghanistan. Noch weiter südlich erhebt 96 DER SPIEGEL 23 / 2014 sich der Khunjerab-Pass, dahinter liegen die unregierbaren Täler Pakistans. Hier oben, in den Ausläufern des Pamir und des Karakorum, endet China 3500 Kilometer von Peking entfernt, 3000 von der Millionenstadt Kunming und 1200 von Ürümqi, der Hauptstadt der Unruhe-Region Xinjiang. In Peking raste am 28. Oktober 2013 ein Geländewagen in eine Gruppe von Touristen, die vor dem Eingang zur Verbotenen Stadt warteten. Fünf Menschen starben, darunter auch die Attentäter. In Kunming drangen am 1. März mit Messern und Macheten Bewaffnete in den Bahnhof ein und stachen wahllos Reisende nieder, 29 Menschen verbluteten. In Ürümqi pflügten am 22. Mai zwei Geländewagen durch einen belebten Markt. Es gab 43 Tote und mehr als 90 Verwundete. Das sind Anschläge und Opferzahlen, wie sie die meisten Chinesen nur aus dem Nahen Osten kennen. Das moderne China ist mit politischer Verfolgung vertraut, mit Hungersnöten, Erdbeben und Verkehrs - unglücken. Aber nicht mit Selbstmord - anschlägen auf Zivilisten. Fast alle Polizisten Chinas sind unbewaffnet. Seit dem Anschlag von Kunming bewachen wir die Stadt rund um die Uhr, sagt Delmurad, einer der beiden Anti-Terror- Polizisten in Tashkurgan. Wir wissen, wer die Leute sind, die hier über die Grenzen gehen. Chinas Staatssicherheit hat ein neues Feindbild: uigurische Terroristen aus der muslimischen Region Xinjiang. Es gibt zwei Versionen dieses Konflikts, der über Jahrzehnte entstanden ist und der die aufstrebende Weltmacht nun einholt: Aus der Sicht von Peking bringen religiöse Extremisten, Separatisten und Terroristen Unfrieden nach Xinjiang, zum Teil aus dem Ausland gesteuert. Die etwa zehn Millionen Uiguren dagegen sehen die Ge-

97 Ausland FOTOS: GETTY IMAGES (L.); AP / DPA (R.) walt, deren Ursprung in ihrer Region liegt und die nun erstmals den dicht bevölkerten Osten trifft, als Folge eines ethnischen und ökonomischen Konflikts. Sie werfen Peking vor, ihre rohstoffreiche Region auszubeuten. Womöglich haben beide Seiten recht. Dieser Konflikt, der in den Gebirgen und Wüsten Zentralasiens entstanden ist, kann Peking sehr gefährlich werden. Im Gegensatz etwa zu den Tibetern, die sich als äußerstes Mittel des Protests selbst verbrennen, haben manche Uiguren damit begonnen, sich zu bewaffnen. Die Beispiele Tschetschenien, Osttimor oder Kurdistan zeigen: China wäre nicht der erste autoritäre Staat, der sich an einer ethnischen oder religiösen Minderheit überhebt. Der offene Ausbruch des Konflikts trifft das Land nun aber in einer entscheidenden Phase seiner Entwicklung. Stärker als früher ruht die Herrschaft von Chinas Führern heute auf ihrem wirtschaftlichen Erfolg. Indem die Partei Hunderte Millionen am neuen Wohlstand beteiligte, hat sie sich Loyalitäten erkauft. Der Aufschwung ist, wenngleich verspätet, auch in Xinjiang angekommen, aber er hat die Uiguren nicht befriedet. Je mehr Geld in ihr Gebiet fließt, je mehr Fabriken gebaut und je mehr Ingenieure und Geschäftsleute aus dem Osten kommen, desto bitterer wird die Bevölkerung. Denn sie profitiert selbst nicht, sondern vor allem Chinesen aus dem Osten. Boomtown Kashgar: Der Auswanderer Vier Stunden landeinwärts von der Grenze liegt Kashgar, der chinesische Endpunkt des Karakorum-Highways. Weit vor dem Stadtrand hat die Polizei Checkpoints errichtet. Jedes Auto, jeder Traktor, jedes Moped wird angehalten. Geschäftsleute und Feldarbeiter trotten wortlos zu den Verschlägen neben der Straße, zeigen ihre Ausweise und schlurfen zurück. Das sind keine Stichproben, jeder wird hier kontrolliert. Kashgar ist eine boomende Großstadt. Die Hochhäuser glimmen nachts rot, grün und gelb wie die Wolkenkratzer in Shanghai. Was die Bulldozer von der historischen Altstadt übrig gelassen haben, liegt unbewohnt und unsichtbar im Dunkel. Der uigurische Menschenrechtler A Fan Ti* hat ein Restaurant in der Neustadt als Treffpunkt vorgeschlagen. Es ist Mitternacht, er bestellt zwei Karaffen Rotwein und einen Kübel Eis dazu. Offener Wein in einer Stadt, welche die meisten Chinesen als Hort der Islamisten betrachten? Der Islam, den wir Uiguren praktizieren, war immer maßvoller als der jenseits der Grenze, sagt A Fan Ti. Aber das ändert sich. Die jahrzehntelange Diskriminierung treibe die Kinder frommer * Name von der Redaktion geändert. Muslime in die illegalen Koranschulen radikaler Prediger. Viele gebildete Uiguren bestreiten das, doch unsere Gesellschaft wird immer konservativer. Was erwartest du, wenn du im Ramadan nicht fasten darfst, wenn sie deiner Frau verbieten, das Kopftuch zu tragen? Wenn du dich viermal um eine Pilgerreise nach Mekka bewirbst und noch immer keinen Pass bekommst? Der entscheidende Grund für den Zorn der Uiguren sei aber Pekings Siedlungs - politik, die systematische Veränderung der ethnischen Balance. Als Xinjiang 1949 in die neu gegründete Volksrepublik eingegliedert wurde, stellten die Uiguren rund 80 Prozent der Bevölkerung. Im Jahr 2000 war ihr Anteil auf 45 Prozent gesunken selbst nach der offiziellen Statistik, die Abertausende Han-Chinesen, die als Soldaten oder Wanderarbeiter hier leben, nicht zählt. Peking will die Demografie verändern. In uns verursacht das ein Gefühl der Erstickung, sagt A Fan Ti. Wer bekommt die gut bezahlten Jobs in den Unternehmen, die hier Wolkenkratzer bauen und Eisenbahnen verlegen? Wir nicht. Er selbst, sagt er und legt zum Beweis seinen Ausweis vor, habe offiziell das Recht, im ganzen Land zu arbeiten. Doch es ist völlig undenkbar, dass mich ein Arbeitgeber in Peking oder Shanghai einstellen würde. Ich weiß von keinem Uiguren, der in meinem Beruf im Osten arbeitet. Zugleich sperre die Regierung jeden weg, der diese Fakten öffentlich zum Thema mache. Im Januar nahm die Polizei den in Peking lehrenden uigurischen Wirtschaftsprofessor Ilham Tohti fest und klagte ihn des Separatismus an. Ihm droht die Todesstrafe. Bis heute ist es Tohtis Anwalt nicht gelungen, Kontakt zu seinem Mandanten aufzunehmen. Es deprimiere ihn, sagt A Fan Ti nach dem vierten Glas, dass Teile der Gesellschaft sich radikalisierten, die Regierung sich aber weigere, selbst mit den Modera- testen unter den Uiguren zu reden. Ich werde auswandern. Es bricht mir das Herz, hier wegzugehen, aber ich habe Kinder. Um auszureisen, braucht er allerdings einen Reisepass. Bislang ist jeder Antrag abgelehnt worden. Hotan: Mit Mao auf die Dörfer An der neuen Autobahn, die von Kashgar ostwärts führt, steht alle 50 Kilometer eine Tankstelle. Doch die Tankstellen sind mit Stacheldraht umzäunt, und die Passagiere müssen vor dem Zaun warten, während getankt wird. Wegen der Anschlags - gefahr, sagt der Fahrer. Erst haben sie die Flüssiggas-Tankstellen eingezäunt, jetzt rationieren sie Diesel und Benzin. Gut einen halben Tag dauert die Fahrt in die Oasenstadt Hotan am Südwestrand der Taklamakan-Wüste. Alle drei Stunden halten die Autos auf dem Highway an, die Fahrer steigen aus und stapfen, einen kleinen Teppich unterm Arm, ein paar Schritte in die Wüste hinaus. Dort beten sie. Wir richten uns nach der örtlichen Zeit, sagt ein Lkw-Fahrer, aber die ist nicht offiziell. Offiziell gilt in Xinjiang wie überall in China die Pekinger Uhrzeit. Allerdings liegt Kashgar vier Flugstunden westlich der Hauptstadt. Das ist so, als würde San Francisco nach der Uhrzeit von Washington D.C. leben. Die Regierung hat sich redlich bemüht, Hotan den Charakter einer Karawanserei auszutreiben; den Ruf einer Brutstätte des islamischen Extremismus hat die Stadt trotzdem. Immer wieder kommt es in und um Hotan zu blutigen Gefechten. Im Sommer 2011 stürmte eine Gruppe Bewaffneter eine Polizeistation, tötete einen uigurischen Wachmann, nahm Geiseln, riss die chinesische Fahne vom Dach und hisste eine Halbmond-Flagge. Als die Polizei das Gebäude stürmte, kamen 14 Angreifer ums Leben. Vier Uiguren wurden anschließend zum Tode verurteilt. Aus den Dörfern um Hotan stammen angeblich die Attentäter von Ürümqi so Panzerwagen in Ürümqi: Wir bewachen die Stadt rund um die Uhr DER SPIEGEL 23 /

98 Ausland wie Abdurehim Kurban, dessen Zelle das Massaker im Bahnhof von Kunming angerichtet haben soll. Bestätigen lassen sich diese Gerüchte unter dem verschärften Sicherheitsregime nicht. Ein Offizier der örtlichen Polizei sagt, er habe den Namen des Mannes nie gehört. Es findet sich niemand, der bei der Suche nach Kurbans Herkunft helfen mag. Allein dass er mit einem Ausländer unterwegs ist, zieht für den Fahrer eine Reihe unangenehmer Befragungen nach sich. Schließlich erklärt sich ein junger Uigure bereit zu reden, unter der Bedingung, seinen wirklichen Namen nicht zu verwenden. Er ist beteiligt an einem ehrgeizigen Versuch des Staates, das Misstrauen zu durchbrechen und die Spirale der Gewalt zurückzudrehen. Mei Mei Ti*, 30, erhielt ein Stipendium und studierte in Shanghai. Eines der größten chinesischen Privatunternehmen stellte ihn ein. Er sagt, er sei seines Wissens der einzige Uigure unter den Mit - arbeitern des Konzerns gewesen. Vor einigen Monaten machte ihn die Lokalregierung zum Koordinator einer Kampagne, die Mao Zedong hätte eingefallen sein können: Funktionäre, überwiegend Han-Chinesen, werden für jeweils mehrere Monate in den Dörfern Xinjiangs mit uigurischen Bauern und Arbeitern zusammenleben. Wir sollen den Beamten die uigurische Kultur näherbringen und ihnen klarmachen, dass sie nicht einem ganzen Dorf Wasser und Strom abdrehen dürfen, nur weil die Frauen sich verschleiern. Das sei bislang gängige Praxis. Mei Mei Ti kritisiert den ehemaligen Parteichef der Provinz für seine Geringschätzung alles Uigurischen und lobt den Nachfolger für den Versuch, auf die Uiguren zuzugehen. Die jungen Leute in Xinjiang, sagt er, stünden vor einer falschen Wahl: Der Staat erwarte, dass sie loyale Chinesen seien. Aber die religiösen Videos, die sie sich auf ihre Handys laden, fordern sie auf, zu saudi-arabischen Wahhabiten zu werden. Es gebe keine uigurische Identität mehr, nichts Gemäßigtes dazwischen. Wenn unsere Kampagne misslingt, rechne ich damit, dass es mehr Tote gibt. Ürümqi: Die Logik des Staates Die Hauptstadt von Xinjiang ist ein Monument des chinesischen Staates und ein Schaustück seiner Wirtschaftskraft. Aus einer Steppensiedlung an der nördlichen Seidenstraße haben Chinas Bausoldaten in 30 Jahren eine Dreimillionenstadt errichtet. 98 DER SPIEGEL 23 / 2014 Karakorum-Highway bei Kashgar: Hier wird jeder kontrolliert Karakorum-Highway AFGHA- NISTAN PAKISTAN Kashgar Taklamakan- Wüste Tashkurgan Hotan INDIEN Ürümqi Ausschnitt Peking CHINA Es raucht aus so vielen Schloten, dass der Smog noch dichter ist als in Peking. In Ürümqi brachen im Sommer 2009 schwere ethnische Unruhen aus. Rund 200 Menschen kamen ums Leben, die meisten von ihnen Han-Chinesen, die Zahl der getöteten Uiguren ist umstritten. Der Hass zwischen den beiden Ethnien liegt offen zutage. Er nehme grundsätzlich keine Uiguren mit, sagt der Fahrer auf dem Weg zur Universität. Warum? Weil sie dreckig sind und stinken. Im Turm der staatlichen Akademie für Sozialwissenschaften wertet der Terrorismusforscher Pan Zhiping, 65, die Serie von Anschlägen aus. Der Trend, sagt er, ist völlig eindeutig. Die Anschläge von Kunming und Peking zeigten, dass sich die Gewalt aus dem Westen in den bevölkerungsreichen Osten Chinas verlagere. Die Anschläge würden immer ausgefeilter was beweise, dass die Militanten in Xinjiang mit Qaida-nahen Gruppen in den instabilen Nachbarstaaten Chinas kooperieren. Chinas Westgrenze ist lang, sagt Pan und fährt mit dem Finger Hunderte Kilometer die Karte hinunter. Nicht jedes Gebirgstal kann gesichert werden. Hier, am Bedel-Pass, sind im Winter elf Terroristen aus Kirgisien eingesickert. Das kann sich wiederholen. Pan vertritt die Position der chinesischen Regierung, die seine Forschung bezahlt: Extremismus, Separatismus und der internationale Terrorismus seien für die Unruhe in Xinjiang verantwortlich: Ausländische Elemente bedrohten die Sicherheit in China der Dschihadismus, der auch die Staaten des Westens bedrohe. Diese Behauptung gilt unter China-Experten als plumper Versuch, von Pekings Siedlungspolitik und den Über - griffen seines Sicherheitsapparats abzulenken. Und so ist es auch. Doch so pauschal wie bislang lässt sich die Dschihadismus-These inzwischen nicht mehr von der Hand weisen. Die Islamische Bewegung Ostturkestans (Etim, auch Islamische Partei Turkestans ), die Peking als Drahtzieher vieler Anschläge vermutet, ist zwar eine ob skure Gruppe, die ihren Einfluss vermutlich übertreibt. Doch die amerikanische Site Intelligence Group, die militante Gruppen im Internet beobachtet, hat seit Oktober Trainings- und Bekenner - videos der Gruppe registriert und übersetzt, darunter eines, das den Selbstmordanschlag in Ürümqi pries, der mit dem Besuch von Staatschef Xi Jinping zusammenfiel. Auch andere unabhängige Organisationen sehen Hinweise darauf, dass der Einfluss der Gruppe wächst. Die Nachrichtenagentur Reuters sprach in Pakistan mit Abdullah Mansour, dem Anführer der Islamischen Partei Turkestans; er rief Dschihadisten in aller Welt zum Kampf gegen das Regime der Ungläubigen in Peking auf. China ist nicht nur unser Feind, es ist der Feind aller Muslime, sagte Mansour. Die britische Zeitschrift Jane s Intelligence Review beschrieb, dass einige der etwa 300 bis 500 Kämpfer der Organisation zum Dschihad nach Syrien, Libyen und Afghanistan aufgebrochen waren. Washington hatte Etim 2004 auf eine Liste terroristischer Organisationen gesetzt. China ist seit 35 Jahren vor allem mit seinem wirtschaftlichen Aufstieg befasst, lange ist es von ethnisch und religiös motivierter Gewalt verschont geblieben. Peking hat wenig Erfahrung im Umgang mit Terrorismus, und die Staatsspitze glaubt, ihn mit Gegengewalt bekämpfen zu können. So ist die brutale Rhetorik zu erklären, mit der Xi Jinping Ende April zum Kampf gegen die Terroristen aufrief. Die Regierung, sagte er, werde dafür sorgen, dass die Terroristen wie Ratten über die Straße huschen, und jeder schreit:,schlagt sie! 400 km Kunming Video: Bernhard Zand über den Karakorum-Highway spiegel.de/app232014china oder in der App DER SPIEGEL FOTO: BERNHARD ZAND / DER SPIEGEL

99 Ausland FOTO: VINCENT ROSENBLATT / AGENCIA / DER SPIEGEL RIO DE JANEIRO Fußball gegen Liebe Global Village Warum die Weltmeisterschaft in Brasilien zum Umbau von Stundenhotels führt In der Copacabana-Suite des Motels Shalimar sieht es nun aus wie in einem normalen Hotelzimmer. Die roten Samttapeten und Flokati-Teppiche sind verschwunden, das runde Bett wurde gegen ein rechteckiges ausgetauscht, der Deckenspiegel abmontiert. Sogar einen Kleiderschrank gibt es jetzt. Der war bislang überflüssig, unsere Gäste blieben nur kurz, sagt Motelbesitzer Antônio Cerqueira, 68. Das Shalimar ist ein Stundenhotel für Paare, ein Motel, wie die Liebeshäuser hier genannt werden, 182 gibt es allein im Stadtgebiet von Rio. Am Wochenende stauen sich die Autos in der Einfahrt zum Shalimar, das Haus im Nobelviertel Leblon zählt zu den guten Adressen. Frischverliebte buchen das einfache Zimmer zu 78 Real für sechs Stunden, reifere Paare die Mittelalter-Suite mit Ritterthron und Ketten für 420 Real, umgerechnet 138 Euro. Doch weil in Rio die Hotelbetten knapp sind, will die Stadtverwaltung nun Besucher der Weltmeisterschaft in Liebesmotels unterbringen. Die Betreiber bekommen Steuererlass, wenn sie ihre Zimmer umrüsten. Antônio Cerqueira ließ 10 seiner 62 Zimmer umbauen. Nur die Pole- Dance-Stange und die Pornokanäle gibt es noch in der dreistöckigen Copacabana-Suite, außerdem einen Whirlpool mit Hydromassage und eine Sauna. Auch das Pferdchen, eine geschwungene Sesselbank, auf der sich Liebespaare ausprobieren können, steht noch da. Unser beliebtestes Möbelstück, sagt Cerqueira. Pole-Dance werde ebenfalls oft nachgefragt. Aber die Pornokanäle schalten wir ab, wenn eine Familie mit Kindern hier absteigt. Der Portugiese ist Rios Motelkönig, er betreibt zwölf Häuser im Stadtgebiet, darunter das Shalimar mit Zimmern und Garagen auf mehreren Stockwerken. Von einem Büro tief im Inneren des Motels lenkt Cerqueira sein Reich, über dem Schreibtisch hängen Fotos seiner Kinder und Enkel. Antônio Cerqueira war fünf Jahre alt, als seine Eltern ihr Heimatdorf in Portugal verließen und nach Brasilien auswanderten. Eigentlich wollte er Elektroingenieur werden, als junger Mann arbeitete er einige Jahre bei Siemens in Rio, später machte er sich mit einer Autolackiererei selbstständig eröffnete er das erste Motel im Zentrum, eine Marktlücke: Die Leute wollten für einen Seitensprung nicht bis an den Stadtrand fahren. Denn früher lagen die meisten Liebesmotels an großen Ausfallstraßen. Für einen 18- Jährigen war es das Größte, seine Freundin ins Motel auszuführen, sagt Cerqueira. Inzwischen gibt es Liebesmotels auch in der Innenstadt von Rio, die Häuser werben mit exotischen Namen um ihre Kundschaft. Sie heißen Oklahoma oder Hawaii, viele sind Schlössern und Burgen nachempfunden. Samstags wird das National - gericht Feijoada serviert, außerdem sind im Shalimar mehrere Suiten mit Holzkohlengrill ausgerüstet. Geschäftsgrundlage der Motels ist Diskretion. Die Kellner bekommen ihre Gäste nie zu Gesicht, Speisen werden in einem separaten Zimmer abgestellt. Bezahlt wird meist aus dem Autofenster an der Ausfahrt, auf der Kreditkartenabrechnung erscheint ein unverdächtiges Firmenkürzel. Trotz dieser Vorsichtsmaßnahmen kommt es gelegentlich zu Zwischenfällen. Eine verheiratete Frau, die mit ihrem Liebhaber im Shalimar abgestiegen war und versehentlich mit der Zweitkarte ihres Mannes bezahlt hatte, bedrängte Angestellte und Kreditkartengesellschaft danach so lange, bis diese die Abrechnung zur Fehlbuchung erklärte ihr Mann hatte die seltsame Abkürzung entschlüsselt. Motelbesitzer Cerqueira in einer Suite: Steuererlass für die Umrüstung Auch eine Silberhochzeit mit 30 Gästen hat Cerqueira schon ausgerichtet. Der Ehemann war von der Liebesnacht so begeistert, dass er die Suite von da an jeden Freitag für sich und seine Freunde buchte. Der Viagra-Boom hat uns sehr gut getan, sagt Cerqueira. Die Jüngeren hingegen bleiben immer öfter zu Hause, das macht ihm Sorgen: Die Eltern lassen ihre Söhne und Töchter mit Freundin oder Freund jetzt dort übernachten und servieren ihnen sogar noch das Frühstück. Er setzt darauf, dass künftig mehr Geschäftsreisende die Motels als Alternative zu den teuren Hotels nutzen. Sie zahlen nur für die Zeit, die sie im Zimmer verbringen, verspricht er. Die Nachtruhe werde nicht gestört, alle Zimmer seien sehr gut isoliert. Für die WM sind schon Suiten gebucht. Dennoch könnte das Fußballfest den Motelbesitzern das Geschäft verderben, denn das Eröffnungsspiel fällt auf den 12. Juni, an dem in Brasilien der Tag der Verliebten gefeiert wird traditionell der umsatzstärkste Tag für die Motels. Wer Fußball guckt, will keine Liebe machen, fürchtet Cerqueira. Er wirbt deshalb dafür, den Tag der Verliebten in diesem Jahr ausnahmsweise vorzuziehen: Alle, die am 11. Juni kommen, zahlen elf Prozent weniger. Jens Glüsing DER SPIEGEL 23 /

100 Narben des Krieges In der Schlacht an der Somme wurden 1916 innerhalb von knapp fünf Monaten mehr als eine Million Soldaten getötet oder verwundet. Immer noch prägen Schützengräben und Granattrichter von damals ganze Landschaften in Frankreich und Belgien wie sehr, das zeigen Bilder des britischen Fotografen Michael St. Maur Sheil in einer Ausstellung in Paris. deten Ehepaar helfen wollen, deren Heizung zu warten und war darum in den im Erdreich vergrabenen Pellet- Bunker hinabgestiegen. Als die Eigentümerin des Hofes Stunden später zurückkehrte, war der Mann bereits leichenstarr. Die Obduktion ergab, dass er an einer Kohlenmonoxid-Vergiftung gestorben war. Pellets bestehen aus Sägespänen und anderen unter hohem Druck verpressten Holzabfällen. Das Harz in ihnen enthält bestimmte Fett- und Resinosäuren, die Pellet-Herstellung Heizungen Tödlicher Pellet-Bunker Immer mehr Immobilien - besitzer entscheiden sich für Pellet-Heizungen, denn diese modernen Holzöfen gelten als kostengünstig im Verbrauch und als ökologisch unbedenklich. Doch von den Anlagen geht ein bislang wenig bekanntes Risiko aus: Ende Januar ist im Ort Kall in der Nordeifel ein 43-jähriger Mann ums Leben gekommen. Er hatte einem befreunmit dem Luftsauerstoff reagieren und so Kohlen - monoxid bilden können. Der 43-Jährige sei bereits das 15. Todesopfer in Zusammenhang mit Pellet-Heizungen, berichtet der Kölner Rechtsmediziner Thomas Kamp - hausen. Die Warnhinweise auf den Pellet-Bunkern, so Kamphausen, reichen oft nicht aus. Die Anlage in Kall sei im Einklang mit den Empfehlungen des Branchenverbandes betrieben worden und dennoch wurde sie zur tödlichen Falle. me FOTOS: WESTERNFRONTPHOTOGRAPHY.COM (L.O.); HANS-RUDOLF SCHULZ / KEYSTONE (L.U.) 100 DER SPIEGEL 23 / 2014

101 Wissenschaft+Technik Umwelt Auch die Wolken sind Lebensraum Die französische Mikrobiologin Anne-Marie Delort über das ungeahnt vielfältige Leben im Himmel SPIEGEL: Sind Wolken mehr als Luft und Wasser? Delort: Allerdings. Auch die Wolken sind besiedelter Lebensraum. Wir haben in ihnen alle möglichen Mikro - organismen nachweisen können, darunter Bakterien, Hefen und andere Pilze. SPIEGEL: Und was machen diese Organismen im Himmel? Delort: Zunächst einmal betreiben sie Stoffwechsel wie alle Lebewesen. Wie wir jetzt erst wissen, hat dieser Stoffwechsel einen beträchtlichen Einfluss auf die chemischen Verhältnisse in Wolken. Manche dieser Mikroorganismen können organische Schadstoffe wie Formaldehyd abbauen. SPIEGEL: Also sind die schwebenden Mikroben gut für die Umwelt? Delort: Zum Teil schon. Aber wichtiger ist: Weil sie die chemische Zusammensetzung der Wolken verändern, beeinflussen sie damit auch unser Wetter. Manche Keime können zudem zur Bildung von Eiskristallen beitragen wovon abhängt, ob es schneit oder regnet. Dieser Zusammenhang wird von Meteorologen bisher ignoriert. SPIEGEL: Wie sammeln Sie Ihre Wolkenproben? Delort: Wir haben eine sehr spezielle Apparatur gebaut und diese auf dem zentralfranzösischen Vulkan Puy de Dôme in 1476 Meter Höhe installiert. Pro Stunde können wir damit 25 Milliliter Wolkenwasser gewinnen, fast zwei Esslöffel. SPIEGEL: Und darin wimmelt es dann? Delort: Und wie. Das Artenspektrum ist aber ganz unterschiedlich, je nachdem, ob sich die Wolke über Wasser, über Agrarland oder über besiedeltem Gebiet gebildet hat. SPIEGEL: Pflanzen sich die Mikroorganismen dort oben auch fort? Delort: Dazu haben sie kaum Gelegenheit. Sie brauchten ein bis zwei Tage, um sich zu teilen. Die meisten Wolken überdauern nicht so lange. me Wolken über der Kieler Förde FOTOS: CARSTEN REHDER / PICTURE ALLIANCE / DPA (R.M.) Fußnote 9von 10 Wikipedia-Artikel über Medizin sind fehlerhaft. Zu diesem Befund kam der US-Mediziner Robert Hasty, als er überprüfte, wie gut die beliebte Internetseite über Krankheiten wie Diabetes, Bluthochdruck oder Krebs informiert. Patienten, so Hasty, sollten mehr lesen als nur Wikipedia-Artikel. Kommentar Lieber zum Mars Endlich haben wir wieder einen Mann im All. Seit voriger Woche kreist Alexander Gerst an Bord der Internationalen Raum - station ISS um die Erde. Leider wird der Geophysiker aus dem Städtchen Künzelsau wohl nur wenig Zeit finden, die Schönheit unseres Planeten zu genießen. Über hundert wissenschaftliche Experimente muss der deutsche Astronaut in den kommenden Monaten betreuen. Gerst soll testen, wie sich Emulsionen in der Schwerelosigkeit verhalten; vielleicht kann ja die kosmetische Industrie etwas damit anfangen. Gerst soll auch Diffusionsprozesse in Fluiden sowie dreidimensionale Plasmakristalle untersuchen, was vielleicht die Herstellung reinerer Mikrochips ermöglicht, vielleicht auch nicht. Höhepunkt seiner Mission ist die Inbetriebnahme eines Schmelzofens ( Elektromagnetischer Levitator ), mit dem neuartige Legierungen erprobt werden sollen. Langweiliger geht es kaum noch. All das mögen ehrenwerte Forschungsprojekte sein, aber Begeisterung für das Menschheitsabenteuer Raumfahrt lässt sich so nicht wecken. Seit über 15 Jahren fliegt die ISS nun schon durch den erdnahen Raum. Doch bis heute haben ihre Erbauer keine gute Idee, was sie mit ihrer Orbitalstation anfangen wollen. Von den Hunderten Versuchen auf der ISS sorgten lediglich zwei astrophysikalische Experimente für Aufsehen, die auch von Satelliten aus hätten durchgeführt werden können. Ohne neue, spannendere Ziele wird die bemannte Raumfahrt keine Zukunft haben. Schon eine Rückkehr zum Mond böte weit aufregendere Möglichkeiten, die auch den wissenschaftlichen Nachwuchs entflammen könnten. So wäre die Mondrückseite ein idealer Standort für ein Superteleskop, mit dem sich eine zweite Erde, die um eine ferne Sonne kreist, direkt beobachten ließe. Das größte wissenschaftliche Abenteuer unserer Generation aber wäre ein bemannter Flug zum Mars, um dort nach Spuren außerirdischen Lebens zu suchen selbst wenn es sich nur um fossile Mikroben handeln sollte. Olaf Stampf DER SPIEGEL 23 /

