Hessisches Ministerium des Innern und für Sport. Verfassungsschutz in Hessen. Bericht 2008

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1 Hessisches Ministerium des Innern und für Sport Verfassungsschutz in Hessen Bericht 2008

2 Hessisches Ministerium des Innern und für Sport Verfassungsschutz in Hessen Bericht 2008

3 ZU DIESER BROSCHÜRE AUFGABEN UND ORGANISATION DES LANDESAMTES FÜR VERFASSUNGSSCHUTZ HESSEN STRAF- UND GEWALTTATEN ISLAMISMUS Was ist Islamismus? Überblick Jihadisten in Hessen Der Begriff des Jihad Grundlagen der jihadistischen Ideologie Typische Radikalisierungsverläufe Terroristische Ausbildungslager Internationale islamistisch-terroristische Organisationen Al-Qaida Salafismus al-sahab Islamische Jihad Union (IJU) Globale Islamische Medien Front (GIMF) Gerichtsverfahren und Urteile Muslimbruderschaft (MB al-ikhwan al-muslimun) Muslimische Jugend in Deutschland e. V. (MJD) Islamische Widerstandsbewegung (HAMAS Harakat al-muqawama al-islamiya) Hizb Allah (Partei Gottes) Tablighi Jama at (TJ Gemeinschaft der Verkündigung und Mission) Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e. V. (IGMG) ALLGEMEINER AUSLÄNDEREXTREMISMUS Merkmale des Ausländerextremismus Überblick Kurdische Gruppen Volkskongress Kurdistans (KONGRA GEL Kongra Gel Kurdistan) Von der PKK zum KONGRA GEL: Entwicklungen und Ideologie Türkische Gruppen Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) Türkische Kommunistische Partei / Marxisten-Leninisten (TKP / ML) Iranische Gruppen Nationaler Widerstandsrat Iran (NWRI) / Volksmodjahedin Iran (MEK Modjahedin-E-Khalgh) Tamilische Organisationen Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE) RECHTSEXTREMISMUS Merkmale des Rechtsextremismus Überblick Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) Neonazis: Neustrukturierung der Szene Autonome Nationalisten Weitere wichtige Entwicklungen im Rechtsextremismus Rechtsextremistische Skinheads INHALTSVERZEICHNIS

4 Anti-Antifa Skinhead-Kleidung Heimattreue Deutsche Jugend (HDJ) Verbotsmaßnahmen gegen rechtsextremistische Vereine BETEILIGUNG EXTREMISTISCHER PARTEIEN AN DER LANDTAGSWAHL VOM 18. JANUAR Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) DIE LINKE.Hessen LINKSEXTREMISMUS Merkmale des Linksextremismus Überblick DIE LINKE Deutsche Kommunistische Partei (DKP) Rote Hilfe e. V. (RH) Autonome Autonome Aktionsfelder Aktuelle Entwicklungen und Tendenzen NUTZUNG DES INTERNETS DURCH EXTREMISTEN Allgemeines Islamismus und islamistischer Terrorismus Allgemeiner Ausländerextremismus Rechtsextremismus Linksextremismus ORGANISIERTE KRIMINALITÄT SPIONAGEABWEHR Aktivitäten fremder Nachrichtendienste in Hessen Syrische Nachrichtendienste Sudanesische Nachrichtendienste Nachrichtendienste der Russischen Föderation Iranische Nachrichtendienste Proliferation Wirtschaftsspionage Angebote für Beratung und Hilfe GEHEIM- UND WIRTSCHAFTSSCHUTZ Geheimschutz Wirtschaftsschutz ÖFFENTLICHKEITSARBEIT GESETZ ÜBER DAS LANDESAMT FÜR VERFASSUNGSSCHUTZ ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS REGISTER IMPRESSUM INHALTSVERZEICHNIS 3

5 ZU DIESER BROSCHÜRE Menschenrechte, Freiheit und Demokratie haben in unserem Land einen besonderen Stellenwert. Der Verfassungsschutz leistet einen wichtigen Beitrag, diese im Grundgesetz niedergelegten Werte zu sichern und zu erhalten. Seine Arbeit beginnt, wenn die Gefahr besteht, dass Freiheiten missbraucht werden, um solche Grundprinzipien außer Kraft zu setzen. Dazu beobachtet der Verfassungsschutz Bestrebungen, die verfassungsfeindlich sind und die Sicherheit des Landes gefährden. Der vorliegende Bericht dokumentiert anschaulich die Arbeitsergebnisse des hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz. Er gibt einen Überblick über die Phänomenbereiche des Extremismus, des Geheim- und Wirtschaftsschutzes sowie der Spionageabwehr und der Organisierten Kriminalität. Für den Bereich des Extremismus wird dabei eines deutlich: Deutschland gehört als Teil eines weltweiten Gefahrenraums weiterhin zum Zielspektrum islamistischer Terroristen. Die Gefahr von Anschlägen war noch nie so hoch. Zudem haben sich die Bedrohungsszenarien, denen sich die Sicherheitsbehörden gegenüber sehen, teilweise gewandelt. Die Identitätsprobleme der zweiten und dritten Einwanderergeneration bieten einen idealen Nährboden für gewaltbereite Islamisten, und die zunehmenden Bestrebungen dieser Fanatiker, sich in einem Terrorcamp ausbilden zu lassen, sind für die Sicherheitsbehörden ein besonderer Grund zur Sorge. Die Teilnahme an Ausbildungslagern ist ein ganz wesentlicher Baustein zur Radikalisierung. Die Kämpfer für die Sache Gottes die Jihadisten erwerben dort die erforderlichen Kenntnisse, um sich am weltweit geführten, gewaltsamen Jihad zu beteiligen. In diesen Lagern werden Netzwerke geknüpft, die für das Funktionieren islamistischterroristischer Aktivitäten von erheblicher Bedeutung sind. Ganz besonders wichtig sind jedoch auch die psychologischen Auswirkungen eines Aufenthaltes in einem Ausbildungslager: der Radikalisierungsgrad wird hierdurch in der Regel weiter erhöht. Von radikalisierten Muslimen, die einen Aufenthalt in einem solchen Ausbildungslager hinter sich haben, geht nach ihrer Rückkehr eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit aus. Diese Teilnahme an Terrorcamps nach Möglichkeit zu unterbinden, ist nicht nur eine wichtige Aufgabe für die Sicherheitsbehörden, sie ist auch ein Sicherheitsgewinn für die Bevölkerung. Der besonderen Aufmerksamkeit bedarf weiterhin die Entwicklung des Rechts- und Linksextremismus. Zwar nimmt gerade die Zahl der Straf- und Gewalttaten im Bereich des Rechtsextremismus ab. Das darf aber nicht darüber hinweg täuschen, dass innerhalb der rechtsextremistischen Szene eine stärkere Hinwendung zu anlassbezogenen und spontanen Aktivitäten entsteht. Obwohl derzeit bestehende Strukturen schwächer werden, ist diese Entwicklung eine Herausforderung. Der Grund liegt auf der Hand: Einzelaktivisten und spontane Zusammenschlüsse sind schwieriger zu kontrollieren als überschaubare feste Strukturen. Das Landesamt für Verfassungsschutz hat sich auf diese Veränderung bereits eingestellt. 4 ZU DIESER BROSCHÜRE

6 Im Bereich des Linksextremismus ist nach Jahren der Stagnation und des Rückgangs wieder eine Zunahme bei Autonomen zu verzeichnen. Das ist angesichts der Erkenntnisse über die zunehmende Konfrontation zwischen links- und rechtsextremistischen gewaltbereiten Gruppen eine ernst zu nehmende Entwicklung, zumal diese Gewalt häufig geplant und gezielt ausgeübt wird. Im vorliegenden Jahresbericht ist diese Entwicklung ausführlich dargestellt. Im öffentlichen Fokus steht zudem die Beobachtung der Partei DIE LINKE.. Aus dem Bericht geht hervor, welche Bedeutung linksextremistische Bestrebungen in ihr haben und sie daher vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Es muss auch weiterhin beobachtet werden, welchen Raum offene extremistische Plattformen innerhalb der Partei erhalten. Alle Phänomenbereiche des Extremismus haben gemeinsam, dass sie eine zielgerichtete und professionelle Jugendarbeit betreiben. Zahlreiche extremistische Organisationen und Strömungen richten sich mit einem speziell zugeschnittenen Angebot gezielt an Jugendliche und junge Erwachsene, zum Teil sogar schon an Kinder. Im Islamismus gehören Freizeitangebote, die scheinbar Glaubensinhalte vermitteln, zu den gängigen Methoden. Nicht zuletzt zielen auch die Videobotschaften mit Terrordrohungen aus den Ausbildungslagern direkt auf junge Aktivisten. Auch Rechtsextremisten bemühen sich um Jugendliche. Der Einstieg erfolgt hier oftmals über die Musik. Die linksextremistische autonome Szene führt junge Menschen ebenfalls über Jugendantifa-Gruppen an extremistische Ideologien heran. Die Erkenntnisse des Verfassungsschutzes über die Jugendarbeit der Extremisten sind von großer Bedeutung. Das gemeinsame Ziel der Sicherheitsbehörden, der Schulen, der Eltern und der Politik muss es sein, Kindern und Jugendlichen die besseren Angebote zu machen. Dieser Bericht stellt anschaulich dar, wie leistungsfähig das Landesamt für Verfassungsschutz ist. Auf Grund der Arbeit seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden die Sicherheitsbehörden in die Lage versetzt, notwendige Maßnahmen zum Schutz der Bürgerinnen und Bürger sowie der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu treffen. Ich danke dem hessischen Landesamt für Verfassungsschutz für diese wertvolle Arbeit. Mit Hilfe der Informationen aus dem Verfassungsschutzbericht können Sie, liebe Leserinnen und Leser, aufmerksam sein und sich im Dienst der Demokratie engagieren. Denn der Schutz unserer verfassungsrechtlichen Ordnung ist nur im Zusammenspiel aller zu gewährleisten. Wiesbaden, Mai 2009 Volker Bouffier Hessischer Minister des Innern und für Sport ZU DIESER BROSCHÜRE 5

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8 AUFGABEN UND ORGANISATION DES LANDESAMTES FÜR VERFASSUNGSSCHUTZ HESSEN

9 AUFGABEN UND ORGANISATION DES LANDES- AMTES FÜR VERFASSUNGSSCHUTZ HESSEN Organisation In der Bundesrepublik Deutschland gibt es 16 Landesbehörden für Verfassungsschutz. Ihre Aufgabe ist es gemäß Bundesverfassungsschutzgesetz, zur Zusammenarbeit des Bundes und der Länder Angelegenheiten des Verfassungsschutzes zu bearbeiten. Die Organisation der Landesbehörden ist unterschiedlich geregelt. Während einige Länder wie auch Hessen ihre Verfassungsschutzbehörden als Landesämter organisieren, die dem jeweils zuständigen Innenressort unterstellt sind, ist der Verfassungsschutz in anderen Ländern als Abteilung organisatorischer Bestandteil des jeweiligen Innenministeriums. Das Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) Hessen ist eine obere Landesbehörde und gehört zum Geschäftsbereich des Hessischen Ministeriums des Innern und für Sport. Es nahm seine Tätigkeit auf Grund des Gesetzes vom 19. Juli 1951 auf. Landesamt für Verfassungsschutz Hessen Dezernat C/G Geheimschutz Präsident Behördenleitung Dezernat S Stabsstelle Abteilung 1 Zentrale Dienste Abteilung 2 Auswertung Inlandsextremismus (Links-, Rechtsextremismus) Abteilung 3 Beschaffung Abteilung 4 Auswertung Islamismus / Allgemeiner Ausländerextremismus Dezernat 11 Verwaltung Dezernat 12 EDV und Kommunikation Dezernat 21 Linksextremismus Dezernat 22 Rechtsextremismus Dezernat 31 Dezernat 32 Dezernat 41 Islamismus und islamistisch-terroristische Organisationen Dezernat 42 Al-Qaida-nahe Netzwerke und Personenstrukturen Dezernat 13 Observation und Ermittlung Dezernat 43 Allgemeiner Ausländerextremismus und ausländerrechtliche Statusfragen Das LfV ist nur beobachtend und unterrichtend tätig. Ihm stehen polizeiliche Befugnisse oder Weisungsbefugnisse nicht zu. Es darf mit Polizeidienststellen organisatorisch nicht verbunden werden und darf Polizeibehörden auch im Wege der Amtshilfe nicht um Maßnahmen ersuchen, zu denen es selbst nicht befugt ist. 8 AUFGABEN UND ORGANISATION DES LANDESAMTES

10 Zur Erfüllung seiner Aufgaben standen dem LfV 221,5 Planstellen zur Verfügung. Der sächliche Haushalt betrug 2,66 Millionen Euro. Das LfV hat nach 2 Abs. 1 des Gesetzes über das Landesamt für Verfassungsschutz (LfV-Gesetz) vom 19. Dezember 1990 (GVBl. I S. 753), geändert am 6. September 2007 (GVBl. I S ) sowie zuletzt durch 32 des Hessischen Sicherheitsüberprüfungsgesetzes vom 28. September 2007 (GVBl. I S. 623), die Aufgabe, den zuständigen Stellen zu ermöglichen, rechtzeitig die erforderlichen Maßnahmen zur Abwehr von Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand und die Sicherheit des Bundes und der Länder zu treffen. Aufgaben Zur Wahrnehmung dieser Aufgaben sammelt und wertet das LfV Informationen über Bestrebungen aus, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind oder eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung der Verfassungsorgane des Bundes oder eines Landes oder ihrer Mitglieder zum Ziele haben oder sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeiten im Geltungsbereich des Grundgesetzes für eine fremde Macht sind oder durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen im Geltungsbereich des Grundgesetzes auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung, insbesondere gegen das friedliche Zusammenleben der Völker, gerichtet sind oder zur organisierten Kriminalität gehören. Sofern tatsächliche Anhaltspunkte für Bestrebungen vorliegen, die sich gegen den Kernbestand der Verfassung richten, werden sie vom LfV beobachtet. Zu den wesentlichen Elementen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zählen die in 2 Abs. 4 LfV-Gesetz aufgeführten Prinzipien: Das Recht des Volkes, die Staatsgewalt in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung auszuüben und die Volksvertretung in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl zu wählen, die Bindung der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung und die Bindung der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung an Gesetz und Recht, das Recht auf Bildung und Ausübung einer parlamentarischen Opposition, die Ablösbarkeit der Regierung und ihrer Verantwortlichkeit gegenüber der Volksvertretung, die Unabhängigkeit der Gerichte, der Ausschluss jeder Gewalt- und Willkürherrschaft und die im Grundgesetz und in der Verfassung des Landes Hessen konkretisierten Menschenrechte. Prinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung Das LfV Hessen interessiert sich nicht für politische Gesinnungen. Bestrebungen im Sinne des Verfassungsschutzgesetzes sind vielmehr allein zielgerichtete Aktivitäten, die AUFGABEN UND ORGANISATION DES LANDESAMTES 9

11 Extremistische Bestrebungen diesen Kernbestand unserer Verfassung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen versuchen. Sie werden als verfassungsfeindlich oder extremistisch bezeichnet. Sie können sich durch Handlungen wie Agitation, Vorbereitungen zu Gewaltakten oder durch sonstige politische Aktivitäten auch im Vorfeld von Straftaten ausdrücken. Politische Tätigkeiten, die zwar grundsätzlich die Gesellschafts-, Wirtschafts- und Rechtsordnung kritisieren, aber sich nicht gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung richten, werden als radikal bezeichnet. Sie werden vom LfV nicht beobachtet. Im Dienst der Auseinandersetzung mit verfassungsfeindlichen Bestrebungen erfolgt auch die Information der Öffentlichkeit durch das LfV. Gerade vor dem Hintergrund eines gestiegenen Bedrohungspotenzials insbesondere durch islamistische Terroristen gibt es auf Bundes- und Landesebene verschiedene Initiativen, die Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden zu intensivieren und so die Gefährdungssituation besser einschätzen und angemessen darauf reagieren zu können. Das LfV ist in diese vernetzten Strukturen integriert und arbeitet im bundesweiten Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) sowie im Gemeinsamen Internetzentrum (GIZ) mit. Die zur Erfüllung seiner Aufgaben notwendigen Informationen gewinnt das LfV vornehmlich aus offenen Quellen, das heißt aus Informationen, die jedermann zur Verfügung stehen. Dazu zählen Publikationen, öffentliche Veranstaltungen oder sonstige Aktivitäten in der Öffentlichkeit. Die Sammlung offenen Materials reicht aber zuweilen nicht aus, um ein vollständiges und sachgerechtes Bild von extremistischen, sicherheitsgefährdenden oder geheimdienstlichen Bestrebungen sowie Aktivitäten der Organisierten Kriminalität zu erhalten. Gerade Verfassungsfeinde arbeiten konspirativ, versuchen ihre wahren Ziele und Aktivitäten zu verschleiern oder geheim zu halten. Um den wahren Sachverhalt festzustellen, darf das LfV in solchen Fällen auch nachrichtendienstliche Mittel einsetzen. Nachrichtendienstliche Mittel Solche nachrichtendienstlichen Mittel sind z. B. die Observation, das Einschleusen oder Anwerben und Führen von Vertrauensleuten ( Quellen ) in extremistischen Organisationen, das geheime Fotografieren oder Tonaufzeichnungen, die Nutzung nachrichtendienstlicher Hilfsmittel wie Tarnausweise oder Tarnkennzeichen. Die Voraussetzungen für den Einsatz dieser Mittel sind in den 5 f. LfV-Gesetz näher geregelt. Ein besonderes nachrichtendienstliches Mittel ist die Überwachung des Brief-, Postoder Fernmeldeverkehrs. Wegen der besonderen Bedeutung dieses Eingriffs in das Grundrecht des Art. 10 Abs. 1 GG (Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis) ist ein solcher Eingriff nur unter den engen Voraussetzungen des G 10-Gesetzes zulässig. Vorausset- 10 AUFGABEN UND ORGANISATION DES LANDESAMTES

12 zung für eine Überwachung sind eine Anordnung durch den Hessischen Minister des Innern und für Sport sowie die vorherige Zustimmung der G 10-Kommission des Hessischen Landtags. Auf nachrichtendienstlichem Weg gewonnene Informationen können im Allgemeinen nicht öffentlich verwendet werden. Sie ermöglichen aber eine sachgerechte und quali - fizierte Bewertung der öffentlich zugänglichen Informationen. Sie sind daher für das Lagebild verfassungsfeindlicher Bestrebungen notwendig und unverzichtbar. Das LfV informiert regelmäßig die Parlamentarische Kontrollkommission Verfassungsschutz und die obersten Landesbehörden über seine Erkenntnisse. Im Einzelfall dürfen auch andere Behörden, z. B. die der Strafverfolgung, zur Erfüllung ihres Auftrages durch das LfV über einschlägige Erkenntnisse unterrichtet werden. Das LfV wirkt auf Ersuchen der zuständigen öffentlichen Stellen bei der Sicherheitsüberprüfung von Personen sowie bei technischen Sicherheitsmaßnahmen zum Schutz von geheimhaltungsbedürftigen Unterlagen mit. In Hessen war die Durchführung einer Sicherheitsüberprüfung bisher in Verwaltungsvorschriften geregelt. Mit dem Inkrafttreten des Hessischen Sicherheitsüberprüfungsgesetzes (HSÜG) am 29. September 2007 fand sie eine gesetzliche Verankerung. Sicherheitsüberprüfungen Das LfV wird als demokratisch legitimierte Behörde umfassend und von vielen Stellen kontrolliert, so etwa vom Hessischen Ministerium des Innern und für Sport im Rahmen der Dienst- und Fachaufsicht, durch die Parlamentarische Kontrollkommission Verfassungsschutz und die G 10-Kommission des Hessischen Landtages, vom Hessischen Datenschutzbeauftragten, durch den Hessischen Rechnungshof und nicht zuletzt durch die öffentliche Medienberichterstattung. Kontrolle AUFGABEN UND ORGANISATION DES LANDESAMTES 11

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14 STRAF- UND GEWALTTATEN

15 STRAF- UND GEWALTTATEN Die Polizei ist für die Erfassung von Straf- und Gewalttaten zuständig. In diesem Zusammenhang weist sie auf Grund eines Beschlusses der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren des Bundes und der Länder auch Straf- und Gewalttaten mit einer politischen Motivation (politisch motivierte Kriminalität) aus. Von einer politischen Motivation ist insbesondere dann auszugehen, wenn die Umstände der Tat oder die Einstellung des Täters darauf schließen lassen, dass die Tat wegen eines politischen Motivs verübt wurde. Bei Straf- und Gewalttaten, die sich gegen eine Person richten, gilt eine politische Motivation als gegeben, wenn die Person wegen ihrer politischen Einstellung, ihrer Nationalität, Volkszugehörigkeit, Rasse, Hautfarbe, Religion oder Weltanschauung, ihrer Herkunft, sexuellen Orientierung, Behinderung oder ihres äußeren Erscheinungsbildes bzw. ihres gesellschaftlichen Status Opfer ist. Mit Blick auf die unterschiedlichen Phänomenbereiche werden bei der Einordnung von Straftaten als politisch motiviert gerade auch Aspekte wie deren thematische Zuordnung, der Tathintergrund, eine mögliche internationale Dimension oder eine extremistische Ausprägung geprüft. Sofern ein Bezug zu extremistischen Bestrebungen erkennbar ist, werden diese politisch motivierten Straf- und Gewalttaten unter Berücksichtigung der eben genannten anderen Kriterien einem ausländerextremistischen, rechts- oder linksextremistischen Hintergrund zugeordnet. Das Hessische Landeskriminalamt weist für das Bundesland auch Zahlen für den Phänomenbereich Islamismus (islamistischer Extremismus und Terrorismus) aus. Die im vorliegenden Bericht genannten Zahlen zu den politisch motivierten Straftaten mit extremistischem Hintergrund basieren auf Angaben des Hessischen Landeskriminalamtes bzw. des Bundeskriminalamtes. Für den Bund sind die Zahlen für das Jahr 2008 erst teilweise verfügbar. Das Hessische Landeskriminalamt hat für den Bereich der politisch motivierten Kriminalität (2007: 1.405) Straf- und Gewalttaten erfasst. Diese haben allerdings nicht alle einen Bezug zu extremistischen Bestrebungen. Für die Darstellung im Verfassungsschutzbericht sind ausschließlich extremistische Straf- und Gewalttaten von Bedeutung. Deswegen sind auch mit Blick auf die hessischen Zahlen nur noch rund zwei Drittel aller Straf- und Gewalttaten für den Verfassungsschutz relevant, d. h. für das Jahr 2008 nur Auf Grund von Ermittlungsergebnissen oder Nachmeldungen können sich die Zahlen der Straf- und Gewalttaten aus den Vorjahren verändern, weil andere Zuordnungen möglich werden. Die Angaben für das Jahr 2008 sind also nur vorläufig : und damit rund drei Viertel der politisch motivierten Straf- und Gewalttaten. 14 STRAF- UND GEWALTTATEN