102 Schulspeisung in Indien Satter als satt Landwirtschaft Fast jeder dritte Mensch ist mangelernährt. Doch nun bahnt sich eine neue Grüne Revolution an: Vielfalt auf dem Acker und Sortenzucht ohne Gentechnik sollen den Welthunger besiegen. Ein Großprojekt in Indien weist den Weg. Die Hirse heißt Dhanshakti, zu Deutsch Reichtum und Stärke. Zumindest den Reichtum wagt Devran Mankar nicht mehr zu erwarten in seinem Leben. Ein Segen ist das Getreide trotzdem für den Kleinbauern: Es hält seine Familie satt und gesund. Seit wir diese Hirse essen, sind die Kinder seltener krank, schwärmt Mankar, ein schmaler Mann mit grauem Bart, zerschlissenem Gewand und Goldrandbrille. Sehr nahrhaft sei das Getreide, berichtet der Inder, während Enkelin Kavya auf seinem Schoß herumturnt. Und lecker sei es noch dazu: Sogar dem Vieh schmeckt die Hirse. Mankars Feld am Rande des Dorfs Vadgaon Kashimbe im Bundesstaat Maharashtra ist kaum 100 Meter breit und DER SPIEGEL 23 / 2014 Meter lang. In einem Monat wird das Getreide reif sein. Wenn kein Hagelsturm kommt und Ganesha, der Elefantengott, möge es verhindern, werde er dann etwa 350 Kilogramm Hirse ernten, sagt der Bauer, genug für ein halbes Jahr. Mankar und seine Familie nehmen teil an einem groß angelegten Ernährungs - experiment im Westen Indiens. Als einer von rund Kleinbauern pflanzt der Inder Dhanshakti-Perlhirse an, ein Ge - treide, das es in sich hat: In den Kör nern steckt ungewöhnlich viel Eisen und Zink. Indische Forscher haben der Pflanze diesen hohen Gehalt an Spurenelemen - ten angezüchtet. Bioverstärkung nennen sie das. Das Ziel des von der Ernährungshilfeorganisation Harvest Plus initiierten Projekts: Bauern wie Mankar und ihre Familien sollen nicht mehr Hunger leiden. Die Dhanshakti-Hirse ist Teil einer neuen Grünen Revolution, mit der Bioforscher und Ernährungsexperten die Erde von Hunger und Mangelernährung befreien wollen. Immer noch werden weltweit 870 Millionen Menschen nicht satt. Und fast jeder Dritte leidet unter dem sogenannten versteckten Hunger, einem Mangel an Vitaminen und Spurenelementen wie Zink, Eisen oder Jod. Die Folgen sind vor allem für Mütter und Kinder dramatisch: Frauen mit Eisenmangel sterben öfter im Kindbett, haben mehr Frühgeburten und Menstruationsprobleme. Mangelernährte Kinder können erblinden oder leiden unter Wachstumsstörungen. Sie sind zeitlebens anfälliger

103 Wissenschaft FOTO: GETTY IMAGES für Infektionen und lernen schlecht, weil sich ihr Gehirn nicht richtig entwickelt. Diese Kinder werden von Geburt an ihrer Zukunft beraubt, sagt der indische Agrarwissenschaftler Monkombu Swaminathan, der seit mehr als 60 Jahren für das fundamentale Menschenrecht auf Sattsein arbeitet. Um das Hungerproblem endlich zu lösen, fordert Swaminathan zusammen mit anderen Ernährungsexperten eine neue Agrarwende. Nicht industrielle Hightechlandwirtschaft, sondern natur - naher Landbau, intelligente Pflanzenzucht und die Rückbesinnung auf alte Sorten sollen den Hunger ausrotten. Die Welt hat genug zu essen. Nur: Für die Armen, die sich überwiegend von Getreide ernähren, ist es das falsche Essen. Mais, Weizen, Reis, die vor allem auf Ertrag und nicht auf Nährstoffgehalt gezüchteten Sorten der industriellen Landwirtschaft, können die Ärmsten nicht ausreichend versorgen. Denn sich satt zu essen genügt nicht, um gesund zu bleiben. Nährstoffe und Spurenelemente sind mindestens so wichtig wie Kalorien. Ernährungssicherheit entstehe durch Vielfalt, sagt Swaminathan und fordert eine nachhaltige Evergreen -Revolution. Neue, nahrhaftere und klimatisch besser angepasste Getreidesorten müssten her. Wir müssen Landwirtschaft wieder mit Ernährung verheiraten; beides war viel zu lange getrennt, so der Forscher. Swaminathan, 88, gilt als Vater der indischen Grünen Revolution in den Sechzigerjahren. Die Wände seines Büros in der Großstadt Chennai an der Ostküste des Landes hängen voll mit Ehrungen und Urkunden. Indias Greatest Global Living Legend steht auf einer erhielt er den Uno-Welternährungspreis. Swaminathan schuf damals Reis- und Weizensorten, die kleiner waren als gewohnt, dadurch jedoch weit ertragreicher; zudem arbeitete er mit mischerbigen Pflanzen, die bis zu doppelt so produktiv sind wie ihre Elterngeneration. Der Erfolg der Grünen Revolution war gewaltig, berichtet Swaminathan. Als Jugendlicher habe er noch den Bengalischen Hunger erlebt, der Mitte der Vierzigerjahre Millionen Inder dahinraffte. Damals wuchs auf einem Hektar Land weniger als eine Tonne Getreide, sagt Swaminathan. Inzwischen habe sich der Hektarertrag mehr als verdreifacht. Doch zu welchem Preis? Die neuen Hochleistungssorten garantierten zwar hohe Ernteerträge, laugten jedoch auch die Böden aus und verbrauchten viel zu viel Wasser. Immer mehr Dünger und Pestizide waren nötig. Viele Kleinbauern verloren alles, weil sie erst investierten und dann ihre Ernte nicht mit Gewinn verkaufen konnten. Den Anbau traditioneller Brotgetreide vernachlässigten sie. Früher ernährten sich die Bauern von 200 bis 300 Feldfrüchten, sagt Swami - nathan. Heute gebe es nur noch vier oder fünf wichtige Sorten. Die Grüne Revolution, klagt der Forscher, hat den Hunger nicht ausgemerzt. In Indien ist das Problem besonders dringlich. An die 250 Millionen Menschen, ein Fünftel der Bevölkerung, sind unterernährt. 50 bis 70 Prozent der Kinder unter fünf Jahren und die Hälfte aller Frauen leiden an Eisenmangel. Fast die Hälfte aller Kinder ist körperlich unterentwickelt oder sogar verkrüppelt, weil sie chronisch unter- und mangelernährt sind. Vor allem im Bundesstaat Maharashtra ist die Lage prekär. Am frühen Morgen geht es zusammen mit der Wirtschaftswissenschaftlerin Bushana Karandikar aus der Bhagwhan-Hochburg Pune (ehemals Poona) hinaus aufs Land. Die Inderin treibt das Dhanshakti-Projekt für die Organisation Harvest Plus voran. Die Mangelernährung ist die traurige Seite des indischen Aufschwungs, erzählt sie während der Fahrt. Es ist sehr überraschend, aber wir teilen das Problem mit den Ländern in Schwarzafrika, obwohl deren Pro- Kopf-Einkommen viel geringer ist. Jetzt im Frühjahr ist Maharashtra grün. Mit seinen üppigen Feldern links und Unterernährung Anteil der Kinder mit Symptomen, in Prozent* unter 5 5 bis unter 10 *2010 bis 2012 Eisenmangel-Anämie* Anteil der Kinder unter sechs Jahren, in Prozent unter 5 *Hämoglobin von weniger als 110 mg pro ml Blut; 1993 bis 2005 Zinkmangel Anteil der Kinder unter sechs Jahren mit Symptomen*, in Prozent unter bis unter und mehr keine Daten * Kleinwüchsigkeit, die Rückschlüsse auf Zinkmangel erlaubt Vitamin-A-Mangel* Anteil der Kinder unter sechs Jahren, in Prozent 2 bis unter 20 5 bis unter bis unter bis unter bis unter und mehr 20 und mehr 40 und mehr keine Daten keine Daten Quellen: IFPRI; i-bio keine Daten * Vitamin A1 von weniger als 0,2 mg pro ml Blut; 1995 bis 2005 DER SPIEGEL 23 /

104 1 1 Bauer Pingle Mehr gemacht aus seinem Land 2 Bürgerrechtlerin Shiva Die Konzerne haben Bauern in den Selbstmord getrieben 3 Landwirt Mankar, Familie Seit wir diese Hirse essen, sind die Kinder seltener krank 2 rechts der Straße und den Obstplantagen wirkt das Land fruchtbar. Zu besichtigen ist hier Indiens Rätsel, wie Forscher Swaminathan es nennt: grüne Berge und hungrige Millionen. Im Ort Ghodegaon wird schnell deutlich, woran es mangelt. An einer unbefestigten Straße, vor der 15-Betten-Klinik des Ortes, warten Männer, Kinder, vor allem aber junge Frauen in bunten Saris. Die Schuhe bleiben vor der Tür, an den Wänden hängen Götterporträts, umrankt von Blumenketten. Der Arzt Rajneesh Potnis empfängt im ersten Stock, reicht würzigen Kaffee und Süßes. 25 Jahre arbeitet Potnis schon hier. Die Studienkollegen hielten ihn für verrückt, als er nach Ghodegaon ging. Doch Potnis wollte helfen. Nun berät er stillende Mütter, hilft Kindern auf die Welt, behandelt Rachitis, Nachtblindheit und Blut - armut. Den Frauen geht es am schlechtesten, sagt der Arzt, sie essen das, was übrig bleibt, und arbeiten zugleich am härtesten. In der Folge erlitten sie Früh- und Totgeburten, Infektionen, Schwächeanfälle. Am schlimmsten seien die ethnischen Minderheiten betroffen, die am Rand der Gesellschaft leben. Sie kommen erst, wenn es gar nicht mehr anders geht. Potnis verteilt Mineral- und Vitaminpillen, die der indische Staat subventioniert; er rät den Familien zu vielseitiger Ernährung. Oft vergebens, erzählt der Arzt. Es ist so einfach, den Leuten zu sagen: Esst mehr Hülsenfrüchte, mehr Gemüse und Eier die meisten können sich das alles aber gar nicht leisten. Hier kommt die bioverstärkte Hirse ins Spiel: Die Bauern bauen in der Gegend schon immer Hirse an. Warum dann also nicht einfach die traditionelle Hirsesorte durch die Dhanshakti-Hirse ersetzen? Dann bekommen die Leute ihre Mineralien aus dem Brot, das sie ohnehin jeden Tag essen, schwärmt Potnis. So wie im nahen Ort Vadgaon Kashimbe bei der fünfköpfigen Familie von Ramu Dahine: Schwiegertochter Meena backt heute das Bhakri, das traditionelle Fladenbrot aus Hirse. Im roten Sari kauert sie auf dem Boden vor dem kleinen wellblechgedeckten Steinhaus. Die Frau nimmt Hirsemehl und Wasser, knetet den Teig, legt den Fladen in eine Pfanne und bläst die Glut eines Holzfeuerchens mit einem langen Blasrohr an, bis die Flammen züngeln. Zweimal am Tag essen die Dahines das Brot. Beilagen gibt es kaum. Die Hirse habe der Saatguthändler empfohlen, berichtet der Bauer. Dass das Getreide mehr Eisen enthält, weiß er gar nicht. Und doch ist ihm aufgefallen, dass die Familie gesünder durch die letzte Regenzeit kam. Und die Hirse hat einen weiteren Vorteil: Weil sie keine Hybridsorte ist, kann der Bauer einen Teil der Ernte für die Aussaat in der nächsten Saison verwenden. Für die Ärmsten der Armen ist diese Hirse eine große Hoffnung, sagt Bhushana Karandikar. Zumal das Getreide wirkt: Schweizer Forscher zeigten, dass Dhanshakti-Hirse bei Frauen den Eisengehalt im Blut deutlich erhöhte. Indische Forscher belegten, dass schon täglich 100 Gramm der Hirse den Eisenbedarf von Kindern komplett abdecken können. Für die Verfechter der neuen, sanften Grünen Revolution ist das ein weiterer Erfolg auf ihrem Feldzug gegen den Hunger. Weltweit arbeiten Ernährungsspezialisten an nahrhafteren Getreide- und Gemüse - sorten. In Brasilien etwa entwickelt die Forschungsorganisation Embrapa bioverstärkte Bohnen und Kürbisse sowie bioverstärkten Maniok. In Uganda und Mosambik pflanzen Bauern eine Provitamin-A-reiche Süßkartoffel an. In Ruanda essen mehr als Familien mit Eisen angereicherte Bohnen. In Indien soll es neben der Dhan - shakti-hirse bald Reis und Weizen mit besonders hohem Zinkgehalt geben. Etwa sieben Millionen Männer, Frauen und Kinder habe man bereits erreicht, sagt Howarth Bouis, Chef des Harvest-Plus- Gentechnische Trickserei überflüssig: Häufig gibt es natürliche Sorten, die die erwünschten Nährstoffe enthalten. Programms. Bis 2030 sollen eine Milliarde Menschen von bioverstärktem Getreide profitieren. Dass der Plan aufgehen könnte, liegt auch daran, dass Bouis schon früh entschied, die neuen Sorten ausschließlich konventionell zu züchten. Wir haben uns gegen Gentechnik entschieden, weil wir der Kontroverse aus dem Weg gehen wollten, sagt er. Zu gut erinnert sich der Harvest-Plus-Chef an den Streit um den sogenannten Goldenen Reis. Das schon seit 1992 an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich entwickelte transgene Gewächs enthält fast doppelt so viel Betacarotin, die Vorstufe von Vitamin A, wie normaler Reis. Trotzdem wurde es bis heute nirgendwo auf der Welt zugelassen. Der öffentliche Widerstand gegen die Gentechnik ist zu groß. Ohnehin ist gentechnische Trickserei in vielen Fällen überflüssig. Denn häufig gibt es natürliche Sorten, deren Körner die erwünschten Vitamine oder Nährstoffe be- 104 DER SPIEGEL 23 / 2014

105 3 FOTOS: DILIP KALIYA / AGENTUR FOCUS / DER SPIEGEL (L. + R.); CESAR RANGEL / AFP (M.) Video: Die Kraft der neuen Hirse spiegel.de/app232014indien oder in der App DER SPIEGEL reits enthalten. Gerade Reis ist dafür ein gutes Beispiel: Etwa Sorten existieren auf der Erde. Da lässt sich fast jede Eigenschaft finden, die man sich vorstellen kann, sagt Swaminathan. In den Labors seiner M. S. Swami nathan Research Foundation (MSSRF) in Chennai tüfteln Forscher zum Beispiel an Reis mit hohem Zinkgehalt. Tausende Reislinien haben die Biologen dafür analysiert. Schließlich fand sich ein gutes Dutzend besonders zinkhaltiger Sorten. Diese werden nun mit solchen Sorten gekreuzt, die hohen Ertrag versprechen. Swaminathan hält allerdings auch den Hightechweg für geeignet, den Hungernden zu helfen. Ich werde Gentechnik weder feiern noch rundweg ablehnen, sagt er. Es ist wichtig, alle Werkzeuge zu nutzen, traditionelles Wissen und moderne Wissenschaft. Der Eisengehalt beispielsweise lasse sich in Reis nur schwer mithilfe konventioneller Zucht erhöhen. Stattdessen versuchen es die Forscher in der Petrischale. Wir haben Gene der Mangrove isoliert und in die Reispflanzen eingeschleust, erläutert Ganesan Govindan, einer der Biotechnologen an MSSRF. Die transgenen Reiskörner enthalten mehr Eisen. Gleichzeitig sind die Pflanzen salz- und trockentoleranter als zuvor. In zwei bis drei Jahren soll die Sorte marktreif sein. Gerade solche Hightechlösungen sind jedoch umstritten. In Indiens Hauptstadt Neu-Delhi lebt Vandana Shiva, eine profilierte Gegnerin der modernen Agrartechnik. Das Büro ihrer Organisation Navdanya liegt in Hauz Khas, einem der wohlhabenderen Stadtviertel. Blumen sind auf einem Glastisch hergerichtet. In der Ecke stehen Tonvasen mit Getreidegarben. Shiva, im wallenden Gewand und mit großem Bindi auf der Stirn, ist eine beeindruckende Erscheinung, gestählt durch den jahrzehntelangen, zähen Kampf mit dem Establishment. Die Bürgerrechtlerin wird nicht müde, die Saatgutkonzerne zu geißeln. Eine global operierende Industrie versucht mit allen Mitteln, die Welt von ihren Produkten abhängig zu machen, schimpft sie. Bauern, die einmal umgestiegen seien, würden ihr traditionelles Saatgut aufgeben und müssten die kommerziellen, oft mit Lizenzgebühren belegten Sorten fortan immer und immer wieder kaufen. Diese Art von Landwirtschaft hat in Indien Bauern in den Selbstmord getrieben, weil sie ihre Schulden nicht zurückzahlen konnten, sagt Shiva. Selbst von den bioverstärkten Sorten hält sie nichts. Die Züchter dieser Pflanzen konzentrieren sich auf jeweils einen einzigen Nährstoff, kritisiert sie, dabei braucht der Körper alle diese Spurenelemente. Statt solcher Monokulturen fordert Shiva die Rückkehr zur Vielfalt auf dem Acker. Die meisten unserer traditionellen Sorten sind voll mit Nährstoffen, sagt sie. Warum einen Goldenen Reis mit viel Vita - min A erschaffen, wenn Möhren und Kürbis genug davon enthielten? Warum an gentechnisch veränderten Bananen mit hohem Eisengehalt arbeiten, wenn Meerrettich oder Amaranth ohnehin so viel Eisen enthielten? Shiva empfiehlt Fruchtfolgen auf dem Acker, Gemüse- und Obstgärten sowie kleine Familienfarmen, deren Hauptziel Ernährung und nicht Gewinnmaximierung ist Bauern hat ihre Organisation seit Ende der Achtzigerjahre im Biolandbau ausgebildet für Shiva der einzig richtige Weg, den Hunger zu besiegen. Doch kann Ökolandbau tatsächlich die Lösung sein? Harvest-Plus-Direktor Bouis hält Shivas Ansatz für naiv. Wir haben das fundamentale Problem, dass wir zu wenig fruchtbares Land für eine ständig wachsende Bevölkerung haben, sagt er. 70 Prozent mehr Kalorien als heute wird die Landwirtschaft 2050 produzieren müssen, um dann 9,6 Milliarden Menschen zu ernähren, prophezeit ein Report des Umweltprogramms der Vereinten Nationen. Diese Ernährungslücke könne nur geschlossen werden, sagt Bouis, wenn die Landwirtschaft noch produktiver wird. Vor Ort in Maharashtra allerdings wird deutlich, dass dafür nicht immer kraftstrotzendes Supergetreide notwendig ist. Einem dritten Bauern aus dem Ort Vadgaon Kashimbe, Santosh Pingle, und seiner Familie geht es sichtbar besser als seinen Nachbarn. Das Haus ist verputzt. Kühe und Ziegen versorgen die Familie mit Milch. Manchmal gibt es sogar Huhn vom Markt. Pingles Erfolgsrezept: Der 38-Jährige hat mehr gemacht aus seinem Land. Auf einem halben Hektar pflanzt der Bauer die eisenreiche Dhanshakti-Hirse für den Eigenbedarf der fünfköpfigen Familie an. Die andere Hälfte seines Ackerlands ist mit Tomaten und besonders ertragreicher Hybridhirse bestellt. Beides verkaufen die Pingles auf dem Markt. Gleichzeitig gedeihen im Hausgarten eiweißreiche Bohnen und anderes Gemüse. Zitronen, Kokosnüsse und Mangos erntet Ehefrau Jayashree mit ihren Töchtern mehrfach im Jahr. Reichtum und Stärke die Pingles sind inzwischen auf einem guten Weg dahin. Und genug zu essen haben sie allemal. Philip Bethge DER SPIEGEL 23 /

106 Schneepflug ohne Schnee Medizin Ärzte empfehlen auch gesunden Menschen, blutfettsenkende Mittel zu schlucken. Würde das helfen, Herzinfarkte und Schlaganfälle zu verhindern? 106 DER SPIEGEL 23 / 2014 Auf der Website qrisk.org kann jeder in seine Zukunft blicken. Ein 55-jähriger etwas übergewichtiger ehemaliger Raucher etwa, mit einem oberen Blutdruckwert von 130 und einem leicht erhöhten Cholesterinspiegel von 210, erfährt von dem Orakel: Sein Risiko, in den nächsten zehn Jahren einen Herzinfarkt oder Schlaganfall zu erleiden, liegt bei 10,2 Prozent. Um die Gefahr zu bannen, so der bisherige Rat, sollte der Mann sich gesund ernähren und Sport treiben. Demnächst dürfte dasselbe Ergebnis in dem in Großbritannien entwickelten Risiko kalkulator jedoch auch zu der Empfehlung führen, vorsorglich Medi - kamente zu schlucken. Denn derzeit werden die Leitlinien zur Prävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen überarbeitet. Wichtigste Neuerung: Der Risiko- Grenzwert, ab dem eine Therapie mit einem cholesterinsenkenden Statin empfohlen wird, soll in Großbritannien von 20 auf 10 Prozent halbiert werden. Quasi über Nacht würde der 55-jährige Ex - raucher vom Gesunden zum Patienten werden und für den Rest seines Lebens zum Pillenschlucker. Weltweit streiten Herzspezialisten in Fachmagazinen und auf Kongressen da - rüber, ob es sinnvoll wäre, die Grenze zwischen gesund und krank derart radikal oder sogar noch radikaler zu verschieben: Würde eine massive Ausweitung der Statinvergabe Leben schützen oder nützt dies nur der Pharmaindustrie? In den USA sind die Cholesterinleit - linien bereits im vergangenen Herbst geändert worden. Die Zahl der Menschen, die Fettsenker einnehmen sollen, hat sich dadurch schlagartig schätzungsweise mehr als verdoppelt. Auch in Deutschland wächst die Zahl der Internisten, die Statine am liebsten vorbeugend an alle über 55- Jährigen verabreichen würden. Statine, so argumentieren die Befürworter, seien gut erprobte, vergleichsweise nebenwirkungsarme Medikamente, die das relative Risiko, einen Herzinfarkt oder Schlaganfall zu bekommen, deutlich senken könnten. Doch das Konzept, schon Patienten mit niedrigem Risiko zu behandeln, hat auch erbitterte Gegner. Lautstark kritisiert etwa der Harvard-Mediziner und Buchautor John Abramson die neuen US-Leitlinien, die der Pharmaindustrie mehr als jedem anderen nützten. Statt Millionen Menschen zu Statinkunden zu machen, so Abramson in der New York Times, sollten wir uns lieber auf die Faktoren konzentrieren, die ohne Zweifel das Risiko für Herzkrankheiten senken: eine gesunde Ernährung, Bewegung und Nichtrauchen. Im British Medical Journal rechnete Abramson jetzt vor, wie unverhältnis - mäßig es wäre, weite Teile der Bevöl - kerung mit Statinen zu behandeln: Um bei relativ Gesunden auch nur einen einzigen Herz infarkt oder Schlaganfall zu ver - hindern, müssten 140 Menschen fünf Jahre lang diese Mittel schlucken. Die Flut kon troverser Reaktionen, die sein Artikel auslöste, gipfelte in der For derung, das British Medical Jour - nal solle den Text wie eine Fälschung behandeln und zurückziehen, da die * Die dunkelblauen Areale zeigen, dass der Blutfluss in Teilen der linken Gehirnhälfte vermindert ist Hinweis auf einen Schlaganfall. Blutfettsenkende Statine Verordnete Tagesdosen, 2013 in Milliarden 1, ,6 Gehirn einer Schlaganfallpatientin* Wer zieht die Nieten aus der Lostrommel? Häufigkeit der Nebenwirkungen darin nicht korrekt angegeben war. Was auch Kritiker wie Abramson nicht bestreiten: Patienten mit einem sehr hohen Cholesterinspiegel, der häufig genetisch bedingt ist, profitieren enorm von einer Statintherapie; das gilt auch für Menschen, die schon einmal einen Herzinfarkt oder Schlaganfall erlitten haben und zwar völlig unabhängig davon, ob ihr Cholesterinspiegel tatsächlich erhöht ist. Leider bekommen Patienten vor allem nach einem Schlaganfall viel zu selten ein Statin verschrieben, beklagt der Internist Peter Sawicki, ehemaliger Leiter des einflussreichen Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen in Köln. Auch bei einer hohen Risikoprognose besteht kein Zweifel am Sinn eines Statins. Doch wo genau sollte die Grenze gezogen werden? Gesenkt werden kann das Infarktrisiko durch einen Fettsenker so gut wie immer. Aber je geringer das individuelle Risiko, desto geringer ist der absolute Nutzen einer Statintherapie. Auch ein Schneepflug bringt am meisten, wenn es kräftig geschneit hat, erklärt der Internist und Chefarzt an der Klinik Schwabenland Harry Hahmann. Umgekehrt gilt: Bei einem geringeren absoluten Nutzen fallen die Nebenwirkungen der Medikamente stärker ins Gewicht. Eine der gefährlichsten bei Statinen ist Muskelzerfall mit Nierenversagen, die Mittel können zudem das Diabetesrisiko erhöhen. Letztlich bleibt die Untergrenze, ab der behandelt wird, eine Ermessensfrage, sagt Ulrich Laufs, Mitglied der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft. Der Internist Sawicki wirbt dafür, dass der aufgeklärte Patient selbst entscheiden sollte. Der Arzt erklärt den Nutzen von Statinen mit einer Lostrommel. Dem 55-jäh - rigen leicht übergewichtigen Exraucher, dem der Onlinekalkulator ein Herzinfarktund Schlaganfallrisiko von 10,2 Prozent bescheinigte, würde Sawicki sagen: Stellen Sie sich vor, in diesem Glas befinden sich 90 weiße und 10 schwarze Lose. Wenn Sie ein schwarzes Los ziehen, bekommen Sie Ausgaben der Krankenkassen * Mio. Quelle: Arzneiverordnungs-Report * Gesetzliche Krankenversicherung in den nächsten zehn Jahren einen Herzinfarkt oder Schlaganfall. Wenn Sie ein weißes Los ziehen, nicht. Zur Vorbeugung könne der Patient von nun an Statine schlucken und die damit verbundenen Nebenwirkungen in Kauf nehmen. Aber auch in diesem Fall, so Sawicki, bleiben immer noch sieben schwarze Lose in der Trommel. Veronika Hackenbroch FOTO: MICHAEL TIMM

107 Wissenschaft Beglückung per Kopfhörer Psychologie Forscher versuchen, Filme und Musikstücke der Laune des Zuschauers anzupassen. Doch wie lassen sich Stimmungen messen? Möglicherweise wäre Kate zusammen mit Leonardo und der Titanic versunken. Vom Meer verschluckt und Schluss. Einfach, weil der Zuschauer nicht genug geschwitzt hat. Die Erregbarkeit des Betrachters soll in Zukunft Regie führen, das ist der Plan einiger Firmen. Sie wollen Filme optimieren, indem sie sie dem Konsumenten auf den Leib schreiben. Dazu muss dieser Leib vermessen werden: Schwitzt er? Wie sehr? Wie schnell schlägt das Herz, was sagen die Hirnströme? Der Körper soll verraten, ob wir dem Spannungsbogen noch folgen, uns ausreichend gruseln oder entzückt sind. Schon lange basteln Wissenschaftler daher an Filmen, Spielen und Musik, die sich der Stimmung der Konsumenten anpassen sollen. So haben die Macher des Horrorfilms Unsound unterschiedliche Handlungsstränge gedreht. Welcher davon auf der Leinwand erscheinen sollte, entschied sich an den Fingern ausgewählter Zuschauer im Vorführsaal. Waren die Finger noch nicht schwitzig, war der Puls nicht hoch genug, nahm die Geschichte eine spannendere Wendung. Der Computerkonzern Apple hat ein Patent für eine Technik angemeldet, die Inhalte nicht nur nach Vorlieben, sondern auch nach der Gemütslage vorschlägt. Microsofts Sensorsteuerung Kinect soll Emotionen aus unserem Gesicht heraus - lesen können. Und Chiphersteller Intel hat einen Kopfhörer vorgestellt, der über das Ohr den Herzschlag misst. Das Ziel: herausfinden, was der Kunde will, bevor er es selbst auch nur ahnt. Aber auf dem Weg zum tiefenerforschten Konsumenten gibt es ein Problem: Wir können die Signale des Körpers zwar aufzeichnen, lesen können wir sie aber noch nicht besonders gut, sagt Eduardo Miranda, Computerwissenschaftler an der englischen Plymouth University. Leuchtet im Hirnscanner die Amygdala, wenn der Mensch glücklich ist? Schwitzt der Zuschauer, weil er nervös ist? Oder nur überrascht? Schlägt das Herz vor Freude oder aus Furcht? Ein Haarreif, der angeblich Hirnströme misst: Die Öhrchen sollen sich aufrichten, wenn der Träger sich konzentriert, und erschlaffen, wenn er entspannt. Es ist schwierig, Anzeichen verlässlich zu deuten, sagt Miranda, der auch Komponist ist. Sein Team arbeitet an einem Kopfhörer, der anhand von Hirnströmen erkennen soll, in welcher Stimmung sich sein Träger befindet. Ist dieser betrübt, spielt das System helle, fröhliche Musik. Ist er ängstlich, drosselt es das Tempo. Dazu misst ein EEG-Gerät pausenlos die elektrischen Potenziale im Gehirn und sendet sie an einen Computer. Der, so die Idee, wählt dann die passende Musik aus oder noch besser: generiert sie gleich selbst. Derzeit spielen Miranda und seine Kollegen Testpersonen Töne und Rhythmen vor und beobachten, wie das Hirn darauf reagiert. Labors anderswo in der Welt arbeiten an ähnlichen Projekten. Einen gefühligen Kopfhörer gibt es bereits. Die Firma Neurowear hat ihn ent - wickelt; vermeintlich richtet das Gerät die Musik nach der Laune aus. Bekannt wurde die japanische Firma mit Katzenohr-Imitaten, befestigt an einer Art Haarreif, der angeblich die Hirnströme misst, daran den jeweiligen Gemütszustand erkennt und via Öhrchen schlapp oder aufrecht, manchmal winkend ans Gegenüber vermittelt. All das nur durch die Inspiration des Unterbewusstseins. Andere Hersteller bieten Spiele an, deren Handlung sich mit der Kraft der Gedanken entwickle. Tatsächlich testen die Geräte wohl weniger die Hirnströme als den Aberglauben der Nutzer: Die Öhrchen wackeln, und weil wir nicht wissen, warum, glauben wir, es sei unser Verdienst. Raúl Rojas, Informatikprofessor an der FU Berlin, hat einen dieser neuartigen Hirnstrom-Messapparate ausprobiert. Das Gerät heißt Emotiv und kostet bis zu 540 Euro. Rojas nennt das schöne Science- Fiction. Seriöse EEG-Geräte kosten Tausende Euro; sie sind feinst kalibriert. Mit den kommerziellen Geräten leuchtet das Gehirn am Bildschirm wie ein Weihnachtsbaum, sagt Miranda. Aber nicht, weil deren Träger besonders viel dächten, wahrscheinlicher sei, dass die Apparate Störsignale messen: ein Zucken der Nase, ein Blinzeln der Augen. Stefan Kölsch, Professor für Musikpsychologie an der FU Berlin, ist sogar skeptisch, ob ein Gefühle-Fühler je existieren wird. Ein Mensch sei nicht einfach glücklich oder traurig: Emotionen existieren in verschiedenen Farben. Das macht uns ja gerade als Menschen aus. Und wenn wir schon eine Empfindung nicht richtig messen können, wie dann mehrere zugleich? Dennoch findet Kölsch die Vorstellung aufregend, Musik nach Laune steuern zu können, etwa als Therapie für depressive Patienten. Aber wollen sie das Gedudel dann auch hören?, fragt er. Zwangsbeglückung via Kopfhörer? Und was wäre, wenn sich Musik an Wünsche anpasste, von denen wir gar nicht wissen, dass wir sie hegen? Wie sollen wir unsere Emotionen schützen?, fragt Eduardo Miranda. Denn was aufgenommen und digitalisiert werde, wandere irgendwann auch ins Netz. Die Werbewirtschaft würde sich freuen. Schon jetzt dudelt in Supermärkten stimmige Musik. Doch werde es nie die perfekte Lösung für alle geben, sagt Miranda. Dafür seien die Menschen zu unterschiedlich. Zum Glück. Laura Höflinger DER SPIEGEL 23 / FOTOS: KIM KYUNG-HOON / REUTERS