16 Politisch motivierte Straf- und Gewalttaten sowie politisch motivierte Straf- und Gewalttaten mit extremistischem Bezug Straf- und Gewalttaten gesamt Hessen Bund Extremistische Straf- und Gewalttaten gesamt Hessen Bund Davon Gewalttaten 3 Hessen Bund Die folgenden Ausführungen beziehen sich ausschließlich auf die Zahlen politisch motivierter Straf- und Gewalttaten mit extremistischem Bezug in Hessen. Seit Jahren sind die meisten Straf- und Gewalttaten (rund 78 % in den letzten beiden Jahren, %) dem rechtsextremistischen Phänomenbereich zuzurechnen. Dabei stellen Propagandadelikte den mit Abstand höchsten Anteil (576 Fälle, 2007: 568 Fälle). Sie werden in der Regel mit der Absicht begangen, den Nationalsozialismus zu verherrlichen. Meistens werden hierbei Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen (z. B. SS-Runen, Hakenkreuze) geschmiert bzw. entsprechende nationalsozialistische Symbole und Parolen in Wort und Schrift verbreitet. 109 Straftaten (2007: 153) wiesen einen fremdenfeindlichen Hintergrund auf. Straftaten mit einem antisemitischen Hintergrund wurden in 84 Fällen (2006: 92) erfasst. Die Zahl rechtsextremistischer Gewalttaten hat sich deutlich reduziert (25 Fälle, 2007: 32 Fälle). Es handelt sich fast ausschließlich um Körperverletzungen. Trauriger Höhepunkt war dabei der Überfall auf ein Jugendlager im Juli, bei dem eine 13-jährige massive Kopfverletzungen erlitt. (s. S. 97) Linksextremistischen Bestrebungen sind zwar nur noch rund ein Zehntel aller Straf- und Gewalttaten zuzurechnen (2008: 81 Fälle, 2007: 202 Fälle). Dabei ist die Zahl der in Hessen verübten Gewalttaten mit 25 Fällen identisch mit der der rechtsextremistischen Gewalttaten. Mit Blick auf die Gesamtzahl der Straf- und Gewalttaten von Linksextremisten ist der Anteil der Gewalttaten immer noch hoch. Die Straf- und Gewalttaten, die den Phänomenbereichen Allgemeiner Ausländerextremismus bzw. Islamismus zuzurechnen sind, sind im Verhältnis zu den Gesamtzahlen sehr gering. Dies darf jedoch nicht über das wirkliche Gefährdungspotenzial hinwegtäuschen: Dem islamistischen Terrorismus zuzurechnende Personen haben in den vergangenen Jahren wiederholt versucht, terroristische Anschläge zu verüben. Sollte eine solche Planung einmal erfolgreich sein, würde dies mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer hohen Zahl von Toten und Verletzten führen. Dass terroristische Gruppen dazu 1 Sechs Straftaten konnten nicht eindeutig einem Phänomenbereich zugeordnet werden Strafen konnten nicht eindeutig einen Phänomenbereich zugeordnet werden. 3 Hier sind nur Straftaten gezählt, die eindeutig einem Phänomenbereich zugeordnet werden. STRAF- UND GEWALTTATEN 15

17 auch jetzt grundsätzlich bereit sind, zeigen die anhaltenden Drohungen, die z. B. auch über deutschsprachige Videobotschaften verbreitet werden. (s. S. 37 ff. und S. 142 f.) Straf- und Gewalttaten Islamismus Gewalttaten Tötung Hessen Bund versuchte Tötung Hessen Bund Körperverletzung Hessen Bund Brandstiftung / Sprengstoffdelikte Hessen Bund Landfriedensbruch Hessen Bund Gefährliche Eingriffe in den Bahn-, Schiffs-, Luft- und Straßenverkehr Hessen Bund Freiheitsberaubung, Raub, Erpressung, Widerstandsdelikte Hessen Bund Gewalttaten gesamt Hessen Bund Sonstige Straftaten Sachbeschädigung Hessen Bund Nötigung / Bedrohung Hessen Bund andere Straftaten (insb. Propagandadelikte) Hessen Bund Straf- und Gewalttaten gesamt Hessen Bund 16 STRAF- UND GEWALTTATEN

18 Straf- und Gewalttaten Allgemeiner Ausländerextremismus 5 Straf- und Gewalttaten Tötung Hessen Bund versuchte Tötung Hessen Bund Körperverletzung Hessen Bund Brandstiftung / Sprengstoffdelikte Hessen Bund Landfriedensbruch Hessen Bund Gefährliche Eingriffe in den Bahn-, Schiffs-, Luft- und Straßenverkehr Hessen Bund Freiheitsberaubung, Raub, Erpressung, Widerstandsdelikte Hessen Bund Gewalttaten gesamt Hessen Bund Sonstige Straftaten Sachbeschädigung Hessen Bund Nötigung / Bedrohung Hessen Bund andere Straftaten (insb. Propagandadelikte) Hessen Bund Straf- und Gewalttaten gesamt Hessen Bund In den Zahlen des Bundes sind die Angaben der Straf- und Gewalttaten Islamistischer Extremismus und Terrorismus enthalten, die für Hessen gesondert ausgewiesen sind. STRAF- UND GEWALTTATEN 17

19 Straf- und Gewalttaten Rechtsextremismus Straf- und Gewalttaten Tötung Hessen Bund versuchte Tötung Hessen Bund Körperverletzung Hessen Bund Brandstiftung / Sprengstoffdelikte Hessen Bund Landfriedensbruch Hessen Bund Gefährliche Eingriffe in den Bahn-, Schiffs-, Luft- und Straßenverkehr Hessen Bund Freiheitsberaubung, Raub, Erpressung, Widerstandsdelikte Hessen Bund Gewalttaten gesamt Hessen Bund Sonstige Straftaten Sachbeschädigung Hessen Bund Nötigung / Bedrohung Hessen Bund andere Straftaten (insb. Propagandadelikte) Hessen Bund Straf- und Gewalttaten gesamt Hessen Bund STRAF- UND GEWALTTATEN

20 Straf- und Gewalttaten Linksextremismus Straf- und Gewalttaten Tötung Hessen Bund versuchte Tötung Hessen Bund Körperverletzung Hessen Bund Brandstiftung / Sprengstoffdelikte Hessen Bund Landfriedensbruch Hessen Bund Gefährliche Eingriffe in den Bahn-, Schiffs-, Luft- und Straßenverkehr Hessen Bund Freiheitsberaubung, Raub, Erpressung, Widerstandsdelikte Hessen Bund Gewalttaten gesamt Hessen Bund Sonstige Straftaten Sachbeschädigung Hessen Bund Nötigung / Bedrohung Hessen Bund andere Straftaten (insb. Propagandadelikte) Hessen Bund Straf- und Gewalttaten gesamt Hessen Bund STRAF- UND GEWALTTATEN 19

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22 ISLAMISMUS

23 ISLAMISMUS Was ist Islamismus? Politisch-totalitäre Ideologie Mit dem Begriff Islamismus werden alle Erscheinungsformen des islamischen Extremismus zusammengefasst. Dabei handelt es sich um politisch-totalitäre Ideologien, die den Islam als ein alle Bereiche des privaten und öffentlichen Lebens umfassendes System begreifen. Islamisten lehnen daher eine Trennung von Staat und Religion ab und wollen das gesamte politische und gesellschaftliche Leben religiös begründeten Normen unterwerfen. Eine säkulare Demokratie ist ihrer Überzeugung nach nicht mit dem Willen Allahs vereinbar. Das Ziel islamistischer Bewegungen ist ein Staatswesen, das nach den Bestimmungen der Scharia, d. h. des islamischen Rechts, regiert wird. Diese aus dem Koran und der Sunna (der Überlieferung der Taten und Äußerungen des Propheten Mohammed) abgeleiteten Vorschriften sind nach Ansicht der Islamisten vollkommen und zeitlos und dürfen deshalb von keiner Regierung abgeändert werden. Damit wenden sich Islamisten gegen das im Grundgesetz verankerte Prinzip der Volkssouveränität: Nicht das Volk, sondern allein Allah darf ihrer Auffassung nach in letzter Instanz Gesetze erlassen und aufheben. Im Gegensatz zum Grundgesetz, das die unveräußerliche Würde eines jeden Menschen in den Mittelpunkt stellt, bemessen islamistische Ideologien den Wert eines Menschen allein nach seinem Glauben. Die von ihnen geforderte wortgetreue Befolgung der Scharia würde zwangsläufig zu einer Benachteiligung von Frauen und Andersgläubigen, zu einer Beeinträchtigung der Meinungsfreiheit und zur Außerkraftsetzung grundlegender Menschenrechte führen. Mit der von Islamisten vorgenommenen Hervorhebung einer islamischen Identität ist in aller Regel eine Herabsetzung von Andersgläubigen verbunden. Diese manifestiert sich oft in einer Abgrenzung zur als dekadent und moralisch verkommen empfundenen Mehrheitsgesellschaft, teilweise aber auch in einer aktiven Bekämpfung vermeintlicher Ungläubiger. Antisemitismus Besonders ausgeprägt ist die islamistische Ablehnung anderer Glaubensgemeinschaften gegenüber dem Judentum. Fast alle islamistischen Ideologien enthalten antisemitische Komponenten. Dabei werden entsprechende religiöse Überlieferungen etwa Koranverse oder Aussagen des Propheten Mohammed, die sich gegen Juden richten mit Versatzstücken europäischer rechtsextremistischer Ideologien verbunden, um angeblich negative Charaktereigenschaften oder Absichten von Juden zu belegen. Typischerweise wird allen Menschen jüdischen Glaubens oder jüdischer Abstammung unterstellt, sich gegen den Islam verschworen zu haben und mittels einer Beherrschung von Regierungen und Finanzmärkten die Weltherrschaft anzustreben. Die USA und Israel werden dabei als Instrumente der vermeintlichen jüdischen Weltverschwörung angesehen. 22 ISLAMISMUS

24 Neben Volkssouveränität, Menschenrechten und dem friedlichen Zusammenleben der Völker richten sich manche islamistische Bestrebungen noch gegen weitere Verfassungsgrundsätze. Während einige islamistische Vordenker etwa aus dem Umfeld der Muslimbruderschaft (MB) bereit sind, eine islamkompatible Demokratie auf Grundlage der Scharia zu akzeptieren, lehnen andere Bewegungen sämtliche aus dem westlichen Kulturkreis stammenden Konzepte ab. Insbesondere salafistische Gruppierungen, die den Anspruch erheben, einen von äußeren Einflüssen reinen Islam wie zu Zeiten des Propheten Mohammed zu praktizieren, betrachten jede Form demokratischer Willensbildung als unislamisch. Ihr Ideal ist ein Kalifat, dessen Oberhaupt als Nachfolger des Propheten Mohammed alle religiöse und weltliche Autorität in sich vereint. Mit diesem Ziel ist ein Mehrparteiensystem mit einer dem Volk verantwortlichen Regierung ebenso wenig vereinbar wie ein Rechtsstaat mit unabhängigen Gerichten. Wie in ihren konkreten Ordnungsvorstellungen, so unterscheiden sich die einzelnen islamistischen Ideologien auch in der Wahl der Mittel, mit denen sie ihr Ziel eines schariakonformen Staats erreichen wollen. Die größte unmittelbare Gefahr geht von den sogenannten Jihadisten aus, die sich dazu berufen fühlen, weltweit für den Islam zu kämpfen. Sie sehen in den westlichen Demokratien das Haupthindernis auf dem Weg zur Errichtung eines islamischen Kalifats. Durch Terroranschläge wollen die Anhänger des globalen Jihad die westlichen Regierungen beseitigen oder zumindest zu einem Politikwechsel gegenüber der islamischen Welt zwingen. Unter den jihadistischen Bewegungen nimmt al-qaida eine herausragende Stellung ein. Doch auch ihr nahestehende Gruppen wie die in Zentralasien entstandene Islamische Jihad Union (IJU) haben in den vergangenen Jahren an Bedeutung gewonnen. Andere Gruppen verfolgen ihre Ziele vor allem in ihren Herkunftsländern mit Gewalt. Organisationen wie die palästinensische Islamische Widerstandsbewegung (HAMAS) und die libanesische Hizb Allah benutzen Deutschland als Rückzugsraum, in dem sie neue Anhänger rekrutieren und finanzielle Unterstützung organisieren. Wie die Jihadisten glorifizieren sie gefallene Kämpfer als Märtyrer, denen es nachzueifern gelte. Der größte Teil der in Deutschland aktiven Islamisten versucht hingegen, seine Ziele mit legalen Mitteln durchzusetzen. Während bei einigen Gruppierungen Missionierungsbemühungen und das Werben um neue Anhänger im Vordergrund stehen, versuchen andere, gezielt Einfluss auf die hiesige Politik, Rechtsprechung und Gesellschaft auszuüben. Damit sollen schrittweise die Voraussetzungen für ein schariakonformes Staatswesen geschaffen werden. Die Gefahr besteht hier also in einer langfristigen Einflussnahme im Sinne islamistischer Ideologien. Überblick Im Berichtsjahr bestätigte al-qaida ihren ideologischen Führungsanspruch für den globalen Jihad. Die al-qaida-führer Usama Bin Ladin und Aiman al-zawahiri kommentierten in mehreren im Internet veröffentlichten Audio- und Videobotschaften aktuelle Er- al-qaida ISLAMISMUS 23

25 eignisse wie den 60. Jahrestag der Staatsgründung Israels und die Präsidentschaftswahlen in den USA. Mit ihren Botschaften will al-qaida weltweit Muslime für den Jihad begeistern. Zugleich versucht al-qaida gezielt Einfluss auf Nichtmuslime auszuüben, um deren Unterstützung für den Kampf gegen den islamistischen Terrorismus zu schmälern. Auch bei hessischen Islamisten finden diese Verlautbarungen als ideologische Vorgabe Beachtung. Unterstützer der Islamischen Jihad Union in Hessen Für Hessen hat die Islamische Jihad Union (IJU) eine besondere Bedeutung. So erhob die Bundesanwaltschaft im Berichtsjahr vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf Anklage gegen drei mutmaßliche IJU-Unterstützer, von denen einer aus Hessen stammt. Im Zuge der weiteren Ermittlungen leitete die Bundesanwaltschaft Strafverfahren gegen mehrere Personen aus dem Rhein-Main-Gebiet ein, denen ebenfalls die Unterstützung der IJU vorgeworfen wird. Unter den nicht dem terroristischen Spektrum zuzurechnenden Islamisten waren im Berichtsjahr vor allem die Anhänger der Muslimbruderschaft (MB) sowie der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs e. V. (IGMG) in Hessen aktiv. Das Jahrestreffen der Muslimischen Jugend in Deutschland e. V. (MJD), die vom Gedankengut der MB beeinflusst ist, fand wie im Vorjahr mit über tausend Teilnehmern im hessischen Bad Orb (Main-Kinzig-Kreis) statt. Diese hohe Teilnehmerzahl verdeutlicht erneut die Akzeptanz der MJD unter muslimischen Jugendlichen in Deutschland. Die IGMG führte hessen- und bundesweit zahlreiche Veranstaltungen durch. Obwohl Teile der in Deutschland ansässigen IGMG-Führung inzwischen eine größere Unabhängigkeit von der Milli-Görüş in der Türkei anstreben, sieht sich die IGMG insgesamt weiterhin als Teil dieser Bewegung. Gerade an der Basis der IGMG genießt der Milli- Görüş-Führer Necmettin Erbakan nach wie vor hohes Ansehen. Islamistisches Personenpotenzial Arabischer Ursprung Hessen Bund Türkischer Ursprung Hessen Bund Sonstige Hessen Bund Islamisten gesamt Hessen Bund Die Zahlen sind gerundet und teilweise geschätzt. 24 ISLAMISMUS

26 Jihadisten in Hessen Deutschland gehört als Teil eines weltweiten Gefahrenraumes zum Zielspektrum islamistischer Terroristen. Auch im Berichtsjahr haben sich Anhaltspunkte dafür ergeben, dass sich einzelne Akteure dem gewaltsamen Jihad anschließen wollten. Die im September erfolgte Festnahme zweier mutmaßlicher Jihad-Freiwilliger am Flughafen Köln Bonn belegt diese Entwicklung. Auch in Hessen halten sich Personen auf, bei denen Anhaltspunkte für islamistisch-jihadistische Bestrebungen feststellbar sind. Im Berichtsjahr lagen keine Hinweise darauf vor, dass sich diese Personen mit konkreten Anschlagsplanungen in Hessen, Deutschland oder dem Ausland beschäftigten. Dennoch befinden sich einige Akteure unter ihnen, die bereits eine Ausbildung in einem terroristischen Ausbildungslager absolvierten, über eigene Kampferfahrungen verfügen oder Kontakte zu solchen Kämpfern unterhalten. Jihadisten in Hessen Diese Menschen, überwiegend Männer, bezeichnen sich selbst als Kämpfer für die Sache Gottes (Mujahidin). Sie folgen in der Regel einer strengen, islamistisch geprägten Glaubenslehre. Da sie sich zumeist auf die Glaubenspraktiken der ersten Muslime im 7. Jahrhundert beziehen und diese Epoche idealisieren, wird ihre Glaubenslehre nach dem arabischen Begriff für die frommen Altvorderen (arab. as-salaf as-sâlih) auch als salafistisch bezeichnet. 2 Mujahidin ist die Ablehnung der Werte und Normen der deutschen Mehrheitsgesellschaft gemeinsam, die sie als Bedrohung für ihren Glauben empfinden. Weil sie eine von Menschen und nicht von Gott (Allah) gemachte Gesetzgebung nicht akzeptieren können, wenden sie sich insbesondere gegen jede Form der Demokratie. Ebenso kämpfen sie für die Befreiung von besetzten islamischen Staaten und Regionen, etwa in Afghanistan, dem Irak, Palästina oder dem Kaukasus. Ihre Wurzeln hat die Mujahidin-Bewegung in der afghanischen Widerstandsbewegung gegen die sowjetische Besatzung von 1979 bis Den Kampf gegen die Ungläubigen zur Verteidigung des Islams verstehen Mujahidin als religiöse Verpflichtung, der jeder gläubige Muslim zu folgen habe. Nach ihrer Überzeugung führen oder unterstützen sie einen Heiligen Krieg, den Jihad. Daher werden Bestrebungen zum Führen, Unterstützen oder Rechtfertigen des Heiligen Krieges auch als Jihadismus bezeichnet. Der Begriff des Jihad Der arabische Begriff des Jihad (wörtlich: al-jihâd fî sabîli llâh) bedeutet Anstrengung auf dem Weg Allahs. Dabei unterscheidet man den großen Jihad das Bemühen, sein eigenes religiös-moralisches Verhalten stetig zu verbessern vom kleinen Jihad dem bewaffneten Kampf gegen Feinde des Islams. Somit ist der Begriff des Jihad nicht automatisch mit heiligem Krieg gleichzusetzen. 2 Vgl. Kasten Salafismus S. 32. ISLAMISMUS 25