108 Rippenqualle Aliens der Meere Evolution Wabern auf fernen Planeten räuberische Glibberwesen? Die Befunde eines Meeres forschers in Florida lassen sich als Hinweis darauf deuten. Wer sich für das Aussehen von Außerirdischen interessiert, der sollte Rippenquallen studieren. Fremdartigere Kreaturen als diese gibt es im ganzen Tierreich nicht. Das jedenfalls sagt Leonid Moroz. Mit bizarren Geschöpfen kennt sich der amerikanische Neurobiologe der University of Florida aus. Rosa gebänderte Meeresschnecken, eigentümlich geflügelte Mollusken und Würmer mit rot glühenden Augen hat er von seinen Tauchgängen in der See vor Fort Lauderdale emporgeholt. Besonders aber faszinieren ihn die geheimnisvoll schimmernden Rippenquallen. Zehn Spezies dieser Gallertwesen haben Moroz und sein Team eingesammelt und untersucht, einige davon gleich an Bord einer 43-Meter-Jacht, auf die sie vor der Abfahrt einen Forschungscontainer hieven ließen. Eingerichtet ist dieser wie ein modernes Biolabor. Direkt vor Ort können die Wissenschaftler dort das Erbgut der fragilen Meerestiere auslesen. Ergebnisse haben Moroz und seine Kollegen jetzt in Nature publiziert. 108 DER SPIEGEL 23/ 2014 Ctenophoren, wie die Rippenquallen mit ihrem wissenschaftlichen Namen heißen, sind bunt schillernde Glibbertiere, von denen viele im Dunkeln magisch leuchten ( lumineszieren ). Mit klebrigen Tentakeln machen sie Jagd auf Jungfische und kleine Krebse. Wie an einer Angel lassen sie ihre Beute zappeln, bis sie die Fangleine einholen und die erschöpften Opfer in ihr Schlundrohr schlürfen. All das erscheint exotisch, die wahre Überraschung aber bescherte Moroz die Erbgutanalyse: Die Seestachelbeere, eine der rund 190 Arten von Rippenquallen, verfügt über mehr als Gene, kaum weniger als Ratte oder Mensch, und viele von ihnen sind der Wissenschaft noch völlig unbekannt. So fremdartig ist das Genom dieser Kreaturen, dass Forscher jetzt den Stammbaum des Lebens revidieren wollen: Den Stamm der Ctenophoren hält Moroz für den ältesten aller Tiere. Rippenquallen, konstatiert er, sind die Aliens der Meere. Vor mehr als 600 Millionen Jahren trennte sich Moroz Hypothese zufolge das evolutionäre Schicksal zweier Tiergruppen: Aus der einen ging die gesamte Vielfalt der heutigen Tierwelt hervor vom Seestern bis zum Fadenwurm und vom Kohlweißling bis zum Homo sapiens. Die Nachfahren der anderen sind die Rippenquallen. Mensch und Feuerqualle, so die über - raschende Schlussfolgerung aus dieser Hypothese, sind näher miteinander verwandt als Feuer- und Rippenqualle (siehe Stammbaum). Sichtbar bereitet es Moroz Vergnügen, die Lehrmeinung herauszufordern. Unsere Befunde werfen über den Haufen, was wir über die Evolution der frühen Tiere zu wissen glaubten, sagt er, und gleichzeitig steigern sie die Ehrfurcht vor dem Erfindungsreichtum des Lebens. Bisher galten Schwämme und Plattentiere als die ursprünglichsten aller Tierstämme. Und in der Tat scheinen diese viel eher dem Bild primitiver Lebensformen zu genügen: Die Plattentiere wabern als unscheinbare Minifladen am Meeresboden; ihr fast strukturloser Körper besteht aus gerade einmal fünf verschiedenen

109 Wissenschaft FOTO: PICTURE-ALLIANCE / AP / DPA Zelltypen. Die Schwämme wiederum sind mit ihren knorrigen Ästen, unförmigen Wülsten, Beulen oder Furchen kaum als Tiere zu erkennen. Schon Aristoteles ordnete sie als Mischwesen ein halb Tier, halb Pflanze. Ganz anders dagegen die Rippenquallen. Es sind erstaunlich komplexe Tiere, sagt Moroz. Sie sind Jäger, vermögen sich mittels rhythmischer Schläge unzähliger Wimpernplatten zu bewegen und verfügen sogar über ein Immunsystem, das Erreger attackiert und sich später noch an diese erinnert. Die Zahl verschiedener Zelltypen in einem Ctenophoren-Körper schätzt Moroz auf vermutlich über 50. Faszinierend sind etwa die hoch spezialisierten Klebzellen, mit denen die Rip - penquallen ihre Beute festhalten. Mit Klebkörnchen an der Oberfläche, einem stielförmigen Anker und einem langen spi - ralförmigen Faden zählen diese zu den komplexesten Zellen des ganzen Tierreichs. Besonders interessant aber findet Moroz, dass Ctenophoren über Nerven- und Muskelzellen verfügen. Dies ist gerade deshalb so erstaunlich, weil solche Zellen zunächst nichts Außergewöhnliches zu sein scheinen. Bei anderen Tieren, gleichgültig ob Seeigel, Stichling oder Stachelschwein, finden sie sich schließlich auch. Genau die Ähnlichkeit jedoch, erklärt Moroz, sei eine Sensation. Denn bei den Schwämmen und Plattentieren fehlen sowohl Muskelzellen als auch Neuronen. Wenn aber die Vorfahren von Schwamm und Rippenqualle dereinst noch hirn- und kraftlos vor sich hinvegetierten, dann müssen sich Muskel- und Nervenzellen bei den Rippenquallen unabhängig vom Rest der Tierwelt entwickelt haben. Und beide Male entschied sich die Natur für ein frappierend ähnliches Design. Auf den ersten Blick unterscheiden sich die Neuronen der Ctenophoren kaum von normalen Nervenzellen. Im Biolabor aber, so Moroz, offenbare sich ihre Eigenheit: Sie kommunizieren zwar, genau wie bei anderen Tieren, durch den Austausch von chemischen Signalen, doch verwenden sie dabei ganz andere Botenstoffe. Ein erstaunlich fortgeschrittenes Nervensystem hätten die Rippenquallen auf diese Weise hervorgebracht, sagt er: Ihr Gallertkörper sei von einem Geflecht aus mehr als Nervenzellen durchzogen. An einer Stelle verdichtet sich das Netz elektrischer Erregungsleitungen sogar so stark, dass Moroz von einer primitiven Art von Gehirn spricht. Wie bei anderen Tieren helfen die Neuronen, die Umwelt zu erkunden: Eine Art Schwerkraftdetektor erlaubt es den Rippenquallen, im Wasser das Gleichgewicht zu halten; mittels chemischer Sensoren am Mund riechen sie ihre Beutetiere; und auch Licht können sie wahrnehmen, möglicherweise um so ihren täglichen Zyklus zu steuern: Nachts jagen sie an der Oberfläche, tagsüber sinken sie in die Tiefe. Lichtempfindliche Proteine fand Moroz allerdings nicht in der Nähe des Schlunds, sondern dort, wo die Keimzellen sitzen. Die Rippenquallen sehen also nicht mit dem Kopf, sondern mit den Hoden, konstatiert der Forscher. Daneben dienen die Neuronen, auch dies genau wie bei anderen Tieren, der Kontrolle der Muskelzellen: Sie steuern die Körperspannung, das Einholen der Fangleinen und bei jenen Ctenophoren, die sich durch Schlängeln fortbewegen, die dazu notwendigen Muskelplatten. Wenn aber die Neuronen der Rippenquallen sich tatsächlich unabhängig von denjenigen aller übrigen Tiere entwickelt haben, wie kann es dann sein, dass sie diesen in Gestalt und Funktion so verblüffend gleichen? Jene Kreaturen, aus denen alle heutigen Tiere hervorgegangen sind, siedelten vermutlich am Meeresboden. Dort filterten sie Ozeanwasser, während das offene Meer den Bakterien und Algen vorbehalten blieb. Dann aber ein Wendepunkt in der Geschichte des Lebens vollzog sich der Schritt hin zur frei schwimmenden Lebensweise. Ein unermesslicher neuer Lebensraum öffnete sich. Zweimal wagten die Tiere diesen Schritt. Einmal ging am Ende die Qualle daraus hervor, im anderen Fall die Rippenqualle zwei Wesen von frappierender Ähnlichkeit: Beide sind sie transparente Gallertwesen. Beide machen Jagd mithilfe von Tentakeln. Und beide haben sie dabei sowohl Muskel- wie Nervenzellen hervorgebracht gerade so, als bedinge sich die Entwicklung von Körper und Geist, von Hard- und Software gegenseitig. Heißt dies mithin, dass die glibbrig-räuberische Daseinsform gleichsam ein notwendiges Durchgangsstadium war auf dem Weg hin zu komplexeren Tieren? Würde das Leben, wenn die evolutionäre Uhr zurückgedreht und neu gestartet würde, erneut quallenartige Geschöpfe hervorbringen? Bedeutet dies am Ende gar, dass auch auf anderen Planeten, falls sie die Entwicklung von Leben erlauben, räuberische Glibberwesen ihr Unwesen treiben? Moroz Befunde jedenfalls lassen sich als Hinweis darauf deuten. Auf eine weitere Frage allerdings hat der Biologe vorerst noch keine Antwort: Warum blieben die Rippenquallen im Glibberstadium stecken, während der zweite Aufbruch ins offene Wasser nicht nur in heutige Quallen, sondern auch in die überbordende Vielfalt der Fische, Krebse, Schnecken, Muscheln und Würmer mündete? Einen Grund, die Ctenophoren geringzuschätzen, sieht Moroz darin jedenfalls nicht. Schließlich seien sie wahre Überlebenskünstler. Mehr als eine halbe Milliarde Jahre überdauerten sie, und bis heute entfalten sie dabei eine kaum zu kontrollierende Vitalität. Im Schwarzen Meer etwa führte die massenhafte Vermehrung einer eingeschleppten Ctenophoren-Art zum Zusammenbruch der Sardellenbestände. Der Mensch, meint Moroz, könne von diesen außergewöhnlichen Kreaturen manches lernen. Besonders eine ihrer Eigenschaften will er jetzt genauer studieren: ihre Fähigkeit zur Regeneration. Wird ein Teil ihres Körpers abgetrennt, können einige Rippenquallen ihn binnen Tagen neu bilden einschließlich aller Nervenzellen. Wäre es nicht toll, fragt Moroz, wenn wir uns diese Fähigkeit zur Heilung abgucken könnten? Johann Grolle Pioniere von Kraft und Geist Rippenquallen im Stammbaum der Tiere Ctenophora Rippenquallen Muskel- und Nervenzellen Porifera Schwämme Placozoa Plattentiere keine Muskel- und Nervenzellen Cnidaria Nesseltiere Vor mehr als 600 Millionen Jahren: erste vielzellige Tiere (Metazoa) Bilateria alle übrigen Tiere, Mensch Muskel- und Nervenzellen entstehen unabhängig von den Rippenquallen. Quelle: Leonid Moroz et al., Nature DER SPIEGEL 23 /

110 Sport Formel-1-Hostess 1997 Rennfahrer-Ehefrau Marlene Lauda um 1976 Elmar Brümmer, Ferdi Kräling Schön. Schnell Frauen und die Formel 1 Delius Klasing Verlag, Bielefeld; 160 Seiten; 29,90 Euro. Bücher Luder und Leader Lange gab es in der Formel 1 für Frauen einige wenige klar umrissene Rollen: als bangende Lebensgefährtin mit Stoppuhr in der Hand, als Groupie, als Nummerngirl in der Startaufstellung oder als Boxenluder. Heute ziehen Mechanikerinnen Reifen auf, organisieren Pressechefinnen die Medienarbeit, stimmen Ingenieurinnen die Technik ab, kümmern sich Managerinnen um Rennfahrerkarrieren oder führen Rennställe. Es hat sich viel getan in einem Sport, der sich mehr verändert hat, als das Tussis-und-Kerle-Klischee vermuten lässt. Genug für ein Buch, das mit vielen Kurzporträts und Fotos zeigt, dass es kaum noch einen Bereich gibt, der Männern vorbehalten ist. Es ist auch ein Geschichts buch über die Frauen in der Formel 1; so fuhr bereits 1958 die Italienerin Maria Teresa de Filippis bei Rennen mit. Nach ihr schafften das allerdings nur wenige. Die Formel 1 tut sich immer noch schwer, Frauen ans Steuer zu lassen. Im Kapitel über die Fahrerinnen beschönigen die Autoren ein bisschen, denn es tauchen vor allem Frauen auf, die nie bei einem Grand Prix gestartet sind. Die Rallye-Siegerinnen Jutta Kleinschmidt, Isolde Holderied und Michèle Mouton, die Tourenwagen-Pilotin Ellen Lohr, der amerikanische IndyCar-Star Danica Patrick es gibt sie, die auf der Piste erfolgreichen Frauen. Nur nicht in der Formel 1. hac mierte sich über Hotel- und Ticketpreise, besichtigte das Maracanã-Stadion und spazierte durch den Stadtteil Copacabana, um mit Inhabern von Restaurants ins Gespräch zu kommen. Auch Jürgen Trittin von den Grünen reiste im Mai nach Rio, der Grund: Energiepolitik und Städtebau. Eine siebenköpfige Delegation des Innenausschusses blieb eine Woche lang. Die Politiker handelten aus, dass brasilianische Sicherheitskräfte sich während der WM von sieben deutschen Polizisten unterstützen lassen. Das Besuchsprogramm sah auch drei Stadionbesuche sowie Stadtrundfahrten unter sicherheitsrelevanten Aspekten vor. Innenminister Thomas de Maizière möchte zum Achtelfinale reisen, sofern das deutsche Team sich qualifiziert. Kanzlerin Angela Merkel wird die Partie gegen Portugal besuchen. Pro Fraktion Fußball Politiker auf Brasilien-Sause Brasilien ist derzeit ein beliebtes Reiseziel für Bundestagsabgeordnete neun Politiker waren bereits dort, mindestens sechs planen Trips zu WM-Spielen. Gründe gibt es offenbar genug. Zuletzt flog Ulrich Kelber (SPD) nach Rio de Janeiro; der Parlamentarische Staatssekretär für Verbraucherschutz infordarf ein Abgeordneter sie begleiten als Erster hat sich Dietmar Bartsch von den Linken angemeldet. Der Bund der Steuerzahler geht davon aus, dass eine Flugstunde mit der Regierungsmaschine rund Euro kostet, hinzu kommen Gebühren für Besatzung, Start und Landung. Mitarbeiter deutscher Auslandsvertretungen in Brasilien schimpfen bereits über den zunehmenden Polit- Tourismus. le FOTOS: KRÄLING (2, O.) 110 DER SPIEGEL 23 / 2014

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112 Chips im Nacken Deutsche Mannschaft Die Vorbereitung auf ein WM-Turnier ist zur Wissenschaft geworden. Ärzte und Trainer beschäftigt in Brasilien vor allem die Frage: Wie kann der Stresslevel der Spieler gesenkt werden? 112 DER SPIEGEL 23 / 2014

113 Sport FOTOS: OTTMAR WINTER (L.); GES-SPORTFOTO / PICTURE ALLIANCE / DPA (R.) Hinter der Tribünenseite des Fußballplatzes von St. Martin in Passeier, dem Trainingslager der deutschen Fußballauswahl in Südtirol, stürzte ein Gebirgsbach ins Tal. Vis-à-vis schäumte die wilde Passer, der Fluss. Das Dauerrauschen des Wassers schluckte morgens jedes andere Geräusch, mit zwei Ausnahmen: das Glockengeläut der Bergziegen und das Geklapper der deutschen Mannschaftsärzte. Die bereiteten die Übungseinheit der DFB-Auswahl vor wie einen Gottesdienst. Elektrolytgetränke werden immer abgefüllt, bevor das deutsche Expeditionskorps sich präpariert, ein Tapeziertisch wird sorgsam gedeckt wie ein Altar. Dort muss Mark Verstegen, der amerikanische Fitness coach, die Hostien verteilen. Es handelt sich dabei nicht um essbare Oblaten, sondern um scheibenförmige Sensoren. Verstegen steckt sie den Spielern, einem nach dem anderen, in den Nacken. Da hinten haben ihre Funktionsunterhemden dafür extra ein Täschchen. Deutschland hat nicht den Chip im Ball, sondern den Chip im Hemd. Mit dessen Hilfe werden während des Trainings relevante Daten Herzfrequenz, Laufleistung, Geschwindigkeit an ein Empfangsgerät am Spielfeldrand gefunkt, einen schwarzen Kasten mit Antenne, der aussieht wie eine Mischung aus Gitarrenverstärker und Ü-Wagen. Das interaktive Trainingssystem zur Leistungsaufzeichnung, eine Art modernes Fliewatüüt, ist eines von zahlreichen Mitteln zum Zweck: Joachim Löws Männer werden für eine WM der Strapazen gestählt, so nennt der Bundestrainer das Turnier. Er sprach von einer Urkraft des Landes Brasilien, als handle es sich um eine Bedrohung. Eine vermeintlich infernalische Herausforderung mit gewaltigen Entfernungen, tückischem Klima und nervlichen Belastungen wartet auf die deutsche Reisegruppe; nur wer sich auf die extremen Bedingungen einstellen könne, sei auf dieser Expedition zu gebrauchen, hatte Löw klargestellt. Sein Stürmer Miroslav Klose hat von italienischen Kollegen gehört, die im vergangenen Jahr den Confederations Cup in Brasilien spielten und nach 20 Minuten keine Luft mehr bekamen: Man spielt dort ein anderes Fußballspiel als das, was man kennt, glaubt er. Löws Männer müssen getrimmt werden, aber nicht ausgelaugt. Es muss ein System gefunden werden, wie sich die Akteure zwischen den Hitzespielen wirksam er holen. Ein ganzer Zweig von Fußballwissenschaft tüftelt seit einiger Zeit an der Frage, wie der Stresslevel wieder gesenkt werden kann in Zeiten, in denen Handlungsschnelligkeit über Spiele entscheidet, in denen man ständig unter Druck den Ball behaupten muss, sauber weiterspielen, zurück erobern, immer schneller, ohne verrückt zu werden. Und jetzt auch noch in Brasilien. Belastungssteuerung nennt sich die neue Forschungsdisziplin rund um den Fußball, es geht um Regeneration und präventives Training. Wie lange braucht ein Spieler, bis er nach Spitzenbelastungen wieder lohnenswert trainierbar ist? Löw will auch in Brasilien noch hohe Trainingsreize setzen, deshalb darf es am deutschen WM-Standort nicht zu warm sein. Andererseits soll sich das Team an die hohen Temperaturen an den Spielorten Salvador, Fortaleza und Recife anpassen. Die ganze WM ist ein einziges Dilemma. Gleich am ersten Tag der Vorbereitung baten die DFB-Ärzte zur Blutabnahme, Nationalspieler Marco Reus, Fitnesscoach Immer schneller, ohne verrückt zu werden ein Gesundheitscheck. Im Blut stecken die Indikatoren für den Erholungsbedarf. Man kann den Harnstoff messen; der Wert steigt, wenn der Körper die eigenen Eiweißreserven angreift. Fußballärzte messen häufiger den CK-Wert, das heißt Kreatinkinase. Er liefert Hinweise auf die muskuläre Beanspruchung. Man könnte auch die Herzfrequenzvariabilität messen oder den Parameter CRP ermitteln, er zeigt entzündliche Reaktionen. Der Neuling Christoph Kramer wunderte sich über die Größe des Betreuerstabs. In seinem Verein, Borussia Mönchengladbach, gebe es rund um den Trainingsplatz 5 Leute. Hier sind es 40. Das Problem ist erkannt. Jérôme Boateng glaubt, dass man in Brasilien besonders fit sein muss. Der Verteidiger saß in St. Martin auf der Terrasse beim Mannschaftshotel, entspannt. Er sagte, er sei zwar ein Typ, der beißen kann und sich anpassen könne. Aber wenn es nun mal heiß ist, ist mir auch heiß. Brasilien werde die WM des Willens, sagt Löw. Per Mertesacker fand das Training in Südtirol nicht hart, aber intensiv. Der Abwehrspieler ist es aus England bereits gewohnt, keine langen Läufe mehr bei der Konditionsarbeit zu absolvieren wie früher bei Werder Bremen. Intensive Intervalle mit kurzen Distanzen, auf dem Fahrrad oder zu Fuß das gilt nun als effizient. Die Erkenntnis hat sich auch beim DFB durchgesetzt. Der Internist Tim Meyer, 46, arbeitet seit 2001 mit der Fußball-Nationalmannschaft. In seinem Büro in Saarbrücken hängt ein Flipchartpapier, auf das der damalige Teamchef Rudi Völler seinerzeit vor der Partie gegen Ungarn in Budapest die Aufstellung geschrieben hat Meyers erstes Länderspiel, wie er sagt. Daneben an der Wand hängt die Stoffwechselkarte Biochemie. Meyer ist Leiter des Instituts für Sport- und Präventivmedizin an der Universität des Saarlandes. Er forscht zur Messung von Erholtheit im Profifußball und leitet ein Langzeitprojekt von drei Universitäten zum Thema Regenerationsmanagement. Auf die Frage, was das für die Nationalelf bedeutet, sagt er, dass das alles nicht so einfach sei. Da ist etwa der Widerspruch von warm und kalt. Einerseits soll sogenanntes Auslaufen nach dem Spiel von Vorteil sein, beanspruchte Muskeln werden noch einmal neuronaler Ansteuerung ausgesetzt, wie die Experten sagen stärker durchblutet, also erwärmt. Andererseits soll doch auch Kälte gut sein. Es gibt Vereine, die für sechsstellige Beträge ganze Kältekammern anschaffen. Meyer empfiehlt transportable Bottiche, in welche Löws Spieler nach Belastungen steigen ins Eisbad. Die Wissenschaft von der Regeneration ist noch nicht am Ende angekommen, bekennt Meyer, etwas ratlos. Früher gab es Infusionen. So gelangten Eiweiß aufbauende Substanzen direkt ins Blut. Diese Methode verbieten die Dopingbestimmungen. Heute werden elektronische Geräte, die sonst die Muskeln stimulieren, zur Regeneration eingesetzt. Außerdem wird auf gesunden Schlaf geachtet. Meyer mahnt: Biertrinken vor dem Zubettgehen sei abträglich, Heißhunger auf schnelle Kohlenhydrate zu vermeiden. In einem Zeitfenster von zwei bis drei Stunden nach Spiel oder Training sollten die Speicher aufgefüllt werden, Kohlenhydrate, Wasser, Proteine. Da man bei einer WM nicht mal eben ein Buffet in der Kabine aufbauen kann vor dem Weiterflug, reicht Professor Meyer Konzentrate Nahrungsergänzungsmittel. Ein Fußballer braucht etwa 3500 Kilokalorien am Tag. Radprofis bekommen bis zu Am besten sei es, die Spieler kämen schon topfit ins Trainingslager, sagt Hansi Flick, Löws Assistent und künftiger DFB- DER SPIEGEL 23 /

114 Sport Sportdirektor. Sie regenerieren dann besser, sind leistungsfähiger. Dann ist es möglich, sie noch ein bisschen besser zu machen. Aber viele Spieler kamen diesmal überlastet an, einige wie Philipp Lahm oder Manuel Neuer verletzt. Eigentlich müsste man die Spieler in die Ferien schicken, nach dem Ende einer solchen Saison auf Spitzenniveau, meint ein Betreuer. Wer im modernen Hochgeschwindigkeitsfußball ständig schnell denken solle, der müsse erholt sein, klagt Urs Siegenthaler, Löws Chefscout. Das intensive Spiel auf engem Raum, eine Aneinanderreihung von Kampfhandlungen und schnellen Richtungswechseln, fordert am Saisonende Opfer: Kniebeschwerden bei Bastian Schweinsteiger, bei Portugals Star Cristiano Ronaldo, Uruguays Luis Suárez, Chiles Arturo Vidal sind kein Zufall. Ermüdete Spieler verletzen sich eher. Man könnte ein paar Tests machen. Der Laktattest erlaubt Rückschlüsse zur Grundlagenausdauer. Der Shuttle-Run, ein Pendellauf, bei dem die Laufgeschwindigkeit durch Signaltöne vorgegeben wird, gibt Hinweise auf die Fähigkeit zur Sauerstoffaufnahme. Aber die Tests kosten auch wieder Energie. Löw hat keine angeordnet. Immerhin gibt es die Daten vom Fliewatüüt. Flick läuft auf dem Platz mit seinem Tablet durch die Reihen, nach der Sprinteinheit erscheinen auf dem Display die Laufwerte. Ich hab gar nicht drauf - geguckt, sagt Boateng. Er wisse selbst, wie schnell er sei. Im Erholungs-Belastungs-Test füllen die Nationalspieler Fragebögen aus: Schlafen sie gut, sind sie übertrainiert? Die Trainer müssen darauf vertrauen, dass dabei keiner schummelt, weil er fürchtet, die Wahrheit könnte seine Aufstellung gefährden. Ermüdete Spieler sind anfällig für das, was die Reporter Konzentrationsfehler nennen. Die Koordination im Abspiel stimmt nicht mehr, die neuronale Muskelansteuerung für die Bewegung, für den sauberen Pass kommt zu spät, weil das Gehirn mit den Anforderungen des Spiels nicht mehr Schritt hält. Das hat mit den Stresshormonen zu tun. Soll man auch noch die Hormone steuern? Bernhard Peters sagt, man solle sie wenigstens messen. Peters, 54, ehemals Hockey-Bundestrainer, ist Direktor für Sport und Nachwuchsförderung beim Fußball-Bundesligisten 1899 Hoffenheim. Dort will er nun Stressprofile der Spieler anlegen lassen, sie beginnen jetzt bei der U-19- Jugend. Speicheltests sollen kontinuierlich die Werte von Testosteron und Cortisol ermitteln, den Hormonen mit muskelauf - bauender und -abbauender Wirkung. Der psychische Druck, der sich in den Hormonen zeigt, scheint ein wichtiger Indikator für Überbelastungen zu sein, sagt Peters. In seinem Büro trägt er Badelatschen, als wäre er im Trainingslager. An der Wand hängt ein Plakat vom Hockey-Weltpokal, den er zweimal mit Deutschland gewann. Vor acht Jahren war er Jürgen Klinsmanns Kandidat für den Posten des Sportdirektors beim DFB, der Verband lehnte ab. Peters will im Fußball nicht als Besserwisser auftreten. In der wissenschaftlichen Trainingssteuerung könne generell mehr gemacht werden in deutschen Spielsportarten, meint er. Hinter der sogenannten Leistungsdiagnostik verberge sich viel Marketing und Pseudowissenschaft. Manches wirkt tatsächlich semiprofessionell. DFB-Arzt Meyer hat eine Fußball-Verletzungsdatenbank aufbauen lassen. Eine studentische Hilfskraft seines Instituts wertet dazu die Ausgaben der Fachzeitschrift Kicker der vergangenen sieben Jahre aus. Das Geheimnis im Spitzensport ist immer die richtige Balance zwischen Be- und Entlastung, sagt Peters, und was es so kompliziert macht: Sie ist bei jedem Menschen anders. Die Frage sei, ob man sich im Verlauf eines Turniers noch steigern könne. Auch das ist eine Frage der Fähigkeit zur Erholung. Gegen zu viel Stress hilft die mentale Regeneration. Dies ist bei der Nationalelf das Gebiet von Hans-Dieter Hermann, dem Teampsychologen. Früher hat er mit Peters im Hockey zusammengearbeitet, jetzt also Fußball, die Aufgabenstellung ist immer dieselbe: dem Spieler zu helfen, dass er seine Mitte findet, sagt Hermann, 54. Der Psychologe muss für Abwechslung sorgen. Bei der WM in Südafrika gingen die Spieler auf Löwen-Safari. Yoga und Atemübungen gehören zum Standard-Entspannungsprogramm. Auch Konzentrationsübungen helfen, um nach dem Spiel wieder runterzukommen. Die Profis korrigieren dabei ihre Laufwege vor dem geistigen Auge. Boateng lernte, während des Spiels mit sich selbst zu kommunizieren, um immer hellwach zu bleiben. Hermann hält nichts davon, über hohe Luftfeuchtigkeit oder Flugverspätungen zu jammern. Wenn man dauernd über die Belastungen spricht, hat man immer ein Auswärtsspiel. Man müsse das Land annehmen, die Strömungen und Schwingungen. In Südafrika erkor die Mannschaft auf Anweisung der Betreuer das Zulu-Wort Yebo zu ihrem internen Motto, es heißt Ja und bedeutet auch so etwas wie easy going. Jetzt tragen die ersten DFB-Leute zumindest schon brasilianische Glücksarmbändchen, nach dem Brauch der Region Bahia dreimal geknotet. Für jeden Knoten hat man einen Wunsch frei. Die Wünsche müssen geheim bleiben. Jörg Kramer Rumpeln in der Matrixwelt Marketing Mercedes-Benz und der DFB wie weit darf Werbung bei der Fußball- Nationalmannschaft gehen? Mercedes-Benz ist der Hauptsponsor der deutschen Nationalmannschaft. Es könnte aber auch andersherum sein. Vorigen Dienstag fand im Trainingslager der deutschen Fußballmannschaft in Südtirol die tägliche Pressekonferenz statt. Auf der Tribüne saßen jedoch keine Fußballer, sondern zwei Autorennfahrer und ein Golfspieler sowie der Teammanager Oliver Bierhoff. Zusammengebracht wurden die vier Männer von der Firma Mercedes-Benz, deren Markenbotschafter sie sind. Die Journalisten im Saal waren alle nur wegen der deutschen Nationalmannschaft dort. Es ist bald Weltmeisterschaft, die Aufregung ist groß. Es passiert noch nichts, aber es gibt das Bedürfnis nach viel Vorberichterstattung. Das ist die Idee: Mercedes-Benz nutzt die Aufmerksamkeit der traditionellen Medien, um seine Produkte und Visionen an den Mann zu bringen. Es klingt ein bisschen wie die Matrixwelt, wo die Menschen nur noch als Batterien der Maschinen funktionieren und keiner mehr genau weiß, was wirklich ist und was falsch. In der Marketingwelt nennen sie das die Vermittlung von Content. Abtransport eines Unfallopfers in Südtirol Der größte Horror erwächst aus der Idylle 114 DER SPIEGEL 23 / 2014