27 Auch wenn der Begriff des Jihad in der muslimischen Glaubenslehre nicht zwingend eine aggressive, gegen Ungläubige gerichtete Bedeutung haben muss, stellen jihadistisch ausgerichtete Islamisten auch in Hessen diesen Aspekt in den Mittelpunkt ihrer Ideologie und machen ihn häufig zum Zentrum ihrer Lebensweise. Jihadistische Netzwerke Deshalb suchen sie Kontakt zu Gleichgesinnten, mit denen sie zum Teil auch über große Entfernungen in Verbindung bleiben. Diese Kontakte bestehen manchmal über viele Jahre und können zum Beispiel aus gemeinsamen Erfahrungen in einem terroristischen Ausbildungslager, während einer Pilgerreise oder eines Aufenthalts in einer arabischen Sprachschule im Ausland herrühren. In einigen Fällen handelt es sich aber auch um Beziehungen, die bereits in der Kindheit oder Jugend der Betroffenen geknüpft wurden. Da die Verbindungen untereinander unterschiedlich stark ausgeprägt sind manche Personen haben sich erst wenige Male persönlich getroffen spricht man auch von lose zusammenhängenden Personennetzwerken, innerhalb derer Mujahidin miteinander kommunizieren und agieren, und deren verbindendes Element vor allem in den gemeinsamen jihadistischen Überzeugungen besteht. Grundlagen der jihadistischen Ideologie Im Laufe der neunziger Jahre setzte sich bei vielen gewaltbereiten Islamisten die Überzeugung durch, nicht die politischen Entscheidungsträger in ihren Heimatländern, sondern die westlichen Staaten seien ihre eigentlichen Feinde. Begründet wurde dies mit der Unterstützung westlicher Staaten für vom Glauben abgefallene arabische Regierungen sowie mit der Beteiligung westlicher Nationen an internationalen Konflikten, vor allem im Nahen und Mittleren Osten. Die Anhänger der Jihad-Ideologie gingen dazu über, anstelle des nahen Feindes, d. h. den muslimischen Machthabern im eigenen Land, den fernen Feind, d. h. deren westliche Unterstützer und insbesondere die USA, zu bekämpfen. Am 23. Februar 1998 gab Usama Bin Ladin schließlich seine Erklärung der internationalen islamischen Front für den Jihad gegen die Juden und Kreuzfahrer heraus. Darin gab er die Vereinigung al-qaidas mit anderen Terrorgruppen bekannt und forderte die Muslime auf, Amerikaner und ihre Verbündeten nicht nur in muslimischen Ländern, sondern wo immer möglich zu töten. Damit wurde der Jihad gegen den Westen endgültig zum weltweiten Kampf, der seit der Jahrtausendwende auch in Europa geführt wird. Netzwerktypen in Hessen Obwohl die ideologische Ausrichtung der verschiedenen jihadistischen Netzwerke vergleichbar ist, können sich die einzelnen Netzwerkstrukturen in ihren Zielsetzungen und damit in dem Engagement und den Aktivitäten ihrer Angehörigen für den Jihad unterscheiden. In Hessen sind bisher im Wesentlichen vier verschiedene Netzwerk - typen erkennbar geworden: 26 ISLAMISMUS

28 Netzwerke, die sich die Planung und Durchführung von Terrorakten in Deutschland oder anderen Teilen der Welt zum Ziel gesetzt haben; Netzwerke, deren Angehörige beabsichtigen, am gewaltsamen Jihad in Afghanistan, dem Irak oder in anderen Teilen der muslimischen Welt teilzunehmen; Netzwerke, deren Angehörige den gewaltsamen Jihad logistisch unterstützen wollen; Netzwerke, die die oben angeführten Merkmale in Kombination abbilden. Anders als in den vorangegangenen Jahren, in denen häufig ethnisch homogene, zum Beispiel nordafrikanisch dominierte, Netzwerkstrukturen beobachtet werden konnten, setzen sich heute aktive Netzwerke oft aus Angehörigen verschiedener Staatsangehörigkeiten und Ethnien zusammen. So wurden am 4. September 2007 im nordrheinwestfälischen Medebach Oberschledorn drei Mitglieder der sogenannten Sauerland- Gruppe festgenommen, darunter zwei zum muslimischen Glauben konvertierte Deutsche und ein aus Hessen stammender türkischer Staatsangehöriger. Diese Personen stehen im Verdacht, als Angehörige der islamistischen usbekischen Terrororganisation Islamische Jihad Union (IJU) 3 Anschläge insbesondere gegen amerikanische Staatsbürger und US-amerikanische Einrichtungen in Deutschland mit einer möglichst hohen Opferzahl geplant zu haben. Die Bundesanwaltschaft hat deshalb am 2. September gegen die drei Männer Anklage vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf wegen der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und weiterer Straftaten erhoben. Sie beschuldigt diese, insbesondere Gaststätten, Pubs, Diskotheken und Flughäfen als mögliche Ziele von Sprengstoffanschlägen in Betracht gezogen zu haben. Außerdem sei vor allem der hessische Akteur für eine Reihe von Schleusungen von zukünftigen Kämpfern in terroristische Ausbildungslager verantwortlich. Anklage gegen Sauerland-Gruppe Im Zuge der weiteren Ermittlungen wurden am 18. September ein deutscher Staatsangehöriger afghanischer Herkunft und ein weiterer türkischer Staatsangehöriger, beide aus dem Rhein-Main-Gebiet stammend, festgenommen. Ihnen wird vorgeworfen, auf Betreiben des aus Hessen stammenden türkischen Beschuldigten der Sauerland- Gruppe im Jahre 2007 beabsichtigt zu haben, in ein terroristisches Ausbildungslager der IJU zu reisen. Der türkische Staatsangehörige habe das Ausbildungslager jedoch deshalb nicht erreicht, weil er zusammen mit einem weiteren potenziellen Kämpfer noch im pakistanisch-iranischen Grenzgebiet durch pakistanische Sicherheitsbehörden aufgegriffen und festgenommen wurde. Festnahmen mutmaßlicher IJU-Unterstützer aus Hessen Diesen beiden Beschuldigten wird die Unterstützung einer ausländischen terroristischen Vereinigung sowie ein Verstoß gegen das Außenwirtschaftsgesetz zur Last gelegt. Beide hätten beabsichtigt, die IJU logistisch zu unterstützen. So sei der deutsche Staatsangehörige verdächtig, u. a. einen Infrarotstrahleraufsatz erworben und bei seiner Reise im Jahre 2007 an Verantwortliche der IJU übergeben zu haben. Sein Vorhaben, im September erneut in das Einflussgebiet der IJU zu reisen, habe durch die Festnahme am 18. September verhindert werden können. Der türkische Beschuldigte ist hingegen wieder auf freiem Fuß. 3 Vgl. S. 36 f. ISLAMISMUS 27

29 Am 22. Oktober wurde ein weiterer mutmaßlicher Unterstützer der IJU aus dem Rhein- Main-Gebiet festgenommen. Bei ihm handelt es sich um den Bruder des hessischen Hauptakteurs der Sauerland-Gruppe, dem vorgeworfen wird, über Mittelsmänner Geldmittel und Ausrüstungsgegenstände an die IJU transferiert zu haben. So soll er unter anderem ein Nachtsichtgerät und eine Kamera an einen IJU-Kämpfer übergeben haben, die dieser an ein Ausbildungslager weiterleiten sollte. Nach weiteren Ermittlungen wurde am 19. November ein ebenfalls aus dem Rhein- Main-Gebiet stammender, deutscher Staatsangehöriger türkischer Herkunft in der Türkei festgenommen. Der Ermittlungsrichter beim Bundesgerichtshof hatte bereits am 19. September Haftbefehl erlassen. Der Beschuldigte ist verdächtig, ebenfalls als Mitglied der IJU ein terroristisches Ausbildungslager besucht zu haben und in Kampfhandlungen gegen die pakistanische Armee verwickelt gewesen zu sein. Am 20. November wurde ein weiterer deutscher Staatsangehöriger türkischer Herkunft von der Türkei nach Deutschland ausgeliefert. Der aus Baden-Württemberg stammende Mann war gemeinsam mit einem der Hauptbeschuldigten und einer weiteren Person in der Silvesternacht beim Ausspähen einer US-amerikanischen Militärliegenschaft im hessischen Hanau-Lamboy (Main-Kinzig-Kreis) beobachtet worden. Die Bundesanwaltschaft wirft ihm vor, als Mitglied der IJU für die Beschaffung der für die Sprengstoffanschläge benötigten Zünder verantwortlich zu sein. Auf Grund eines deutschen Festnahmeersuchens war er bereits am 6. November 2007 in der Türkei festgenommen worden. Die Bundesanwaltschaft erhob wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und Vorbereitung eines Explosionsverbrechens am 15. Dezember Anklage vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf. Schwerpunkt Rhein-Main-Gebiet Der Schwerpunkt der in Hessen feststellbaren jihadistischen Personenstrukturen liegt im Rhein-Main-Gebiet. Dabei kommt dem Großraum Frankfurt am Main eine besondere Bedeutung zu. Wie das Beispiel der Sauerland-Gruppe zeigt, sind die hier relevanten Personennetzwerke jedoch nur selten auf Hessen bzw. das Rhein-Main-Gebiet beschränkt. Vielfach handelt es sich um internationale Netzwerke, deren Angehörige lediglich zum Teil in Hessen oder in anderen Bundesländern leben. Die meisten der bisher erkennbaren Kontakte bestehen innerhalb Europas sowie in den nordafrikanischen, arabischen oder wie im Fall der IJU in den zentralasiatischen Raum. Auch in anderen Regionen Hessens halten sich Angehörige jihadistischer Netzwerke auf: So leben im nordhessischen Raum und im westlichen Mittelhessen Personen, zu denen Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie den weltweit geführten gewaltsamen Jihad unterstützen und in entsprechende Personengeflechte eingebunden sind. Typische Radikalisierungsverläufe Die Radikalisierung von Jihadisten beginnt in Deutschland mit der Ablehnung der Werte und Normen der nichtmuslimischen Mehrheitsgesellschaft. Der inneren Abkehr folgt in der Regel auch der äußerlich wahrnehmbare Rückzug aus der Gesellschaft. Kontakte zu westlich orientierten Bekannten und Freunden werden abgebrochen. 28 ISLAMISMUS

30 Vielfach ist eine Konzentration auf eine strenge islamistisch-salafistische Glaubensauslegung zu beobachten, die nur mit Gleichgesinnten gelebt werden kann. Als ein möglicher Höhepunkt der Radikalisierungsphase entwickelt sich dann die Bereitschaft zum bewaffneten Kampf, mindestens aber zum Besuch eines terroristischen Ausbildungslagers. 5 Eine Reihe von Faktoren können den Radikalisierungsprozess begünstigen. Dazu zählen vor allem in der Persönlichkeit der Betroffenen liegende Faktoren wie eine unbefriedigend erscheinende persönliche Lebenssituation, fehlende Anerkennung, ein geringes intellektuelles Differenzierungsvermögen oder fehlendes Mitgefühl für andere Menschen. Einflüsse von außen machen einen Radikalisierungserfolg wahrscheinlicher. Dazu gehören private Kontakte zu bekennenden Jihadisten oder islamistischen Predigern (Imame), Auslandsaufenthalte sowie der Besuch islamistischer Internetseiten und -foren. An die Radikalisierungsphase schließt sich meist eine Phase der Rekrutierung an, in der sich die Betroffenen einer terroristischen Organisation anschließen, von ihr angeworben werden oder in der sie aus eigenem Antrieb beginnen, terroristisch zu agieren. Auch den drei mutmaßlichen Mitgliedern der IJU wirft die Bundesanwaltschaft vor, bereits im Jahre 2006 ein Ausbildungslager besucht zu haben. Noch während ihrer Ausbildung im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet hätten sie sich entschlossen, nach Deutschland zurückzukehren und hier im Sinne der IJU für den heiligen Krieg tätig zu werden. Die ihnen zur Last gelegte auf hohe Opferzahlen zielende Anschlagsplanung deutet insoweit auf einen erheblichen Radikalisierungsgrad hin. Im September wurden zwei mutmaßlich für den Jihad bereite Personen vor ihrer Ausreise auf dem Flughafen Köln Bonn (Nordrhein-Westfalen) festgenommen. Zu ihrem Umfeld zählen mehrere Personen, die aus dem Rhein-Main-Gebiet kommen. Auch sie hatten offenbar die Absicht, sich im vergangenen Jahr am gewaltsamen Jihad zu beteiligen. 4 So suchten sie Kontakte zu Islamisten, die für sie eine Reise in ein Jihad- Gebiet in Zentralasien organisieren sollten. Versuchte Ausreisen in den Jihad Bisher ist allerdings unklar, ob die hessischen Aktivisten die sofortige Teilnahme an Kampfhandlungen oder den Besuch eines terroristischen Ausbildungslagers im Sinn hatten. Zu einer Ausreise kam es jedoch zunächst nicht: Durch die Festnahme der beiden Personen am Flughafen Köln Bonn sind nun auch die hessischen Akteure auf die Möglichkeit eines Einschreitens der Sicherheitsbehörden aufmerksam geworden. Sie verschoben ihre Ausreisepläne somit zumindest vorerst. 4 Vgl. oben S Vgl. Kasten Terroristische Ausbildungslager, S. 30. ISLAMISMUS 29

31 Terroristische Ausbildungslager Bereits der Besuch eines terroristischen Ausbildungslagers stellt einen wesentlichen Baustein zur Radikalisierung von Jihad-Freiwilligen dar. 6 Dort können angehende Mujahidin das erforderliche technische Know-How erwerben, um sich am weltweit geführten gewaltsamen Jihad zu beteiligen: In Betracht kommen Schulungsinhalte zum Umgang mit Schusswaffen und Sprengvorrichtungen oder zur verschlüsselten Kommunikation. Ausbildungslager haben aber auch die Funktion einer Kontaktbörse. Die Absolventen lernen sich im täglichen (Kampf-) Training kennen und teilen gemeinsame Erlebnisse und Erfahrungen. So können sich auch zum Teil sehr beständige persönliche Beziehungen entwickeln, die für das Funktionieren islamistisch-terroristischer Personennetzwerke von erheblicher Bedeutung sind. Besonders wichtig sind jedoch die psychologischen Auswirkungen eines Ausbildungslageraufenthalts auf den Einzelnen: Sein ohnehin schon erhebliches Radikalisie - rungspotenzial wird in der Regel noch weiter erhöht. Die bisherigen Ermittlungen zur Sauerland-Gruppe belegen diese Wirkung: Die Bundesanwaltschaft wirft den drei mutmaßlichen IJU-Angehörigen vor, den Entschluss zur Durchführung von terroristischen Anschlägen noch während ihres Aufenthalts im Ausbildungslager gefasst zu haben. 7 Von Absolventen derartiger Ausbildungscamps gehen nach ihrer Rückkehr nach Deutschland zum Teil erhebliche Gefahren für die öffentliche Sicherheit aus. Diese Personen verfügen nach ihrer Ausbildung nicht nur über terroristisches Expertenwissen, sie haben auch an Attraktivität als Ansprechpartner für radikalisierte Muslime gewonnen. Mit ihren Erlebnisschilderungen können sie andere davon überzeugen, sich ebenfalls am gewaltsamen Jihad zu beteiligen. Auch die für eine Reise in ein Jihad-Gebiet oder ein terroristisches Ausbildungslager notwendige logistische Hilfe, z. B. durch die Benennung von Kontaktpersonen im Ausland, können Absolventen eines terroristischen Trainingsprogramms oft zur Verfügung stellen. 5 vgl. Kasten Typische Radikalisierungsverläufe, S vgl. Kasten Typische Radikalisierungsverläufe, S ISLAMISMUS

32 Internationale islamistisch-terroristische Organisationen Al-Qaida Leitung Weltweite Zentren: Anhänger / Mitglieder: Medien Usama Bin Ladin (Gründer und Leiter) Dr. Aiman al-zawahiri (Stellvertreter Bin Ladens) Weltweit (Teil-) Gruppen und Unterstützer (Schwerpunkt Naher und Mittlerer Osten, Afghanistan, Pakistan) Keine gesicherten Zahlen Internet-Präsenz Eine besondere Bedeutung unter den islamistisch-terroristischen Gruppierungen hat die Terrororganisation al-qaida (Die Basis). Diese wurde von Usama Bin Ladin, einem vormals saudischen Staatsangehörigen und Erben eines vermögenden saudischen Bauunternehmers, und seinem Stellvertreter, dem ägyptischstämmigen Kinderarzt Dr. Aiman al-zawahiri gegründet. Die Organisation hat ihre Wurzeln im Widerstand gegen die sowjetische Besatzung in Afghanistan ( ). Während zur damaligen Zeit noch der Kampf gegen die sowjetischen Besatzungstruppen im Vordergrund stand, fokussierten sich die nachfolgenden Aktivitäten von al-qaida auf eine weltweite Verteidigung des Islams gegen Ungläubige. Seither wird al-qaida für zahlreiche terroristische Anschläge verantwortlich gemacht, u. a. für die Anschläge auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington D. C. am 11. September 2001 in den USA. Ziel: Weltweite Verteidigung des Islams Nach der Machtübernahme der islamistischen Taleban-Bewegung in Afghanistan Mitte der 1990er Jahre wurde al-qaida durch die Taleban geduldet und logistisch unterstützt. Seit dem Fall der Taleban-Regierung im November 2001 erscheint die Infrastruktur der Organisation allerdings vorübergehend geschwächt. So führten der weltweit erhöhte Verfolgungsdruck und der Militäreinsatz der Koalitionskräfte im Irak und in Afghanistan zu einer weitgehenden Einschränkung der operativen Handlungsfähigkeit von al-qaida. Allerdings ist nach wie vor zu beobachten, dass sich ehemals regional und weitgehend unabhängig voneinander agierende Gruppierungen unter dem Banner von al-qaida zusammenschließen. So drücken einzelne regionale Terrororganisationen und islamistische Milizen ihre Verbundenheit mit al-qaida auch durch eine entsprechende Namenswahl aus (z. B. al-qaida auf der Arabischen Halbinsel). Ob es sich dabei aber tatsächlich um eine echte Eingliederung in die Organisationsstruktur von al-qaida handelt, ist nach wie vor fraglich. Möglicherweise wird damit lediglich der Zweck verfolgt, das eigene Ansehen unter den jihadistischen Gruppierungen zu verbessern und sich weltweit in der muslimischen Gemeinschaft zu etablieren. Inwiefern sich dieser Trend auch in der Zukunft fortsetzt und damit die eigene operative Handlungsfähigkeit von al-qaida erhöhen wird, lässt sich derzeit noch nicht abschätzen. Zusammenschlüsse unter dem Banner al-qaidas ISLAMISMUS 31

33 Eine Gruppierung, durch die sich der Aktionsraum von al-qaida im Maghreb Nordafrika erweitert haben dürfte, ist die ehemals unter dem Namen Salafistische Gruppe für die Mission und den Kampf (GSPC Groupe Salafiste pour la Prédication et le Combat) agierende Organisation al-qaida im Islamischen Maghreb (AQM), die sich bereits im Jahre 2006 unter diesem Namen al-qaida unterstellt hatte. Die Organisation bekannte sich im März zu der Entführung von zwei österreichischen Touristen in Tunesien. Sowohl die hierzu veröffentlichte Videobotschaft als auch die Entführung westlicher Ausländer verdeutlichen die nunmehr abschließend vollzogene Hinwendung der AQM zu al-qaida und dem globalen Jihad. In Hessen sind bisher lediglich Einzelpersonen bekannt, bei denen Verbindungen zur AQM festgestellt werden konnten. Zunehmende Bedeutung Somalias im internationalen Jihad Ein weiterer für al-qaida zunehmend an Bedeutung gewinnender Kriegsschauplatz des internationalen Jihad dürfte am Horn von Afrika insbesondere in Somalia liegen. Zur Durchsetzung ihres primären Ziels, der Errichtung eines islamischen Staates in Somalia, entfalteten die al-shabab-milizen 8 in Somalia zunehmend terroristische Aktivitäten und schreckten zuletzt auch nicht vor Selbstmordanschlägen, die zu zahlreichen Todesopfern führten, zurück. Nicht nur die im Berichtszeitraum u. a. am 8. April und am 30. August veröffentlichten Videobotschaften der somalischen Terrororganisation, in denen man sich wiederholt zum globalen Jihad bekannte und auch Anschläge gegen die UN-Friedenstruppe ankündigte, deuten auf eine zunehmende Annäherung von al-shabab zur al-qaida-ideologie hin. Auch die al-qaida-führung räumt in ihren Verlautbarungen den in Somalia kämpfenden islamistischen Milizen zunehmend ihre Aufmerksamkeit ein. Salafismus Beim Salafismus (arab. salafiya) handelt es sich um eine Ausprägung des sunnitischen Islams, die sich an der Glaubenspraxis der ersten Muslime orientiert. Salafisten erheben den Anspruch, als die einzig wahren Muslime einen reinen, unverfälschten Islam zu praktizieren. Der Name der Bewegung geht zurück auf die frommen Vorfahren (arab. as-salaf as-sâlih), d. h. den Propheten Mohammed und seine Gefährten, die von den Salafisten als Vorbilder für alle Lebensbereiche gesehen werden. Kennzeichnend für den Salafismus ist das strikte Festhalten am Wortlaut von Koran und Sunna (d. h. der Überlieferung der Taten und Äußerungen Mohammeds). Alle religiösen Traditionen, die nicht auf diese Quellen zurückzuführen sind, werden als Verfälschung des wahren Glaubens abgelehnt. Daher werden Glaubenspraktiken eines Großteils der Muslime etwa das Feiern des Geburtstags des Propheten oder die in einigen Ländern übliche Heiligenverehrung von Salafisten ebenso als unislamisch angesehen wie die gesamte schiitische Richtung des Islams. 8 Die al-shabab-miliz (auch: Bewegung Junger Mujahidin) entstand infolge des Bürgerkrieges und des damit einhergehenden Zusammenbruchs des Staatsgefüges in Somalia. Insbesondere die al-shabab-milizen setzen weiterhin auf eine Fortführung des bewaffneten Kampfs gegen die somalische Übergangsregierung und die im Land stationierten äthiopischen Truppen. 32 ISLAMISMUS