115 FOTOS: OTTMAR WINTER (L.); INA FASSBENDER / REUTERS (R.) Teammanager Bierhoff: Sponsor und Mannschaft noch enger zusammengebracht Der Golfspieler Martin Kaymer redete ein bisschen über Fußball, der Formel-1- Pilot Nico Rosberg redete über die tollen Silberpfeile, die im Moment alles gewinnen, Oliver Bierhoff redete später über seinen Ex-Schwager, der auch Rennfahrer war. Alle hatten einen Stern auf der Brust. Sie wirkten sehr sympathisch, auch wenn die ganz Situation natürlich unwirklich war. Ein Zelt in den Bergen Südtirols, draußen rauschte ein Gebirgsbach, auf den Gipfeln lag Schnee, in zwei Wochen beginnt die Weltmeisterschaft in Brasilien. Am Nachmittag fuhren dann ausgewählte Fußballer neben den Rennfahrern mit zwei dicken, neuen Mercedes-Autos durch die Bergwelt Südtirols. Sie wurden dabei von Filmteams begleitet, die für die Firma Mercedes-Benz arbeiten. Die Filme sollten irgendwann ins Fernsehen und ins Internet geraten, wo der Unterschied zwischen redaktionellem Beitrag und Werbeclip verschwimmt, wenn es gut läuft. Auf den Beifahrersitzen hatten die Nationalspieler Julian Draxler und Benedikt Höwedes Platz genommen, die Landschaft bildete den Hintergrund. Auch Südtirol ist ja gewissermaßen Sponsor der deutschen Mannschaft. Grüne Wiesen, Vogelgezwitscher, gewundene Straßen, Kuhglocken. Die Motoren brummten. Der größte Horror erwächst aus der Idylle. Ein Mercedes wich dem anderen aus, kam von der Strecke ab, fuhr zwei Passanten an und verletzte einen schwer. Ein Rettungshelikopter flog ein, brachte den Mann ins Krankenhaus. Es rumpelte in der Matrixwelt. Der Content geriet für ein paar Stunden komplett durcheinander. In Kommentaren der traditionellen Medien wurde der Unfall mit den beiden anderen großen Nachrichten der Woche verknüpft. Bundestrainer Joachim Löw hatte seinen Führerschein abgeben müssen, und der Dortmunder Fußballspieler Kevin Groß kreutz hatte im Suff gegen die Säule eines Berliner Hotels gepinkelt. Hing das nicht alles miteinander zusammen? Waren das nicht die Gründe, warum Deutschland wieder nicht Weltmeister werden würde? Wie alt war eigentlich Miroslav Klose? Was war mit Manuel Neuers Schulter? Wo waren die Führungsspieler? Und wieso trainierten die Engländer mit Mütze, Handschuhen und langen Unterhosen, um die brasilianische Hitze zu simulieren, und wir nicht? Wieso hielt sich niemand an den großen Wertekatalog des Teammanagers? Es waren die Stunden der Moralisten. Mit den beiden Mercedes schien ein Fußballvolk von der Straße gerutscht zu sein. Am folgenden Tag erschienen vier zerknirschte Menschen auf der Bühne des Südtiroler Medienzelts und lieferten neuen Content. Es war wieder kein Fußballspieler dabei. Dafür ein Polizeihauptkommissar aus Bozen und die Medienbeauftragte von Mercedes-Benz. Dazu der DFB-Pressesprecher und Oliver Bierhoff. Der Pressesprecher sagte: Es war ein Unfall. Wir sind nicht mehr Herr des Handelns. Mit Wir meinte er den DFB und Mercedes. Die Mercedes-PR-Dame sagte, dass sie tief betroffen sei. Oliver Bierhoff sagte, dass er nicht am Unfallort gewesen sei, sondern bei der Golfaktion mit Martin Kaymer. Der Polizeikommissar aus Bozen sagte so gut wie nichts, hatte aber einen lustigen Kinnbart. Der DFB-Sprecher sagte, dies sei eher ein Pressegespräch als eine Pressekonferenz. Oliver Bierhoff sagte, Fahrrad fahren sei auch gefährlich. Langsam schüttelte sich der Content wieder zurecht. Es hieß, alle Fußballer führen gern Auto. Es sei kein Rennen gewesen. Die Strecke sei ordnungsgemäß abgesperrt gewesen. Die Veranstaltung sei eine klassische Sportler-Sportler-Begegnung gewesen. Nico Rosberg wollte sein Sieger- Gen weitergeben. Die Spieler wollten die Produkte kennenlernen. In Brasilien gibt es womöglich eine Aktion mit einem Segler. Aber die Sicherheit stehe im Vordergrund. Es hieß, der DFB-Psychologe musste mit den Spielern Draxler und Höwedes reden, aber auch mit den Autofahrern. Es gehe ihnen besser. Alle waren geschockt. Die Gedanken seien bei den Familien der Verletzten sei Thomas Müller bei einer Freizeitveranstaltung vom Fahrrad gefallen. Anschließend wurde er WM-Torschützenkönig. Neben der Bühne stand ein Mercedes- Auto, als bewachte es die Veranstaltung. Irgendwann sagte die PR-Dame von Mercedes-Benz: Seien Sie sich sicher, wir werden niemanden zurücklassen. Es klang wie das Versprechen eines amerikanischen Soldaten. Je länger die Pressekonferenz dauerte, desto mehr hatte man den Eindruck, der Unfall habe Sponsor und Mannschaft noch enger zusammengebracht. Später erschien Sami Khedira, der genesene deutsche Führungsspieler, auf der Bühne und fasste alles noch einmal zusammen: Die Berge strahlen eine unheimliche Ruhe aus. Der DFB hat eine Topleistung im Vorfeld abgerufen, damit wir uns perfekt vorbereiten können, sagte Khedira und prüfte seine Frisur, die so perfekt saß wie ein Helm. Er schien direkt aus dem Poster schräg hinter ihm getreten zu sein, auf dem verschiedene deutsche Spieler einen Mercedes der C-Klasse bejubeln wie ein Tor. In der Ruhe der Berge plätscherte der Content wie ein klarer Gebirgsbach. Am nächsten Morgen, es war Himmelfahrt, stand der Polizeihauptkommissar aus Bozen, der die Ermittlungen des Unfalls leitet, auf der Tribüne des Südtiroler Sportplatzes und schaute der deutschen Nationalmannschaft beim Aufwärmen zu. Er sah aus wie ein Fan. Alexander Osang DER SPIEGEL 23 /

116 Wir dürfen nie nachlassen SPIEGEL-Gespräch Italiens Fußball-Nationaltrainer Cesare Prandelli über seinen Kampf gegen Gewalt und Rassismus und die Rolle seines Teams als Schrecken der deutschen Mannschaft Prandelli, 56, ist seit 2010 Nationalcoach und führte Italien bei der Europameisterschaft 2012 ins Finale. Vorige Woche verlängerte er seinen Vertrag bis SPIEGEL: Signor Prandelli, in Deutschland sehnen sich Millionen Menschen danach, dass die Nationalmannschaft endlich wieder Weltmeister wird. Was erwarten die Italiener von Ihrem Team? Prandelli: Zunächst geht es uns darum, die Vorrunde zu überstehen. SPIEGEL: Das mag für Sie selbst gelten, aber für Ihre Landsleute? Prandelli: Die wollen natürlich den Titel. Aber wer ein so gewaltiges Ziel erreichen will, der muss etappenweise vorgehen. SPIEGEL: Warum sind Sie so zurückhaltend? Prandelli: Weil unsere Gruppe mit Uruguay, England und Costa Rica sehr anspruchsvoll ist. Es ist die einzige Gruppe mit drei ehemaligen Weltmeistern. SPIEGEL: Bei der Weltmeisterschaft 2010 in Südafrika flog Italien bereits in der Vorrunde raus. Danach übernahmen Sie und führten das Team zum Erfolg zurück. Sind die Erwartungen schon wieder übertrieben hoch? Das Gespräch führten die Redakteure Detlef Hacke und Walter Mayr in Florenz. 116 DER SPIEGEL 23 / 2014 Prandelli: Ja. Aber natürlich haben die Spieler und wir Trainer in Brasilien das gleiche Ziel, von dem die Leute träumen SPIEGEL: den Titel Prandelli: denn wenn ich als Nationaltrainer keine Träume habe, komme ich auch nicht voran auf meinem Weg. SPIEGEL: Als 1861 der Staat Italien gegründet wurde, hieß es: Jetzt müssten die Italiener noch ein vereintes Volk werden. Das hat bis heute nicht recht geklappt. Viele glauben, die Squadra Azzurra halte Norden und Süden des Landes zusammen. Prandelli: Das stimmt ja auch. In vielen Dingen sind wir Italiener unterschiedlicher Meinung, aber wenn unsere Mannschaft spielt, dann ist das ein Augenblick, der alle vereint. Der Fußball vollbringt Wunder. Wie durch einen Zauber kann man 60 Millionen Menschen an einen Tisch bringen. SPIEGEL: Was bedeutet das für Ihre Arbeit? Prandelli: Das bedeutet: Wenn ich gewinne, stehe ich nie allein da. Wenn ich verliere, stehe ich ganz allein auf weiter Flur. Mir werden Tausende Ratschläge unterbreitet, aber für Entscheidungen und deren Konsequenzen bin nur ich verantwortlich. SPIEGEL: Italiens neuer Ministerpräsident Matteo Renzi versucht ebenfalls, Wunder zu vollbringen und das Land aus der Wirtschaftskrise zu führen. Gibt es Parallelen zu dem, was Sie vor vier Jahren begonnen haben? Prandelli: Soziale Probleme zu lösen ist eine ganz andere, eine sehr ernste Aufgabe im Gegensatz zum Fußball, der ein unterhaltsames Spiel sein sollte. Wir reden über Menschen, von Arbeitslosen, von denen manche nicht wissen, wie sie durch den Monat kommen sollen. SPIEGEL: Wird Fußball zu wichtig genommen? Prandelli: Viel zu sehr. Vor allem in Italien. SPIEGEL: Wie wichtig ist er Ihnen? Prandelli: Fußball ist mein Beruf, er gehört zu meinem Leben, aber er ist nicht mein Leben. Im Fußball kann ein Pfostenschuss ins Tor gehen oder daneben. Wir arbeiten jeden Tag daran, dass möglichst der Innenpfosten getroffen wird und der Ball ins Tor geht. Aber wenn nicht? Im Fußball hängt man immer von Unwägbarkeiten ab. Das muss man sich vor Augen halten. SPIEGEL: Hilft Ihnen diese Distanz, dem Druck Ihres Jobs besser standzuhalten? Prandelli: Ja, absolut. SPIEGEL: Sie positionieren sich in gesellschaftlichen Fragen deutlich: gegen die Diskriminierung von Homosexuellen und Immigranten, gegen die Mafia, gegen Geschichtsvergessenheit. In Italiens Stadien allerdings sind Gewalt und Rassismus verbreitet, einige Anführer von Ultra-Gruppen stehen dem organisierten Verbrechen nahe. Im Mai wäre das Pokalfinale fast wegen der Gewaltexzesse rund um das Spiel geplatzt. Wie schätzen Sie die Lage ein? FOTO: MAKI GALIMBERTI / LUZPHOTO / FOTOGLORIA / MONTAGE / ASSIGNMENT FOR GQ ITALIA

117 Nationalcoach Prandelli (in einer Fotomontage für GQ Italia) Sport FOTO: FABRIZIO GIOVANNOZZI / AP / DPA Prandelli: Sie ist kritisch, so kann es nicht weitergehen. Wahr ist, dass wir seit Langem über die Gewalt im Fußball reden, es aber nicht schaffen, sie zu besiegen. Es reicht nicht, bloß zu sagen, es handle sich um ein Problem unserer Gesellschaft und keines des Fußballs allein. SPIEGEL: Kämpfen Sie vergebens? Prandelli: Man kämpft, um seine Ideale zu verwirklichen, da gehören Schwierigkeiten dazu. Wir dürfen nie nachlassen, uns mit diesen Themen auseinanderzusetzen. Ich bin überzeugt: Je mehr Leute den Mut haben, etwas zu unternehmen, desto besser wird die Zukunft aussehen. SPIEGEL: Erwarten Sie das von Ihren Spielern auch? Prandelli: Wir wollen einfach, dass die Spieler ein gewisses Verhalten an den Tag legen und Position beziehen zum Beispiel in Fragen der Gewalt. SPIEGEL: Taugen sie als Vorbilder? Prandelli: Das sollen sie nicht sein. Es geht darum, dass jeder auf eine direkte Frage eine klare Antwort geben kann. SPIEGEL: Einige Spieler der deutschen Mannschaft besuchten vor der Europameisterschaft in Polen und der Ukraine das ehemalige KZ von Auschwitz. Es wurde darüber diskutiert, ob Fußballer an solch einen Ort gehören. Sie waren mit Ihrem Team auch dort. Warum? Prandelli: Um zu zeigen, dass wir trotz eines wichtigen Turniers nicht die Geschichte vergessen. Um zu begreifen, wie weit der menschliche Wahnsinn gehen kann. SPIEGEL: Sie haben 1985 als Spieler von Juventus Turin die Tragödie im Brüsseler Heysel-Stadion miterlebt. Damals lösten Hooligans beim Europapokalfinale eine Panik aus, bei der 39 Menschen ums Leben kamen. Hat Sie dieses Erlebnis geprägt? Prandelli: Ja, auch das meine ich mit menschlichem Wahnsinn. Kürzlich waren von Fans aus Florenz Sprechchöre zu hören, mit denen die Opfer von damals verhöhnt wurden, 30 Jahre danach. Das ist doch verrückt! Man sieht: Du musst immer wieder darauf hinweisen und darfst nicht vergessen, was geschehen ist. SPIEGEL: Viele Brasilianer protestieren gegen die WM, gegen Korruption und Gewalt. Vermutlich wird es auch während des Turniers zu Unruhen kommen. Ihre Spieler werden damit konfrontiert sein. Bereiten Sie sie darauf vor? Prandelli: Vor einem Jahr, beim Confed Cup in Brasilien, waren in allen Medien die Bilder davon zu sehen. 97 Prozent der Journalistenfragen galten den Protesten. Unsere Routen vom Hotel ins Stadion wurden aus Sicherheitsgründen geändert. Es war nicht zu übersehen, welches Unbehagen diese Lage in der Mannschaft auslöste. SPIEGEL: Was haben Sie daraus gelernt? Prandelli: Wir werden nicht so tun, als ob alles in Ordnung wäre. Natürlich werde Stürmer Balotelli Aaah, den Retter gefunden ich meine Mannschaft hauptsächlich auf die Spiele vorbereiten, aber wenn es zu Unruhen kommen sollte, werden wir darü - ber sprechen. Das lässt sich gar nicht ausblenden. SPIEGEL: Italien gilt bei großen Turnieren als Schrecken der deutschen Mannschaft Prandelli: Ich hoffe, das wird so bleiben. SPIEGEL: Warum bloß spielt Italien immer so kaltblütig, diszipliniert und erfolgsorientiert? So unitalienisch? Warum klappt das immer ausgerechnet im Fußball so gut? Prandelli: Ich sage ja: Fußball wirkt Wunder. (lacht) Es scheint, als würden diese Eigenschaften von Spielergeneration zu Spielergeneration weitervererbt. Sie haben recht, die meisten Italiener besitzen diese Tugenden nicht, aber wenn eine Mannschaft wirklich zusammengeschweißt ist, dann wird sie unbesiegbar. SPIEGEL: Einer Ihrer wichtigsten Spieler ordnet sich höchst ungern unter: Stürmer Mario Balotelli. Wie wollen Sie ihn bis zur WM in den Griff kriegen? Prandelli: Er ist vor einem Jahr aus England zurückgekommen, zum AC Mailand, und hat in den ersten 13 Spielen 12 Tore geschossen. Alle dachten: Aaah, jetzt haben wir den Retter der Heimat gefunden. SPIEGEL: Sein protziger und selbstverliebter Lebensstil kommt weniger gut an. Prandelli: Die Leute kritisieren ihn dafür, dass er außerhalb des Platzes ein Verhalten an den Tag legt, das ihnen offenbar nicht gefällt. Es entspricht ja auch nicht wirklich einem Champion. SPIEGEL: Über die deutschen Fußballer wird das Gegenteil behauptet: Sie seien zu brav. War es kein Zufall, dass ausgerechnet Balotelli vor zwei Jahren im EM-Halbfinale die beiden Treffer gegen die deutsche Elf erzielte? Prandelli: Ich bin keineswegs gegen Spieler, die nonkonform sind und Fantasie zeigen. Ich versuche nur, manchen beizubringen, dass es hilft, wenn sie sich nicht den anderen gegenüber provozierend verhalten. Ein großer Spieler hat es nicht nötig, sich durch Provokation zu stimulieren. SPIEGEL: Was ist wichtiger: das Kollektiv oder der Individualist? Prandelli: Es kommt auf die Mischung an. Manchmal muss man einem einzelnen Spieler klarmachen, dass er sich anders verhalten muss. Ein Beispiel: 2006 hat mein Vorgänger Marcello Lippi im WM-Halbfinale gegen Deutschland Francesco Totti aus dem Zentrum an den Rand des Spielfelds gezogen. Weil sich die deutsche Elf trotzdem auf Totti konzentrierte, war der Weg durch die Mitte für uns frei. So brachte uns Totti den Sieg ein. Weil er sich unterordnete. SPIEGEL: Den deutschen Nationalspielern wird vorgeworfen, sie würden zu oft in Schönheit sterben. Statt entschlossen aufs Tor zu stürmen, spielten sie am Strafraum lieber noch ein paar Pässe. Dabei geht es um die Grundsatzfrage, wie sehr Schönheit und Erfolg zusammenpassen. Verfolgen Sie diese Diskussion? Prandelli: Ein bisschen, aber ich sehe darin keinen Gegensatz. Deutschland hat wunderschöne Spiele gezeigt und dabei im Strafraum pragmatisch gehandelt. Das ist der einzige Weg zum Erfolg. SPIEGEL: Nie war Fußball schneller, athletischer, technisch besser und taktisch raffinierter als heute. Sehen wir den schönsten Fußball, den es je gab? Prandelli: Ich glaube nicht. In den Sieb - zigern schwärmte man vom totalen Fußball der Niederländer, in den Achtzigern von Arrigo Sacchis Präzisionsspiel beim AC Mailand, jetzt gilt Pep Guardiolas Art zu spielen als Nonplusultra. Aber am Ende muss das Ergebnis stimmen, sonst verliebt sich keiner in irgendeine Art des Fußballs. SPIEGEL: Als Pep Guardiola beim FC Bayern München anfing, sagte er, er wolle, dass seine Mannschaft vor allem schönen Fußball spiele. Ohne Schönheit kein Erfolg? Prandelli: Es gibt ja nicht nur eine Art, schönen, ansehn - lichen Fußball zu spielen. Bayern München spielt anders als Borussia Dortmund, beides sieht spektakulär aus. Aber wer spielt schöner? Wenn man beiden Teams zuschaut, langweilt man sich nie. Das ist der Charme des Fußballs. SPIEGEL: Würde die Bundesliga Sie reizen? Prandelli: Ich schließe nichts aus, überhaupt nichts. Jedes Mal, wenn ich mit Kollegen spreche, die Erfahrungen im Ausland sammeln, merke ich, dass der Fußball dort anders ist als bei uns. Vor Kurzem habe ich mich mit Carlo Ancelotti unterhalten. Er war schon Trainer in Italien, England, Frankreich und arbeitet jetzt bei Real Madrid. Er sagte, er sei in all seinen Jahren im Ausland kein einziges Mal von einem Fan angepöbelt worden. So etwas kann man sich in Italien gar nicht vor - stellen. SPIEGEL: Signor Prandelli, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. DER SPIEGEL 23 /

118 Kultur Ausstellungen Späte Ehre Mitte Mai war es wieder so weit. Bei Sotheby s in New York wurde für sehr viel Geld eine sehr bunte, sehr metallische Skulptur von Jeff Koons versteigert. Popeye, so der Titel des Werks, ging für 28,2 Millionen Dollar an einen Kasinobesitzer aus Las Vegas. Koons Kunst ist ein Spiel mit der Populärkultur seines Landes. Er arbeitet daran, als Künstlerpersönlichkeit ebenso zum Inbegriff des Amerikanischen zu werden wie der von ihm verewigte Comic-Held. Doch die Museen New Yorks ignorierten ihn weit gehend. Dabei zog er schon 1977 in diese Stadt und arbeitete jahrelang in Manhattan als Broker an der Börse. Später richtete er in New York ein großes Atelier ein und wurde zum teuersten lebenden Künstler der Welt. Nun belohnt ihn das Whitney Museum ab Ende Juni mit einer Ausstellung seiner Gemälde und Skulpturen. Koons, der im nächsten Jahr 60 Jahre alt wird, hat sein Ziel erreicht. uk Koons-Werk Tulips, 1995 bis 1998 Zeitgeschichte Russische Gespenster Auf dem Schreibtisch von Angela Merkel steht in einem Silberrahmen ein Porträt der russischen Zarin Katharina II., die der große französische Aufklärer Voltaire bewunderte und wegen ihrer Tatkraft pries. Die Zarin scheint ein Vorbild Merkels zu sein, aber vielleicht wäre es mittler - weile an der Zeit, dass sich Merkel in ihrem aufgeklärten Absolutismus von ihrer Katharina verabschiedet. Denn der Griff in die russische Geschichte erweckt Gespenster der Vergangenheit, die dem europäischen Selbstverständnis der Gegenwart nicht dienlich sind. So hielt sich Katharina (1729 bis 1796) für befugt, in Polen nach dem Rechten zu sehen, dieses alte Bollwerk des Westens gegen den Osten zu liquidieren und Polen zu teilen. Das entspricht in beunruhigend genauer Analogie den Absichten Putins in der Ukraine. Auch die Halbinsel Krim hatte sich die Zarin kriegerisch ange - Porträt von Katharina II., 1787 eignet; das so entstandene süd - liche Neurussland besichtigte sie 1787 demonstrativ auf ihrer berühmten Reise auf die Krim, wo ihr die Potem - kinschen Dörfer vorgeführt wurden. Jedenfalls hatte Katharina bis zu ihrem Tod die unter Putin anscheinend wiederkehrenden historischen Ziele Russlands im Westen erreicht: Das russische Land war im Wesentlichen gesammelt. So weit ist Putin noch nicht. Aber er nutzt wie alle Zaren zwischen Peter dem Gro ßen und Katharina der Gro ßen die Gelegenheiten und Möglichkeiten, welche die Geschichte ihm bietet, und setzt, ideologisch verbrämt, die angeblich historischen Auf - gaben in aggressive Expan - sionspolitik um. Der Herr im Kreml hat sich griffsicher ebenfalls ein passendes Vorbild für sein Treiben aus - gesucht: In seinem Vorzimmer hängt ein imposantes Porträt Nikolaus I., des Gen- darmen Europas (1796 bis 1855), der in seiner obsessiven Revolu tionsfurcht Aufstände in Warschau 1831 und in Ungarn 1849 niederschlug. Daheim installierte er ein berüchtigtes Polizei- und Geheimdienstregime. Sein Imperium ruhte auf der unheiligen Dreifal tigkeit von Autokratie, Orthodoxie und Volkstum. Durch das Nikolaus-Porträt zeigt Putin allen Besuchern, welche Rolle er Russland beimisst: die der reaktionären Großmacht in Europa. Im Krim-Krieg, der 1853 begann, stoppten die Briten und Franzosen Nikolaus. Die Preußen hielten sich abseits. Ein Schelm, der Böses dabei denkt. lck FOTOS: JEFF KOONS (L.O.); ULLSTEIN BILD (L.U.); P. DUFKOVA / DIE ILLUSTRATOREN / DER SPIEGEL (R.O.); CONCORDE FILMVERLEIH (R.U.) 118 DER SPIEGEL 23 / 2014

119 Literatur Nur das Meer war Zeuge Sie ertrinken vor unseren Liegestühlen, wenige hundert Kilometer von den Bars unserer Mittelmeerstrände entfernt: unzählige Flüchtlinge, die an Libyens Küste auf ihr Boot warteten oder an den Zäunen der spanischen Ex - klaven in Marokko rüttelten. Eine Ahnung, was in diesen Menschen vorgeht, erlaubt Iman, das Romandebüt des 32-jährigen, aus Benin stammenden und in Kanada lebenden Ryad Assani-Razaki. In seinem schmerzhaften Buch packt der Autor große Themen an, das postkoloniale Afrika und die Würde des Menschen. Er erzählt von Toumani, einem Jungen, der in einem nicht genannten Land zur Welt gekommen ist und im Alter von sechs Jahren für umgerechnet 23 Euro verkauft wird. Sein Besitzer schlägt ihn fast tot und wirft ihn in einen Abflussschacht. Die Ratten nagen ihn an, doch ein anderer Junge, Iman, rettet ihn. Das Buch beschreibt die Freundschaft zwischen zwei Jungen, die alle Zeiten überdauern soll und Kino Coming in Wenn Mutter das Essen fertig hat, ruft sie: Die Jungs und Guillaume, zu Tisch! Dabei ist auch Guillaume ein Junge, aber weil er für die Kaiserin Gallienne in Maman und ich an diesem hehren Anspruch zu zerbrechen droht. Iman will mehr vom Leben als ein paar Geldscheine die Woche in der Tasche, eine gute Frau, ein Moped und eine Wohnung. Er will nach Europa. Dahin, woher sein Vater kam. Dahin, woher Anna kam, das Mädchen, das er vergangenen Sommer liebte. Nur, was wird dann aus Toumani? Assani-Razaki erzählt Tou - manis und Imans Geschichte in jedem Kapitel aus einer anderen Perspektive. Entweder lässt er die beiden selbst zu Wort kommen oder ihre Familienangehörigen und Freunde. So gewinnen die zwei Helden mehr und mehr an Komplexität. Am Ende schafft es der Autor, die vielen Stränge zu einem großen Finale zusammenzuknoten. Ob Iman aber die Reise überlebt, das weiß nur das Mittelmeer. red Ryad Assani- Razaki Iman Aus dem Französischen von Sonja Finck. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin; 320 Seiten; 22,90 Euro. Sisi schwärmt und ihm alles Männliche fremd ist, wird er in seiner Familie behandelt wie ein Mädchen. Maman und ich, der Film des Franzosen Guillaume Gallienne, ist eine Coming-in-Komödie. Der Regisseur spielt sich selbst als einen jungen Mann, dem alle einreden, dass er schwul sei. Dann entdeckt er eines Tages die Frau, das unbekannte Wesen. Gallienne begreift den Schwulenfilm als eigenes Genre, stellt ihn auf den Kopf und sieht vergnügt dabei zu, wie die Klischees herauspurzeln. Vom Mobbing beim Schulsport bis zu den Gesprächen mit der dominanten Mutter klappert er die Standardszenen ab, gewinnt ihnen aber immer wieder neue Seiten ab. Das ist kurzweilig und erhellend. lob Claudia Voigt Mein Leben als Frau Viel zu schön Ich hatte Geburtstag. Ich bin 48 geworden. Und obwohl Geburtstage auch eine unerbittliche Erinnerung daran sind, dass man älter wird, hatte ich einen schönen Tag. Es gab ein kleines Fest, es ging mir gut. Bis ich wenige Tage später den Film Grace of Monaco im Kino sah. Der Film erzählt von der unglücklichen Ehe Grace Kellys mit dem monegassischen Fürsten Rainier. Bei ihrer Hochzeit war Grace Kelly 26 Jahre alt. Sie wird in dem Film von Nicole Kidman gespielt, die diesen Monat ihren 47. Geburtstag feiert. Das Werk erhielt vernichtende Kritiken, aber der große Altersunterschied zwischen der Hauptdarstellerin und der Hauptfigur schien kaum einen Kritiker so zu verärgern wie mich. Kidman ist mehrfach in Großaufnahme zu sehen, ihr Gesicht wirkt wie eine Werbefläche für Botox. Ist es mittlerweile selbstverständlich geworden, fragte ich mich, dass Frauen, die fast fünfzig sind, für Mitte zwanzig durchgehen? Kidman ist Hollywood-Schauspielerin und zählt zu einer Spezies, für die eigene Regeln gelten. Aber Frauen wie sie prägen Frauenbilder. Die Zahl der Botox- Anwendungen in Deutschland ist in den vergangenen zehn Jahren um 400 Prozent gestiegen. Mitte Mai trat beim britischen Glyndebourne-Festival die junge, talentierte Opernsängerin Tara Erraught auf. Daraufhin ereiferte sich die seriöse englische Presse über die Statur der Sängerin, sie sei mollig und unansehnlich, schrieben die Zeitungen und zeigten Fotos, auf denen eine Frau zu sehen war mit einer Figur, wie unzählige Frauen sie haben. Die Popsängerin Adele war schon ein Superstar, als sie von Karl Lagerfeld erfahren musste, sie sei etwas zu fett. Das sind nur einige Beispiele für eine Botschaft, die zunehmend unverhohlen geäußert wird: Frauen können nicht jung genug aussehen, und sie können gar nicht dünn genug sein. Zwei erfolgreiche Journalistinnen haben in dem ame - rikanischen Magazin The Atlantic unlängst eine Titel - geschichte über fehlendes weibliches Selbstvertrauen veröffentlicht. Sie berichten, dass sie im Laufe ihrer Karriere viele einflussreiche Frauen interviewt haben. Wir hofften, aufschlussreiche Beispiele für ureigenes, blühendes weibliches Selbstvertrauen zu finden, aber je genauer wir hinschauten, desto deutlicher wurde der Mangel daran. Woran liegt das?, fragen die Reporterinnen. Eine ihrer Antworten lautet: Ein braves Mädchen zu sein funktioniert vielleicht in der Schule, aber nicht im Leben. Das Streben nach Lob begleitet viele Frauen viel zu lange. Ihr Gefühl, nicht gut genug zu sein, nicht jung genug, nicht schön genug, steht ihrem Erfolg im Wege. Denn Erfolg hängt von Kompetenz und Selbstvertrauen gleichermaßen ab. Der Perfektionismus, den eine Nicole Kidman verkörpert und der von Künstlerinnen wie Tara Erraught verlangt wird, wirkt einschüchternd und macht schlechte Laune. Dicksein und sichtbares Altern sind mittlerweile kaum mehr gesellschaftsfähig. Könnte beides bitte dringend gerettet werden. An dieser Stelle schreiben drei Kolumnisten im Wechsel. Nächste Woche ist Elke Schmitter an der Reihe, danach Dirk Kurbjuweit. DER SPIEGEL 23 /