34 Teil des rigorosen Glaubensverständnisses der Salafisten ist ein besonders strenger Monotheismus. Die Betonung der Einheit und Einzigartigkeit Allahs (tauhîd) nimmt im Diskurs der Salafisten eine zentrale Stellung ein. Jede Verehrung anderer Wesen wird als Polytheismus verurteilt, jede nicht von Allah ausgeübte Herrschaft abgelehnt. Viele Salafisten richten sich nicht nur in ihrer Glaubenspraxis, sondern in allen Bereichen des täglichen Lebens nach dem Beispiel Mohammeds und seiner Gefährten. Dazu gehört meist ein entsprechendes Erscheinungsbild mit Vollbart, Kaftan und über den Knöcheln endenden Hosenbeinen bei Männern bzw. einer weitgehenden Verschleierung bei Frauen. Einige Salafisten gehen in ihrer Nachahmung der ersten Muslime so weit, dass sie wie angeblich Mohammed immer auf der rechten Körperseite schlafen und zur Zahnpflege nur Holzstäbchen verwenden. Die meisten Salafisten wollen ihren Glauben durch Missionierung verbreiten, sind aber nicht gewalttätig. So sind in Deutschland mehrere salafistische Prediger tätig, die an wechselnden Orten vor überwiegend jungem Publikum auftreten, um dieses von ihrem Islamverständnis zu überzeugen. Die Tatsache, dass bei diesen Veranstaltungen immer wieder Deutsche zum Islam konvertieren, zeugt von der Anziehungskraft des Salafismus. Allerdings bildet der Salafismus auch das ideologische Fundament al-qaidas und der ihr nahestehenden Terrorgruppen. Unter Berufung auf die Eroberungszüge in der Frühzeit des Islams rechtfertigen diese jihadistischen Salafisten den bewaffneten Kampf gegen alle Nichtmuslime. Auch Muslime, die einen vermeintlich verfälschten Islam praktizieren, sind in ihren Augen Ungläubige und dürfen bekämpft werden. Medienarbeit Al-Qaida entfaltet ihre Wirkung vorrangig über Audio- und Videobotschaften ihrer Führungspersönlichkeiten Bin Ladin und al-zawahiri. Sie werden über die Medienproduktionsstelle al-sahab veröffentlicht. Die Organisation unterstreicht so ihre ideologische Führungsrolle im internationalen Jihad. Solche Verlautbarungen stoßen auf Interesse insbesondere unter jungen Muslimen. Dies ist auch in Hessen festzustellen. Al-Sahab Al-Sahab ist die Medienproduktionsstelle von al-qaida. Seit 2001 werden Videofilme und -botschaften sowie Audiobotschaften der al-qaida-führung von al-sahab produziert und anschließend meist in jihadistischen Internetforen eingestellt. al-sahab versucht dabei durch den Einsatz moderner Informationstechnik die Botschaften al-qaidas gerade unter jungen Muslimen zu verbreiten. In den Verlautbarungen al-qaidas werden zumeist bewusst aktuelle und teilweise regionale Entwicklungen mit Bezug zur islamischen Welt aufgegriffen, wie zum Beispiel die erneute Veröffentlichung der Mohammed-Karikaturen in Dänemark Anfang des Jahres. Diese Themen werden dann durch Führungspersonen angesprochen und gemäß der salafistisch geprägten Weltsicht al-qaidas behandelt. ISLAMISMUS 33

35 Die al-qaida-führung verfolgt in ihrer Medienarbeit eine Doppeltaktik, indem sie zum einen versucht, die muslimische Gemeinschaft für die Belange der Mujahidin zu begeistern, und sich zum anderen gezielt an die nichtmuslimische Bevölkerung westlicher Staaten richtet, um die dortige Unterstützung für den Kampf gegen den Terrorismus zu schmälern. Dabei entfalten die Botschaften eine weltweite Wirkung: Sie werden von interessierten Kreisen überall auf der Welt zur Kenntnis genommen und sind geeignet, Meinungen und Trends zu setzen oder zu beeinflussen auch in Hessen. Audiobotschaften Bin Ladins Anlässlich des 60. Jahrestages der Staatsgründung Israels am 14. Mai wurden innerhalb weniger Tage gleich zwei Audiobotschaften Bin Ladins veröffentlicht. Die erste am 16. Mai veröffentlichte Verlautbarung richtete sich direkt an die west- lichen Völker. In dieser Audiobotschaft thematisierte Bin Ladin erneut den Palästinenserkonflikt und betonte ausdrücklich dessen Bedeutung für al-qaida. Die paläs - tinensische Frage habe ihn seit seiner Kindheit beschäftigt und ihn dazu motiviert, sich für die Unterdrückten einzusetzen und die Juden sowie deren Unterstützer zu bekämpfen. Dieses Motiv habe u. a. auch die Attentäter vom 11. September 2001 angetrieben. Auch sei der anhaltende Konflikt zwischen der islamischen Welt und dem Westen maßgeblich auf die westliche Politik in der Palästinenserfrage zurückzuführen. So kritisierte Bin Ladin die Teilnahme westlicher Politiker an den Feierlichkeiten anlässlich der Staatsgründung Israels und warf dem Westen eine einseitige Unterstützung Israels und dessen Besatzungspolitik vor. Die Israelis bezeichnete Bin Ladin als Eindringlinge, die es zu töten gelte. Erneut appellierte er für die Fortsetzung des bewaffneten Kampfs gegen Israel und dessen Verbündete ohne dies jedoch weiter zu konkretisieren. In einer zweiten, am 18. Mai veröffentlichten Audiobotschaft, die sich ebenfalls auf den 60. Jahrestag der Staatsgründung Israels bezieht, richtete sich Bin Ladin hingegen gezielt an die muslimische Gemeinschaft. Anders als in der vorherigen Verlautbarung rief er die Muslime weltweit zum Kampf gegen die israelische Blockade des Gazastreifens auf und appellierte an die religiöse Pflicht eines jeden Muslims, sich insbesondere in Palästina aktiv am Jihad zu beteiligen. Zudem verurteilte er die Führer einiger arabischer Staaten, denen er eine Unterstützung Israels unterstellte. Der Kampf zur Befreiung Palästinas müsse auch gegen diese pro-israelischen Staaten geführt werden. Die Betonung der Bedeutung des Nahostkonfliktes für al-qaida zielt darauf ab, deutlich zu machen, dass auch der teilweise schiitisch geprägte Nahe Osten von al-qaida als Handlungsraum ernst genommen wird. Dies deutet darauf hin, dass sich al-qaida auch in dieser Region neben anderen terroristischen Organisationen wie HAMAS oder Hizb Allah als handlungsfähige Kraft darstellen möchte. Die Kernaussagen der Verlautbarungen, Ablehnung des Existenzrechts Israels, Aufruf zum Kampf gegen Juden sowie deren Verbündete bzw. zur Unterstützung der Palästi- 34 ISLAMISMUS

36 nenser, wurden bereits in vorherigen Botschaften thematisiert. Sie sind mittlerweile fester Bestandteil der al-qaida-ideologie. Neu war ein Angebot an Mitglieder jihadistischer Foren, im Internet Fragen an Aiman al-zawahiri zu stellen. Bereits im Dezember 2007 war in einschlägigen Foren dazu aufgerufen worden, Fragen an den Stellvertreter Bin Ladins zu richten. Am 2. April veröffentlichte al-sahab eine Audiobotschaft, in der al-zawahiri einige der Fragen aufgriff und beantwortete. Fragen an al-zawahiri im Internet Al-Zawahiri erklärte, er habe die seiner Meinung nach wichtigsten Fragen insgesamt 90 ausgewählt und sich dabei insbesondere den kritischen gewidmet. Er unterteilte die Fragen in vier unterschiedliche Themenbereiche: Das Töten von Unschuldigen, die Situation im Iran, in Ägypten und in Palästina. Bemerkenswert ist, dass al-zawahiri auch eine Frage zum Gesundheitszustand von Usama Bin Ladin beantwortete und entgegen anderslautender Spekulationen versicherte, dieser sei gut. Dass sich der Stellvertreter Bin Ladins den Fragen von Mitgliedern jihadistischer Foren stellte, deutet auf den Versuch al-qaidas hin, erneut ihrem ideologischen Führungsanspruch und ihrer Souveränität Nachdruck zu verleihen. Zudem sollte offenbar der Eindruck erweckt werden, dass es sich bei al-qaida um eine volksnahe und in der muslimischen Gemeinschaft etablierte Organisation handelt, die auch den Neuerungen des Internets der Bildung sozialer Netzwerke und der zunehmenden Interaktivität gewachsen ist. Allerdings vergingen von dem Aufruf, Fragen online an al-zawahiri zu richten, bis zur eigentlichen Veröffentlichung der Antworten fast drei Monate im Internetzeitalter eigentlich eine sehr lange Reaktionszeit. Ideologischer Führungsanspruch al-qaidas Auch im Berichtszeitraum konnten im Internet Reaktionen der al-qaida-führung auf aktuelle Ereignisse, Themen und Entwicklungen festgestellt werden. Eine am 19. November veröffentlichte Videobotschaft von Aiman al-zawahiri eine englisch untertitelte Audiobotschaft, in der meist Standbilder gezeigt werden thematisiert den Wahlsieg Barack Obamas bei den Präsidentschaftswahlen in den USA. Dazu machte al-zawahiri deutlich, dass aus seiner Sicht Obamas Amtsübernahme voraussichtlich nichts an der amerikanischen Politik ändern werde. An die muslimische Gemeinschaft gerichtet betonte er, der Kampf gegen Amerika und dessen kriminelle und auf Expansion ausgerichtete Politik müsse fortgeführt werden. Amerika habe zwar ein neues Gesicht bekommen, bringe aber weiterhin Hass, Mord und Unterdrückung über die Welt. Mujahidin seien die Speerspitze des Widerstandes gegen diese arrogante und aggressive Macht. Fortsetzung des Kampfes gegen Amerika An Obama gewandt äußerte al-zawahiri, diesen erwarte mit seiner Amtsübernahme ein schweres Vermächtnis von Fehlschlägen und Verbrechen. Obama ließe, so al-zawahiri, eine feindselige Haltung gegenüber dem Islam und den Muslimen erkennen. Durch die von Obama zugesagte Unterstützung Israels und die geplante Stationierung wei- ISLAMISMUS 35

37 terer Soldaten in Afghanistan werde deutlich, dass der designierte US-Präsident die kriminelle Politik Amerikas gegenüber der Welt und den Muslimen weiterverfolge. Der als Sohn eines muslimischen Vaters geborene Obama habe sich entschieden, sich auf die Seite der Feinde des Islams zu stellen. Obwohl er behaupte, Christ zu sein, habe er die Gebete der Juden gebetet, um die Präsidentschaftswahlen für sich zu entscheiden an dieser Stelle wird ein Bild gezeigt, auf dem Obama mit jüdischer Kippa an der Klagemauer steht. In seiner Botschaft bezeichnete al-zawahiri Obama als genaues Gegenteil eines ehrbaren schwarzen Amerikaners und nannte stattdessen beispielhaft den ermordeten amerikanischen Bürgerrechtler Malcolm X, den er mit dessen muslimischen Namen Malik al-shabazz benannte. Al-Zawahiri äußerte zudem, Obama, der ehemalige amerikanische Außenminister Colin Powell und dessen Nachfolgerin Condoleezza Rice ließen sich zutreffend mit der von Malcolm X verwendeten Bezeichnung House Negroes ( Haussklaven ) umschreiben. Des Weiteren rief al-zawahiri die Löwen des Islam, die Mujahidin, weltweit dazu auf, den Weg des Jihad weiterhin zu beschreiten. Explizit benannte er die im Irak kämpfenden Mujahidin des Islamischen Staates Irak und die Gotteskämpfer in Somalia und appellierte an sie, ihren Kampf fortzusetzen. Im Ergebnis verdeutlichte al-zawahiri, dass die Wahl von Obama zum Präsidenten der USA keinen Einfluss auf al-qaidas Kampf haben werde. Folgerichtig forderte al- Zawahiri daher die Mujahidin zur Fortführung ihres Kampfes gegen die Amerikaner und des globalen Jihad auf. Bemerkenswert ist dabei, dass er sich nunmehr ausdrücklich an in Somalia kämpfende Mujahidin wandte. Dies deutet darauf hin, dass Somalia als Kriegsschauplatz des internationalen Jihad auch in der medialen Präsenz al-qaidas zunehmend an Bedeutung gewinnt. Durch seine an Obama gerichteten Vorwürfe und Beschimpfungen versucht al-zawahiri offensichtlich, den neuen US-Präsidenten gezielt zu diskreditieren und ihn seiner Rolle als Hoffnungsträger in der muslimischen Welt zu berauben. Islamische Jihad Union (IJU) Leitung Weltweite Zentren: Anhänger / Mitglieder: Nashmiddin Zhalolov, Suhail Fatilloevich Buranov (Stellvertreter) Schwerpunkt Kaukasus, Afghanistan, Pakistan; Verbindungen nach Europa keine gesicherten Zahlen Die IJU wurde 2002 als Abspaltung von der Islamischen Bewegung Usbekistans (IBU, orig. Islamic Movement of Uzbekistan, IMU) gegründet. Zunächst bezog sich die 36 ISLAMISMUS

38 Agenda der IJU auf eine rein innerusbekische Zielsetzung. Ursprünglich strebte die IJU die Absetzung des usbekischen Präsidenten und die darauf folgende Einrichtung eines islamischen Kalifats mit der Durchsetzung der Scharia in Usbekistan an. Im April 2004 verübte die IJU Selbstmordattentate auf die US-amerikanische und die israelische Botschaft in Taschkent, durch welche mehr als 40 Personen getötet und über 30 Personen verletzt wurden. Seit diesen Anschlägen ist zu verzeichnen, dass auch westliche und israelische Einrichtungen in den Fokus der IJU gerieten. Neben Kontakten zu regionalen islamistischen und terroristischen Organisationen verfügt die IJU seit 2005 über Kontakte zu international ausgerichteten Terrororganisationen, wie zum Beispiel al-qaida. Dies drückt sich auch in einer erweiterten Zielsetzung aus. So wird analog der Doktrin von al-qaida die Befreiung der weltweit unterdrückten Muslime gefordert. Seitdem ist die IJU bestrebt, mit Sympathisanten aus anderen auch europäischen Ländern zusammenzuarbeiten. Hierfür spricht das Bemühen, neue Rekruten aus westlichen Staaten für die Ausbildung in den z. B. in Pakistan gelegenen Trainingslagern zu gewinnen. Insoweit wirbt die IJU gezielt potenzielle Kämpfer für die Ausbildung in derartigen Camps an. Die IJU ist für die Sicherheitslage in Hessen insbesondere deshalb von Bedeutung, weil sich einer der im September 2007 in Medebach Oberschledorn (Nordrhein-Westfalen) festgenommenen mutmaßlichen IJU-Anhänger an seinem Wohnort Langen (Kreis Offenbach) als Rekruteur und Schleuser betätigt haben dürfte. Die Bundesanwaltschaft wirft ihm u. a. vor, einen aus Langen stammenden Türken, welcher dort zum Bekanntenkreis des mutmaßlichen Werbers gehörte, rekrutiert und in die pakistanischafghanische Grenzregion geschleust zu haben. Am 9. Januar wurde auf einer türkischsprachigen Internetseite, auf der bereits des Öfteren Verlautbarungen der IJU festgestellt werden konnten, eine Erklärung veröffentlicht, nach der diese Person im Oktober 2007 bei einem Kampfeinsatz des pakistanischen Militärs gegen Mujahidin der IJU in Nord-Waziristan (Pakistan) getötet worden sei. Mutmaßlicher Rekruteur und Schleuser aus Hessen Aktivitäten des mutmaßlichen IJU-Anhängers Eric Breininger Auch der mit internationalem Haftbefehl gesuchte Eric Breininger wurde mutmaßlich durch eine der im September 2007 verhafteten Personen angeworben. Breininger, der sich nach eigenen Angaben im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet aufhielt und dort mutmaßlich von Kadern der IJU ausgebildet wurde, verbreitete in mehreren Videobotschaften Propaganda für die IJU. Seit Mai wurden auf einer der IJU zurechenbaren Internetseite mehrere propagandistische Beitrage eingestellt, die u. a. den mit einem Schnellfeuergewehr bewaffneten Breininger vor dem Banner der IJU zeigten. In einer der Botschaften rief dieser deutsche Staatsangehörige zur Teilnahme am gewaltsamen Jihad auf. ISLAMISMUS 37

39 Aufruf zum Jihad Hinweise, nach denen er nach Deutschland zurückgekehrt sein soll, konnten bislang nicht bestätigt werden. Breininger selbst gab in einer Botschaft an, dass er sich weiterhin in Afghanistan aufhalte. Globale Islamische Medien Front (GIMF) Bei der GIMF handelt es sich um ein internationales Netzwerk von Aktivisten, die im Internet Propaganda für den globalen Jihad verbreiten. Dazu bedient sich die GIMF sowohl eigener Filme und Texte als auch Materialen, die von anderen jihadistisch ausgerichteten Gruppen produziert wurden. So werden u. a. Propagandavideos des al-qaida-medienlabels al-sahab einem weiten Publikum zugänglich gemacht. Aller dings konnte eine organisatorische Anbindung an al-qaida oder eine andere Gruppierung bislang nicht festgestellt werden, auch wenn die GIMF bestrebt ist, diesen Eindruck zu erwecken. Aktivitäten der deutschsprachigen Sektion der GIMF konnten erstmals im Jahre 2006 festgestellt werden. Die Internet-Präsenz der GIMF war im Berichtszeitraum erneut nur unter ständig wechs elnden Adressen eingeschränkt erreichbar. Zeitweise wurde das Forum auch durch ein sogenanntes Weblog ersetzt. Im Gegensatz zum vorherigen Berichtszeitraum hat die GIMF aktuell keine Videobotschaften selbst produziert. Auch die Übersetzung von arabischsprachigen Propagandaschriften ins Deutsche wurde im Berichtszeitraum fast komplett eingestellt. Die Aktivitäten der GIMF konzentrierten sich vielmehr darauf, ihren Anhängern eine Plattform für Kommunikation sowie den gegenseitigen Austausch von Propaganda zur Verfügung zu stellen. Dies ist für Hessen deshalb von Bedeutung, weil hier wohnhafte Personen so Kontakt zu in anderen Bundesländern oder im Ausland aufhältigen gleichgesinnten Personen aufnehmen und halten können. Auch einer teilweise von im Ausland ansässigen Personen ausgehenden Radikalisierung kann durch diese Propaganda Vorschub geleistet werden. Das am 12. März durch das Landgericht Wien ergangene Urteil gegen zwei mutmaßliche führende Aktivisten der deutschsprachigen GIMF-Sektion aus Österreich wurde allerdings am 27. Juli durch den Obersten Gerichtshof der Republik Österreich bezüglich der Verurteilung eines der Angeklagten in den Anklagepunkten Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und Beteiligung an einer kriminellen Organisation aufgehoben. In den Anklagepunkten Nötigung der österreichischen Bundesregierung, schwere Nötigung und Aufforderung zu einer mit Strafe bedrohten Handlung wurde die Verurteilung hingegen bestätigt und ist damit rechtskräftig. Damit gilt als erwiesen, dass der Angeklagte eine Videobotschaft der deutschsprachigen GIMF produzierte, die zur Teilnahme am militanten Jihad aufgerufen hat, und mit der Drohung von Anschlägen den Abzug der deutschen und österreichischen Militärkontingente aus Afghanistan bewirken wollte. Das Urteil gegen die zweite Angeklagte wurde insgesamt aufgehoben. Das Strafverfahren gegen beide muss nun erneut verhandelt werden. 38 ISLAMISMUS

40 Gerichtsverfahren und Urteile Im Berichtszeitraum sind nicht nur einige neue Strafverfahren wegen des Verdachtes der Unterstützung des internationalen islamistischen Terrorismus eingeleitet worden. Verfahren, die bereits in den Vorjahren ihren Anfang genommen hatten, mündeten im Berichtszeitraum auch zum Teil in rechtskräftige Verurteilungen. Am 19. August wurde vor dem Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichtes Koblenz (Rheinland-Pfalz) Anklage gegen ein mutmaßliches Mitglied von al-qaida erhoben. Dem deutschen Staatsangehörigen pakistanischer Herkunft werden die Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung sowie Verstöße gegen das Außenwirtschaftsgesetz zur Last gelegt. Der Beschuldigte soll im Rahmen mehrerer Reisen in das afghanisch-pakistanische Grenzgebiet sowohl Bargeld in Höhe von insgesamt mindestens Euro als auch Ausrüstungsgegenstände wie Nachtsichtgeräte, Laser- Entfernungsmesser und ein Wanzen-Aufspürgerät an Verantwortliche der al-qaida übergeben haben. Ebenfalls habe er in Deutschland Personen für eine militärische Ausbildung in Lagern der al-qaida rekrutiert und anschließend weitervermittelt. Das Oberlandesgericht Düsseldorf verkündete am 9. Dezember das Urteil gegen einen der beiden mutmaßlichen sogenannten Kofferbomber. Der Angeklagte wurde wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit versuchtem Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Urteil gegen Kofferbomber Das Gericht sah es als erwiesen an, dass der Libanese am 31. Juli 2006 gemeinsam mit dem im Libanon im Jahre 2007 bereits zu zwölfjähriger Freiheitsstrafe verurteilten zweiten Tatbeteiligten simultane Bombenanschläge auf zwei Regionalzüge verüben wollte, die lediglich auf Grund von handwerklichen Fehlern beim Bau der Sprengsätze gescheitert waren. Die Einlassung des Angeklagten, die Sprengsätze seien absichtlich fehlerhaft konstruiert worden, wertete das Gericht als Schutzbehauptung. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Das bereits seit dem 12. Juni 2006 beim Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts Celle (Niedersachsen) anhängige Verfahren gegen einen irakischen Staatsangehörigen wegen mutmaßlicher Unterstützung von al-qaida und al-qaida im Zweistromland fand am 19. Juni mit der Verurteilung des Angeklagten zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren sein Ende. Der Iraker hatte Reden der al-qaida-führer Bin Ladin und al-zawahiri sowie des inzwischen verstorbenen Führers von al-qaida im Zweistromland, Abu Mus ab al-zarqawi, in allgemein zugängliche Chatrooms im Internet eingestellt. Hierdurch sah das Gericht den Tatbestand des Verbreitens von Aufrufen zum Jihad als erwiesen an. Die eingelegte Revision wurde vom Bundesgerichtshof verworfen. Das Urteil ist somit rechtskräftig. Urteil gegen Unterstützer des Jihad im Irak Ein weiterer Verfahrenskomplex wegen mutmaßlicher Unterstützung von al-qaida sowie al-qaida im Zweistromland, der beim Oberlandesgericht Schleswig-Holstein anhängig war, wurde ebenfalls abgeschlossen. In allen drei verhandelten Fällen stützte das Gericht die Verurteilung auf den aus seiner Sicht erfolgten Nachweis, dass die Angeklagten gemeinsam mit weiteren Personen eine Front gegen die Kreuzritter im ISLAMISMUS 39