120 Kultur Unser Mann in Barcelona Zeitgeschichte Der deutsche Spion Paul Fidrmuc meldete den Nazis den wahren Ort des D-Day. Nach dem Krieg arbeitete er als SPIEGEL-Korrespondent in Spanien. Zeit für eine Aufarbeitung. Von Thomas Hüetlin und Hauke Janssen Abwehragent Fidrmuc in Portugal während des Zweiten Weltkriegs 120 DER SPIEGEL 23 / 2014

121 FOTOS: NATIONAL ARCHIVE (L.); ROBERT CAPA / INT. CENTER OF PHOTOGRAPHY / MAGNUM PHOTOS / AGENTUR FOCUS (R.O.) Drei Tage vor der Landung der Alliierten in der Normandie ging bei der Abwehr, der Geheimdienstzentrale in Berlin, folgende Nachricht ein: Invasion Pläne: Der Plan um La Manche wird favorisiert. Er beinhaltet eine Luft- und eine Wasser-Operation gegen die Kanalinseln, Landungen östlich und westlich des La Manche Departments voraussichtlich bei Isigny (11' östlich von Carentan an der östlichen Seite von Cherbourg). Und mehr oder weniger war es das, was im Morgengrauen des 6. Juni 1944 auch geschehen sollte: Auf einer Breite von fast 100 Kilometern stürmten Soldaten der Alliierten die Strände der Normandie, unterstützt von Fallschirmjägern und 6480 Schiffen. In den Befestigungsanlagen direkt am Strand standen ihnen gerade einmal 2000 Wehrmachtsoldaten gegenüber, während die 15. Armee mit ihren geschätzt Soldaten die Invasion in dem Küstenabschnitt um Calais erwartete. Die Operation Overlord besiegelte die endgültige Niederlage Deutschlands. Die Nachricht hatte ein Agent der Deutschen in Lissabon abgesetzt. Sein Tarn - name war Ostro, sein richtiger: Paul Fidrmuc (ausgesprochen: Fiedermutz). Er war so etwas wie ein Star unter den deutschen Agenten. Der damalige Abwehrchef Wilhelm Canaris hatte ihm während des Krieges eine juwelenbesetzte Tabakdose aus dem Besitz Napoleons geschenkt. Walter Schellenberg, Chef der deutschen Geheimdienste, bezeichnete Fidrmuc nach dem Krieg in einem Verhör der Amerikaner als besten Agenten für militärische Aufklärung in Portugal. Und Fidrmuc Berliner Führungsoffizier Wilhelm von Carnap hatte so viel Respekt, dass er es nicht wagte, seinen Mann in Lissabon nach seiner Arbeitsweise zu befragen. Die Gegenseite hielt den deutschen Meisterspion trotz oder vielleicht gerade wegen seiner Begabung, Dinge auch zu erfinden, wenn er sie nicht herausfinden konnte, für genial. Eine Primadonna, die nicht gerügt werden durfte, schrieb Guy Liddell, Chef der Spionageabwehr des britischen Geheimdienstes MI5 in sein Tagebuch. Und der Brite Roger Hesketh, Mitglied einer alliierten Einheit zur Irreführung der Deutschen, nannte Fidrmuc the loose horse in the race, ein unberechenbares Pferd, auf das man nicht setzen konnte. Denn anders als die anderen gut 120 deutschen Agenten, die die Engländer vor der Invasion kontrollierten und dazu benutzt hatten, den Deutschen falsche Informationen über Ort und Zeitpunkt der Invasion zukommen zu lassen, hatte Fidrmuc nie die Seiten gewechselt. Die Meldung über die Landung der Alliierten war Fidrmuc größter Scoop. Berlin Invasion der Alliierten 1944, Fidrmuc-Groschenroman von 1950,Ostro traf ins Zielgebiet traute zwar Fidrmuc Meldung nicht, die Truppen blieben auf Calais fixiert, aber beim Feind erzielte sie ihre Wirkung:,Ostro hat ins Zielgebiet getroffen, notierte Guy Liddell am Vorabend der Invasion.,Ostro gab eine korrekte Vorher - sage über die Invasion, schrieb Hesketh. Fidrmuc bekam die höchste Auszeichnung, die ein Meisterspion bekommen konnte: Die Briten beschlossen, ihn auszuschalten. Fidrmuc hat den Krieg überlebt, er starb erst 1958 und machte bis dahin auf zwei - fache Weise Karriere: als literarische Figur in dem Agentenroman Unser Mann in Havanna des Schriftstellers Graham Greene, der selbst während des Krieges für den Geheimdienst tätig war; und er machte Karriere als Journalist bei einem deutschen Nachrichten-Magazin. Das SPIE- GEL-Impressum weist ihn in den Jahren 1952 und 1953 als Korrespondenten in Barce lona aus, und auch in den Jahren danach arbeitete er von Barcelona aus für die Redaktion in Hamburg. Unser Mann in Barcelona. Unser Mann, ein Meisterspion, ein Agent mit Fantasie. Unser Mann, der die schönen Frauen liebte und das schöne Leben in Lissabon. Unser Mann, der als junger Bursche deutscher Meister im Rudern wurde und später die Costa Brava per Boot erkundete. Unser Mann, eine Primadonna. Unser Mann, der den D-Day verriet. Und unser Mann, ein Mitglied der NSDAP, der bis zum Ende an den Sieg des Vaterlandes glaubte. Unser Mann ist auch ein unbekannter Mann. Keine Biografie wurde je über ihn geschrieben, kein SPIEGEL-Artikel, kein Zeitungsartikel, der sein Leben und Wirken reflektiert hätte. Ein paar Beiträge in Fachpublikationen, die über das Rätsel Ostro streiten, ein paar Seiten in einem unbeachteten Buch des Journalisten Günter Peis, das vor mehr als 40 Jahren erschienen ist. Ansonsten: nichts. Aber in den British National Archives finden sich Akten mit roten Stempeln, Secret, Top Secret, Most Secret, im Bundesarchiv Dokumente der Reichsschrifttumskammer über seine Parteizugehörigkeit, im SPIE- GEL-Archiv über hundert Seiten handschriftlich verfasste Erinnerungen Fidr - muc, die nach Kriegsende in den späten Vierzigerjahren entstanden sind. Dazu Korrespondenz mit der Redaktion, per - sönliche Briefe an SPIEGEL-Herausgeber Rudolf Augstein und Zeugnisse ehemaliger SPIEGEL-Mitarbeiter, die heute alle außer dem damaligen Redaktionsleiter Hans Detlev Becker verstorben sind. Onkel Paul war fesch und pfiffig, sagt Helmut Fidrmuc, 85. Er lebt in Heidelberg, vor ihm in seinem Wohnzimmer liegt ein Foto in Schwarz-Weiß aus dem Jahr Eine große Familienfeier, eine Doppelhochzeit, 31 Personen, vorn die Großeltern, die Frauen in eleganten Kleidern, die Männer im Frack. Ganz hinten steht einer, der Zylinder trägt und eine weiße Nelke im Knopfloch, sein Blick ein wenig spöttisch und leutselig zugleich. Als gehöre er dazu und dann wieder nicht. Onkel Paul. Helmut Fidrmuc ist, zusammen mit seinen beiden Schwestern, die heute in den USA leben, einer der letzten Nachkommen der Familie. Nach dem Krieg habe er den Onkel noch einmal Mitte der Fünfzigerjahre in Heilbronn gesehen. Man habe damals anerkennend über ihn gesprochen: Der Onkel war beim Canaris. Paul Fidrmuc wurde 1898 geboren, als Sohn eines Notars wuchs er im Städtchen Lundenburg auf, dem heutigen Břeclav, 70 DER SPIEGEL 23 /

122 Kultur Fidrmuc-Leumundszeugnis der NSDAP Hamburg von 1940, Fidrmuc-Familienfeier in Lundenburg 1928 Die Welt der K.-u.-k.-Monarchie vor ihrem Untergang Kilometer nördlich von Wien in Südmähren. Es war die Welt der K.-u.-k.-Monarchie. Fast alles in diesem Seelen-Ort gehörte dem Fürsten von Liechtenstein: der Wald, das Sägewerk, die Brauerei. Das Oben und das Unten waren klar geregelt. Die Fidrmuc waren oben. Der Erste Weltkrieg brachte diese Ordnung zum Einsturz. Fidrmuc geriet als Reserveoffizier in italienische Kriegsge - fangenschaft, flüchtete nach wenigen Tagen in die, wie er in seinen Erinnerungen schreibt, von Zerstücklung und Revo - lution, Hunger und Niedergeschlagenheit geschlagene Heimat. Die Heimat Lundenburg gehörte inzwischen zur Tschechoslowakei, auf den Behörden und in der Schule wurde Tschechisch gesprochen. Fidrmuc setzte sich, wie er schreibt, an das Selbstbestimmungsrecht der Völker glaubend gegen die einsetzenden Drangsalierungen zur Wehr, er schloss sich Aufrührern an, wurde bald gefasst und, wie er stolz bekennt, zu einer langjährigen Zuchthausstrafe verurteilt, aber ihm gelang die Flucht. In Wien begann er 1920 mit dem Stu - dium der Philologie, das er aber rasch abbrach, nachdem die Familie ihr Vermögen während der Inflation in Österreich ver - loren hatte. Ende des Jahres ging er nach Lübeck, wo er ins Metallexport-Geschäft einstieg. Fidrmuc war ein großer, athletischer Typ, er hatte Charme, die Frauen mochten ihn. Der britische Geheimdienst stufte ihn später als hochintelligent ein, im Laufe seines Lebens lernte er sechs Sprachen: Englisch, Portugiesisch, Italienisch, Französisch, Dänisch und Spanisch. Bei den Deutschen Meisterschaften 1922 in Trier saß er im Sieger-Achter des Lübecker Ruder- Klubs, ein Jahr später belegte er den dritten Platz im Vierer ohne heiratete der Sonnyboy eine Dänin namens Rigmor, eine Blondine mit Engelsgesicht, frech, aufreizend, mit einem Hang zur Demimonde. A blonde always to be 122 DER SPIEGEL 23 / 2014 found in the English Bar, sollte der britische Geheimdienst später in Lissabon über sie notieren. Und ab Mitte der Zwanzigerjahre versuchte sich Fidrmuc als Journalist. Er schrieb für das britische Fachblatt The Ironmonger und das amerikanische Magazin Iron Age. Er war unterwegs in einem Metier, das aufs Engste mit der Rüstungsindustrie verbunden war. Erste Kontakte zur deutschen Abwehr gab es Im Jahr 1935 verdächtigte die Gestapo ihn, ein tschechischer Agent oder gar Doppelagent zu sein, er wurde verhaftet und saß einen Monat lang im Gefängnis Columbia-Haus am Tempelhofer Feld in Berlin. Im selben Jahr fiel Fidrmuc auch erstmals dem bri - tischen Geheimdienst auf, weil er Bücher, Karten und Dokumente in London ge - ordert hatte. In seinen Erinnerungen listet er seine Erfolge auf: Vor der Annexion des Sudetenlandes spionierte er die Befestigungsanlagen in Tschechien aus. Vor dem Anschluss Österreichs tat er sich in Wien um. Vor dem Überfall auf Polen versorgte Fidrmuc den Abwehrchef Canaris mit den Aufmarschplänen des polnischen Generalstabs. Vor der Besetzung des Balkans beschaffte er die Produktionspläne der Ölraffinerien von Ploiesti. Nebenbei will er auch Zugang gehabt haben zu Geheimakten der französischen und belgischen Rüstungsindustrie. Einige Monate vor der Besetzung Dänemarks ließen sich die Fidrmuc in Kopenhagen nieder. Auch dort war er als Agent im Einsatz, zusammen mit seiner Frau wurde er im November 1939 verhaftet und verurteilt, aber die Deutschen tauschten ihn, so berichtet es Fidrmuc in seinen Erinnerungen, nicht ohne Stolz, gegen gleich vier skandinavische Spione aus. Vier zu eins, das war 1940 der Wechselkurs für den Agenten Fidrmuc. Die Abwehr hatte ihn als kühl agierenden Profi schätzen gelernt. Als jemanden, der Leute anwarb und wieder fallen ließ. Als jemanden, der in einem undurchsichtigen Gewerbe öfter richtig lag als falsch. Als einen fährtensicheren Spürhund. Fidrmuc schreibt in seinen Erinnerungen: Der Nachrichtendienst ist eine Beschäftigung, die dazu reizt, seine geistigen Fähigkeiten in einem eleganten, wenn auch gefährlichen Spiel einzusetzen. Es gibt Unterschiede wie etwa in einem graziösen Florett-Duell, bei dem man sich vorher höflich grüßt, und dem Gebrüll beim Aufeinanderschlagen mit dicken Holzknüppeln. Und man muss im Nachrichtendienst sine ira et studio (ohne Zorn und Eifer) vorgehen. Hass und Abneigung trüben den Blick. Nur wer sich in den Feind hineinfühlen kann with malice to none, wie Abraham Lincoln meinte, kann das Wesentliche von wichtigen Meldungen erfassen und richtig den Einsatz seiner Verbindungen beurteilen. Fidrmuc, ein Dandy als Agent, gebildet, geschmeidig, ge - wissenlos. Er hing an seinem seltsamen Beruf, an den Privilegien, dem Thrill, er war der Überzeugung, Allerwichtigstes für Deutsch - land tun zu können, die Weichen zu stellen in einem Krieg, von dem er wollte, dass er siegreich endete. Ich habe in diesem Krieg niemals eine Uniform getragen, und dennoch gab mir die unverbrüchliche Verbundenheit mit den Kameraden an der Front die Stärke auszuhalten, schreibt Fidrmuc. Fidrmuc war auch von Mai 1939 an Mitglied der NSDAP. Im April 1940 bestätigte die Gauleitung Hamburg, dass über ihn in politischer und charakterlicher Hinsicht nichts Nachteiliges bekannt sei. In seinen Erinnerungen spricht sich Fidrmuc nie grundsätzlich gegen den National - sozialismus oder Hitler aus. Die Konzentrationslager waren für ihn nur eine Art Verfahrensfehler. Schließlich sind wir ja Deutsche und keine Barbaren, schreibt Fidrmuc. Im Kriege besonders muss der

123 Jüdische Emigranten in Lissabon 1941, Fidrmuc portugiesische Aufenthaltsgenehmigung von 1945 Eine Stadt der Gestrandeten, Geschäftemacher und Geheimagenten FOTO: ULLSTEIN BILD (M. R.) Staat mit eiserner Strenge gegen seine Gegner vorgehen. Aber auch nie dabei die menschliche Würde vergessen. Und genützt haben die KZs dem Dritten Reiche nichts. Nur geschadet. Ihre Einrichtung und Ausbau war, wie Talleyrand richtig bemerkte, mehr als ein Verbrechen, es war eine Dummheit. Den Holocaust und die Vernichtungslager im Osten erwähnt er nicht. Seine Worte verraten weder Scham noch Trauer. In Fidrmuc Erinnerungen findet sich kein Verständnis für seine Vorgesetzten bei der Abwehr, für Männer wie Wilhelm Canaris, die ihren Widerstand gegen Hitler mit dem Leben bezahlten. Canaris, Chef der deutschen Abwehr, war früh an Umsturzplänen gegen Hitler beteiligt gewesen verlor er seinen Posten, nach dem Fund seines Tagebuchs wurde er verhaftet und schließlich im April 1945 im Konzentrationslager Flossenbürg gehenkt. Seine letzte Nachricht, geklopft an die Wand eines Zellennachbarn, lautete: Bei der letzten Vernehmung Nase gebrochen. Meine Zeit ist um. War kein Landesverräter. Habe als Deutscher meine Pflicht getan. Sollten Sie weiterleben, grüßen Sie meine Frau. Die Rückkehr Deutschlands zur Großmacht war für Fidrmuc nur in einem Obrigkeitsstaat vorstellbar wie übrigens auch für die meisten Offiziere der Abwehr um Canaris, die erst in Opposition zu Hitler gerieten, als der zum Krieg drängte. Die nationalsozialistische Revolution konnte ohne drakonische Mittel besonders in der ersten Zeit nicht auskommen. Der Konflikt mit Russland stand früher oder später bevor, schreibt Fidrmuc. Ab 1940 sollte sich Fidrmuc um das Ausspionieren der Westmächte England und USA kümmern. Er ging mit seiner Ehefrau Rigmor nach Lissabon, um dort ein Agentennetz aufzubauen den Ostro -Ring. Das neutrale Lissabon war zu dieser Zeit einer der letzten Fluchtpunkte Europas. Hier fanden sich Waffenhändler, Spione, Deserteure und all jene, die wegwollten von diesem Kontinent und bereit waren, jeden Preis zu bezahlen für einen Platz auf einem Schiff oder in einem Flugzeug nach Amerika oder wenigstens nach England. Ein Handelsplatz für Nachrichten und für Deals aller Art. Das Juwelengeschäft hat seit je seinen Mann ernährt, schreibt Fidrmuc. Mit den Emigranten wurde auch eine große Menge Schmuck an Portugals Gestade gespült. Aus Deutschland Broschen, aus Wien alte, schöne Ohrringe und besonders Gold dosen. Aus Holland und Belgien kamen ungefasste Brillanten, aus Frankreich Colliers, aus Balkanländern Armspangen. Schmuck wurde also genug angeboten. Warum nicht davon Gebrauch machen? In diesem Lissabon der Agenten, Geschäftemacher und Gestrandeten gab es zahlreiche deutsche Agenten: darunter Johnny Jebsen, ein wohlhabender Ree - derssohn aus Hamburg, und Duško Popov, ein Serbe. Die beiden glaubten bis zu Fidrmuc Ankunft, eine Art Monopol in Lissabon zu haben, wie Popov in seinen Memoiren schrieb. Aber Jebsen und Popov arbeiteten nicht nur für die Abwehr. Ihre eigentliche Loyalität gehörte dem MI5. Popov hatte dort den Decknamen Tri - cyle, Jebsen hieß Artist. Sie führten ein wildes Leben in Lissabon. Geld, Autos, Frauen, Partys, zahlreiche Besuche im Kasino in Estoril, vor allem Jebsen war ein stadtbekannter Playboy, der sich in seinem Rolls- Royce von seiner Villa im Seebad Estoril nachts in die Stadt fahren ließ. In den Bars, so erzählt es Popov, zeigte Jebsen, ganz der anglophile Hanseat, mit einem Regenschirm auf die Mädchen. Du da, du da, du da und du da hinten auch. Am nächsten Morgen bezahlte er, wenn er knapp bei Kasse war, mit Vasen, Tellern, silbernen Aschenbechern, was gerade so herumstand in seinem Haus. Jebsen und Popov gehörten zu dem Netz britischer Agenten, die die Deutschen mit falschen Informationen über die bevorstehende Invasion versorgten. Sie verkehrten in denselben Zirkeln wie Fidrmuc. Die Abwehr bietet Fidrmuc Deckung, klagte Jebsen. Niemand vor Ort dürfe Fidrmuc kontrollieren. Die Gewährsleute haben nur Befehl, seine Informationen entgegenzunehmen und durch einen Sonderkurier nach Berlin befördern zu lassen. Jebsen alias Artist, der Reederssohn aus Hamburg, wurde am 29. April 1944 von den Deutschen im Büro der Abwehr in der Rua Buenos Aires zusammengeschlagen, betäubt und in einer Blechkiste im Kofferraum ins französische Biarritz entführt. Dort ging es per Flugzeug weiter ins Gestapo-Hauptquartier in Berlin. Wochenlang wurde Jebsen gefoltert. Er verriet nichts von den fingierten Invasionsplänen der Alliierten. Im September 1944 kam er ins KZ Sachsenhausen, wo sich im Februar 1945 seine Spur verliert, nachdem ihn die Gestapo zu einem Verhör abgeholt hatte erst erklärte ihn ein Berliner Gericht für tot. Seinen Freund und Agentengefährten Popov hatte Jebsen während des Jura - studiums in Freiburg kennengelernt, beide verabscheuten die Nazis. Popov machte nach dem Krieg Karriere als Geschäftsmann und starb im Alter von 69 Jahren in Südfrankreich. Für den britischen Schriftsteller Ian Fleming, der Anfang der Vierzigerjahre für den Geheimdienst in Lissabon tätig war und regelmäßig in Estoril das mondäne Kasino besuchte, war Popov eines der Vorbilder für den Geheimagenten James Bond. Popov und Jebsen sind Legenden geworden, Helden im Kampf gegen die Nazis. Fidrmuc war ihr Counterpart, ein Antiheld. In den Monaten vor der Invasion hatte es auch Anwerbungsversuche der Briten gegeben, denen Fidrmuc jedoch widerstand. Sie versuchten auch, Fallen zu stel- DER SPIEGEL 23 /

124 Kultur Doppelagenten Jebsen um 1942, Popov um 1945 mit Ehefrauen: Antifaschistische Playboys len, indem sie Fidrmuc plump gefälschte Dokumente unterschoben, um ihn bei der Abwehr zu diskreditieren. Dann setzte er am 1. Juni seine Nachricht über den nahezu richtigen Ort der Invasion ab. Die desinformierte deutsche Abwehr glaubte ihm nicht, Hitler deutete die Invasion in der Normandie sogar als Ablenkungsmanöver. Unter den vielen Meldungen, die wir erhalten haben, war eine, die Landungsort, Tag und Stunde genau vorhergesagt hat. Gerade das bestärkt mich nun in der Meinung, dass es sich nicht um die eigentliche Invasion handeln kann, sagte er auf dem Obersalzberg am 6. Juni 1944 zu seinem Rüstungsminister Albert Speer. Für die überraschten Briten analysierte Herbert Hart, damals Sektionsleiter beim MI5 und später Juraprofessor in Oxford, sechs Tage nach Fidrmuc D-Day-Nachricht, dessen Berichte: Mit Ausnahme einer winzigen Prozentzahl sind diese aber nicht nur falsch, sondern sie sind es auf eine fantastische Art. In den Jahren zuvor hatte Ostro von Schiffen berichtet, die in Konvois vor der britischen Küste fahren sollten, obwohl sie längst versenkt waren oder in asiatischen Gewässern fuhren. Er erfand angeblich technische Details von Unterseebooten, die es überhaupt nicht gab. Er erfand im April 1942 ein Bankett im Adelphi Hotel in Liverpool, an dem Königin Mary, der Premierminister und Teile der britischen Admiralität teilgenommen haben sollten. Harts Fazit: Die Berichte Ostros seien nicht nur erfunden, sie seien auch von jemandem erfunden worden, der nicht einmal in England leben würde. Trotzdem bestünde durchaus die Gefahr, dass sie gefährlich seien: Denn durch Zufall oder Intuition sei es immer möglich, dass Ostro einen Treffer lande. Und so war es dann auch mit Fidrmuc D-Day-Nachricht. Die Führung des britischen Geheimdienstes entschied, man sollte Ostro loswerden, indem man ihn kidnappt oder umbringt. In einem Sitzungs-Memo aus dem Februar 1945 heißt es: Die Anwendung 124 DER SPIEGEL 23 / 2014 solcher Methoden ist selten gerechtfertigt, aber in diesem Fall, wenn große Teile der Truppen gefährdet sind, scheint es klar zu sein, dass man diese Methode wenigstens in Erwägung ziehen sollte. Wenn die Spezialeinheit S.O.E. diesen Job übernehmen und davon ausgehen könnte, ihn erfolgreich auszuführen, würde das ohne Zweifel eine zufriedenstellende Lösung im nationalen Interesse darstellen. Doch alle Versuche, ihn zu eliminieren, misslangen. Stattdessen notierte MI5-Chef Guy Liddell am 16. April 1945 in seinem Tagebuch, dass es Nachricht gebe, Ostro habe die Abwehr gebeten, ihm und seinem Netzwerk den Lohn drei Monate im Voraus zu bezahlen, um die Organisation gegen Rückschläge abzusichern, die aus der militärischen Situation entstehen könnten. Eine Organisation, einen Agentenring, den es nicht gab. Fidrmuc arbeitete meist allein, er hatte jahrelang für eine Vielzahl Mitarbeiter kassiert, die nur auf Zahlungsbelegen existierten. Vierzehn Tage später beging Hitler Selbstmord, das Nazi-Regime war am Ende, aber Fidrmuc im fernen Süden wollte im Fall der Niederlage drei Monate Lohnfortzahlung. Ich habe meine Pflicht bis zum letzten Tag erfüllt und mich für meine Partei stets ohne Rücksicht auf das Risiko eingesetzt. Mein Gewissen ist rein. Ich habe Groß-Deutschland treu gedient, heißt es in Fidrmuc Erinnerungen. Und weiter: Der deutsche Soldat hat in diesem Krieg stets Übermenschliches geleistet. Keine andere Nation hätte diesen Krieg so lange durchhalten können. Die unzähligen Gräber der Soldaten wachen vom fernen Wüstensand bis zum Nordkap und vom Kaukasus bis zu den Pyrenäen für Deutschlands Blüte. Ich beneide sie. Ich bin froh, dass meine Eltern während des Krieges starben, meine Mutter, die stets Tränen in den Augen bekam, wenn sie uns kleinen Buben Eichendorffs Lied vorsang: Ich grüße Dich Deutschland aus Herzensgrund. Tatsächlich lebte Fidrmuc ab Mitte März 1945 in Spanien, einem Land, in dem der Faschismus den Zweiten Weltkrieg überdauert hatte. Seine Wahl war auf Barce - lona und eine Ortschaft namens Tamariu gefallen, der ehemalige deutsche Meister im Rudern liebte es, nachts mit dem Boot hinaus aufs Meer zu paddeln allerdings wurde er festgenommen und abgeschoben, repatriiert, wie es damals hieß. Monatelang wurde Fidrmuc, zuletzt in Oberursel, von den Amerikanern verhört, kam aber frei, obwohl der Final- Interrogation-Report vom 22. Mai 1947 ihn als one of the most successful and potentially dangerous German agents of the war auswies als einen der erfolgreichsten und potenziell gefährlichsten deutschen Agenten während des Krieges. Die US-Militärbehörde vermutete, dass er ein Vermögen von drei Millionen Peseten, umgerechnet Dollar, in Sicherheit bringen konnte, zum Teil in Schmuck und Briefmarken. Die Amerikaner hatten nun andere Interessen. Der Kalte Krieg begann, und der Aufstieg der Sowjetunion setzte sich fort. Fidrmuc, der vorgab, Verbindungen nach Prag, Warschau und Moskau zu haben, war wohl nun auch für die Amerikaner ein interessanter Mann. Ein Auslieferungsgesuch der Tschechen jedenfalls lehnten die Amerikaner ab. Nach Fidrmuc Rückkehr wurde er von Francos Agenten in Barcelona mit einem Festessen im Ritz gefeiert. Als Ehrengast angeblich dabei: Erika Canaris, die Witwe von Wilhelm Canaris, der, als er noch Hitler diente, im Bürgerkrieg die Faschisten unterstützt hatte. Fidrmuc arbeitete nun für den spanischen Geheimdienst. Nebenbei widmete er sich wieder dem Journalismus, gemäß seiner alten Losung: Ein Spion sollte in seinem vorgetäuschten Beruf ein Experte sein, damit man ihm seine Tarnung glaubt. Fidrmuc schrieb für die Rhein-Neckar Zeitung, er verfasste Kriminal- und Agentenromane für Groschenhefte und auch FOTO: REINHARD LESSMANN / DER SPIEGEL (O.L.)