41 Sudan gegründet hatten. Das erste Urteil erging am 24. Januar gegen einen Deutsch- Marokkaner. Dieser wurde rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und neun Monaten verurteilt. Im zweiten Verfahren erhielt ein jordanischer Staatsangehöriger, der als Geldbeschaffer der Gruppe gilt, mit Urteil vom 21. Februar auf Grund seines ausführlichen Geständnisses eine Freiheitsstrafe von lediglich zwei Jahren. Nach Eintritt der Rechtskraft wurde der Jordanier in sein Herkunftsland abgeschoben. Am 24. September verkündete das Gericht das Urteil gegen den dritten Angeklagten. Der marokkanische Staatsangehörige wurde zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Die Rechtskraft steht in diesem Verfahren noch aus. Ein bereits seit 2005 beim Oberlandesgericht Stuttgart anhängiges Verfahren gegen drei mutmaßliche Mitglieder der nordirakischen jihadistisch orientierten Ansar al-islam (AAI) wurde am 15. Juli durch die Verurteilung aller drei Angeklagten zu langjährigen Freiheitsstrafen beendet. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass die drei Iraker anlässlich eines Deutschlandbesuches des ehemaligen irakischen Ministerpräsidenten 2004 einen Anschlag auf diesen geplant hatten. Der Hauptangeklagte wurde zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt. Die Mitangeklagten erhielten Freiheitsstrafen von acht Jahren beziehungsweise sieben Jahren und sechs Monaten. Alle Urteile sind ebenfalls noch nicht rechtskräftig. Zwei Verurteilungen von mutmaßlichen Unterstützern der AAI durch das Oberlandesgericht München aus dem Jahre 2007 erlangten im Berichtsjahr Rechtskraft. Die Iraker waren zu fünf Jahren und sechs Monaten sowie zu drei Jahren und drei Monaten Freiheitsstrafe verurteilt worden. In beiden Fällen hat der Bundesgerichtshof die eingelegte Revision als unbegründet verworfen. Muslimbruderschaft (MB al-ikhwan al-muslimun) Gründung: 1928 Ideologische Leitung Zuzurechnende Gruppierungen: Muhammad Mahdi Akif (Ägypten) Deutschland: Islamische Gemeinschaft in Deutschland e. V. (IGD), in Hessen ca. 200, bundesweit 750 Mitglieder Palästinensische Autonomiegebiete: Islamische Widerstandsbewegung (HAMAS) Tunesien: Al-Nahda (Bewegung der Erneuerung) Einflussreichste arabischislamistische Organisation Gründung und Ideologie 1928 in Ägypten gegründet, ist die Muslimbruderschaft (MB) die älteste und einflussreichste arabisch-islamistische Organisation. Die Ideologie der MB verbreitete sich von dort in nahezu alle Länder, in denen arabische Muslime leben. Mittlerweile existieren verschiedene Ableger der Bewegung u. a. in Syrien, Jordanien und Tunesien. Verbindendes Element ist ihr ideologischer Ursprung, der auf den Gründer der ägyptischen MB, den Volksschullehrer Hassan al-banna zurückgeht. 40 ISLAMISMUS

42 Häufig wird die MB als ideologische Mutterorganisation der heute existierenden sunnitisch-islamistischen Organisationen bezeichnet. So ging aus ihr beispielsweise die palästinensische Islamische Widerstandsbewegung (HAMAS) hervor. Auch al-qaida wurde maßgeblich von früheren Muslimbrüdern mitaufgebaut und übernahm Teile des Gedankenguts der MB. Somit bleibt die Ideologie der MB bis heute zentrales Gedankengut im Islamismus und im islamistischen Terrorismus. Die MB strebt auf der Grundlage von Koran und Sunna die Errichtung einer vorrangig der Scharia verpflichteten islamischen Ordnung in Staat und Gesellschaft an. Um dieses Ziel zu erreichen, wirkt die Organisation auf eine Islamisierung bestehender gesellschaftlicher Strukturen hin. Das Verhältnis der MB zur Gewalt ist dabei ambivalent. Muhammad Mahdi Akif, der Führer der ägyptischen MB, erklärte erst jüngst seine Unterstützung für die Aktivitäten der Terrororganisation al-qaida, soweit sich diese nicht gegen unbeteiligte Zivilisten richten würden. Usama Bin Ladin lobte er in diesem Zusammenhang als Kämpfer des Jihad. Außerdem erklärte Akif, dass seine Organisation, falls es ihr erlaubt werde, Kämpfer entsenden werde, um der Besetzung des Iraks oder Palästinas entgegenzuwirken. Politische Entwicklung im Herkunftsland Ägypten Für erhebliches Aufsehen in der ägyptischen Öffentlichkeit sorgte die Ankündigung der MB im Januar 2007, erstmals in ihrer Geschichte den Entwurf eines möglichen Parteiprogramms vorzulegen. Das hierzu Mitte Oktober desselben Jahres an ausgewählte Schriftsteller, Intellektuelle und Politiker versandte Papier welches aus Sicht der MB-Führung einen ersten Diskussionsentwurf darstellen sollte wurde öffentlich diskutiert. Er sieht u. a. vor, Frauen und Christen von den Ämtern des Präsidenten sowie des Premierministers auszuschließen. Ferner wird dort ähnlich dem iranischen Staatsmodell angeregt, neben der amtierenden Regierung eine Art Geistlichenrat zu etablieren, der die Arbeit des Parlaments begleiten und Empfehlungen aussprechen soll. Vorausgegangen waren dieser Initiative verschiedene Maßnahmen der ägyptischen Regierung, die bemüht ist, den politischen Druck auf die MB-Organisation weiter zu verstärken. Eine umfangreiche Verfassungsänderung verbietet jedwede Gründung einer religiösen Partei, was die MB faktisch von jeder politischen Mitsprache ausschließt. Angehörige der Organisation waren immer wieder Ziel staatlicher Repressionsmaßnahmen. Ein Beispiel ist der Prozess gegen 40 mutmaßliche Angehörige der MB vor einem eigens eingerichteten Militärtribunal. Den Beschuldigten wurde durch die ägyptische Justiz vorgeworfen, finanzielle Unterstützung einer verbotenen Organisation geleistet zu haben. Im April wurden 25 Angeklagte zu teils mehrjährigen Haftstrafen verurteilt, darunter auch der amtierende Vorsitzende der Islamischen Gemeinschaft in Deutschland e. V. (IGD), Ibrahim El-Zayat, gegen den in Abwesenheit verhandelt worden war. Verschiedene Menschenrechtsorganisationen hatten schon vor Urteilsverkündung die unrechtmäßigen Bedingungen des Verfahrens massiv kritisiert. Strukturen der MB in Europa In Europa wird die MB durch die Föderation Islamischer Organisationen in Europa (FIOE), einen europäischen Dachverband MB-naher Organisationen mit Sitz in Mark- ISLAMISMUS 41

43 field (Großbritannien), vertreten. Eigenen Angaben zufolge vereinigt die FIOE islamische Organisationen und Zentren aus 26 Staaten, darunter viele nationale islamische Dachorganisationen 9. Ein Gründungsmitglied der FIOE ist die IGD. In enger Verbindung zu der FIOE steht der Europäische Rat für Fatwa und Forschung (ECFR, kurz Europäischer Fatwa-Rat), der seit seiner Gründung im Jahre 1997 unter dem Vorsitz des MB-nahen Theologen ägyptischer Herkunft Yusuf al-qaradawi steht. Erklärtes Ziel des Gremiums ist es, Gegensätze und Auffassungsunterschiede zwischen den islamischen Gelehrten in Europa in fundamentalen Fragen der islamischen Rechtslehre zusammenzuführen. Es erlässt regelmäßig islamische Rechtsgutachten (Fatwas), die sich meist an traditionellen Scharia-Positionen orientieren. So rechtfertigte der Rat in der Vergangenheit beispielsweise die Todesstrafe beim Abfall vom Islam. Der in Qatar lebende al-qaradawi genießt auch bei Muslimen in Deutschland hohes Ansehen als religiöse Autorität. Vielen arabischen Muslimen ist er nicht zuletzt durch seine Sendung Al-Shari a wal-hayat (Die Scharia und das Leben) bekannt, die mit großem Erfolg im Fernsehsender Al-Jazeera ausgestrahlt wird. Daneben prägt er maßgeblich die inhaltliche Gestaltung eines einflussreichen Internetportals, das sich in seinen Positionen der Ideologie der MB annähert. Sein Buch Erlaubtes und Verbotenes im Islam wird auch in Deutschland in Moscheen und islamischen Buchläden zum Kauf angeboten. 10 Dies ist insofern bemerkenswert, als der Autor dort Standpunkte vertritt, die eindeutig als islamistisch zu werten sind. So wird in Fällen von Homosexualität die Todesstrafe befürwortet und bei Eheproblemen der körperlichen Züchtigung von Frauen zugestimmt. Islamische Gemeinschaft in Deutschland e. V. Aktivitäten der MB in Deutschland und in Hessen In Deutschland wird das Gedankengut der MB durch die 1960 gegründete IGD vertreten. Sie gilt als mitgliederstärkste Organisation von MB-Anhängern in Deutschland. Hauptsitz der IGD ist das Islamische Zentrum München e. V. (IZM). Bundesweit unterhält die Organisation ein Netz sogenannter Islamischer Zentren (IZ). In Hessen betreibt die IGD solche Niederlassungen in Marburg und Frankfurt am Main. Amtierender Präsident der Organisation ist Ibrahim El-Zayat, der bundes- und europaweit eine Vielzahl von Funktionärsämtern wahrnimmt und als Bindeglied zwischen türkischen und arabischen islamistischen Gruppen fungiert. So ist El-Zayat u. a. Vorstandsmitglied der Europäischen Moscheebau- und Unterstützungsgemeinschaft e. V. (EMUG), die den Immobilienbesitz der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs e. V. (IGMG) verwaltet. Das Oberlandesgericht München urteilte im Dezember 2005, dass El-Zayat als Funktionär der Muslimbruderschaft bezeichnet werden dürfe, und bestätigte damit ein Urteil des Landgerichts München aus erster Instanz. Gegenstand des Verfahrens waren öffentliche Äußerungen einer hessischen Bundestagsabgeordneten in einer Pressemitteilung vom April 2005 gewesen, gegen die El-Zayat eine Unterlassungsklage angestrengt hatte. 9 Dazu zählen z. B. die Union des Organisations Islamiques de France (UOIF) und die Muslim Association of Britain (MAB), die historisch wie ideologisch im Kontext der MB angesiedelt werden können. 10 Das Buch wurde erstmals im Jahre 1989 in deutscher Sprache verlegt und ist eine der meistverkauften Publikationen in der islamischen Literatur überhaupt. 42 ISLAMISMUS

44 Aktivitäten entfaltet in Deutschland neben dem ägyptischen auch der syrische Zweig der MB. So wird das Islamische Zentrum Aachen e. V. (IZA) maßgeblich von den Islamischen Avantgarden (IAv) beeinflusst, einer Abspaltung des syrischen Zweiges der MB. In der Vergangenheit unterhielt das IZA über seine Unterorganisationen Union Muslimischer Studentenorganisationen in Europa e. V. (UMSO) und Union für die in europäischen Ländern arbeitenden Muslime e. V. (UELAM) auch Kontakte zu verschiedenen Moscheevereinen in Hessen. Diese Kontakte bestanden auch nach der Auflösung der beiden genannten Vereine Ende 2007 fort. Muslimische Jugend in Deutschland e. V. (MJD) Die 1994 gegründete Muslimische Jugend in Deutschland e. V. (MJD) steht ideologisch wie organisatorisch der IGD nahe. Ziele der MJD sind laut Satzung die Förderung Jugendlicher und ihre Integration in die Gesellschaft, der Abbau bestehender Vorurteile [...] gegenüber dem Islam durch Darstellung und Bekanntmachung seiner Lehre sowie die Verbesserung der Beziehung zwischen Muslimen und Nichtmuslimen. Tatsächlich ruft die MJD in ihren Publikationen und bei ihren Veranstaltungen muslimische Jugendliche dazu auf, sich in der deutschen Gesellschaft zu engagieren und diese positiv zu verändern. Eine eingehendere Betrachtung der Organisation offenbart allerdings, dass deren nach außen hin vertretene Selbstdarstellung, die sich im Bekenntnis zu Integration und Demokratie dokumentiert, nicht deren tatsächliches ideologisches Selbstverständnis wiedergibt. Dieses steht in Teilen durchaus im Widerspruch zu den Prinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und lässt zumindest eine islamistische Tendenz erkennen. So bekennt sich die MJD beispielsweise zu den Positionen des von Yusuf al-qaradawi geleiteten ECFR. Sie empfiehlt ihren Mitgliedern, sich bei allen Fragen der islamischen Rechtsauslegung an dessen Maßgaben zu orientieren. Über den MJD-eigenen Buchverlag wurden in der Vergangenheit auch Werke islamistischer Autoren vertrieben, darunter Werke des pakistanischen Ideologen Abul A la Maududi und des ägyptischen Muslimbruders Sayyid Qutb, die beide den bewaffneten Jihad als Mittel zur Errichtung eines islamischen Staates propagierten. Im Vorwort des Buchs Ratschläge an meine jungen Geschwister des türkischen Autors Mustafa Islamoglu, das die MJD in deutscher Übersetzung bereits seit dem Jahr 2005 vertreibt, erläutern die Herausgeber ihren Anspruch, was Auswahl und Veröffentlichung islamischer Literatur angeht: Unsere Veröffentlichungen haben das Ziel, islamische Literatur in deutscher Sprache zur Verfügung zu stellen, die zum Ziel hat, vor allem muslimische Jugendliche auf dem Weg zu Allahs Wohlgefallen zu unterstützen und den Islam in seiner Ganzheitlichkeit darzustellen. 11 Vertrieb islamistischer Literatur 11 Mustafa Islamoglu, Ratschläge an meine jungen Geschwister, S. 8. ISLAMISMUS 43

45 Im völligen Gegensatz zu dem so formulierten Anspruch finden sich in der Veröffentlichung eine Vielzahl von Aussagen, die eine polarisierende Weltsicht transportieren und sich mitunter eindeutig islamistischen Positionen annähern: Wenn ihr Beamter in einem nicht-islamischen System werden wollt, dann werdet nicht Beamter dieses Systems, sondern dort Beamter des Islams. Und seid gewillt und in der Lage, wenn die Sache, für die ihr euch verbeamtet habt, keinen Nutzen mehr bringt, Auf Wiedersehen sagen zu können. Beschäftigt euch mit der Berechnung von Nutzen und Schaden sehr genau! [...] Betrachtet Situationen, die unislamisch sind, wie das Sitzen auf Nesseln! Neigt euch keiner Aufgabe zu, die einen Widerspruch zu euren Religionsgrundsätzen bildet auch wenn ihr Schätze dafür erhalten würdet. ¹² Die MJD entfaltet unterschiedlichste Aktivitäten. Diese erstrecken sich von der Ausrichtung allgemeinbildender Veranstaltungen und Kurse über das Angebot von Publikationen bis hin zu Freizeitveranstaltungen, die nicht nur Mitgliedern offenstehen. Bundesweit unterhält die MJD eine Vielzahl sogenannter Lokalkreisgruppen, wobei der organisatorische Schwerpunkt eindeutig in den alten Bundesländern liegen dürfte. In Hessen existieren solche Gruppen u. a. in Frankfurt am Main und in Marburg. Jahrestreffen in Bad Orb Seit 1995 veranstaltet die MJD regelmäßig Jahrestreffen an Pfingsten. Am ersten Jahrestreffen im Jahre 1995 in Aachen hatten noch lediglich rund 200 Personen teilgenommen. Seit 2004 finden diese Treffen im hessischen Bad Orb (Main-Kinzig-Kreis) statt. Beim Treffen vom 9. bis 12. Mai nahmen wie im Vorjahr über tausend Personen teil. Dieser massive Anstieg der Teilnehmerzahl ist ein Indiz dafür, dass es der Organisation gelungen ist, in den letzten Jahren eine wachsende Akzeptanz unter muslimischen Jugendlichen in Deutschland zu erzielen. Islamische Widerstandsbewegung (HAMAS Harakat al-muqawama al-islamiya) Gründung: 1987 Leitung Khalid Mash al (Syrien) Anhänger / Mitglieder: in Hessen ca. 80, bundesweit 300 Militärischer Arm: Medien (Auswahl): Qassam-Brigaden (Izz al-din al-qassam-brigaden) Al-Aqsa TV (Fernsehsender) Bei der HAMAS handelt es sich um den palästinensischen Zweig der MB. Die Organisation trat erstmals mit dem Ausbruch der ersten Intifada im Jahre 1987 öffentlich in Erscheinung. Sie negiert das Existenzrecht Israels und strebt die Errichtung eines islamischen Staates auf dem gesamten Gebiet zwischen Mittelmeer und Jordan an. In 12 Mustafa Islamoglu, Ratschläge an meine jungen Geschwister, S ISLAMISMUS

46 ihrer 1988 verfassten Charta bekennt sich die HAMAS zur MB und zum Jihad als einzigem Mittel zur Befreiung Palästinas. In dem Grundsatzdokument wird auch die dezidiert antisemitische Ausrichtung der Bewegung deutlich: Der Kampf gegen die Juden wird als groß und ernsthaft bezeichnet. Antisemitische Ideologie Zur Durchsetzung ihrer Ziele greift die Organisation auf Selbstmordattentate zurück, die sich nicht nur gegen militärische Ziele, sondern auch gegen Zivilisten im israelischen Kernland richten. Diese als Märtyreroperationen verherrlichten Anschläge werden damit gerechtfertigt, dass israelische Bürger auf Grund der allgemeinen Wehrpflicht grundsätzlich nicht als Zivilisten anzusehen seien. Nachdem sich die HAMAS drei Jahre lang nicht mehr zu Selbstmordanschlägen bekannt hatte, übernahm sie im Februar die Verantwortung für einen Anschlag in Südisrael, bei dem eine Israelin getötet und zahlreiche Personen verletzt wurden. Die HAMAS, die in einen zivilen und einen militärischen Arm gegliedert ist, liefert sich seit den von ihr gewonnenen Parlamentswahlen der Palästinensischen Autonomiebehörde im Jahre 2006 Auseinandersetzungen mit der säkular ausgerichteten Palästinenserpartei Fatah übernahm sie mit Waffengewalt die Herrschaft im Gazastreifen. Der Machtübernahme der HAMAS folgte eine umfassende Islamisierung der dortigen Verwaltung und Gesellschaft, die mit Menschenrechtsverletzungen gegen Fatah-Anhänger sowie Übergriffen auf die christliche Minderheit einherging. Darüber hinaus beschoss die HAMAS vom Gazastreifen aus regelmäßig israelische Städte mit Raketen, bei denen Zivilisten getötet und verletzt wurden. Während eines Waffenstillstands von Juli bis Dezember stellte die HAMAS selbst die Raketenangriffe zwar ein, duldete aber deren Fortsetzung durch militante Palästinenser und legte umfangreiche Waffenlager im Gazastreifen an. Am 18. Dezember beendete die HAMAS schließlich den ohnehin auslaufenden Waffenstillstand und startete massive Angriffe auf israelisches Territorium. Dies veranlasste Israel am Jahresende zum militärischen Eingreifen im Gazastreifen, was eine mehrwöchige kriegerische Auseinandersetzung mit der HAMAS einleitete. Krieg im Gazastreifen Obwohl die HAMAS in Hessen rund 80 Anhänger hat, tritt die Organisation hier nicht öffentlich unter ihrem Namen in Erscheinung. Die in Deutschland und in Hessen lebenden Mitglieder, Anhänger und Sympathisanten der HAMAS beschränken ihre Aktivitäten in der Öffentlichkeit überwiegend auf gewaltfreie Demonstrationen. Darüber hinaus werden Spenden gesammelt, die der Unterstützung der Organisation im Ausland dienen. Auch nach den Verboten der HAMAS-nahen Spendenvereine Al-Aqsa e. V. und Yatim Kinderhilfe e. V. in Nordrhein-Westfalen ist davon auszugehen, dass in Deutschland weiterhin Spendensammlungen für die HAMAS stattfinden. Trotz der zum Jahresende eingetretenen Krisensituation im Gazastreifen liegen derzeit keine Anhaltspunkte für eine verstärkte Gefährdungssituation durch HAMAS-Anhänger in Hessen vor. Aktivitäten emotionalisierter Einzeltäter können jedoch nicht ausgeschlossen werden. ISLAMISMUS 45