125 eine Geschichte für die Zeit über das faschistische Spanien, die im Juli 1949 erschien. Überschrift: Ein Polizeistaat ohne Polizei. Spanien ist eine Diktatur. Es gibt nur eine Partei, eine Presse, nur den Willen einer Regierung. Trotzdem ist es das einzige Land Europas mit voller persönlicher Freiheit, heißt es in dem Artikel. Heute genügt es, Deutscher zu sein, um Vorteile zu genießen, die keinem anderen Ausländer geboten werden. Spätestens 1950 nahm Fidrmuc Kontakt zum SPIEGEL auf. Er schrieb an Werner Hühne, ehemals Ressortleiter Ausland, und bot ein Buch über den Nachrichtendienst zur Verwertung an. Er schrieb auch, dass er nach dem Krieg in Untersuchungshaft gesessen habe, er verfüge aber über eine Unbedenklichkeitsbescheinigung des US-Geheimdienstes. Rudolf Augstein hatte ihn uns zugewiesen. Fidrmuc habe exklusive Informationen, so steht es in den unveröffentlichten Memoiren von Georg Wolff, der Nachfolger von Hühne als Ressortleiter Ausland wurde und selbst während des Krieges als SS-Hauptsturmführer in Norwegen stationiert gewesen war. Auch Wolff war an - getan von diesem ehemaligen Agenten, einem Mann mit geheimnisvoller Aura und noch geheimnisvolleren Kontakten, einem Profi der Nachrichtenbeschaffung. Fidrmuc war eine Eindruck machende Figur, sehr schlank, groß, leicht gebeugte Haltung, feiner Kopf. Deutlich zu erkennen der K.-u.-k.-Charme, dazu ein Hauch von Maghrebischem. Ein Schlitzohr war er sicher auch. Im Mai 1953 erhielt Fidrmuc einen neuen Vertrag als Spanienkorrespondent. Monatlich bekam er nun 1600 Mark, zu damaligen Zeiten ein sehr hohes Gehalt. Nachrichten aus aller Welt konnte das Nachrichten-Magazin gut gebrauchen. Der jungen Redaktion, Augstein war Ende 1950 gerade mal 27 Jahre alt, fehlte es an Geld und an internationalen Kontakten. Die wenigen Seiten Internationales wurden häufig aus dem Archiv geschrieben, das allerdings reichlich bestückt war, organisiert übrigens nach den Vorgaben eines ehemaligen Karteiführers des NS-Sicherheitsdienstes. Bald munkelte man, dass Fidrmuc zwar exklusive, aber nicht immer ganz richtigen Informationen aus nachrichtendienstlichen Quellen kämen: vom spanischen Geheimdienst, vom CIA oder gar von den Sowjets. Augstein und sein Redaktionsleiter Hans Detlev Becker reisten mit dem Auto nach Spanien, um Fidrmuc zu treffen. Sie nahmen Horst Mahnke mit, weil er, so Redaktionsleiter Becker, eine infantile Neigung zu inoffizieller Nachrichtengewinnung besaß. Auch Mahnke hatte während des Zweiten Weltkriegs als SS-Hauptsturmführer gedient. Am Ende des Kurzurlaubs an DER SPIEGEL 23 /

126 Kultur Redaktionsleiter Becker um 1948, Herausgeber Augstein in Madrid 1957: Unser lieber Herr Fidrmuc Fidrmuc-Brief an Augstein 1957: Das ging dann zu wie bei Christian Dior der Costa Brava verstanden sich Augstein, Becker und Fidrmuc prächtig. So etwas gab es auch beim SPIEGEL Anfang der Fünfzigerjahre: Ein ehemaliger Abwehragent aus Lissabon wurde von Hamburg aus geführt von zwei ehemaligen SS-Hauptsturmführern, Mahnke und Wolff. Eine hässliche Vorstellung heute, aber der SPIEGEL, so lautete die Argumentation Augsteins, brauchte Leute, die die Apparate, um die es ging, so gut kannten, dass sie in der Lage waren, darüber zu schreiben. Natürlich habe Augstein nicht bewusst nach SS-Leuten für den SPIEGEL gesucht, schreibt der Medienwissenschaftler Lutz Hachmeister, aber sie brachten ein Wissen mit, das die jungen SPIEGEL- Redakteure nicht hatten. Der Historiker Norbert Frei erkennt im frühen SPIEGEL aber auch eine irritierende Gleichzeitigkeit von Apologie und Aufklärung. Erst Ende der Fünfzigerjahre habe man den SPIEGEL immer öfter auf der Seite derer gefunden, die gegen Antisemitismus, Verdrängung und Verleugnung eintraten. So trafen sich im Milieu des erst langsam wieder zu sich selbst findenden Journalismus in Deutschland Agenten, Nachrichtenhändler und ehemalige Nazis. Die Stunde null der deutschen Presse, sagt Frei, war kaum weniger eine Illusion als die Vorstellung von einer Stunde null im Ganzen. Der SPIEGEL ist eben auch nur ein Nachrichten-Magazin aus Deutschland mit einer deutschen Vergangenheit, und die Auf - arbeitung seiner Geschichte begann, wie bei vielen anderen deutschen Unternehmen und Pressehäusern, erst spät zuletzt anlässlich des 50-jährigen Jubiläums der SPIEGEL-Affäre vor zwei Jahren. Die Verantwortlichen im SPIEGEL der Fünfzigerjahre wussten, dass bei Fidrmuc Informationen Vorsicht geboten war. Ein Manuskript von Fidrmuc über Waffengeschäfte leitete Redaktionsleiter Detlev Becker weiter an Conny Ahlers, den Militärexperten des Magazins: Der Verfasser der Anlage ist unser lieber Herr Fidrmuc, dessen Informationen manchmal stimmen, manchmal nicht stimmen, aber immer interessant sind. Wir dürfen seinen Namen in Bonn unter keinen Umständen preisgeben. Außerdem empfiehlt es sich, bei Rückfragen im Verteidigungsministerium vorsichtig vorzugehen, da man sich hin und wieder mit dem Material des Herrn Fidrmuc blamieren kann. Fidrmuc machte beim SPIEGEL das, was er schon als Spion gemacht hatte: Informationen sammeln, herumhorchen, die Details mit einem Ton der Wichtigkeit versehen, den Stoff aufblasen. In den Erinnerungen des SPIEGEL-Redakteurs Wolff heißt es über Fidrmuc: Intimste Nachrichten über die EVG (Europäische Verteidigungsgemeinschaft), aus der dann doch nichts wurde. Detailliertes über die sowjetische Atomrüstung, Gesprächsprotokolle nahöstlicher Sultane. Was ein Militär-Attaché in Moskau aufgeschnappt habe, dass die Ägypter eine Taschen-Atombombe besäßen oder jedenfalls in Planung hätten, wie viel Gamaschenknöpfe der britischen Rheinarmee fehlten. Aber selbst Wolff konnte über Fidrmuc Quellen nur spekulieren. Wahrscheinlich waren es Schnipsel aus der beim spanischen Spionagedienst eingehenden Post und zwar jene Schnipsel, die in die Wegwerfkiste sollten. Unterlegt waren die Manuskripte von Fidrmuc öfter mit einem antiamerikanischen Ton. Im Grunde verachtete er alle Bemühungen des Westens. Das war seine Rache an den westlichen Siegermächten. Die Sowjetunion erschien dagegen bei ihm als unbesiegbare Macht, schreibt Wolff. Fidrmuc Texte sind heute nicht allesamt eindeutig zu identifizieren, weil SPIEGEL-Artikel damals namentlich nicht gekennzeichnet waren; Aufzeichnungen über Autoren gibt es ebenfalls nicht, zumal viele Beiträge Fidrmuc eher Meldungen waren als ganze Artikel, darunter auch eher kryptische Nachrichten über den deutschen Gesandten in Lissabon (52/1953) oder sowjetische Waffendeals mit Ägypten (10/1956). Als Mitautor war er an der Serie Die Papiere des Herrn von Holstein beteiligt (36 43/1957), die sich über acht Ausgaben der Geschichte des Bismarck-Reichs widmete und für die Augstein 2000 Mark auf Fidrmuc Schweizer Konto überweisen ließ. Die neuen Freunde in Hamburg nannte er in seinen Briefen Lieber Don Rodolfo und Lieber Don Detlev, immer bereit, sie mit dem Nötigsten zu versorgen: Da die Kehlen schmeisserisch durstig sein dürften, möchte ich zu Weihnachten wieder eine Sendung vorweg schicken, wieder mit Soberano oder mit Jerez gemischt? Bitte Nachricht, möglichst bald, heißt es in einem Brief vom Oktober Don Detlev verschaffte er sogar Zugang zu einem exklusiven Golfklub in Barcelona. Ungewöhnlich schwierig, konzedierte Becker, auch heute noch, da kommt praktisch keiner rein. Allerdings konnte auch Fidrmuc nicht verhindern, dass ein Kellner Becker nach dem Spiel von der Terrasse des Klubs vertreiben wollte: You are a chauffeur, sit outside. Für Rudolf Augstein organisierte Fidrmuc Urlaube. Er schlug vor, dass Augstein seinen Fahrer samt Auto aus Hamburg nach Madrid vorschicken solle, da es 126 DER SPIEGEL 23 / 2014

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128 Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin buchreport; nähere Informationen und Auswahlkriterien finden Sie online unter: Belletristik 1 (1) Jan Weiler Das Pubertier 2 (3) Donna Tartt Der Distelfink Kindler; 12 Euro Goldmann; 24,99 Euro 3 (4) Frank Schätzing Breaking News Kiepenheuer & Witsch; 26,99 Euro 4 (6) Jonas Jonasson Die Analphabetin, die rechnen konnte Carl s Books; 19,99 Euro 5 (5) Martin Walker Reiner Wein Diogenes; 22,90 Euro 6 (2) C. J. Daugherty Night School Um der Hoffnung willen Oetinger; 18,95 Euro 7 (7) IldikÓ von Kürthy Sternschanze Wunderlich; 17,95 Euro 8 (11) Romain Puértolas Die unglaubliche Reise des Fakirs, der in einem Ikea-Schrank feststeckte S. Fischer; 16,99 Euro 9 (8) Veronica Roth Die Bestimmung Letzte Entscheidung 10 (10) Simon Beckett Der Hof 11 (12) John Williams Stoner cbt; 17,99 Euro Wunderlich; 19,95 Euro dtv; 19,90 Euro 12 (13) Graeme Simsion Das Rosie-Projekt Fischer Krüger; 18,99 Euro 13 ( ) Marc Elsberg ZERO Sie wissen, was du tust Blanvalet; 19,99 Euro Aktueller Thriller aus der Welt der Online-Aktivisten und eines IT-Unternehmens, das Daten sammelt und analysiert 14 (14) Horst Evers Vom Mentalen her quasi Weltmeister Rowohlt Berlin; 18,95 Euro 15 (19) Timur Vermes Er ist wieder da 16 (17) John Grisham Die Erbin Eichborn; 19,33 Euro Heyne; 24,99 Euro 17 (15) Suzanne Collins Die Tribute von Panem Flammender Zorn Oetinger; 18,95 Euro 18 (16) Haruki Murakami Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki DuMont; 22,99 Euro 19 ( ) Donna Leon Das goldene Ei Diogenes; 22,90 Euro 20 (9) Joachim Meyerhoff Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war Kiepenheuer & Witsch; 19,99 Euro Sachbuch 1 (1) Wilhelm Schmid Gelassenheit Was wir gewinnen, wenn wir älter werden Insel; 8 Euro 2 (2) Roger Willemsen Das Hohe Haus S. Fischer; 19,99 Euro 3 (3) Glenn Greenwald Die globale Überwachung Droemer; 19,99 Euro 4 (5) Dieter Hildebrandt Letzte Zugabe Blessing; 19,99 Euro 5 (4) Guido Maria Kretschmer Anziehungskraft Edel Books; 17,95 Euro 6 ( ) Susanne Fröhlich / Constanze Kleis Diese schrecklich schönen Jahre Gräfe und Unzer; 17,99 Euro 7 (6) Volker Weidemann Ostende 1936, Sommer der Freundschaft Kiepenheuer & Witsch; 17,99 Euro 8 ( ) Michelle Knight mit Michelle Burford Die Unzerbrechliche Bastei Lübbe; 19,99 Euro 9 (11) Matthias Weik / Marc Friedrich Der Crash ist die Lösung Eichborn; 19,99 Euro 10 ( ) Joachim Fuchsberger Zielgerade Gütersloher Verlagshaus; 19,99 Euro 11 (10) Peter Wensierski Die verbotene Reise DVA; 19,99 Euro 12 (7) Christopher Clark Die Schlafwandler DVA; 39,99 Euro 13 (8) Andreas Englisch Franziskus Zeichen der Hoffnung C. Bertelsmann; 19,99 Euro 14 (14) Florian Illies 1913 Der Sommer des Jahrhunderts S. Fischer; 19,99 Euro 15 (9) Jenke von Wilmsdorff Wer wagt, gewinnt Bastei Lübbe; 14,99 Euro 16 (12) Monika Gruber Man muss das Kind im Dorf lassen Piper; 19,99 Euro 17 (13) Christine Westermann Da geht noch was Kiepenheuer & Witsch; 17,99 Euro 18 (17) Ulrich Herbert Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert C. H. Beck; 39,95 Euro 19 ( ) Stefan Aust / Dirk Laabs Heimatschutz Pantheon; 22,99 Euro Umfassender Bericht über den Nationalsozialis - tischen Untergrund, sein Umfeld und die Rolle der Sicherheitsbehörden 20 (15) Hamed Abdel-Samad Der islamische Faschismus Droemer; 18 Euro mit Leihwagen in der spanischen Hauptstadt so eine Sache sei, da man sie an den Ort, wo man gemietet hat, zurückbringen muss, und ich glaube nicht, dass Sie einen Straßenkreuzer von gewohnter Güte bekommen. Nebenbei bot er Immobiliendeals in Spanien an. Das Land erlebte gerade einen touristischen Bauboom, Hotels sprießen weiter aus der Erde wie Pickel auf der Haut eines Jünglings, schrieb er im Sommer 1957 an Augstein. Der Verleger John Jahr, damals mit 50 Prozent SPIEGEL-Teilhaber, zeigte Interesse an einer Hotelbeteiligung. Allerdings wollte Jahr beim Umtauschkurs von DM in Peseten noch einige Vorteile mitnehmen, weshalb er Fidrmuc bat zu erwägen, den Kauf eines Grundstücks über Fidrmuc Schweizer Konto abzuwickeln. ( Können Sie dann, wenn es sich um namhafte Beträge handelt, also um , oder Schweizer Franken, diese Franken zu dem billigen Kurs in Spanien in Peseten umwandeln? Darüber würde ich gern von Ihnen hören. Mit herzlichen Grüßen, gez Jahr ) Ob aus den Immobilienplänen etwas wurde, wissen wir nicht erkrankte Fidrmuc schwer. Im August meldete er sich noch ein letztes Mal bei Don Rodolfo. Gut gelaunt und zuversichtlich klingt sein Brief, der typische Fidrmuc im beschwingten Offizierskasino-Ton. Der Brief eines Menschen, den nichts umwerfen kann. Tatsächlich liegt er seit Wochen im Bett. Seiner Abneigung gegen Ärzte zum Trotz, schreibt Fidrmuc, habe er sich nun doch ihnen anvertraut und den Schritt sofort wieder bereut. Das ging dann zu wie bei Christian Dior. Ich wurde gemessen, gewogen, Blut aus Venen und Muskeln dreifach analysiert. Röntgenaufnahmen rechts und links, morgens und abends. Die Diagnose: Entzündung des Knochenbeckens plus unterer Wirbelsäule. Schmerzhaft, lang dauernd, ein seltener und deshalb begeisternder Fall. Unser Mann in Barcelona starb am 20. Oktober 1958 an Knochenkrebs, er wurde 60 Jahre alt. Die Witwe Rigmor blieb zurück, in vertraut klingenden Briefen klagte sie über Mittellosigkeit, der SPIEGEL zahlte ihr daraufhin bis zu ihrem Tod 1981 eine kleine Rente. Der verstorbene Gatte habe dem SPIEGEL-Verlag in schwierigen Jahren als Mitarbeiter besondere Dienste geleistet, die hier nicht zu erörtern sind. Das Todesjahr Fidrmuc war auch das Jahr, in dem der englische Schriftsteller Graham Greene ihm ein literarisches Denkmal setzte und den satirischen Agentenroman Unser Mann in Havanna veröffentlichte. Greene hatte während des Zweiten Weltkriegs für den MI6 gearbeitet; 1943 und 1944 war er dort für Portugal zuständig gewesen. Greenes Biograf Norman Sherry schreibt, dass sich der Schriftsteller 128 DER SPIEGEL 23 / 2014

129 Kultur ganz besonders von dem deutschen Agenten Paul Fidrmuc alias Ostro habe inspirieren lassen. Greenes Antiheld in dem Roman heißt James Wormold und lässt sich von einem britischen Agentenführer anwerben, weil seine Tochter Milly sich ein Pferd und die Mitgliedschaft in einem exklusiven Country Club wünscht. Wormold ist ein eher unsportlicher Typ, bescheiden und kleinbürgerlich im Auftritt, schüchtern, ungeschickt, angstgesteuert, der sich davor fürchtet, die Tochter zu verlieren, weil sie das Einzige ist, was ihm nach der gescheiterten Ehe noch geblieben ist. Wormold ist eine ganz andere Figur als Fidrmuc. Aber der Spion Wormold beginnt, wie der echte deutsche Spion, ein komplettes Agentennetz aufzubauen, er kassiert Geld und Spesen für Agenten, die es gar nicht gibt, und schafft es fast bis zum Ende, sein fiktives Netz vor den zahlenden Auftraggebern abzuschirmen. Auch Wormold nutzt Zeitungen, um daraus exklusiv Meldungen an den Geheimdienst abzusetzen. Das ist doch kein Leben, dieses Spionieren, sagt Wormolds Sekretärin Bea - trice in dem Roman. Spionieren? Worüber? Geheimagenten entdecken doch nur, was alle längst schon wissen, antwortet Wormold. Beatrice sagt: Oder sie lassen sich es eben einfallen. Es gibt viele Jobs, die nicht wirklich echt sind. Seifenboxen entwerfen zum Beispiel, Werbesprüche schreiben, im Parlament sitzen. Aber das Geld, das ist echt. Und wie Fidrmuc geriet auch Wormold am Ende nicht wegen seiner Scharlatanerie in Lebensgefahr, sondern wegen seiner Zufallserfolge. Fidrmuc Neffe Helmut steht in seiner Wohnung in Heidelberg. Er ist alt, aber er klagt nicht über seine Arthritis, nicht über die Augenoperationen vor ein paar Jahren, er klagt auch nicht, wie andere Vertrie - bene, über die verlorene Heimat im ehemaligen Sudetenland. Plötzlich fällt ihm noch etwas ein. Onkel Paul hatte, als er uns besuchte in Lundenburg, einen Affen dabei. Er führte ihn an einem Halsband spazieren. Manchmal saß der Affe auch auf seiner Schulter. Weiß er, dass sein Onkel auch in der Partei war? Helmut Fidrmuc weiß es nicht. Kaum, sagt er. Aber Onkel Paul habe seine Überzeugungen gehabt. Die Amerikaner hätten ihn bei den Verhören umdrehen wollen, aber er habe das abgelehnt. Onkel Paul, sagt Helmut Fidrmuc, war eben ein aufrechter Deutscher. Video: Dem Agenten auf der Spur spiegel.de/app232014fidrmuc oder in der App DER SPIEGEL DER SPIEGEL 23 /

130 Kultur China ist ein Dämon Diktaturen Der Dichter Liao Yiwu, 55, über den Tiananmen- Aufstand vor 25 Jahren Chinesische Panzer in Peking 1989 SPIEGEL: Warum ist die Revolution von 1989 in China gescheitert, während sie in Europa gelang? Liao: Ich drehe die Frage um. Warum ist sie in Europa gelungen, während sie in China scheiterte? Weil in China Blut vergossen worden war. Die Führungen in Osteuropa hatten das gesehen und schreckten davor zurück, es Peking gleichzutun. Deshalb schossen sie nicht. Aber dieses Kapitel ist in China noch nicht abgeschlossen. Was wollten die Demonstranten 1989? Transparenz. Sie wollten wissen, warum die Ungleichheit so groß ist. Heute ist die Ungleichheit noch viel größer. Die obersten Kader haben einen absurden Reichtum zusammengerafft. Das ist eine Zeitbombe, die detonieren wird. SPIEGEL: Schuldet Europa Chinas Demonstranten etwas? Liao: Europa hat jedenfalls eine Verpflichtung. Wenn außerhalb Chinas an Tiananmen erinnert wird, geht es immer um einige wenige Studenten. In Wahrheit sollte man an die vielen Namenlosen, die Arbeiter und Tagelöhner denken, die ich in meinen Büchern beschreibe. Sie haben diesen Aufstand getragen, nicht die Studenten, die im Rampenlicht standen. Die waren denen ganz ähnlich, gegen die sie demonstrierten machtversessen und untereinander autoritätshörig. Sie wollten nicht, dass ihre Revolution von den einfachen Leuten beschmutzt wird. Doch als der Schießbefehl kam, waren die meisten weg. Die Arbeiter blieben und verschwanden für Jahre im Gefängnis. Ihr Leben wurde zerstört. SPIEGEL: Du wirst in die Literaturgeschichte des 4. Juni 1989 eingehen, wirft Ihnen einer der Interviewpartner in Ihrem Tian - anmen-buch Die Kugel und das Opium vor, aber ich, ich habe für nichts und wieder nichts im Knast gesessen. Liao: Das ist der Kern dieses Buches und meiner Arbeit über die Bewegung von Tian - anmen. Manche Studenten hatten das Ziel, dass in den Geschichtsbüchern nur ihr eigener Name steht. Und die Rowdies sind nichts wert? Dieses Bild muss korrigiert werden. SPIEGEL: Helmut Schmidt und Henry Kissinger haben Verständnis für Deng Xiaopings Entscheidung geäußert, den Aufstand niederzuschlagen. Liao: Das ist ein Zeichen von moralischem Verfall. Helmut Schmidt hat auf dem Tian - anmen-platz niemanden aus seiner Familie verloren. Und man weiß auch, dass er selbst Deng Xiaoping getroffen hat. So wird man zum China-Versteher. SPIEGEL: In Ihrer Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels sagten Sie über das China nach Tian - anmen: Dieses Imperium muss aus ein - anderbrechen. Dieser Satz ist selbst unter Kritikern des Regimes umstritten. Liao: Ich habe damit das ganze Volk schockiert. Doch ich bin stolz auf diesen Satz. SPIEGEL: Es ist der Satz eines Anarchisten. Liao: Ich habe ihn mir gut überlegt. Er geht zurück auf den Philosophen Laozi, der vor über zwei Jahrtausenden vorschlug, große in kleine Einheiten zu zerlegen. Wer das heutige China kennt, der weiß, dass dieser Riesenstaat mit seiner enormen Machtfülle und seinem Geld ein Dämon ist, eine große Gefahr für die ganze Welt. SPIEGEL: Der Zerfall von Staaten kann großes Unglück auslösen: in Jugoslawien, der Sowjetunion, in der arabischen Welt. Friedenspreisträger Liao Dieses Imperium muss auseinanderbrechen Liao: China war immer wieder vereint und dann wieder getrennt. Es waren nicht die Zeiten der Einheit, die als die besten in unsere Geschichte eingingen. Ich stelle mir China als eine Art Europäische Union vor: Meine Heimatstadt Chengdu in Sichuan könnte Chinas Straßburg sein, und wenn die in Peking unbedingt eine Diktatur haben wollen bitte sehr, wer nicht mitmachen will, kann nach Sichuan kommen. SPIEGEL: Und Sie sehen keine sozialen, keine wirtschaftlichen Risiken einer Spaltung? Liao: Ich sehe eine viel größere Gefahr. Chinas Umweltzerstörung hat ein Ausmaß angenommen, das längst die ganze Welt bedroht. Das ist die wirkliche gelbe Gefahr. Als ich ein Kind war, waren die Flüsse sauber, der Himmel blau, und wir vergötterten Mao Zedong. Dann kam sein Nachfolger Deng Xiaoping an die Macht und sagte: Armut ist kein Sozialismus, lasst uns reich werden. Er stellte das Land auf Wirtschaft um und schaffte die Moral ab. SPIEGEL: Welche Moral war nach Mao denn noch übrig? Liao: Da haben Sie recht. Unter Mao waren wir alle arm, da mussten sich zehn Menschen ein einziges Ei teilen. Seit Deng bekommt jeder von uns zehn Eier, aber die Eier sind giftig. Man kriegt Krebs davon. SPIEGEL: Sie nennen Deng, der den Tiananmen-Aufstand niederschlagen ließ, einen Tyrannen. Es scheint, als beurteilten Sie Mao milder. Liao: Im Gegenteil. Mao Zedong war ein Dämon. Ich kam zu Beginn des Großen Sprungs nach vorn zur Welt, Maos In - dustrialisierungskampagne, der Ende der Fünfziger- und Anfang der Sechzigerjahre Millionen zum Opfer fielen. Auch ich wäre als Kind beinahe verhungert. SPIEGEL: In der offiziellen Geschichtsschreibung Chinas gilt es als Maos Verdienst, dass er das Land nach Jahrzehnten des Krieges und Bürgerkrieges geeint habe. Liao: Diese Erzählung, diese Legende lehne ich ab. Unter Mao standen die Chinesen einen Augenblick lang auf um sich sofort wieder niederknien zu müssen. Moralisch waren alle Diktatoren des modernen China aus demselben Holz: Chiang Kai-shek, Mao Zedong, Deng Xiaoping jeder wollte sein Reich erweitern. Interview: Bernhard Zand FOTOS: JEFF WIDENER / AP (O.); HERMANN BREDEHORST / DER SPIEGEL (U.) 130 DER SPIEGEL 23/ 2014

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132 Kultur Bis die Tachonadel knickt Theater Bibiana Beglau ist gefeiert und gefürchtet als Extremschauspielerin des deutschen Theaters. Nun spielt sie in Martin Kušejs Münchner Faust den Mephisto. Die gemeinsten Verrisse habe sie am Anfang ihrer Karriere bekommen, sagt sie, in Düsseldorf war es das Grauen. Einmal trat sie dort Mitte der Neunzigerjahre als Lulu auf, die Kindfrau, bei deren bloßem Anblick alle Männer den Verstand verlieren. Da hieß es, Bibiana Beglau spiele diese Lulu in Frank Wedekinds Stück zu wenig mädchensüß, zu zappelig, nicht sexy genug, kurz: Sie sei unglaubwürdig als Anlass männlicher Geilheit. Ihr Körper ist so muskulös, dass sie sogar nackt nicht nackt aussieht, schrieb eine Kritikerin. Seither hat die Schauspielerin Bibiana Beglau, Jahrgang 1971, in vielen Frauenund Männerrollen ihre Muskelkraft, ihren Eigensinn und ihre Leidenschaft gezeigt, meistens angezogen und manchmal entblößt. Sie war im Theater als Shakespeares Lady Macbeth und als Fassbinders Petra von Kant zu sehen, in Filmen als tapfere Lehrerin oder als RAF-Terroristin in Volker Schlöndorffs Die Stille nach dem Schuss. Und sie hat auch ein paar Preise bekommen für ihre Arbeit. Trotzdem sagt sie von sich: Ich habe mich vorwärtsgerobbt in diesem Job. Andere kriegen das leichter und eleganter hin. Ich spüre immer noch Hungerangst. Angst davor, dass mich plötzlich keiner mehr beschäftigt. In Berlin war Bibiana Beglau gerade erst die Königin des diesjährigen Theatertreffens. Sie hat ihre einzigartige, stets leicht heisere Stimme ins Lustig-Schrille kippen lassen; sie hat das Publikum zu Tränen gerührt, als sie über den Trümmern einer kaputten Liebschaft verzagte; und sie hat gezittert, gepoltert und getobt, dass die Theaterwände wackelten. In zwei Aufführungen spielte sie Hauptrollen, in Dimiter Gotscheffs Version von Heiner Müllers Zement und in Frank Castorfs Reise ans Ende der Nacht, der Bearbeitung des Erste-Weltkrieg-Romans von Louis-Ferdinand Céline. Es waren schwere, schroffe Theaterabende. Inmitten der viereinhalb Castorf-Stunden, in denen wie bei diesem Regisseur üblich gelärmt und gelitten wurde, trat Beglau in maximaler Seelenruhe an die Rampe und belehrte das Publikum. Über ein bisschen Verwirrung solle sich niemand wundern, in einem Riesenroman wie dem von Céline gehe es nun mal wild zu, sagte sie, es gibt hier Brüche und Sprünge. Großes Gelächter im Zuschauerraum. Die echte Überraschung der Szene bestand darin, dass Beglau, die Berserkerin, in diesem Theatermoment völlig bewegungslos auf ihrem Platz verharrte. Ich stehe da nur rum, sagt die Schauspielerin, und die Leute sagen mir hinterher, wie anstrengend das gewesen sein müsse, als hätte ich sonst was gemacht. Von Donnerstag dieser Woche an soll Bibiana Beglau, die auf der Bühne oft so wirkt, als hätte sie den Teufel im Leib, nun wirklich den Teufel spielen. Sie ist der Mephisto in Martin Kušejs Inszenierung von Goethes Faust. Kušej sagt, für ihn sei der Faust das größte Drama deutscher Sprache, so unoriginell sich das anhöre, nicht der erste Teil allein, aber,faust I und,faust II zusammen schon. Ihn reize vor allem die absolute Fremdheit der alten Sprache, die darin gesprochen wird, die schiere Unnahbarkeit des Stücks und dessen enorme Komplexität. Den Doktor Heinrich Faust spielt bei Kušej Werner Wölbern, ein leicht gebückt vorwärtsdrängender Schauspieler; ein kluger Kopf, der stets unter Volldampf steht. Man kann sich Bibiana Beglau neben diesem Mann kaum anders denn als emsigen Spießgesellen und Mitverschwörer vorstellen, als eine Figur, die weniger ihre diabolische Überlegenheit zur Schau stellt als ihre Neugier auf das Abenteuer. Mehr, immer mehr, heißt es im Ankündigungstext des Theaters, mehr Geld, mehr Sex. Mehr Schmerz, mehr Lust, mehr Vergessen. Stillstand ist der Tod. Den Stillstand verachtet auch die Schauspielerin Beglau. Wir leben in einer zwangs - beruhigten Gesellschaft, behauptet sie. Ständig reden alle von Wellness und wollen an ihren Kräften sparen. Fast jeder strebe nach Entspannung. Wozu denn? Die Menschen in unserem Land sind so schrecklich entspannt, dass sie mit vierzig ein Burn-out haben! Da frage ich: Was haben die denn eigentlich verbrannt? Überall werde davon geredet, bloß den Ball flach zu halten, sich zu schonen, mal lockerzulassen. Und trotzdem erwischt uns das Burn-out! Wie wenig haben wir denn zu verbrennen, wo wir doch die ganze Zeit an uns gespart haben? Beglau redet sich in Rage, während sie darüber spricht, dass auch viele Künstlermenschen heute eine Einbauküchenmentalität zur Schau stellten und das Risiko scheuten. Die Künstler, die sie bewundere, die verbrennen sich, sagt sie: Frank Castorf, Rainer Werner Fassbinder, Christoph Schlingensief. Immerhin, Castorf lebt noch von den dreien aus dieser Reihe. Der arbeitet nur noch, berichtet Beglau, und sei nach vielen Jahren berühmter ätzender Wutausbrüche heute der zärtlichste Mann der Welt, zudem gerade durch seine Klugheit unendlich lustig. Klar versteht Beglau auch ihren eigenen Job als Erkundung der Gefahrenzonen, als Kampf gegen die Schmerzvermeidung. Ich will keine Unterhaltung, ich will die große, schwere Kunst, sagt sie. Es ist nicht zu viel verlangt, sich jedes Mal fundamental einzulassen und sich kopfüber reinzustürzen in ein Stück, statt auf Nummer sicher zu gehen. Der todesmutige Höllensturz gehört also notwendig zu einem guten Theaterabend? Ja. Ich würde den Menschen gern etwas Tieferes geben als das Normalberuhigte in unserer Zeit. Das hört sich pathetisch an, ich weiß. Sie sei eine Intensitätssau, sagt Beglau. Wenn sie sich geniere auf der Bühne und ich geniere mich oft, dann nur in Momenten der Erlahmung. Ich finde, es muss knallen. In so einer sedierten Gesellschaft wie der unseren ist ein Chinaböller auf der Bühne eine prima Abwechslung. Als Kind, als sie im Mercedes ihres Vaters mitfuhr, habe sie gnadenlos auf immer noch mehr Tempo gedrängt, in der großen Hoffnung, dass bei 240 die Tachonadel In unserer zwangsberuhigten Gesellschaft ist ein Chinaböller auf der Bühne eine prima Abwechslung. knickt. Mit zwölf hatte ich genau diese Vision. Typisch Punkrockjugend. Bibiana Beglau ist aufgewachsen in Braunschweig, in einer Zeit, in der Punkrock in Westdeutschlands Provinz für viele Menschen in ihrem Alter die passabelste Antwort auf die Langweiligkeit der Erwachsenenwelt darstellte. Man trug Stiefel, schwarze Kleider und die Haare kurz. Man redete nicht viel, aber laut und verwegen. Man trank Bier, tobte vor Konzertbühnen herum und spuckte auf die Hässlichkeit einer zubetonierten Welt. Beglau, Tochter eines Bundesgrenz - schützers, der an der Grenze zur DDR patrouillierte, und einer Krankenschwester, beschloss, sich in Braunschweig an der Schauspielschule zu bewerben. Sehr uncool. FOTO: THOMAS DASHUBER / RESIDENZTHEATER 132 DER SPIEGEL 23 / 2014