47 Hizb Allah (Partei Gottes) Gründung: 1982 Leitung Hassan Nasrallah (Libanon) Anhänger / Mitglieder: in Hessen ca. 90, bundesweit 900 Militärischer Arm: Medien (Auswahl): Al-Muqawama al-islamiya (Islamischer Widerstand) Al-Intiqad (Die Kritik, Wochenzeitung), Al-Manar (Der Leuchtturm, Fernsehsender), Betätigungsverbot 11. November Kampf gegen Israel Organisation und Ideologie Die schiitisch-islamistische Hizb Allah (Partei Gottes) wurde 1982 nach dem Einmarsch israelischer Truppen im Libanon mit Unterstützung des Irans gegründet. Sie entwickelte sich rasch zu einer Sammelbewegung libanesischer Schiiten und verfügt mittlerweile auch durch ihr soziales Engagement über einen breiten gesellschaftlichen Rückhalt innerhalb der schiitischen Bevölkerung des Libanon. Die Organisation negiert das Existenzrecht Israels und propagiert den bewaffneten Kampf als legitimes Mittel des Widerstandes gegen den Staat Israel. Getragen wird dieses militärische Vorgehen der Hizb Allah vom sogenannten Islamischen Widerstand (al-muqawama al-islamiya), dem militärischen Arm der Organisation. Die Ideologie der Hizb Allah ist von einer anti-israelischen und anti-amerikanischen Grundhaltung gekennzeichnet. Auch solidarisiert sich die Organisation mit islamistischen palästinensischen Organisationen wie der HAMAS und unterstützt diese ideologisch, finanziell, militärisch und propagandistisch. So führte der Generalsekretär der Hizb Allah, Hassan Nasrallah, in einer im Januar gehaltenen Rede Folgendes aus: Die Zionisten werden sich ihren Teil der Gebiete von 67 nehmen, Jerusalem und die Siedlungen, und werden den Palästinensern das Bisschen geben, das sie übrig gelassen haben. Er (US-Präsident George W. Bush) wird fordern, dass die Libanesen die Realität akzeptieren und Israel anerkennen... Das ist Bushs Testament, von dem er denkt, dass er es uns diktieren kann. [...] Wir werden nicht weggehen, sondern wir werden auf unseren Ländereien, in unseren Dörfern und Städten bleiben, selbst wenn unsere Häuser zerstört werden... Wir werden das israelische Programm nicht tolerieren, und mit dem Widerstand... werden wir, wie ich es früher versprochen habe, von Sieg zu Sieg gehen, und dieser wird kommen mit der Hilfe von Intelligenz, Blut und Willen. ¹³ Aktuelle Entwicklungen Am 12. Februar wurde eine der Führungspersönlichkeiten der Hizb Allah, Imad Mughniya, durch eine Autobombe in Damaskus (Syrien) getötet. Mughniya galt als 13 Internetseite des Fernsehsenders Al-Manar, 12. Januar, Übersetzung aus dem Englischen. 46 ISLAMISMUS

48 Sicherheitschef der Organisation und soll für zahlreiche Anschläge der Hizb Allah in der Vergangenheit verantwortlich gewesen sein, u. a. für die Anschläge auf israelische bzw. jüdische Einrichtungen in Buenos Aires (Argentinien) in den Jahren 1992 und 1994, denen über hundert Menschen zum Opfer fielen. Die Hizb Allah bezichtigte Israel der Urheberschaft des tödlichen Anschlags und kündigte Vergeltung an. So äußerte sich Generalsekretär Nasrallah auf Mughniyas Beerdigung wie folgt: Zionisten, wenn ihr offenen Krieg wollt, [...] dann soll es die ganze Welt hören: Lasst uns offen Krieg führen. 14 Am 16. Juli kam es zu einem erneuten Gefangenenaustausch zwischen der Hizb Allah und Israel. Unter Vermittlung der Vereinten Nationen wurden von der Hizb Allah die Leichen zweier im Juli 2006 in den Libanon verschleppter israelischer Soldaten übergeben. 15 Im Austausch wurden der Hizb Allah die sterblichen Überreste von 199 libanesischen und palästinensischen Kämpfern sowie fünf bisher in Israel inhaftierte mutmaßliche Terroristen übergeben. Dies wurde in der arabischen Welt als Erfolg der Hizb Allah und erneuter Sieg gegenüber Israel gefeiert. Entwicklungen in Deutschland Am 11. November erließ das Bundesministerium des Innern ein Betätigungsverbot gegen den von der Hizb Allah betriebenen libanesischen Fernsehsender Al-Manar (Der Leuchtturm). 16 Das Betätigungsverbot erfolgte auf Grund der aggressiven Hass- und Hetzpropaganda des Senders gegen Juden, den Staat Israel und die USA. Dies stellt einen Verstoß gegen den Gedanken der Völkerverständigung dar. Al-Manar sendet im Libanon seit Mitte der neunziger Jahre und ist in Deutschland via Satellit zu empfangen. Zu den Programminhalten gehören neben Nachrichtensendungen, Dokumentarfilmen und Kindersendungen auch Propagandasendungen der Hizb Allah wie die Übertragung der Freitagspredigt von Generalsekretär Nasrallah. Betätigungsverbot für Fernsehsender Al-Manar Die rund 90 in Hessen lebenden Anhänger der Hizb Allah konzentrieren wie die übrigen in Deutschland lebenden Anhänger und Sympathisanten ihre Aktivitäten derzeit im Wesentlichen auf den religiösen Bereich sowie die Unterstützung der Organisation durch Spendensammlungen. Zu größeren Feierlichkeiten wie z. B. dem Ramadan- 17 oder Ashurafest 18 und zur religiösen Betreuung der hier lebenden schiitischen Gläubigen reisen regelmäßig geistliche Würdenträger aus dem Libanon nach Deutschland ein. Auch für Versuche, unter hier lebenden Arabern Informanten zu gewinnen, gibt es Anhaltspunkte. So wurde im Juli ein in Göttingen (Niedersachsen) studierender Palästinenser bei der Einreise nach Israel wegen des Verdachts der Spionage für die Hizb Allah festgenommen. Israelische Behörden werfen ihm vor, bei mehreren Treffen mit Anhaltspunkte für Gewinnung von Informationen in Deutschland 14 Frankfurter Rundschau, 28. Mai. 15 Deren Entführung in den Libanon hatte im Sommer 2006 zum israelischen Angriff auf den Libanon und den darauffolgenden bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Israel und der Hizb Allah geführt. 16 Im Jahre 2004 hatten bereits Frankreich und die USA dem Sender seine Sendelizenz entzogen, da dieser zu Hass und Gewalt gegen Israel aufrufe und Programme mit eindeutig antisemitischem Charakter ausstrahle. 17 Islamischer Fastenmonat, der mit einem mehrtägigen Fest beendet wird. 18 Trauertag im schiitischen Islam. ISLAMISMUS 47

49 einem Hizb-Allah-Aktivisten in Erfurt und Frankfurt am Main gegen Bezahlung Spionage - aufträge angenommen und Informationen über potenzielle Angriffsziele weitergegeben zu haben. Tablighi Jama at (TJ Gemeinschaft der Verkündigung und Mission) Gründung ca Leitung Weltweite Zentren: Europa-Zentrale: Schwerpunkte in Deutschland: Welt-Schura-Rat in Indien und Pakistan Lahore, Raiwind (Pakistan), Neu-Delhi (Indien), Bangladesch Dewsbury (Großbritannien) u. a. Friedrichsdorf (Hochtaunuskreis) Anhänger / Mitglieder: in Hessen ca. 200, bundesweit 700 Ideologie und Mission Das Ziel der Tablighi Jama at (TJ) ist die weltweite Islamisierung der Gesellschaft, um langfristig eine auf den Regeln der Scharia basierende Ordnung zu etablieren. Die um 1926 in Indien von dem Religionsgelehrten Muhammad Ilyas gegründete multinationale Bewegung ist in über 80 Ländern aktiv und verfügt über rund zwölf Millionen Anhänger. Die TJ verlangt im Sinne eines am ursprünglichen Islam orientierten Salafismus von den Muslimen eine rigide, buchstabengetreue Befolgung von Koran und Sunna (Sammlung der Überlieferungen des Propheten Mohammed). Danach ist aus Sicht der Bewegung das gesamte Leben auszurichten. Die Anhänger der TJ müssen sich täglich mehrstündigen Koranstudien unterziehen und sich in ihrem Verhalten und Aussehen streng nach dem Vorbild Mohammeds und seiner Gefährten richten. Hauptaktivität der TJ ist ihre Missionierungstätigkeit. Sie dient dazu, den Glauben der eigenen Aktivisten zu festigen. Gleichzeitig sollen neue Anhänger gewonnen werden, die dann Koranschulen in den TJ-Zentren besuchen. Dort beschäftigen sie sich inhaltlich intensiv mit den muslimischen Glaubensgrundlagen und predigen selbst. Pflicht jedes Anhängers ist es, monatlich eine dreitägige und einmal im Jahr eine insgesamt 40 Tage dauernde Missionierungsreise (Jama at) zu unternehmen. In größeren Abständen bzw. einmal im Leben müssen TJ-Anhänger darüber hinaus drei bis vier Monate lang im Ausland missionieren. In kleinen Gruppen besuchen die traditionell islamisch gekleideten TJ-Anhänger Moscheen, die in der Regel nicht zu der Bewegung gehören, um durch intensive persönliche Gespräche Missionierungsarbeit im Sinne ihrer Ideologie zu leisten. Zielgruppe sind vor allem im Glauben wenig gefestigte und leicht beeinflussbare Muslime. 48 ISLAMISMUS

50 In Europa sind dies in erster Linie junge Menschen, die in sozial-ökonomisch prekären Verhältnissen leben, darunter auch Kriminelle und Drogenabhängige sowie Konvertiten. Darüber hinaus werden auch Nichtmuslime angesprochen. Anhänger, die sich in den Augen der TJ bewährt haben, werden zur weiteren Ausbildung in Koranschulen nach Pakistan geschickt. Bezüge zum islamistischen Terrorismus Die TJ sieht sich als apolitische Bewegung und lehnt nach eigenem Bekunden Gewalt ab. Trotzdem sind in zahlreichen Fällen des internationalen islamistischen Terrorismus Bezüge zur TJ festzustellen. Es ist anzunehmen, dass die rigide Glaubenspraxis der TJ zumindest die Grundlage für eine Radikalisierung bis hin zur Gewaltbereitschaft legen kann. Zudem können die Strukturen der TJ von gewaltbereiten Islamisten leicht für Rekrutierungszwecke genutzt werden. Dazu zählen persönliche Netzwerke und Ausbildungseinrichtungen in Pakistan. Strukturen in Deutschland Wichtige Einrichtungen der hierarchisch organisierten TJ gibt es neben Hessen in Bayern, Hamburg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Thüringen. Ein Deutschlandtreffen mit über Teilnehmern fand im Mai im Saarland statt. Darunter waren auch Personen aus dem benachbarten Ausland sowie Indien und Pakistan. Ein bundesweiter Schwerpunkt der Bewegung liegt im Rhein-Main-Gebiet. Regelmäßig finden in Frankfurt am Main Treffen statt; zahlreiche Moscheen in Hessen dienen der TJ als Anlaufstelle für ihre Missionierungstätigkeit. Der in Friedrichsdorf (Hochtaunuskreis) ansässige Verein Anjuman-E-Islahul Muslemeen Deutschland e. V. übernimmt zentrale Aufgaben für die Organisation. Er lädt aus dem Ausland einreisende Gruppen ein, dient diesen als Anlaufstelle und organisiert Missionsreisen. Schwerpunkt Rhein-Main-Gebiet Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e. V. (IGMG) Gründung 1995 Leitung Oguz Ücüncü (Generalsekretär, Nordrhein-Westfalen), Osman Döring, genannt Yavuz Celik Karahan (Bundesvorsitzender, Nordrhein-Westfalen), Mehmet Ates (Gebietsvorsitzender Hessen) Anhänger / Mitglieder: In Hessen ca , bundesweit Nebenorganisation: Medien (Auswahl) Europäische Moscheebau- und Unterstützungsgemeinschaft e. V. (EMUG) Perspektif (Monatszeitschrift) Die Milli-Görüş-Bewegung: Ideologie und Ziele Die Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e. V. (IGMG) ist sowohl in Hessen als auch bundesweit die mitgliederstärkste, einflussreichste und finanzkräftigste islamistische Organisation. Sie ist aus der Milli-Görüş-Bewegung (kurz Milli Görüs) hervorgegangen, ISLAMISMUS 49

51 die seit Ende der 1960er Jahre in der Türkei die Aufhebung des Laizismus propagiert und stattdessen eine islamische Staats- und Gesellschaftsordnung etablieren will. Die Milli Görüs, zu Deutsch nationale Sicht, versteht sich als ganzheitliche politische Kraft, die die religiöse Erziehung und Bindung ihrer Anhänger an die Türkei sowie die Erhaltung der nationalen Werte sicherstellen will. Juden und Christen als Feinde des Islam Gründer der Bewegung ist der ehemalige Ministerpräsident der Türkei Prof. Dr. Necmettin Erbakan, der nach wie vor den Kurs der Milli Görüs vorgibt. Erbakan verbindet türkisch-nationalistische und islamistische Komponenten zu einer Ideologie, deren Ziel eine nach islamischen Gesetzen regierte Großtürkei ist. Den Westen bezeichnet er als falsche und wertlose, auf Stärke und Unterdrückung basierende Zivilisation, die es zugunsten der gerechten, von Allah vorgegebenen Ordnung zu überwinden gelte. Als Feinde des Islams betrachtet er insbesondere Juden sowie Christen, Freimaurer und Kapitalisten. In der Türkei wird die Ideologie der Milli Görüs durch die allerdings nicht im Parlament repräsentierte Saadet Partisi (Glückseligkeitspartei, SP) vertreten, im Ausland durch die IGMG. Zum Gesamtkomplex der Milli Görüs zählt außerdem die Tageszeitung Milli Gazete als deren wichtigstes Propagandaorgan, das über die in Mörfelden-Walldorf (Landkreis Groß-Gerau) verlegte Europaausgabe auch hier lebende Anhänger erreicht. 30 Ortsvereine in Hessen Strukturen und Einflussnahme in Deutschland Die IGMG, die in mehreren europäischen Ländern vertreten ist, hat ihren Schwerpunkt in Deutschland als dem Staat mit den meisten im Ausland lebenden Türken. Die Organisation gliedert sich nach eigenen Angaben in einen Dachverband mit Sitz in Kerpen (Nordrhein-Westfalen) und 30 europäische Regionalverbände mit ca. 500 Moscheegemeinden. Für Jugendliche und Frauen unterhält sie eigene Unterorganisationen. Allein 15 Regionalverbände und mehr als 300 Ortsvereine bzw. Moscheen befinden sich in Deutschland; in Hessen sind es ca. 30 Ortsvereine. Darüber hinaus gibt es im Umfeld der IGMG eine Sterbekasse sowie Versicherungs- und Kapitalanlagegesellschaften. Den Immobilien- und Liegenschaftsbesitz der IGMG verwaltet die Europäische Moscheebau- und Unterstützungsgemeinschaft e. V. (EMUG). Neben der dauerhaften Bindung ihrer Mitglieder ist eine langfristige politische Einflussnahme das Hauptanliegen der IGMG. Obwohl die Ideologie der Milli Görüs im Widerspruch zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung steht, stellt sich die IGMG nach außen als verfassungstreu und dialogorientiert dar. Ihr Ziel ist es dabei, als seriöser Ansprechpartner im politischen, sozialen und religiösen Bereich anerkannt zu werden. So ist die IGMG in dem muslimischen Dachverband Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland e. V. 19 maßgeblich vertreten. Indirekt ist sie damit auch am Ko ordinierungsrat der Muslime in Deutschland (KRM) 20 beteiligt, der die vier größten muslimischen Dachverbände in Deutschland vereint und dem Staat als zentraler Ansprech- 19 Kein Beobachtungsobjekt der Verfassungsschutzbehörden. 20 Kein Beobachtungsobjekt der Verfassungsschutzbehörden. 50 ISLAMISMUS

52 partner dienen will. Der amtierende Vorsitzende des Islamrats, der im Berichtsjahr auch turnusgemäß sechs Monate lang den Vorsitz des KRM innehatte, war von 2000 bis 2002 Generalsekretär der IGMG. Die IGMG bekennt sich öffentlich immer wieder zur Integration. Sie grenzt diese aber scharf von Assimilation ab. Diese wird ihrer Ansicht nach gegenüber Muslimen gefordert und käme einer Aufgabe ihrer kulturellen Identität gleich. In ihrem Bemühen, ihren Anhängern ein Leben gemäß den Regeln von Koran und Sunna zu ermöglichen, unterstützt die IGMG Muslime in rechtlichen Streitigkeiten. Mit Verweis auf die Religionsfreiheit fordert die IGMG beispielsweise ein Recht auf islamisches Schächten, auf das Tragen des Kopftuchs in allen Bereichen des öffentlichen Lebens sowie auf die Befreiung von Mädchen vom Schwimmunterricht vehement ein. So äußerte sich ein IGMG-Funktionär nach einem Urteil des Düsseldorfer Verwaltungsgerichts, das die Teilnahme am koedukativen Schwimmunterricht auch für Musliminnen als verpflichtend ansah, wie folgt: Dieses Urteil überrascht nicht, obwohl es aus juristischer Sicht falsch und inakzeptabel ist. Das Urteil in dieser Form bestätigt eine Tatsache, die in den letzten Jahren in der Politik des Staates beobachtet werden konnten. Es bestätigt, dass darauf abgezielt wird, die Religionsfreiheit der Muslime soweit wie möglich einzuschränken. Mit einer verzerrten Auffassung von Integration wird ihre Assimilation angestrebt. [...] Man kann erkennen, dass viele Strategen im Staatsapparat mit dem jüngsten Gerichtsurteil versuchen, das falsche Urteil des Bundesverwaltungsgerichts von 1993 zu beseitigen. 21 Das Beharren auf der Befolgung eigener religiös begründeter Vorschriften und auf einer Nichteinmischung des deutschen Staates in religiöse Angelegenheiten korrespondiert mit der Idealisierung des untergegangenen Osmanischen Reichs durch die Milli Görüs. Damals genossen anerkannte religiöse Gruppen weitgehende Autonomie und konnten unbehelligt von der Zentralregierung das Gemeindeleben ihrer Mitglieder organisieren. Letztlich fördert ein solches Gesellschaftsmodell jedoch keine Integration, sondern eine Abschottung und damit die Bildung von Parallelgesellschaften. Jugendarbeit In ihrem Bemühen, ihre Mitglieder an sich zu binden und sich langfristig Einfluss zu sichern, misst die IGMG der Kinder- und Jugendarbeit besondere Bedeutung bei. Sie versucht, türkischstämmige Heranwachsende mit einer Vielzahl von Angeboten an sich zu binden. Auf spielerische Weise etwa anhand von Comics, Bastelanleitungen und Malvorlagen sollen schon Kinder im Vorschulalter mit der Organisation vertraut gemacht werden; der Kinderklub der IGMG gibt eine eigene Zeitung mit dem Namen Gökkusagi (Regenbogen) heraus. Die von der IGMG organisierten Aktivitäten umfassen u. a. Hausaufgabenhilfe, Computerkurse, Ferienreisen, Koranlesewettbewerbe und Koranschulungen, die während der Schulferien auch als Internatskurse angeboten werden. 21 Milli Gazete, 9. Juni. ISLAMISMUS 51

53 Dass bereits in den Kursen für Kinder islamistisches Gedankengut verbreitet wird, belegt die Verwendung der von der IGMG herausgegebenen Buchserie Temel Bilgiler (Grundwissen) als Standardwerk in der Bildungsarbeit. Diese drei altersgerecht aufbereiteten Lehrbücher sollen türkischstämmige Kinder mit dem Islam und der türkischen Kultur vertraut machen. Darin wird nicht nur die Scharia als Grundlage des menschlichen Zusammenlebens dargestellt, sondern auch beispielsweise der bewaffnete Jihad zur Verteidigung des Islams als Form der Gottesverehrung befürwortet. Ferner wird festgestellt, Allah habe erlaubt, Frauen leicht zu schlagen. Langfristige Einflussnahme durch Jugendarbeit Die IGMG ist bestrebt, ihre Angebote für Kinder und Jugendliche weiter auszubauen. So betonte der Vorsitzende des hessischen IGMG-Regionalverbands anlässlich einer Feier seiner Gemeinde die herausragende Bedeutung der Bildungsaktivitäten für Kinder und Jugendliche und erklärte, man wolle das Angebot an Korankursen weiter erhöhen. Bei derselben Veranstaltung erläuterte ein Gastredner die durch die IGMG verfolgte Strategie der langfristigen Einflussnahme. Er gab die Zielrichtung vor, durch eine Unterstützung im Bildungsbereich junge Mitglieder dazu zu bewegen, sich als Kandidaten für kommunale Vertretungen und Parlamente aufstellen zu lassen. Nur so könnten die eigenen Interessen wirksam vertreten werden. Die Milli Gazete Wichtigstes Medium der Milli Görüs ist die Tageszeitung Milli Gazete (Nationale Zeitung). Die türkische Zeitung erscheint nach eigenen Angaben mit einer Gesamtauflage von ca Exemplaren; die in Mörfelden-Walldorf (Landkreis Groß-Gerau) gedruckte Europaausgabe umfasst ca Exemplare. Unter dem Motto Gekommen ist die Wahrheit, verschwunden sind Lug und Trug vertritt die Milli Gazete durchgehend die Ideologie der Milli Görüs und bietet deren Führer Erbakan eine Plattform zur Verbreitung seiner Weltanschauung. Besonders in Wahlkampfzeiten in der Türkei wirbt sie darüber hinaus massiv für die Saadet Partisi (SP) und übt heftige Kritik an der amtierenden türkischen Regierung. Verschwörungstheorien Immer wieder zeigt sich in den Artikeln der Milli Gazete das islamistische und antiwestliche Weltbild der Milli Görüs. Oft werden dabei Verschwörungstheorien aufgegriffen. So wurde im Berichtsjahr in der Milli Gazete u. a. behauptet, die Türkei sei von Spionen und Provokateuren unterwandert, die USA betrieben die Versklavung anderer Völker und stünden hinter den von der PKK 22 verübten Terroranschlägen. Erbakan wird hingegen als Alptraum der fremden Mächte und des Zionismus gerühmt. Bezeichnend ist weiterhin ein Artikel vom Juli mit dem Titel Die Aufrechten haben gewonnen, in dem über das iranische Atomprogramm und die Freilassung von Hizb-Allah-Kämpfern aus israelischer Haft berichtet wird. Diese Ereignisse werden als Sieg für die Muslime betrachtet: Hizbollah, die den Besatzer Israel zum Nachgeben veranlasste und Iran, der dem ganzem internationalen Druck der USA, die die ganze Welt in Brand setzt, widersteht, haben den Sieg als Gegenleistung dafür, dass sie gerade stehen. 23 (Fehler im Original) 22 Volkskongress Kurdistans, vgl. S. 59 ff. 23 Milli Gazete, 18. Juli. 52 ISLAMISMUS