133 Fürs Rollenstudium schlich sie mit einem Nachschlüssel ins Braunschweiger Theater. Das war eine totale Spacko-Idee damals, sagt sie, keiner durfte es wissen. Schon während ihrer Ausbildung in Hamburg staunten die Mitschüler und Lehrer über den Wahnwitz, mit dem sich Beglau auf der Bühne vor allem physisch verausgabte; ähnlich erging es später Kritikern und Zuschauern, als Beglau bei Falk Richter und Einar Schleef, bei Christoph Schlingensief und Christoph Marthaler spielte. Ich wollte immer wissen, was es mit diesem komischen Körper auf sich hat, sagt sie. Ich wollte zu dem Punkt kommen, an dem ich spüre: Der hält ja gar nicht! Bibiana Beglau hat in den vergangenen Jahren einen Haufen Männerfiguren im deutschen Theater gespielt. Den blinden Seher Teiresias, den König Kreon, den Soldaten und Armenarzt Bardamu aus dem Céline-Roman. Und jetzt den Mephisto. Die Geschlechtsgläubigkeit ist bei mir nicht so hoch, sagt die Schauspielerin. Ich bin ein Kind der Neunzigerjahre, in denen sich in der Sexualität die Geschlechtergrenzen auflösten. Man war zusammen mit denen, die man gern hatte. Im Übrigen findet Beglau: Es steht doch nirgendwo geschrieben, dass das Wesen Mephisto ein Mann ist. Vom Theaterautor Goethe hält sie nicht viel. Ich finde es schreck lich, wie viel wertvolle Zeit Kinder in der Schule mit einem Stoff wie dem,faust II verschwenden müssen. In der Schule sollte man echt was anderes lesen. Am besten Roberto Bolaños Roman,2666. Ihr Lieblingssatz als Mephisto, der bei ihr ein Teufel ist, der sich alt und nicht mehr gebraucht fühlt und einen interessanten Spielgefährten sucht, ist ein Fluch. Er lässt sich, leicht abgewandelt, als eine Drohung gegen die Zuschauer formulieren: Ihr sollt Erquickung euch umsonst erflehn! Sie wolle kein Stänkerjochen sein, sagt Beglau. Aber was Kleist gelitten haben muss neben so einem Großkotz wie Goethe, der die so viel schlechteren Frauen figuren schrieb als er! Sie zuckt die Schultern. Als Schauspielerin ist man immer nur ein Farbtupfer im Gemälde eines Regisseurs. Man muss schauen, dass man das Gelb so trifft, wie der Regisseur sich das vorstellt. Vielleicht besteht mein Ehrgeiz darin, so eine Art von Gelb hinzukriegen, dass der Regisseur sagt: Für dieses Gelb mache ich das ganze Gemälde ein bisschen anders. Im Münchner Residenztheater ist Bibiana Beglau mit diesem Wunsch schon ziemlich weit gekommen. Die Faust -Ankündigung des Hauses verspricht eine Reise zu den Endpunkten der Zivilisation, wo die Luft nach Blut schmeckt und das Auge friert. Wolfgang Höbel Münchner Faust -Akteure Beglau, Wölbern Den Teufel im Leib DER SPIEGEL 23 /

134 Kultur Exquisit depressiv SPIEGEL-Gespräch Der Hamburger Psychoanalytiker Karl-Josef Pazzini über den seelischen Zustand Europas und die Vorteile der Monarchie Pazzini, 63, betreibt eine psychoanalytische Praxis und ist Professor für Erziehungswissenschaft an der Hamburger Universität. SPIEGEL: Herr Professor, sind Sie zur Europa - wahl gegangen? Pazzini: Ja. Ich bin ein Pflichtmensch. SPIEGEL: Die Pflicht das klingt trübe. Warum entsteht aus Jubelbegriffen wie Freiheit, Recht, Sicherheit und Unversehrtheit, die ja mit Europa verbunden sind, so wenig Begeisterung? Pazzini: Für Menschen, die hier seit Jahrzehnten leben, ist das alles selbstverständlich. Man kann ja nicht unausgesetzt begeistert sein. SPIEGEL: Für die Bewohner mancher Länder, die neu sind in der EU, sind die erwähnten Werte aber nicht unbedingt selbstverständlich. Und die sind ebenfalls nicht begeistert. Im Gegenteil. Pazzini: Juristisch oder politisch gibt es möglicherweise ein größeres Maß an Sicherheit, jedenfalls gilt das im ganz großen Rahmen. Bei den Einzelnen aber steigt erst mal die Verunsicherung. Denken Sie an die Umbrüche im Osten Deutschlands nach der Wiedervereinigung: Da mussten ganze Lebensentwürfe verabschiedet werden. Und so etwas schafft immer Leid. SPIEGEL: Reduzieren wir also unsere Ansprüche, sprechen wir von Wertschätzung. Die Beteiligung an der Wahl in der vorvergangenen Woche war europaweit so gering wie noch nie, zugleich wurden noch nie so viele EU-Gegner ins Europäische Parlament gewählt. Wie kommt es, dass etliche Europäer keine positive Bindung an den Staatenbund haben? Pazzini: Bei diesen Wahlen haben wir mit ungeheuren Abstraktionen zu tun: Ich entscheide mich für jemanden, den ich kaum kenne. Die Europapolitiker sind zu weit weg, als dass Bindung entstehen könnte. SPIEGEL: Wie entsteht Bindung? Pazzini: Durch einen Prozess, den wir Analy - tiker Übertragung nennen ein elementares menschliches Phänomen. Am besten kann ich Ihnen das am Beispiel der individuellen Entwicklung erklären: Wir alle kommen hilflos auf die Welt und könnten auf uns allein gestellt nur ein paar Stunden überleben. Von Anfang an ist also der Mensch darauf angewiesen, andere für sich zu interessieren, sie dazu zu bringen, sich um ihn zu kümmern. Er lernt, die Frage denkend, handelnd, fühlend zu beantworten: Was will der andere, wie soll ich sein? Das alles spielt sich nicht kognitiv-bewusst ab, sondern es passiert. Und in diesen Übertragungsprozessen zwischen Kind und Eltern, Familie, Schule und so weiter fließen Energien hin und her, beide Seiten bewegen sich unentwegt. SPIEGEL: Wenn solche Prozesse generell Beziehungen bestimmen, dann doch auch die zwischen Wählern und Kandidaten. Pazzini: Das könnte im besten Fall so sein. Aber ich fürchte, es funktioniert nur, wenn Analytiker Pazzini auf einer Couch im Hamburger SPIEGEL-Haus: Differenzierte soziale Gebilde brauchen flexible Bürger 134 DER SPIEGEL 23 / 2014

135 FOTOS: HENNING BODE / DER SPIEGEL (L.); JEFF J MITCHELL / GETTY IMAGES (R.O.); GILLES ROLLE / REA / LAIF (R.U.) die Wähler tatsächlich Nähe empfinden zu demjenigen, den sie wählen sollen. Der Heranwachsende lernt zwar durchaus, die Übertragung sozusagen auf längere Strecke zu bringen, doch die Distanzen lassen sich nicht unendlich verlängern. SPIEGEL: Und wenn wir nicht von Beziehungen zu Politikern sprechen, sondern von innerer Bindung an einen Kontinent, an eine historische Konstruktion mit Namen Europa? Pazzini: Auch da haben wir das Problem der Abstraktion: Europa ist eine politische Einheit, für die ich keine sinnliche Vorstellung habe. Vor 150 Jahren lag das, worüber die Menschen entscheiden mussten, meist in ihrer Nähe. Oder die Kirche, die eben buchstäblich noch im Dorf war, nahm den Menschen die Entscheidungen ab. Inzwischen leben wir in ungeheuer komplizierten Verhältnissen, und dazu braucht es entsprechende Denk- und Wahrnehmungs - modelle. Die aber haben sich nicht automatisch mitentwickelt. SPIEGEL: Deshalb entsteht politische Apathie beziehungsweise Abwehr? Pazzini: Jedenfalls müssen wir akzeptieren, dass es offenbar nicht damit getan ist, dass die Leute eine Stimme haben. Die Verhältnisse müssen auch so organisiert sein, dass es da eine Rückbindung an das gibt, was für uns sinnlich erfahrbar ist. Schon unsere Staaten sind ja zum Beispiel kaum mehr anschaulich begrenzt. Eine Landschaft, eine Region wird durch einen Fluss geteilt, ein Wechsel der Landessprache oder des Dialekts macht mir unmittelbar klar, dass da etwas anderes beginnt. Auch die Religionszugehörigkeit ist lange Zeit ein fassbares Merkmal von Grenze gewesen. Viele unserer nationalstaatlichen Grenzen aber sind Folgen politischer Fiktionen. SPIEGEL: Die Vergangenheit Europas ist von Nationalstaaten und deren historischen Symbolen geprägt. Alle kennen den Eiffel - turm, aber der steht eben in Paris, und die kleine Meerjungfrau gehört den Dänen. Wie könnte Europa als Gemeinschaft sinnlich fassbar werden? Müsste Brüssel den Europäern neue Symbole verordnen? Pazzini: Zunächst müsste es wohl so etwas geben wie eine erfahrbare europäische Regierung. Bislang ist vieles ja schwer durchschaubar. Es gibt eine europäische Außenbeauftragte, aber wenn es ernst wird im Konflikt mit der Ukraine, dann reisen doch die Außenminister von Deutschland, von Polen und Frankreich an. Das heißt aber, die nationalen Re - gierungen müssten Macht abgeben, es braucht ein europä isches Parlament mit starken Befugnissen. Im Moment herrschen eher Entscheidungslosigkeit oder Zögerlichkeit, und das hat psychisch in der Regel Depression zur Folge. Die europäische Atmosphäre würde ich als exquisit depressiv bezeichnen. Europäische Populisten im Wahlkampf* Identifikation ist die intensivste und schnellste Form von Bindung und die gefährlichste SPIEGEL: Für Populisten allerdings konnten sich erstaunlich viele Franzosen, Dänen, Österreicher oder Ungarn begeistern. Begeisterung herrscht auch jenseits der Grenzen der EU für einen populistischen Herrscher: Die Bewohner der Russischen Föde - ration sind zurzeit ganz hingerissen von ihrem Präsidenten Wladimir Putin. Wie kommt das? Pazzini: Die populistische Politik beruht auf Identifikation. Das ist eine zugespitzte und eine vertikale Form von Bindung: Dieser Mensch tritt mit markanten Eigenschaften auf Stärke beispielsweise, Durchsetzungskraft, Treue zur Tradition. Er ist so, wie ich selbst gern wäre, und so ist er auch einer, von dem ich mich vertreten lassen kann. Identifikation ist die kürzeste, die intensivste und die schnellste Form von Bindung und die gefährlichste. SPIEGEL: Inwiefern ist sie gefährlich? Pazzini: Nun, diese Erfahrung haben wir in Deutschland ja zur Gänze gemacht, zwölf Jahre lang. Die emotionale Intensität der Identifikation ist gefährlich, aber auch ihre vertikale Ausrichtung. Denn zugunsten der Identifikation nach oben, zu einem Führer, brechen oft die horizontalen Identifikationen weg, oder sie verlieren an Stärke. Ich kann die um mich herum dann nur noch als Gleiche wahrnehmen: als Volksgenossen zum Beispiel, als Arier, als Führertreue. Mit all jenen, die anders aussehen, sich anders bewegen, eine andere Herkunft haben oder zum Beispiel mit einem gelben Stern als anders gekennzeichnet werden, kann ich keine Beziehungen mehr unterhalten. Diese Trennungen im Horizontalen sind politisch gewollt, damit die vertikale Identifikation aufrechterhalten bleibt. Diese vertikale Identifikation ist natürlich ungeheuer erleichternd, weil sie mir das Zweifeln, das Nachdenken und die Entscheidungen abnimmt. Und die Schuld. SPIEGEL: Welche Schuld? Pazzini: Jene Schuld, die immer bei Entscheidungen entsteht. Ich kann die Konsequenzen einer Entscheidung ja niemals * Oben: Wahlplakat des britischen Politikers Nigel Farage, Vorsitzender der United Kingdom Independence Party; unten: Auftritt der französischen Politikerin Marine Le Pen, Vorsitzende des rechten Front national. DER SPIEGEL 23 /

136 Queen Elizabeth bei Ordensverleihung 2012 in London: Eine Mama, zu der man aufsehen kann voll übersehen, ich bleibe immer etwas schuldig. Und Schuld macht Angst. SPIEGEL: Wohin damit also? Pazzini: Früher haben die Religionen es übernommen, die Gläubigen von ihrer Schuld zu entlasten. Da die Religionen heute keine so große Rolle mehr spielen, die Leute aber natürlich genauso wie früher vor großen Entscheidungen stehen, denken sie sich Methoden aus, mit denen sie den Entscheidungsspielraum künstlich kleiner wirken lassen. In Institutionen, in Krankenhäusern und Universitäten zum Beispiel, einigt man sich auf Zahlenspiele, auf Quantifizierungen, auf Leistungskoeffi - zienten. Da bekommt die Mathematik eine Funktion, wie sie früher die theologische Dogmatik hatte. Und wenn nun ein Populist oder ein Despot diese Schuldgefühle, die durch Entscheidungen entstehen, auf sich nimmt, wenn er außerdem Unzufriedenheit sammelt und auf andere lenkt, dann ist das eine enorme Entlastung. SPIEGEL: Mit der Demokratie hat die senkrechte Identifikation wenig zu tun? Pazzini: Die Demokratie lebt vom diskursiven Austausch, vom Streit in der Horizontalen und von den Mittelwerten zwischen Ja und Nein. Da entstehen Spannungen. SPIEGEL: Die Demokratie ist also gefährdet, weil sie den Menschen zu viel abverlangt? Pazzini: Es gibt jedenfalls Demokratieformen, die dem Menschen gemäßer sind als die unsere. Die europäischen Königshäuser zum Beispiel schaffen Identifikation, vor allem die Engländer sind da zu beneiden: die älteste moderne Demokratie, in der die horizontale Identifikation gepflegt wird, daneben aber das vertikale Modell, Mama und Papa, zu denen man aufsehen kann. Natürlich wird das von den meisten mit Ironie betrachtet, aber es stiftet eben auch Gemeinsamkeit. Parlament und Königshaus bedienen moderne und archa - ische Muster, erwachsene und kindliche * Elke Schmitter und Susanne Beyer in Hamburg. Bedürfnisse, horizontale und vertikale Identifikation und zwar gleichzeitig. Das ist es, woran es Europa fehlt. SPIEGEL: Wenn das Leben in einer Demokratie den Menschen abverlangt, ein Leben zwischen Ja und Nein, zwischen richtig und falsch zu führen: Wie lässt sich das lernen? Pazzini: Zum Beispiel durch die Wahrnehmung von Kunst. Wenn Sie eine zeitgenössische Ausstellung besuchen, dann machen Sie die Erfahrung, dass Sie manches verstehen, vieles nicht. Das eine interessiert Sie, das andere nicht, aber niemand zwingt Sie, sich zu entscheiden. Diese Art von Aufmerksamkeit hilft, Widersprüche wahrzunehmen, ohne sie tilgen zu müssen. Sie hilft auch, Spannungen zu bewältigen, die in komplexen Situationen nun einmal entstehen. Und differenzierte soziale Gebilde wie Europa oder auch die Bundesrepublik brauchen Bürger, die zu dieser Art von innerer Flexibilität bereit sind. Sie brauchen Individuen, die nicht durchgängig auf Ja-Nein-Muster angewiesen sind. SPIEGEL: Man könnte das Bildung nennen. Pazzini: Ich kenne ja als Erziehungswissenschaftler die deutschen Bildungspläne, und die gehen genau in die entgegengesetzte Richtung. Gespart wird am Musikunterricht, an der Kunst, dem Theaterspiel. Also überall dort, wo Schüler lernen können, ihre Wahrnehmung zu schulen und mit Ambivalenzen umzugehen. Pazzini, SPIEGEL-Redakteurinnen* Europäer müssen mit Ambivalenzen leben SPIEGEL: Wenn die Klientin Europa mit diesen Klagen mich mag keiner, obwohl ich mir Mühe gebe auf Ihrer Couch läge, wie würden Sie mit ihr arbeiten? Pazzini: Wenn eine Klientin zu mir in die Analyse kommt und immer wieder be - richtet, dass sie keiner mag, schließe ich daraus, dass sie sich davor schützen will, zu sehr gemocht zu werden. SPIEGEL: Was ist daran gefährlich? Pazzini: Wenn man gemocht wird, dann ist man beeinflussbar, dann lösen sich Grenzen auf, und man bemerkt die Abhängigkeit vom anderen. Die Analysandin hat aber Gründe, diese Gefühle zu vermeiden, und diese Gründe gilt es in der Lebens - geschichte zu ermitteln. Wenn jemand sich nicht abhängig machen will, kann es daran liegen, dass er sich als Kind von seinen Eltern ausgebeutet gefühlt hat; manche Eltern nutzen ihre Kinder ja wie Prothesen für ihre Defizite. Aus der Erfahrung, dass Bindung schädlich sein kann, entsteht Angst vor Bindung. Eine Sehnsucht nach Bindung bleibt natürlich, aber wenn man in die Nähe dieser Sehnsucht gerät, wenn Nähe also möglich wäre, dann wird auch die alte Verletzung, die alte Angst wieder virulent. Und so kommt dann tendenziell jeder lebendige Austausch zum Erliegen. SPIEGEL: Europa aber ist ein verletzter Kontinent, Europa war der Schauplatz zweier Weltkriege und der Jugoslawien-Kriege. Wie kann so etwas überhaupt heilen? Pazzini: Der französische Präsident François Mitterrand und der deutsche Kanzler Helmut Kohl standen 1984 Hand in Hand bei Verdun auf einem Soldatenfriedhof. Sie gedachten dort der fürchterlichen Konfrontationen zweier Weltkriege. Sie berührten eine tiefe Narbe, hörten mit der Vermeidung auf, und so entstand Bindung. SPIEGEL: Vergangenheitsbewältigung hilft? Pazzini: Für eine gute psychische Entwicklung braucht es nicht nur die Vergegen - wärtigung der Vergangenheit, sondern auch die Erkenntnis, dass mit jeder Ver - änderung und Entwicklung bedeutet Veränderung Trennungen einhergehen. Trennung heißt: Gewohntes aufgeben. Die Deutschen haben im Jahr 1999 Bonn als Hauptstadt aufgegeben, nun verlangt man von ihnen, dass Berlin Macht an Brüssel abgibt. Das sind enorme Veränderungen, enorme Bewegungen in kurzer Zeit. Solche Abschiede, solche Bewegungen in eine neue Richtung sind mit Trauer verbunden. SPIEGEL: Also ist das Verharren, die Weigerung, sich zu Europa hinzubewegen, auch eine Art Trauervermeidung? Pazzini: Ja. Aber man muss sich klarmachen, dass ein Abschied eben auch Energie freisetzt und Platz schafft für etwas Neues. Trauer kann lustig machen. SPIEGEL: Herr Professor, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. FOTOS: PHOTOSHOT / PICTURE ALLIANCE / DPA (O.); HENNING BODE / DER SPIEGEL (U.) 136 DER SPIEGEL 23 / 2014

137 Kultur FOTOS: UNIVERSAL PICTURES Bist du groß geworden! Filmkritik Boyhood ist die faszinierende Chronik einer Kindheit. Die Dreharbeiten zogen sich über zwölf Jahre hin. In vielen Wohnungen, in denen Kinder leben, gibt es irgendwo einen Türrahmen, der übersät ist mit Markierungen, Querstrichen in unregelmäßigen Abständen, gezeichnet mit Bleistift oder Kuli. In der Regel steht neben jeder dieser Markierungen ein Datum, als Erinnerung an jenen Moment, in dem das Kind für ein paar Sekunden am Türrahmen verharrt, damit seine Größe von der Mutter oder dem Vater dokumentiert werden kann. Jede aktuelle Markierung für sich ist vollkommen sinnlos man sieht ja, wie groß das Kind gerade ist, aber wenn man im Rückblick die Striche vieler Jahre betrachtet, fängt der Türrahmen plötzlich an zu erzählen: Geschichten vom Nachwuchs im Wortsinn. Wie schnell der Junge damals in die Höhe geschossen ist; wie lange es trotzdem dauerte, bis er seine Schwester überholt hatte! Fehlende Striche über einen längeren Zeitraum, andere Handschriften, das kann darauf hindeuten, dass ein Familienmitglied ausgezogen oder gestorben ist. Der amerikanische Regisseur Richard Linklater, 53, hat dieses Prinzip der Nachwuchsvermessung auf einen Spielfilm übertragen: Boyhood ist die Chronik einer beinahe normalen Kindheit, inszeniert mit einmaligem Aufwand. Über einen Zeitraum von fast zwölf Jahren filmte Linklater immer wieder, wie ein Junge namens Mason (gespielt von Ellar Coltrane) heranwächst vom Grundschüler zum College-Studenten, wie er dabei Familiendramen, Umzüge, die Pubertät und Besuche beim Friseur überstehen muss, wie er sich erstmals verliebt, wie sich sein Blick auf die Welt verändert und die Welt sich mit ihm Tage vergingen vom ersten Drehtag im Frühjahr 2002 bis zur Premiere Anfang 2014 beim Sundance Filmfestival. In der Zwischenzeit trafen sich Linklater und seine Schau - spieler einmal pro Jahr für ein paar Tage und erarbeiteten neue Szenen. Das Ergebnis des in dieser Form einzigartigen Projekts ist einer der faszinierendsten Spielfilme der vergangenen Jahre, eine Kindheit im Zeitraffer, Momentaufnahmen aus zwölf Jahren, verdichtet auf 160 Kinominuten. Boyhood ist ein Ereignis, das jeden berühren dürfte, der Kinder hat oder Erinnerungen an die eigene Kindheit. Bei der Ber- Kinostart: 5. Juni. Darsteller Coltrane (jeweils rechts) Vom Grundschüler zum College-Studenten linale im Februar wurde der Film mit einem Silbernen Bären ausgezeichnet. Sechs Jahre alt ist Mason zu Beginn von Boyhood, er liegt auf einer Wiese und beobachtet die Wolken. Möglicherweise denkt er gerade an seinen Vater, den er kaum kennt. Masons Eltern sind geschieden, der Vater arbeitet in Alaska; der Junge lebt mit seiner Mutter (Patricia Arquette) und seiner älteren Schwester Samantha (Lorelei Linklater, eine Tochter des Regisseurs) in Texas. Das Geld ist knapp, die Mutter will noch einmal neu anfangen und studieren. Ein Umzug in die Großstadt steht an, nach Houston, die Kinder müssen natürlich mit, ob sie wollen oder nicht. Kinder sind konservativ, sie hassen Veränderungen. Eine neue Stadt, neue Schule, neue Freunde, das ist für viele Kinder keine Verheißung, sondern zunächst eine Horrorvorstellung. Regisseur Linklater findet dafür wunderbare Szenen. Im alten Haus werden die Spuren der Vergangenheit getilgt, Mason und seine Schwester helfen bei den Malerarbeiten; kurz sieht man einen mit Markierungen be - deckten Türrahmen. Einer seiner neuen Mitschüler begrüßt Mason mit den Worten: Willkommen in der Scheiße. Der Vater der Kinder, gespielt von Ethan Hawke, ist zurück aus Alaska. Er sucht den Kontakt zu Mason und Samantha, aber eine richtige Vaterrolle hat er noch nicht gefunden. Seine Unsicherheit kaschiert er mit Coolness. Wenn er seine Kinder an den Besuchstagen abholt, fährt er in einem Angeberauto vor, einem alten Pontiac GTO. Beim Bowling und auf Wochenendausflügen forscht der Vater seine Kinder über ihren Alltag aus; über sich selbst offenbart er lan - ge fast nichts. Dad, hast du einen Job?, fragt Mason, als er schon älter ist. Eine richtige Antwort bekommt er nicht. Auch darin zeigt Linklater, selbst ein Scheidungskind, eine typische Jungskindheit in Zeiten von hohen Trennungsraten und Patchwork-Familien: Verlässliche männliche Rollenvorbilder fehlen. Der Alltag, die Erziehung bleibt vor allem an den Müttern hängen. Das kostet Kraft und Nerven, bei Mutter und Kindern, aber auch bei jedem Vater, der mit seiner Nebenrolle hadert. Masons Mutter wird im Laufe des Films zweimal heiraten; ihre neuen Männer, Masons Stiefväter, erweisen sich, der eine mehr, der andere weniger, als Psychopathen mit Alkohol - problemen, als Auslöser für weitere Umzüge, neue Schulen, neue Freunde. Beiläufig ist Boyhood auch ein Porträt einer Epoche und eines Landes. Im Hintergrund laufen anfangs TV-Bilder vom Irak-Krieg, während Mason mit seinem Gameboy daddelt. Später feiert er eine Harry-Potter-Buchpremiere, noch später verteilt er mit seinem Vater Werbeposter für Barack Obama. Am Ende reißt Mason Witze über den NSA-Skandal, im Video: Ausschnitte aus Boyhood spiegel.de/app232014boyhood oder in der App DER SPIEGEL Autoradio läuft Get Lucky von Daft Punk. Mason ist erwachsen geworden, und jeder Zuschauer kann sagen: Ich bin dabei gewesen. Martin Wolf DER SPIEGEL 23 /

138 Impressum Ericusspitze 1, Hamburg, Telefon (040) Fax (Verlag), (Redaktion) HERAUSGEBER Rudolf Augstein ( ) CHEFREDAKTEUR Wolfgang Büchner (V. i. S. d. P.) STELLV. CHEFREDAKTEURE Klaus Brinkbäumer, Dr. Martin Doerry, Clemens Höges MITGLIED DER CHEFREDAKTION Nikolaus Blome (Leiter des Hauptstadtbüros) ART DIRECTION Uwe C. Beyer GESCHÄFTSFÜHRENDER REDAKTEUR Rüdiger Ditz Politischer Autor: Dirk Kurbjuweit DEUTSCHE POLITIK HAUPTSTADTBÜRO Stellvertretende Leitung: Christiane Hoffmann, René Pfister. Redaktion Politik: Nicola Abé, Dr. Melanie Amann, Horand Knaup, Ann-Katrin Müller, Peter Müller, Ralf Neukirch, Gordon Repinski. Autor: Markus Feldenkirchen Redaktion Wirtschaft: Sven Böll, Markus Dettmer, Cornelia Schmergal, Gerald Traufetter. Reporter: Alexander Neubacher, Christian Reiermann Meinung: Dr. Gerhard Spörl DEUTSCHLAND Leitung: Alfred Weinzierl, Cordula Meyer (stellv.), Dr. Markus Verbeet (stellv.); Hans-Ulrich Stoldt (Meldungen). Redaktion: Felix Bohr, Jan Friedmann, Michael Fröhlingsdorf, Hubert Gude, Carsten Holm, Charlotte Klein, Petra Kleinau, Guido Kleinhubbert, Bernd Kühnl, Gunther Latsch, Udo Ludwig, Maximilian Popp, Andreas Ulrich, Antje Windmann. Autoren, Reporter: Jürgen Dahlkamp, Dr. Thomas Darnstädt, Gisela Friedrichsen, Beate Lakotta, Bruno Schrep, Katja Thimm, Dr. Klaus Wiegrefe Berliner Büro Leitung: Frank Hornig. Redaktion: Sven Becker, Markus Deggerich, Özlem Gezer, Sven Röbel, Jörg Schindler, Michael Sontheimer, Andreas Wassermann, Peter Wensierski. Autoren: Stefan Berg, Jan Fleischhauer, Konstantin von Hammerstein WIRTSCHAFT Leitung: Armin Mahler, Michael Sauga (Berlin), Susanne Amann (stellv.), Marcel Rosenbach (stellv., Medien und Internet). Redaktion: Markus Brauck, Isabell Hülsen, Alexander Jung, Nils Klawitter, Alexander Kühn, Martin U. Müller, Jörg Schmitt, Janko Tietz. Autoren, Reporter: Markus Grill, Dietmar Hawranek, Michaela Schießl AUSLAND Leitung: Britta Sandberg, Juliane von Mittelstaedt (stellv.), Mathieu von Rohr (stellv.). Redaktion: Dieter Bednarz, Manfred Ertel, Jan Puhl, Sandra Schulz, Samiha Shafy, Daniel Steinvorth, Helene Zuber. Autoren, Reporter: Ralf Hoppe, Susanne Koelbl, Dr. Christian Neef, Christoph Reuter Diplomatischer Korrespondent: Dr. Erich Follath WISSENSCHAFT UND TECHNIK Leitung: Rafaela von Bredow, Olaf Stampf. Re - daktion: Dr. Philip Bethge, Manfred Dworschak, Katrin Elger, Marco Evers, Dr. Veronika Hackenbroch, Laura Höflinger, Julia Koch, Kerstin Kullmann, Hilmar Schmundt, Matthias Schulz, Frank Thadeusz, Christian Wüst. Autor: Jörg Blech KULTUR Leitung: Lothar Gorris, Susanne Beyer (stellv.). Redaktion: Lars-Olav Beier, Dr. Volker Hage, Ulrike Knöfel, Philipp Oehmke, Tobias Rapp, Katharina Stegelmann, Claudia Voigt, Martin Wolf. Autoren, Reporter: Georg Diez, Wolfgang Höbel, Thomas Hüetlin, Dr. Joachim Kronsbein, Dr. Romain Leick, Elke Schmitter, Dr. Susanne Weingarten KULTURSPIEGEL: Marianne Wellershoff (verantwortlich). Tobias Becker, Anke Dürr, Maren Keller, Daniel Sander GESELLSCHAFT Leitung: Ullrich Fichtner, Matthias Geyer, Barbara Supp (stellv.). Redaktion: Fiona Ehlers, Hauke Goos, Barbara Hardinghaus, Wiebke Hollersen, Ansbert Kneip, Katrin Kuntz, Dialika Neufeld, Bettina Stiekel, Jonathan Stock, Takis Würger. Reporter: Uwe Buse, Jochen-Martin Gutsch, Guido Mingels, Cordt Schnibben, Alexander Smoltczyk SPORT Leitung: Gerhard Pfeil, Michael Wulzinger. Redaktion: Rafael Buschmann, Lukas Eberle, Maik Großekathöfer, Detlef Hacke, Jörg Kramer SONDERTHEMEN Leitung: Dietmar Pieper, Annette Großbongardt (stellv.). Redaktion: Annette Bruhns, Angela Gatterburg, Uwe Klußmann, Joachim Mohr, Bettina Musall, Dr. Johannes Saltzwedel, Dr. Eva-Maria Schnurr, Dr. Rainer Traub MULTIMEDIA Jens Radü; Alexander Epp, Roman Höfner, Marco Kasang, Bernhard Riedmann CHEF VOM DIENST Thomas Schäfer, Anke Jensen (stellv.), Katharina Lüken (stellv.), Holger Wolters (stellv.) SCHLUSSREDAKTION Christian Albrecht, Gesine Block, Regine Brandt, Lutz Died richs, Bianca Hunekuhl, Ursula Junger, Sylke Kruse, Maika Kunze, Stefan Moos, Reimer Nagel, Manfred Petersen, Fred Schlotterbeck, Sebastian Schulin, Tapio Sirkka, Ulrike Wallenfels PRODUKTION Solveig Binroth, Christiane Stauder, Petra Thormann; Christel Basilon, Petra Gronau, Martina Treumann BILDREDAKTION Michaela Herold (Ltg.), Claudia Jeczawitz, Claus-Dieter Schmidt; Sabine Döttling, Torsten Feldstein, Thorsten Gerke, Andrea Huss, Antje Klein, Elisabeth Kolb, Matthias Krug, Parvin Nazemi, Peer Peters, Karin Weinberg, Anke Wellnitz bildred@spiegel.de SPIEGEL Foto USA: Susan Wirth, Tel. (001212) GRAFIK Martin Brinker, Johannes Unselt (stellv.); Cornelia Baumermann, Ludger Bollen, Thomas Hammer, Anna-Lena Kornfeld, Gernot Matzke, Cornelia Pfauter, Julia Saur, André Stephan, Michael Walter LAYOUT Wolfgang Busching, Jens Kuppi, Reinhilde Wurst (stellv.); Michael Abke, Katrin Bollmann, Claudia Franke, Bettina Fuhrmann, Ralf Geilhufe, Kristian Heuer, Nils Küppers, Sebastian Raulf, Barbara Rödiger, Doris Wilhelm Sonderhefte: Rainer Sennewald TITELBILD Suze Barrett, Arne Vogt; Iris Kuhlmann, Gershom Schwalfenberg Besondere Aufgaben: Stefan Kiefer REDAKTIONSVERTRETUNGEN DEUTSCHLAND BERLIN Pariser Platz 4a, Berlin; Deutsche Politik, Wirtschaft Tel. (030) , Fax ; Deutschland, Wissenschaft, Kultur, Gesellschaft Tel. (030) , Fax DRESDEN Steffen Winter, Wallgäßchen 4, Dresden, Tel. (0351) , Fax DÜSSELDORF Frank Dohmen, Barbara Schmid, Fidelius Schmid, Benrather Straße 8, Düsseldorf, Tel. (0211) , Fax FRANKFURT AM MAIN Matthias Bartsch, Martin Hesse, Simone Salden, Anne Seith, An der Welle 5, Frankfurt am Main, Tel. (069) , Fax KARLSRUHE Dietmar Hipp, Waldstraße 36, Karlsruhe, Tel. (0721) 22737, Fax MÜNCHEN Dinah Deckstein, Anna Kistner, Conny Neumann, Rosental 10, München, Tel. (089) , Fax STUTTGART Büchsenstraße 8/10, Stuttgart, Tel. (0711) , Fax REDAKTIONSVERTRETUNGEN AUSLAND BOSTON Johann Grolle, 25 Gray Street, Cambridge, Massachusetts, Tel. (001617) BRÜSSEL Christoph Pauly, Christoph Schult, Bd. Charlemagne 45, 1000 Brüssel, Tel. (00322) , Fax KAPSTADT Bartholomäus Grill, P. O. Box 15614, Vlaeberg 8018, Kapstadt, Tel. (002721) LONDON Christoph Scheuermann, 26 Hanbury Street, London E1 6QR, Tel. ( ) , Fax ( ) MADRID Apartado Postal Número , Madrid, Tel. (0034) spiegel@spiegel.de MOSKAU Matthias Schepp, Glasowskij Pereulok Haus 7, Office 6, Moskau, Tel. (007495) , Fax NEW YORK Alexander Osang, 10 E 40th Street, Suite 3400, New York, NY 10016, Tel. (001212) , Fax PARIS 12, Rue de Castiglione, Paris, Tel. (00331) , Fax PEKING Bernhard Zand, P.O. Box 170, Peking , Tel. (008610) , Fax RIO DE JANEIRO Jens Glüsing, Caixa Postal 56071, AC Urca, Rio de Janeiro-RJ, Tel. (005521) , Fax ROM Walter Mayr, Largo Chigi 9, Rom, Tel. (003906) , Fax SAN FRANCISCO Thomas Schulz, P.O. Box , San Francisco, CA 94133, Tel. (001212) TEL AVIV Julia Amalia Heyer, P.O. Box 8387, Tel Aviv-Jaffa 61083, Tel. (009723) , Fax TOKIO Dr. Wieland Wagner, Daimachi , Hachioji, Tokio , Tel. ( ) WARSCHAU P.O. Box 31, ul. Waszyngtona 26, PL Warschau, Tel. (004822) , Fax WASHINGTON Marc Hujer, Holger Stark, 1202 National Press Building, Washington, D.C , Tel. (001202) , Fax DOKUMENTATION Dr. Hauke Janssen, Cordelia Freiwald (stellv.), Axel Pult (stellv.), Peter Wahle (stellv.); Jörg-Hinrich Ahrens, Dr. Susmita Arp, Dr. Anja Bednarz, Ulrich Booms, Viola Broecker, Dr. Heiko Buschke, Andrea Curtaz-Wilkens, Johannes Eltzschig, Johannes Erasmus, Klaus Falkenberg, Catrin Fandja, Anne-Sophie Fröhlich, Dr. André Geicke, Silke Geister, Thorsten Hapke, Susanne Heitker, Carsten Hellberg, Stephanie Hoffmann, Bertolt Hunger, Kurt Jansson, Michael Jürgens, Tobias Kaiser, Renate Kemper-Gussek, Jessica Kensicki, Ulrich Klötzer, Ines Köster, Anna Kovac, Peter Lakemeier, Dr. Walter Lehmann- Wiesner, Michael Lindner, Dr. Petra Ludwig-Sidow, Rainer Lübbert, Sonja Maaß, Nadine Markwaldt-Buchhorn, Dr. Andreas Meyhoff, Gerhard Minich, Cornelia Moormann, Tobias Mulot, Bernd Musa, Nicola Naber, Margret Nitsche, Sandra Öfner, Thorsten Oltmer, Dr. Vassilios Papadopoulos, Axel Rentsch, Thomas Riedel, Andrea Sauerbier, Maximilian Schäfer, Marko Scharlow, Rolf G. Schierhorn, Mirjam Schlossarek, Dr. Regina Schlüter-Ahrens, Mario Schmidt, Thomas Schmidt, Andrea Schumann-Eckert, Ulla Siegenthaler, Rainer Staudhammer, Tuisko Steinhoff, Dr. Claudia Stodte, Stefan Storz, Rainer Szimm, Dr. Eckart Teichert, Nina Ulrich, Ursula Wamser, Peter Wetter, Kirsten Wiedner, Holger Wilkop, Karl-Henning Windelbandt, Anika Zeller, Malte Zeller LESER-SERVICE Catherine Stockinger NACHRICHTENDIENSTE AFP, AP, dpa, Los Angeles Times / Washington Post, New York Times, Reuters, sid SPIEGEL-VERLAG RUDOLF AUGSTEIN GMBH & CO. KG Verantwortlich für Anzeigen: Norbert Facklam Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 68 vom 1. Januar 2014 Mediaunterlagen und Tarife: Tel. 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Wollen Sie wegen vertraulicher Informationen direkt Kontakt zum SPIEGEL aufnehmen, stehen Ihnen folgende Wege zur Verfügung: Post: DER SPIEGEL, c/o Briefkasten, Ericusspitze 1, Hamburg PGP-verschlüsselte Mail: briefkasten@spiegel.de (den entsprechenden PGP-Schlüssel finden Sie unter Telefon: , Stichwort Briefkasten Fragen zu SPIEGEL-Artikeln/Recherche Telefon: (040) Fax: (040) artikel@spiegel.de Nachdruckgenehmigungen für Texte, Fotos, Grafiken Nachdruck und Angebot in Lesezirkeln nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags. Das gilt auch für die Aufnahme in elektronische Datenbanken und Mailboxen sowie für Vervielfältigungen auf CD-Rom. 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K.O.P.: German Language Pub., 153 S Dean St, Englewood, NJ Periodicals postage is paid at Paramus, NJ Postmaster: Send address changes to: DER SPIEGEL, GLP, P.O. Box 9868, Englewood, NJ Datum, Unterschrift des neuen Abonnenten SP14-001, SD SD (Upgrade) 138 DER SPIEGEL 23 / 2014

139 FOTOS: FABIAN BIMMER / AP (L.O.); FRIEDRICH / INTERFOTO (L.M.); DANIEL SIMON / GAMMA / STUDIO X (L.U.); ANTJE BERGHAEUSER / LAIF (M.O.); SHOOTING STAR / EYEVINE (R.U.) KARLHEINZ BÖHM, 86 Er wirkte wie der perfekte Mann, aufrichtig, charmant, geistreich und von blendendem Aussehen. Der österreichische Kaiser Franz Joseph, den Böhm in den Sissi -Filmen an der Seite von Romy Schneider verkörperte, machte den in Darmstadt geborene Schauspieler in den Fünfzigern zu einem Idol. Böhm verkörperte all das Gute und Reine, das es in Deutschland und Österreich nach dem Krieg nicht mehr zu geben schien. Doch vielleicht war Böhms Kaiser zu schön, um wahr zu sein. Der Star zertrümmerte sein Image und brüskierte seine Fans. In dem englischen Film Augen der Angst (1960) spielte er einen Kameramann, der Frauen ermordet, um ihre Todesangst zu filmen bis heute eines der packendsten und berührendsten Porträts männlicher Psychopathologie. Auch Rainer Werner Fassbinder nutzte die Strahlkraft Böhms, um dahinter Düsternis zu entdecken. In Martha (1974) ließ er ihn einen sadistischen Ehemann spielen, es wurde eine brillante Darstellung von schneidender Kälte gründete Böhm die Stiftung Menschen für Menschen und kämpfte gegen die Armut in Äthiopien. Für die Bewohner des Landes war das ein Segen, für das Kino ein herber Verlust. Karlheinz Böhm starb am 29. Mai in Grödig bei Salzburg. lob WOJCIECH JARUZELSKI, 90 Es war eine beklemmende Szene, die den General am 13. Dezember 1981 weltberühmt machte: Vor einer sozialistisch farblosen Kulisse verkündete er in Polen das Kriegsrecht. Damit war die erste nichtkommunistische Gewerkschaft des Ostblocks, die Solidarność, vorläufig erledigt. Zehntausend ihrer Anhänger ließ Jaruzelski internieren, bis zu hundert Menschen starben. Stets verbarg eine kastige Sonnenbrille sein Gesicht. Als Spross einer konservativen katholischen Familie war er unter Stalin nach Sibirien deportiert worden und hatte sich dort ein Augenleiden zugezogen. Dennoch machte er in der Armee des kommunistischen Polen Karriere. Er war mitverantwortlich, als Sicherheitskräfte 1970 in Danzig demonstrierende Arbeiter zusammenschossen. Das Kriegsrecht rechtfertigte er später als das kleinere Übel: Ansonsten wäre die Sowjetarmee gegen die Solidarność vorgegangen. Jaruzelski begriff allerdings auch, dass das Regime nicht mit Gewalt zu halten war, und ermöglichte 1989 die Gespräche am runden Tisch, in denen man sich auf eine friedliche Machtübergabe einigte. Wojciech Jaruzelski starb am 25. Mai in Warschau. jpu HELMA SANDERS-BRAHMS, 73 Deutschland schien in den Filmen der aus Emden stammenden Regisseurin sehr wenig Muttererde zu haben, in der man Wurzeln schlagen konnte, dafür umso mehr hartes Pflaster. Und weil Sanders-Brahms eine Vorliebe für besonders empfindsame Figuren hatte, erzählte sie oft Geschichten des tragischen Scheiterns, wie die der jungen Türkin in Shirins Hochzeit (1976), die sich in ihrer kalten neuen Heimat zurechtfinden muss, oder jene über den Dichter Heinrich von Kleist, der sich in Heinrich (1977) im eigenen Land fremd fühlt. Larmoyanz wurde ihr von Kritikern vorgeworfen, sie mache Frauenfilme, hieß es immer wieder. Dabei war sie im Männerchor des Neuen Deutschen Films eine Stimme, die gefehlt hatte, auch wenn ihre Tonlage bisweilen sehr hoch war. Ihr erfolgreichster Film Deutschland, bleiche Mutter (1980) handelt von einer Frau, die an der Nachkriegsgesellschaft zerbricht. Sie erzählte darin ihre eigene Familiengeschichte. Subjektive Filme waren in ihren Augen ehrliche Filme. Helma Sanders-Brahms starb am 27. Mai in Berlin. lob MALCOLM GLAZER, 85 Als der Milliardär aus Rochester, New York, 2005 den eng - lischen Fußballklub Manchester United für 1,2 Milliarden Euro übernahm, erhielt er reihenweise Morddrohungen von aufgebrachten Fans: Glazer hatte die für den Kauf notwendigen Kredite dem Verein aufgebürdet. Eine wertvolle Marke kaufen und deren Umsatz steigern, das war seine Investmentstrategie. ManU gewann unter seiner Nachrufe Kontrolle 2008 die Champions League und insgesamt fünf Meisterschaften. Seine Karriere als Geschäftsmann hatte der Sohn litauischer Einwanderer mit 15 begonnen, als er den Uhrenladen seines Vaters erbte. Die erste Million verdiente er mit dem Verkauf von Stellplätzen für Wohnwagen, er investierte in Pflegeheime, stieg ins Ölgeschäft ein und kaufte Supermärkte in der Karibik übernahm Glazer, der als Einsiedler galt und mit Stolz billige Hosen trug, für 192 Millionen Dollar die Tampa Bay Buccaneers damals ein maroder Klub der National Football League, heute über eine Milliarde Dollar wert. Malcolm Glazer starb am 28. Mai. mag MAYA ANGELOU, 86 Ihren größten Erfolg feierte die in St. Louis geborene Schriftstellerin mit ihren 1969 erschienenen Kindheits- und Jugenderinnerungen I Know Why the Caged Bird Sings ( Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt ). Darin erzählt Angelou von ihren traumatischen Erlebnissen in den Jahren der Rassentrennung: von ihrer Vergewaltigung in Kinderjahren, ihrem Verstummen danach und ihrer Schwangerschaft als 16-Jäh - rige. Mit sechs weiteren Bänden setzte die Autorin und Lyrikerin ihre autobiogra - fische Arbeit fort, berichtet von ihren Jobs als Tänzerin, Sängerin, Schauspielerin, Regisseurin, Professorin und Journalistin. Auch als Bürgerrechtlerin war Angelou aktiv, sie arbeitete mit Martin Luther King zusammen. Maya Angelou starb am 28. Mai in Winston-Salem, North Caro lina. kle DER SPIEGEL 23 /

140 Personalien Vielleicht werd ich mal ne Ratte Der in Baden-Württemberg ge - borene Musiker Carlo Waibel, 24, hat seit 2012 als Rapper Cro mehr als 1,7 Millionen Alben, Singles und Downloads verkauft. SPIEGEL: Cro, diese Woche kommt Ihr zweites Album Melodie auf den Markt. Hatten Sie Angst, nach dem großen Erfolg von Raop ein neues Album rauszu bringen? Cro: Ich hatte keinen Schiss, nur Bock. Außer beim Titelsong Melodie. Der ist erst aus dem Gefühl von Oh Gott, es wird nicht laufen, entstanden. Aber ich bin ganz gut in den Erfolg rein - gewachsen. SPIEGEL: Spielt Ihr Marken - zeichen, die Panda-Maske, dabei eine Rolle? Cro: Ja, voll. Wenn ich keinen Bock mehr auf den Trubel hab: Maske ab. SPIEGEL: Werden Sie dabei bleiben? Cro: Unbedingt. SPIEGEL: Für immer der süße Panda. Cro: Vielleicht werd ich mal ne Ratte. Ach, nee, die wäre ja nicht so süß, dann hätte ich ja die Seiten gewechselt. SPIEGEL: Auf dem neuen Album geht es in mindestens fünf Liedern um Liebe. Liebt es sich leichter, seitdem Sie berühmt sind? Cro: Nee, es ist alles viel komplizierter. Ich stell mich als Carlo vor, und es dauert keine Stunde, bis sie herausgefunden hat, wer ich bin. Auf einmal ist das Mädchen ganz anders. Das ist wie eine zersprungene Glasscheibe, nicht mehr zu retten. FOTOS: IMAGO (O.); LUCAS JACKSON / REUTERS (U.L.) Bill Gates, 58, Philanthrop, musste seinen Spenden - beitrag für die Bill & Melinda Gates Foundation senken. Von 1994 bis 2001 steckte er insgesamt 25 Milliarden Dollar in die Stiftung, von 2002 bis 2012 noch 3,7 Mi l - liarden. Damit die Organisation ihren steuerlich begünstigten Status behält, müssen jährlich fünf Prozent des Stiftungsvermögens ausgegeben werden. Die Summen wurden so groß, dass es schwierig geworden sei, diese Beträge in sinnvolle Projekte zu investieren, so ein Sprecher: Mehrere Milliarden Dollar zu verteilen sei eine gewaltige Aufgabe. Bill Heffernan, 71, australischer Politiker, versetzte seinen Kollegen im Parlamentsgebäude in Canberra vergangene Woche einen wohlkalkulierten Schock. Während eines Hearings zog er Gegenstände aus einer Plastiktüte, die wie eine Rohrbombe und eine elektronische Sprengvorrichtung aussahen. Das vermeintlich explosive Material es handelte sich um Attrappen hatte er mühelos an den Kontrollen vorbeischmuggeln können. Mit echten Sprengsätzen dieses Ausmaßes, so Heffernan, könne man einen nicht unerheblichen Teil des Hauses in die Luft jagen. 140 DER SPIEGEL 23 / 2014

141 Model in Troja FOTOS: COLLECTION CHRISTOPHEL / ACTION PRESS (O.L.); JONATHAN KEENAN (O.R.); VIA INSTAGRAM (M.); PHOTOSHOT (U.L.); GETTY IMAGES (U.R.) Fiktiv und lebendig Die Rolle des Sherlock in der gleichnamigen BBC-Miniserie war für den britischen Schauspieler Benedict Cumberbatch, 37, ein Glücksfall: Sie brachte ihm internationale Bekanntheit. Nebenbei sorgte sie dafür, dass Arthur Canon Doyles fiktiver Detektiv auch einer jüngeren Generation ein Begriff bleibt. Das Museum of London plant jetzt die Ausstellung Sherlock Holmes, die im Herbst starten soll. Mehrere Kostüme aus der Sherlock- Reihe werden dem Publikum den berühm - testen Londoner, der nie gelebt hat und nie sterben wird, näherbringen. Oligarchen-Sause Parallel zu seinem politischen Abstieg muss der Moskauer Magnat und Ex-Präsidentschaftskandidat Michail Prochorow, 49, nun sein Privatleben von Kreml-nahen Boulevardzeitungen kommentieren lassen. Das Schmuddelblatt Twoi djen, übersetzt Dein Tag, meldete einen neuen Sexskandal des Oligarchen. Mit einem angeblich über eine Tochterfirma des Verteidigungsministeriums gemieteten Flugzeug soll Prochorow 23 junge Frauen und eine berühmte russische Rock - gruppe zu seiner Unterhaltung auf die Seychellen geflogen haben. Prochorow verkündete am 21. Mai seinen Rückzug aus der Führung der liberalen Partei Bürgerplattform. Deren Popularität ist rapide gesunken: Kritik an der Annexion der Krim kommt derzeit nicht gut an. Knapp und daneben Mit 15 war die Britin Lily Cole zum ersten Mal Covergirl für die Vogue. Bald modelte sie für Chanel, Lacroix, Hermès und andere Luxusmarken. Doch statt ein Jetset- Leben zu wählen, studierte sie Kunst - geschichte, engagierte sich für Umweltschutz und soziale Projekte. Die heute 26-Jährige arbeitete einige Male als Schauspielerin, zumeist in eher unbekannten Filmen. Jetzt steht Cole erst in Manchester, dann in London auf der Theaterbühne: als die schöne Helena in The Last Days of Troy, einem Stück des Autors Simon Armitage. Den englischen Kri - tikern gefiel der Auftritt des Models: Coles Dar bietung sei vielschichtig, ihr Vortrag habe eine fesselnde Qualität. Sie hat es bestimmt gut gemeint, doch ihr Beitrag zur Kam - pagne #BringBackOurGirls löste einen Sturm der Entrüstung aus. Das Dessousmodel Irina Shayk, 28, Freundin von Cristiano Ronaldo, posierte halb nackt mit einem Pappschild vor der Brust, das den Slogan zur Unterstützung der entführten nigerianischen Schulmädchen zeigte, und postete ihre Bilder bei Facebook und Instagram. Die Kommentare reichten von absolut geschmacklos bis #bringbackirinasbrain. Michael Gove, 46, britischer Bildungsminister, muss sich mit mehr als aufgebrachten Müttern und Vätern auseinandersetzen. So viele Unterschriften hat eine Petition, die sich gegen eine von Gove initiierte Vorschrift richtet. Demnach soll es Eltern verboten sein, ihre Kinder aus privaten Gründen wie Familienfesten nicht zum Unterricht zu schicken. Die Eltern wollen mitreden -Gruppe begründet den Widerstand mit einem Menschenrecht auf Familienleben. Statistiken besagen, dass täglich mehr als Kinder aus familiären Gründen der Schule fernbleiben. Biz Stone, 40, Mitbegründer von Twitter, wird immer wieder von Verarmungsängsten geplagt. Stone ist in einfacheren Verhältnissen groß geworden, seine Schulkameraden jedoch stammten vorwiegend aus wohl - habenden Familien. Um seine Armut zu kaschieren, versuchte er, Designer-T-Shirts beim Schulfundbüro zu ergattern. Der Sunday Times erzählte er jetzt einen wiederkehrenden Albtraum: Er will eine Wohnung mieten, kann sie sich aber nicht leisten. Die Situation hat es tatsächlich einmal gegeben. Heute könnte ich wohl den ganzen Block kaufen, so Stone. DER SPIEGEL 23 /

142 Hohlspiegel Rückspiegel Aus der Ostsee-Zeitung: Trotz allen Einsatzes stellt der MDR schon vorab klar: Der Erfolg des Films wird sich nicht an Quoten zu messen haben. Ein Erfolg wäre, wenn viele Menschen einschalten. Aus dem Soester Anzeiger Aus der Main-Post: In der Marienkapelle steht die Orgel im Zentrum: Hier sind den Tag über Werke für Hirn und Orgel sowie für Saxofon und Orgel zu hören. Aus dem Allgäuer Anzeigeblatt Aus der Süddeutschen Zeitung: Doch es sind nicht bloß ein paar superreiche Männer, die eine Stiftung gründen sondern immer mehr Frauen und normale Bürger. Aus der Neuen Westfälischen: In den Bericht über den Verband der Europäischen Laminatfußbodenhersteller hat sich leider ein Fehler eingeschlichen. Die 21 Mitglieder steigerten 2013 ihren Weltmarktabsatz um 0,7 Prozent auf 463 Millionen Euro Quadratmeter nicht Euro. Aus der BaZ Kompakt Aus einer Anzeige der Havelklinik im Tagesspiegel: Venenerkrankungen sind alles andere als ein rein kosmetisches Problem, denn sie transportieren das Blut von den Füßen bis zum Herzen. Aus den Badischen Neuesten Nachrichten Zitate Die Berliner Zeitung zur SPIEGEL- Meldung Deutsche Bank knickt ein über Agrarspekulationen des Geldhauses (Nr. 22/2014): Darf man, während Menschen hungern, mit dem Auf und Ab von Lebensmittelpreisen Geld verdienen? Diese Frage wird zunehmend kontrovers diskutiert, weil seit etwa 2000 der Handel mit Agrarprodukten an den Finanzmärkten stark zunimmt und weil zudem die Preise für Agrarprodukte deutlich ge - stiegen sind. Die Deutsche Bank, einer der großen Spieler in dem Geschäft, sieht sich enormem öffentlichem Druck ausgesetzt und hat wiederholt einen teilweisen Rückzug angekündigt. In einem aktuellen Positionspapier, über das der SPIEGEL berichtet, zeigt sich der deutsche Branchenführer erneut einsichtig. Die Deutsche Bank verspricht demnach sicherzustellen, dass ihre Finanzanlagen nicht das Entstehen von Preisspitzen begünstigen. Die Welt zu den Morddrohungen gegen den SPIEGEL-ONLINE-Korrespondenten Hasnain Kazim: Als der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan in seiner Kölner Rede am Samstag Bundeskanzlerin Angela Merkel erwähnte, erklangen laute Buhrufe Nicht nur die Bundeskanzlerin wurde da ausgebuht, sondern auch die deutschen Medien, die Erdogan als verschworene Drahtzieher und Verbündete arroganter Gruppen in der Türkei nannte. Insbesondere traf es SPIEGEL-Korrespondent Hasnain Kazim. Ohne ihn beim Namen zu nennen, erwähnte Erdogan einen Jour - nalisten, der ihn zur Hölle gewünscht habe. Und fügte unheilschwanger hinzu: Der Schreiber kenne offenbar den Weg zur Hölle. Hasnain Kazim wurde von den Zuhörern ausgebuht, nachdem Erdogan sie aufgewiegelt hatte. Aber es war nicht Kazim, sondern ein Kumpel der Kohlegrube von Soma, der Erdogan nach dem dortigen Unglück vor zehn Tagen zur Hölle gewünscht hatte. Kazim hatte das lediglich zitiert. Seither steht er unter massivem Druck, erhält Todesdrohungen. So sehr, dass seine Redak tion ihn vorerst aus der Türkei abzog. Es ist ein Skandal, dass die Bundesregierung sich zum Druck der türkischen Führung gegen einen deutschen Korrespondenten noch mit keinem Wort geäußert hat. Wäre Vergleichbares einem US-Korrespondenten widerfahren, Washington hätte gewiss reagiert. 142 DER SPIEGEL 23 / 2014

der die und in den von zu das mit sich des auf für ist im dem nicht ein eine als auch es an werden aus er hat daß sie nach wird bei

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