54 Neben dieser ideologisch gefärbten Sicht auf internationale Ereignisse vermittelt die Milli Gazete auch die gesellschaftlichen Ideale der Milli Görüs. So werden muslimische Mädchen in Europa davor gewarnt, europäische Verhaltensweisen anzunehmen, die nicht dem Islam entsprechen. Das Tragen des Kopftuchs wird als religiöse Pflicht dargestellt; im Gegensatz dazu stelle die Nacktheit Primitivität und Kulturlosigkeit dar. In der Ausgabe vom 7. August forderte ein Kolumnist, Jugendliche müssten im Gebiet des kleinen (d. h. bewaffneten) und großen Jihad als Glaubenskämpfer erzogen werden. Obwohl die Milli Gazete nicht in direkter organisatorischer Verbindung zur IGMG steht, spielt sie auch für diese eine wichtige Rolle. Sie wirkt durch ihre Berichterstattung als Bindeglied zwischen der IGMG und der Milli Görüs in der Türkei. Darüber hinaus berichtet die Europaausgabe ausführlich über das Vereinsleben der IGMG: Veranstaltungen werden angekündigt und dokumentiert; IGMG-Funktionäre kommen in Interviews und eigenen Beiträgen zu Wort. Daneben nutzen IGMG-Mitglieder die Milli Gazete für private Anzeigen. Die Tatsache, dass sowohl der IGMG-Generalvorsitzende Yavuz Celik Karahan als auch der Vorsitzende der IGMG Hessen Mehmet Ates im Berichtsjahr mehrmals in der Europaausgabe der Zeitung inserierten, belegt die Verbundenheit der IGMG mit der Milli Gazete. Festhalten an islamistischer Ideologie Seit einiger Zeit mehren sich Anzeichen dafür, dass Teile des IGMG-Vorstands eine größere Unabhängigkeit gegenüber der Milli Görüs in der Türkei anstreben. So nehmen selbstkritische Äußerungen von Vorstandsmitgliedern zu, die sich von offen antidemokratischen und antisemitischen Bestrebungen innerhalb der IGMG distanzieren. Bemerkenswert ist außerdem, dass der IGMG-Generalsekretär Oguz Ücüncü die Wahlerfolge der Regierungspartei in der Türkei im Jahre 2007 begrüßte, während sich Vertreter der Milli Görüs in der Türkei fast ausnahmslos abfällig darüber äußerten und die SP als einzig richtige Wahl anpriesen. Ob diese Tendenzen zu mehr Eigenständigkeit gegenüber der Milli-Görüs-Führung in der Türkei letztendlich zu einer ideologischen Neuausrichtung der IGMG führen werden, bleibt jedoch abzuwarten. Gegenwärtig versteht sich die IGMG noch als Teil der Milli-Görüs-Bewegung. Erbakan genießt gerade an der Basis der Organisation unvermindert hohes Ansehen. Für die enge Anbindung der IGMG an die Milli Görüs und ihre weiterhin bestehende islamistische Ausrichtung finden sich auch aktuell zahlreiche Belege. Unvermindert hohes Ansehen Erbakans So wird der IGMG-Vorsitzende Yavuz Celik Karahan in der Milli Gazete vom 19. März mit einem klaren Bekenntnis zur Milli Görüs zitiert. Auf einer Gebietsvorstandssitzung der IGMG in Berlin äußerte er sich wie folgt: Wir als Milli Görüs fahren mit den Aktivitäten, die uns in den der Wohltätigkeit dienenden Bereichen zufallen, fort. Wir müssen unsere Arbeit für das Wohl der Menschheit und für eine gerechtere Welt fortsetzen. 24 Bekenntnisse zu Milli Görüs 24 Milli Gazete, 19. März. ISLAMISMUS 53

55 Auf der größten Veranstaltung der IGMG im Berichtsjahr, dem von mehreren tausend IGMG-Anhängern besuchten Tag der Brüderlichkeit und Solidarität im belgischen Hasselt am 31. Mai, bekundete Karahan seinen Respekt für Erbakan. Er bezeichnete ihn in seiner Rede als den Älteren unserer Sache und prangerte den damals in der Türkei über den Milli-Görüs-Führer verhängten Hausarrest als Schande an. Bei der Veranstaltung wurde außerdem eine Botschaft Erbakans übermittelt, die vom Publikum mit Applaus aufgenommen wurde; einige Zuschauer riefen dabei Slogans wie Mücahid [Glaubenskämpfer] Erbakan. Der Gebietsvorsitzende der IGMG Hessen bekannte sich während einer Veranstaltung in Pfungstadt (Landkreis Darmstadt-Dieburg) ebenfalls eindeutig zur Milli Görüs: Die Aktivitäten, die wir als Individuen von Milli Görüs entfalten, sind sehr wichtig. Denn die Aktivitäten, die wir als Funktionäre durchführen, stellen zum einen eine Führung für mehrere Angelegenheiten in der Gesellschaft dar, in der wir leben, und zum anderen sind sie zum Nutzen der Menschheit sehr wichtig. Wir als Milli Görüs erfüllen in puncto Integration in der Gesellschaft, in der wir leben, eine sehr wichtige Funktion. 25 Auch unter jugendlichen IGMG-Anhängern ist eine mehrheitliche Abwendung von der Milli-Görüs-Ideologie oder von Erbakan nicht zu erkennen. Dies zeigt etwa ein im Internet verfügbares Video, das laut eigenen Angaben von der IGMG-Jugend Offenbach erstellt wurde. Der Clip blendet anfangs die Portraits des Milli-Görüs-Führers Erbakan sowie des ehemaligen Vorsitzenden der SP ein. Sie sind mit dem Schriftzug Die einzige Lösung ist die Glückseligkeitspartei versehen. Unterlegt ist das Video mit einem Gesang, dessen Refrain mit dem Satz Wir sind die Generation der Eroberer endet. Zum Schluss des Liedes ist folgender Text zu hören: Wir haben es auf dieser Welt Weder auf Geld noch auf Gut abgesehen, Wir sind auf dem schönsten Weg, Wir marschieren auf dem Weg Allahs. Wir sind die Soldaten der Milli Görüs, Unser lichtvolles Herz ist mit Glauben angefüllt, Qualen sind uns ganz egal, Das Paradies ist unser Traum. Wir sind die Soldaten der Milli Görüs... Dieser Text stellt nicht nur ein klares Bekenntnis zur Milli Görüs dar, sondern spielt auch durch seine Wortwahl ( Eroberer, Soldaten ) auf eine Ausbreitung der Milli-Görüs- Ideologie mit militärischen Mitteln an. Der Verweis auf eine Belohnung im Jenseits ist dabei ein typisches Mobilisierungsinstrument islamistischer Bewegungen. 25 Milli Gazete, 30. Mai. 54 ISLAMISMUS

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57 ALLGEMEINER AUSLÄNDEREXTREMISMUS Merkmale des Ausländerextremismus Deutschland als Rückzugsund Finanzierungsraum Der nicht islamistische Ausländerextremismus umfasst extremistische Bestrebungen von Menschen mit Migrationshintergrund, die sich in Deutschland in verschiedenen Organisationen zusammengeschlossen haben. Deren Aktivitäten stehen zumeist in Zusammenhang mit aktuellen Ereignissen und politischen Entwicklungen in den jeweiligen Herkunftsländern. Daneben greifen diese Gruppierungen auch Themen auf, die sich aus dem politischen und sozial-ökonomischen Beziehungsgeflecht zwischen Deutschland und dem entsprechenden Herkunftsland ergeben. Die meisten extremistischen Ausländerorganisationen nutzen Deutschland vorwiegend als Rückzugs- und Finanzierungsraum, um im eigentlichen Heimatland extremistische und oder terroristische Bestrebungen zu unterstützen. Die unterschiedlichen Zielrichtungen lassen sich im Wesentlichen unterteilen in nationalistische rechtsextremistische und linksextremistische Bestrebungen sowie ethnisch motivierte Autonomie- bzw. Unabhängigkeitsbestrebungen. Dabei sind die Übergänge oft fließend. Überblick Verbot von ROJ-TV gewalttätige Reaktionen Nach einer längeren Phase des eher unauffälligen Agierens rückte der KONGRA GEL mit Aufsehen erregenden Aktionen wieder verstärkt in den Fokus der Öffentlichkeit. Das Verbot des kurdischen Fernsehsenders ROJ-TV in Deutschland emotionalisierte im Sommer die Anhänger der Terrororganisation. Höhepunkt war die Entführung deutscher Bergsteiger durch Guerillakämpfer des KONGRA GEL in der Türkei. In Deutschland demonstrierten zahlreiche Aktivisten und Sympathisanten gegen das Verbot. Im Zusammenhang mit dem Bekanntwerden einer angeblichen Misshandlung des in der Türkei inhaftierten KONGRA GEL-Führers Abdullah Öcalan kam es im Herbst deutschland- und europaweit nicht nur zu zahlreichen Protesten von Anhängern der Organisation, sondern auch vermehrt zu gewalttätigen Übergriffen (u. a. Brandanschläge) auf türkische Einrichtungen. Das zeigt, dass der KONGRA GEL nach wie vor große Massen und einzelne Gruppen von Gewalttätern in kurzer Zeit zu mobilisieren vermag, wenn innertürkische Ereignisse seine Anhänger emotionalisieren. Die Fortsetzung der Kämpfe zwischen türkischem Militär und Guerillaeinheiten des KONGRA GEL im Nordirak diente der Terrororganisation als weiteres Agitationsthema. Insgesamt wich der KONGRA GEL in Deutschland nicht von seinem Friedenskurs ab. Die Entführung in der Türkei und die vereinzelten Brandanschläge in der Bundesrepublik sollten aber signalisieren, dass die Terrororganisation jederzeit zu einem Kurswechsel fähig ist. Dies hängt davon ab, inwieweit sich der KONGRA GEL in seinem Aktionsradius in der Türkei und in Europa eingeschränkt sieht. Deutschland bildet weiterhin einen der wichtigsten Finanzierungs- und Rückzugsräume des KONGRA GEL in Europa. Mittels der Eintreibung von Spenden sicherte sich die 56 ALLGEMEINER AUSLÄNDEREXTREMISMUS

58 Organisation die für sie notwendigen Einnahmen zur Finanzierung ihres Guerillakrieges in der Türkei. Nach wie vor machte der KONGRA GEL dabei seinen Alleinvertretungsanspruch für alle Kurden geltend. Bei Demonstrationen des KONGRA GEL kam es immer wieder zu Auseinandersetzungen mit Anhängern der türkisch-nationalistischen Grauen Wölfe. Beide Lager stehen sich in einem unversöhnlichen Hass gegenüber. Konflikte zwischen kurdischen und türkischen Extremisten Der Tod des Generalsekretärs der linksextremistischen Revolutionären Volksbefreiungs-Front (DHKP-C) bedeutete für die Organisation einen schweren Rückschlag. In der Folge äußerte sich deren provisorische Führung verstärkt im Internet, um die Anhänger und Sympathisanten zu beruhigen und weiterhin auf ihre Ziele einzuschwören. Staatliche Exekutivmaßnahmen gegen Funktionäre der DHKP-C und die Strafverfolgung blieben ein wichtiges Agitationsfeld für die Organisation. DHKP-C im Umbruch Der Nationale Widerstandsrat Iran (NWRI) war wie in den vergangenen Jahren vor allem propagandistisch aktiv. Seine Aktionen dienten nach wie vor dem Ziel, die Streichung der Mutterorganisation Volksmodjahedin Iran (MEK) von der EU-Liste terroristischer Organisationen zu erreichen. Dafür warb der NWRI in der Öffentlichkeit und versuchte, Politiker und Personen des öffentlichen Lebens für seine Zwecke zu instrumentalisieren. Verstärkte Propaganda des NWRI Von den Regierungstruppen auf Sri Lanka zunehmend in die Defensive gedrängt führten die marxistisch-leninistisch ausgerichteten Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE) ihren erbitterten und blutigen Guerillakrieg im Heimatland fort. Deutschland gilt angesichts großer Verluste der LTTE mehr denn je als bedeutender Rückzugs- und Finanzierungsraum. Wie in der Vergangenheit gelang es der Organisation, eine große Zahl ihrer Anhänger und Sympathisanten für die Teilnahme bei öffentlichkeitswirksamen, vor allem überregionalen Veranstaltungen in der Bundesrepublik zu mobilisieren und auf ihre Ziele einzustimmen. LTTE auf dem Rückzug ALLGEMEINER AUSLÄNDEREXTREMISMUS 57

59 Personenpotenzial allgemeiner Ausländerextremismus Linksextremismus Kurdischer Ursprung Hessen Bund Türkischer Ursprung Hessen Bund Iranischer Ursprung Hessen Bund Sonstige Linksextremisten Hessen Bund Sonstige Ausländerextremisten Tamilen, Sikhs, türkische Nationalisten Hessen Bund Ausländerextremisten gesamt Hessen Bund Die Zahlen sind gerundet und teilweise geschätzt. 58 ALLGEMEINER AUSLÄNDEREXTREMISMUS

60 Kurdische Gruppen Volkskongress Kurdistans (KONGRA GEL Kongra Gel Kurdistan) Gründung: Leitung: 1978 als Arbeiterpartei Kurdistans (PKK Partiya Karkeren Kurdistan), 2002 Umbenennung in Freiheits- und Demokratiekongress Kurdistans (KADEK Kongreya Azadi u Demokrasiya Kurdistan) und 2003 in KONGRA GEL Zübeyir Aydar (Vorsitzender, Aufenthaltsort unbekannt) Anhänger / Mitglieder: In Hessen 1.200, bundesweit Bewaffnete Gruppen: Medien (Auswahl): Volksverteidigungskräfte (HPG Hezen Parastina Gele Kurd), Freiheitsfalken Kurdistans (TAK Teyrebazen Azadiya Kurdistan) Serxwebun (monatlich) und der deutschsprachige Kurdistan Report (zweimonatlich), ROJ-TV (Fernsehsender seit dem 19. Juni 2008 verboten), Internet-Präsenz Betätigungsverbot: Seit 26. November 1993 Deutsche in der Türkei entführt Am 8. Juli überfielen bewaffnete Kämpfer des KONGRA GEL eine Gruppe deutscher Bergsteiger am Berg Ararat und entführten drei Personen. Die für die Geiselnahme verantwortlichen Guerilla der HPG, der Kampfeinheiten des KONGRA GEL, veröffentlichten am 10. Juli auf ihrer Homepage eine Stellungnahme zu der Entführung. Sie erklärten, dass die drei Deutschen wohlauf seien. Der KONGRA GEL sei dem deutschen Volk gegenüber nicht feindlich gesonnen, die deutschen Bergsteiger würden nicht schlecht behandelt. Solange der deutsche Staat aber keine Erklärung abgäbe, in der er die Bereitschaft erkläre, auf seine feindliche Politik gegenüber dem kurdischen Volk und der PKK zu verzichten, würden die deutschen Staatsangehörigen nicht freigelassen. Um deren Unversehrtheit zu garantieren, müsse die türkische Armee jedoch ihre Militäroperationen beenden. Das oberste Leitungsgremium des KONGRA GEL, der Exekutivrat der Gemeinschaft der Kommunen Kurdistans (KCK Koma Civaken Kurdistan), erklärte in einer Pressemitteilung vom 13. Juli im Internet: Seit Jahrzehnten ist der deutsche Staat entsprechend seiner eigenen politischen und wirtschaftlichen Interessen darum bemüht, unser Volk in der Öffentlichkeit zu kriminalisieren und ihm seine natürlichen Rechte vorzuenthalten. Der deutsche Staat hat von Anfang nicht positiv auf die Schritte und die Aufrufe unserer Bewegung, die kurdische Frage auf demokratischem und friedlichem Weg zu lösen reagiert. Im Gegenteil klagt er tagtäglich die Institutionen und Individuen an, die unser Volk repräsentieren [...]. Er verhaftet sie und überzieht sie mit Verboten. Man kann diese Aufzählung der falschen Politik noch ausweiten. Seit Jahren kämpft unser Volk intensiv dafür, den deutschen Staat dazu zu bewegen, diese ungerechte und falsche Politik aufzugeben. (Fehler im Original) ALLGEMEINER AUSLÄNDEREXTREMISMUS 59

61 Am 20. Juli wurden die Geiseln körperlich unbeschadet freigelassen. Zugeständnisse an den KONGRA GEL wurden von keiner staatlichen Seite gemacht. Mit der Entführung hatte die Terrororganisation nicht nur auf die Kurden-Politik der türkischen Regierung und auf das nach wie vor in Deutschland bestehende Verbot reagiert, sondern darüber hinaus gegen das Verbot des kurdischen TV-Senders ROJ-TV protestiert. Die dem KONGRA GEL nahe stehende kurdische Tageszeitung Yeni Özgür Politika (YÖP) schrieb, dass die Entführer die Verschleppung mit den jüngsten Aktionen der Bundesregierung gegen die PKK begründet hätten. Proteste gegen das Verbot von ROJ-TV Am 19. Juni hatte der Bundesminister des Innern den Betrieb des Fernsehsenders ROJ-TV, repräsentiert durch zwei in Kopenhagen (Dänemark) ansässige Medienunternehmen, im Geltungsbereich des Vereinsgesetzes verboten. Ein Organisationsverbot wurde gegen eine weitere Firma in Wuppertal (Nordrhein- Westfalen) verhängt. ROJ-TV, das in Dänemark lizensiert ist und per Satellitenund Digitalfernsehen länderübergreifend 20 Millionen Zuschauer erreicht, betreibt seit 1994 Propaganda für die PKK bzw. den KONGRA GEL. Demonstration in Wiesbaden Vor dem Hessischen Ministerium des Innern und für Sport in Wiesbaden demonstrierten am 8. Juli rund 100 Personen gegen das Verbot und verteilten Flugblätter an Passanten, um sich gegen diese Vernichtungs- und Zerschlagungsstrategie zu wehren. Unter der Überschrift Uns Reicht es Jetzt Mit dem Verbot kurdischer Medien (Fehler im Original) hieß es u. a.: Mit diesem Verbot erweist sich Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble als der verlängerte Arm und willfährige Vollstrecker der türkischen Regierung, der schon seit Jahren die kurdischen Medien ein Dorn im Auge sind. Hat sich bislang die dänische Regierung geweigert, dem türkischen Druck auf Entzug der Lizenz von ROJ TV nachzugeben, demonstriert Deutschland wieder einmal, dass es im kurdisch-türkischen Konflikt auf der Seite der Unterdrücker steht. [...] Die Bundesregierung befindet sich wie der NATO-Partner Türkei auf Kriegskurs gegen die Kurden die einen mit Waffen, die anderen mit dem Polizei- und Strafrecht. Den Tenor des in Wiesbaden verteilten Flugblattes hatte die Leitung des KONGRA GEL bereits Ende Juni vorgegeben. In einem Artikel der YÖP vom 26. Juni stand, dass Deutschland um einiger schmutziger Vorteile willen die eigenen Gesetze verletze und den Helfershelfer für den türkischen Staat spiele. Die Bundesrepublik unterstütze die Türkei, die den Kurdenmord als einzige Lösung betrachte, durch Waffen sowie durch diplomatische, politische und wirtschaftliche Hilfen und mache sich so mitschuldig. Durch diese aggressive deutsche Haltung werde eine große Wut im kurdischen Volk hervorgerufen. 60 ALLGEMEINER AUSLÄNDEREXTREMISMUS

62 Von der PKK zum KONGRA GEL: Entwicklungen und Ideologie Die ursprünglich marxistisch-leninistische PKK, die heute unter der Bezeichnung KON- GRA GEL agiert, wurde im November 1978 in der Türkei gegründet. Gründungsmitglied war Abdullah Öcalan, der später als Generalsekretär bis zu seiner Festnahme im Februar 1999 in Kenia und seiner Verurteilung in der Türkei bis November 2003 an der Spitze der PKK stand. Auch wenn er, bedingt durch seine Haft, seine Leitungsfunktionen nicht wahrnehmen kann, gilt er für seine Anhänger als der unangefochtene Anführer. Diesen Personenkult macht sich der KONGRA GEL propagandistisch mit dem Ziel zunutze, seine Mitglieder auf seine politische Linie einzuschwören und auch emotional an sich zu binden. Der KONGRA GEL strebt einen Verbund kurdischer Siedlungsgebiete in der Türkei, in Syrien, im Iran und im Irak nach dem von ihm verkündeten Prinzip des Demokratischen Konföderalismus Kurdistans an. Laut der Vision der Organisation soll in diesem Gebilde die Entscheidungsbasis beim Volk liegen, wobei der KONGRA GEL als legislatives Organ den höchsten demokratischen Volkswillen vertreten soll. Auf Grund der ausgeprägt autoritären Führung des KONGRA GEL im Stile einer typisch sozialistisch-kommunistischen Kaderorganisation ist das eigenständige Handeln einzelner Organisationsteile nur bedingt möglich. Die festgelegten Regeln und Strategien gelten als ungeschriebenes Gesetz. Die KCK ist das übergeordnete Führungsgremium, dessen nomineller Führer nach wie vor Öcalan ist. Tatsächlich nimmt diese Aufgabe allerdings dessen designierter Nachfolger, Murat Karayilan, als Vorsitzender des Exekutivrates der KCK wahr. Seit dem 26. November 1993 ist die PKK in Deutschland mit einem Betätigungsverbot belegt. Dem unterliegen auch der KADEK und der KONGRA-GEL als ihre Nachfolgeorganisationen. Das Verbot erstreckt sich weiter auf den politischen Arm, die Nationale Befreiungsfront Kurdistans (ERNK Eniya Rizgaiya Netewa Kurdistan), die heute unter der Bezeichnung Koordination der kurdisch-demokratischen Gesellschaft (CDK Koordinasyona Civita Demokratik a Kurd) auftritt. Nachdem der Rat der Europäischen Union 2002 die PKK als terroristische Organisation bewertet hatte, beschloss er 2004, auch die beiden Nachfolgeorganisationen in die sogenannte EU-Terrorliste aufzunehmen. Weitere Demonstrationen fanden am 2. August in Kassel (35 Teilnehmer), Gießen (60 Teilnehmer) und Frankfurt am Main (120 Teilnehmer) statt. Während der Veranstaltung in Frankfurt am Main zeigten KONGRA GEL-Anhänger ROJ-TV-Poster und verlasen Botschaften der Föderation kurdischer Vereine in Deutschland e. V. (YEK-KOM Yekitiya Komalen Kurd li Elmanya) und der linksextremistischen türkischen Organisation Föderation der Arbeiter aus der Türkei in Deutschland e. V. (ATIF Almanya Türkiyeli Isciler Federasyonu). Weitere Demonstrationen in Gießen Die Veranstaltungen verliefen weitgehend störungsfrei, und die Anhänger der Terrororganisation zeigten sich gegenüber der Polizei kooperativ. Auflagen seitens der ALLGEMEINER AUSLÄNDEREXTREMISMUS 61

63 Versammlungsbehörden wurden eingehalten. In Kassel und Frankfurt am Main kam es allerdings zu Provokationen und vereinzelt zu Körperverletzungsdelikten seitens nationalistischer Türken, die antikurdische Parolen skandierten. In Kassel wurden mehrere Platzverweise gegen Türken ausgesprochen. Vorerst kein Strategiewechsel Terroranschläge in Deutschland möglich? Die über einen längeren Zeitraum anhaltenden und teilweise erregten, aber insgesamt friedlichen Proteste gegen das Verbot von ROJ-TV zeigen, welche identitätsstiftende Bedeutung der Sender für die KONGRA GEL-Anhänger in Deutschland hat. Das neue Phänomen der Entführung deutscher Staatsbürger in der Türkei wirft die Frage auf, ob sich daraus ein einschneidender Strategiewechsel bzw. ein offensives Vorgehen des KONGRA GEL in Deutschland oder gegen deutsche Interessen in der Türkei ableiten lässt. Dies muss verneint werden. Die Bewertung der Reaktionen der in Deutschland lebenden Kurden auf das Verbot von ROJ-TV und die Entführung selbst zeigen, dass es sich um eine begrenzte lokale und isolierte Aktion handelte. Neben den persönlichen Schicksalen waren übergeordnete deutsche Interessen (Wirtschaft, Tourismus, Politik) nicht betroffen. Die Entführung sollte lediglich dazu dienen, Deutschland auf die Situation der Kurden in ihren Heimatgebieten aufmerksam zu machen. Wäre der KONGRA GEL bestrebt gewesen, tatsächlich offensiv gegen deutsche Interessen vorzugehen, hätte er mit hoher Wahrscheinlichkeit ein anderes, für Deutschland empfindlicheres Angriffsziel gewählt. Nach wie vor hält die Terrororganisation an ihrer Doppelstrategie fest, in der Türkei militant und im Ausland weitgehend friedlich und gesetzeskonform zu agieren. Sie hat jedoch deutlich signalisiert, dass sie jederzeit von diesem Kurs abweichen kann. Bodenoffensive des türkischen Militärs im Nordirak Am 21. Februar überschritt türkisches Militär die Grenze zum Nordirak und startete eine Bodenoffensive gegen Stützpunkte der kurdischen Guerilla. Am 29. Februar erklärte die türkische Regierung die Militäraktion für beendet. Hauptziel sei die Zerstörung eines strategisch wichtigen Lagers der Kampfeinheiten des KONGRA GEL im Nordirak gewesen. Als Antwort auf die Offensive drohten die TAK, eine militante Abspaltung von den HPG, im April im Internet mit Bombenanschlägen in türkischen Tourismusgebieten. 2 Im August, d. h. vier Monate nach der Veröffentlichung ihrer Drohung, bekannten sich die TAK im Internet zu zwei Anschlägen in der Türkei (Mersin und Izmir), bei denen über 30 Personen verletzt wurden. Mit dem Selbstmordanschlag eines ihrer Mitglieder in Mersin, der sich gegen eine Verkehrskontrolle der Polizei richtete, wollten die TAK offensichtlich ankündigen, dass sie im Unterschied zur Vergangenheit vermehrt staatliche türkische Einrichtungen angreifen werden: Ob Tag oder Nacht, ob heimlich oder offen, für uns ist jeder Ort und jede Zeit, an dem sich unser Feind befindet, Aktionsort, Aktionszeit. Egal, was es uns auch kosten mag, es wird sich lohnen, jeden Weg zu gehen, der es ermöglicht, dem Feind die verdiente 2 Seit dem Jahre 2004 hatten die TAK in von Touristen bevorzugten Orten mehrere Attentate verübt, bei denen es zahlreiche Tote und Verletzte gegeben hatte. 62 ALLGEMEINER AUSLÄNDEREXTREMISMUS

64 Strafe zu erteilen. [...] Um die Führer des kurdenfeindlichen, barbarischen, grausamen Regimes, diejenigen, die sie unterstützen und ihnen die Möglichkeit bieten, in der Sprache, die sie verstehen, zu schlagen, zu zerstückeln und zu vernichten, wenden wir jede Art von Wegen und Methoden an, [...] werden sie anwenden. 3 Bekenntnis zur Gewalt In mehreren türkischen Städten, darunter in Istanbul, kam es zu Protesten von KONGRA GEL-Sympathisanten, in deren Folge Fahrzeuge bzw. öffentliche Gebäude in Brand gesetzt wurden. Mit öffentlichen Aufrufen versuchte auch die Jugendorganisation des KONGRA GEL, die Vereinigung der demokratischen Jugendlichen in Kurdistan (KOMALEN CIWAN Koma Komalen Ciwanen Demokratik a Kurdistan), ihre Anhänger zu emotionalisieren: Wird es hier [Türkei Nordkurdistan] zu einer Brandstätte, so wird es auch dort [Europa] zu einer Brandstätte werden. Dieser Krieg wird kein Krieg sein, der nur auf dem Boden Kurdistans zu erleben sein wird. [...] Die Stimme der Jugend Kurdistans, die sagt, jetzt reicht es, sollte [...] die Metropolen Europas in die Hölle verwandeln. Eskalation in der Türkei Reaktionen in Europa und in Deutschland Vor dem Hintergrund der Doppelstrategie des KONGRA GEL (militantes Vorgehen in der Türkei, friedliche Proteste im Ausland) rief die Konföderation kurdischer Vereine in Europa (KON-KURD) alle Anhänger und vor allem die örtlichen, dem KONGRA GEL nahe stehenden Vereine zu Protestkundgebungen auf. Vor allem an den Wochenenden des 23. und 24. Februar sowie des 1. und 2. März fanden aus Protest gegen die türkische Bodenoffensive in zahlreichen europäischen bzw. deutschen Großstädten Kundgebungen mit zum Teil mehreren hundert Teilnehmern statt. Ende April rief die KON-KURD in einer Erklärung im Internet zum Boykott des Tourismus in der Türkei auf. In der Verlautbarung hieß es, dass die Türkei mit den Einnahmen aus dieser Branche den Krieg gegen das kurdische Volk finanziere. Ein Drittel des gesamten türkischen Staatshaushaltes werde, so die KON-KURD, gegen die Kurden eingesetzt. Der Boykottaufruf endete mit dem Appell: Reisen Sie nicht in die Türkei, beteiligen Sie sich nicht mit Ihren Steuern am Krieg gegen das kurdische Volk! Reaktionen in Hessen In Frankfurt am Main führte ein YEK-KOM-Verein am 23. Februar und am 1. März jeweils eine Demonstration in der Innenstadt durch, an der sich rund 250 bzw. 450 Kurden friedlich beteiligten. Am 1. März passierten die Teilnehmer das türkische Generalkonsulat, dabei kritisierten sie in mehreren Redebeiträgen das Vorgehen der Türkei im Nordirak, skandierten Öcalan-Parolen und zeigten themenbezogene Transparente. Dass Die Internationale, das Kampflied der sozialistisch-kommunistischen Arbeiterbewegung gesungen wurde, dürfte vor allem auf die vereinzelte Beteiligung von Personen aus dem deutschen linksextremistischen Spektrum zurückzuführen sein. In Kassel nahmen am 1. März rund 150 Personen an einer vom dortigen YEK-KOM- Verein organisierten Kundgebung teil. Die Teilnehmer führten Fahnen mit dem Konterfei Öcalans mit sich. Auf Transparenten stand u. a. Schluss mit Krieg und Ver- Konflikte zwischen Kurden und Türken in Kassel 3 Internetauftritt der TAK. ALLGEMEINER AUSLÄNDEREXTREMISMUS 63

65 nichtung oder Wer Öcalan vergiftet, vergiftet den Frieden. Am Ende der Veranstaltung kam es zu körperlichen Auseinandersetzungen mit Türken, die gegen den Protestzug demonstrierten. Mit ihrem sofortigen Einschreiten verhinderte die Polizei eine Eskalation. Sie nahm drei Türken und einen Demonstrationsteilnehmer vorläufig fest. Veranstaltungen in Hessen In Wiesbaden veranstaltete die YEK-KOM am 6. März eine Mahnwache mit 30 Personen. Zwei türkische Frauen versuchten die Teilnehmer mit verbalen Attacken und durch das Zeigen der türkischen Fahne zu provozieren. Gegen Ende der Veranstaltung übergaben zwei Personen eine Petition an einen Vertreter des Hessischen Landtages. Unter dem Motto Nein zu Krieg - Nein zu Gewalt! initiierte ein dem KONGRA GEL nahe stehender Verein am 8. März eine Demonstration in der Darmstädter Innenstadt. An der Veranstaltung nahmen etwa 250 Personen teil. Der Kurdenführer Abdullah Öcalan im Fokus der Agitation Das türkische Parlament verlängerte am 9. Oktober das Mandat für das militärische Vorgehen gegen den KONGRA GEL. Es ist zu erwarten, dass in der Türkei Anschläge in Tourismuszentren bzw. auf staatliche Institutionen ebenso eine Fortsetzung finden werden wie die zumeist friedlichen Protestveranstaltungen in Deutschland. Falls sich jedoch die Anhänger der Terrororganisation durch eine Verschärfung der Lage in der Türkei und durch weitere staatliche Maßnahmen in Deutschland in die Enge gedrängt und in ihrem Aktionsraum gestört fühlen, kann ein Abweichen vom Friedenskurs die Folge sein. Diese Reaktion ist wie im Berichtszeitraum mehrmals geschehen vor allem dann möglich, wenn in KONGRA GEL-Kreisen zunehmend der Gesundheits - zustand Abdullah Öcalans thematisiert wird. Im Frühjahr 2007 hatten die Anwälte Öcalans behauptet, dass ihr Mandant das Opfer einer systematischen Vergiftung sei, die lebensbedrohliche Ausmaße angenommen habe. In einer gemeinsamen Erklärung riefen der Exekutivrat der KCK und der KONGRA GEL den Europarat auf, sich für bessere Haftbedingungen Öcalans einzusetzen. Solange die Isolationshaft nicht beendet und das Leben des Kurdenführers bedroht sei, müsse die Kampagne Edi bes e! ( Es reicht! ) durch neue Aktionen ausgebaut werden. Anschläge aus den Reihen der KOMALEN CIWAN Mitte Oktober häuften sich im Internet Hinweise auf angebliche Misshandlungen Öcalans durch türkische Gefängnisaufseher. Schnell nahm diese Thematik unter der Anhängerschaft des KONGRA-GEL breiten Raum ein und führte zu einer weitaus höheren Emotionalisierung als etwa das Verbot des kurdischen Fernsehsenders ROJ-TV. Europa- und deutschlandweit kam es zu gewalttätigen Übergriffen kurdischer Jugendlicher auf türkische Einrichtungen oder nationalistische türkische Vereine. Die Täter, die überwiegend aus den Reihen der KOMALEN CIWAN stammen, zeichneten unter dem Synonym Apoistische Jugend für Besetzungen und andere Aktionen verantwortlich. Bereits in der Zeitschrift Ciwanen Azad waren die kurdischen Jugendlichen im März in der Türkei dazu aufgerufen worden, kleine Organisationseinheiten zu bilden, die je nach Lage beschränkte Aktionen unternehmen können, Entscheidungskompetenz haben und die über das technische Wissen und Können verfügen, reichhaltige Aktionsformen zu entwickeln. [...] Sie sind klein. Sie organisieren sich 64 ALLGEMEINER AUSLÄNDEREXTREMISMUS

66 als Zellen und arbeiten unter Geheimhaltung. Sie können Entscheidungen zu Aktionen im Sinne der aktuellen Perspektive und Politik der Organisation aus eigenem Antrieb treffen und sie operieren autonom. Ganz im Sinne dieser ursprünglich in der Türkei ausgesprochenen Aufforderung verübten kurdische Jugendliche Brandanschläge auf türkische Geschäfte und Einrichtungen in Hamburg und auf ein zum Teil von türkischen Studenten bewohntes Mehrfamilienhaus in Bochum (Nordrhein-Westfalen). In Stuttgart warfen kurdische Demonstranten Brandsätze gegen Fahrzeuge mutmaßlicher türkischer Nationalisten. Anhänger der türkischen linksextremistischen Marxistisch-Leninistischen Kommunistischen Partei (MLKP) setzten aus Solidarität einen türkischen nationalistischen Verein in Brand. Brandanschläge In Hessen organisierten mehrere, der YEK-KOM zuzurechnende Vereine Protestveranstaltungen. In Gießen nahmen am 22. Oktober etwa 200 Personen an einer Kundgebung unter dem Motto Gegen Folterung von Öcalan, Freiheit für Öcalan, Frieden in Kurdistan teil. In Darmstadt beteiligten sich am gleichen Tag rund 250 Personen an einer Demonstration. Am 25. Oktober versammelten sich rund 300 Kurden in Frankfurt am Main. Etwa 30 türkische Jugendliche störten die friedlich verlaufene Demonstration. Eine Solidaritätskundgebung gab es auch mit rund 150 Kurden in Kassel, die mit Parolen wie Freiheit für Öcalan Frieden in Kurdistan durch die Stadt marschierten. Protestveranstaltungen in Hessen Im November stellte die türkische Regierung Hafterleichterungen für Abdullah Öcalan in Aussicht. Es muss abgewartet werden, wie sich der KONGRA GEL hierzu positionieren wird. Newroz-Feiern Besondere Präsenz in der Öffentlichkeit zeigten die Anhänger des KONGRA GEL bei ihrer jährlichen Feier des kurdischen Neujahrs- und Frühlingsfestes (Newroz), das die YEK-KOM am 22. März mit vier dezentralen Veranstaltungen in Frankfurt am Main, Hamburg, Essen (Nordrhein-Westfalen) und Berlin beging. 4 Angaben der KONGRA GEL nahen Tageszeitung YÖP zufolge nahmen an den Feiern insgesamt bis zu Personen teil, wobei die Verantwortlichen die Zahlen in der Regel übertreiben, um in der öffentlichen Wahrnehmung die Bedeutung der Terrororganisation zu überhöhen. Für den süddeutschen Raum fand das Newroz-Fest in der Ballsporthalle in Frankfurt am Main-Höchst statt. Das Programm bestand u. a. aus Filmvorführungen. Vor rund Teilnehmern wurde eine Ansprache des Vorsitzenden des Exekutivrates des KON- GRA GEL, Murat Karayilan, gezeigt sowie eine Grußbotschaft des PKK-Führers Öcalan verlesen. Weiterhin wurden Aufnahmen aus den Kampfgebieten mit Krieg verherrlichenden Szenen vorgeführt, worauf die Zuschauer insgesamt sehr emotional, aber friedlich reagierten. 4 Die Feier geht auf die Legende eines kurdischen Schmiedes zurück, der am Anfang des 7. Jahrhunderts in der Nacht des Frühlingsbeginns einen Tyrannen erschlagen haben soll. Der KONGRA GEL stilisiert das Newroz-Fest daher in jedem Jahr zum Zeichen des kurdischen Freiheitskampfes und benutzt es für sein Ansinnen, bei den Kurden in Deutschland das Interesse für die Organisation wachzuhalten. ALLGEMEINER AUSLÄNDEREXTREMISMUS 65

67 Zahlreiche Organisationen tragen die Aktivitäten des KONGRA GEL: Propaganda- bzw. Frontorganisation (politischer Arm): Koordination der kurdisch-demokratischen Gesellschaft (CDK Koordinasyona Civata Demokratik a Kurd), Sitz unbekannt. Dachorganisation für Europa: Konföderation kurdischer Vereine in Europa (KON-KURD Konfederasyona Komelen Kurd li Avrupa), Sitz in Brüssel (Belgien), ihr gehören etwa 160 Vereine an. Dachorganisation für Deutschland: Föderation kurdischer Vereine in Deutschland e. V. (YEK-KOM Yekitiya Komalen Kurd li Elmanya), Sitz in Düsseldorf, ihr gehören rund 60 Vereine an. Der KONGRA GEL unterhält darüber hinaus Organisationen für bestimmte Zielgruppen, z. B.: Vereinigung der demokratischen Jugendlichen (KOMALEN CIWAN Koma Komalen Ciwanen Demokratik A Kurdistan). Union der stolzen Frauen (KJB Koma Jinen Bilind). Freiheitspartei der Frauen Kurdistans (PAJK Partiya Azadiya Jina Kurdistan). Union der freien Frau (YJA Yekitiyan Jina Azad), Selbstverteidigungsorganisation der Frauenguerilla (YJA-STAR Yekitiyen Jinen Azad Star). Verband der Studierenden aus Kurdistan e. V. (YXK Yekitiya Xwendevanen Kurdistan). Verband der Juristen aus Kurdistan (YHK Yekitiya Huquqnasen Kurdistan). Kurdischer Roter Halbmond e. V. (HSK Heyva Sor a Kurdistane). Neben dieser überregionalen Feier führten verschiedene örtliche YEK-KOM-Vereine in den Innenstädten von Frankfurt am Main, Gießen und Kassel Versammlungen und Fackelaufzüge mit jeweils über hundert Teilnehmern durch. Sie verliefen allesamt friedlich. In der Türkei kam es dagegen zu schweren Ausschreitungen mit zahlreichen Verletzten und vereinzelt auch Todesopfern in von Kurden besiedelten Gebieten. Kurdisches Kulturfestival Das von der YEK-KOM jährlich organisierte Internationale Kurdische Kulturfestival fand am 6. September erneut in Gelsenkirchen (Nordrhein-Westfalen) statt. Unter dem Motto Frieden für Kurdistan Freiheit für Öcalan beteiligten sich mit etwa überwiegend kurdischstämmigen Besuchern deutlich weniger Personen als im Jahr zuvor (40.000). Die Anhänger kamen aus dem gesamten Bundesgebiet und dem benachbarten europäischen Ausland, u. a. aus Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Italien. Sie skandierten Öcalan-Parolen und trugen Bilder des Kurdenführers, vereinzelt wurden verbotene Fahnen gezeigt. Insgesamt verlief die Veranstaltung störungsfrei. Auch aus Hessen waren zahlreiche KONGRA GEL-Anhänger nach Gelsenkirchen gereist. Als Redner traten u. a. die Sprecher verschiedener kurdischer Organisationen sowie Lothar Bisky, zusammen mit Oskar Lafontaine, Vorsitzender der Partei DIE LINKE., auf. 66 ALLGEMEINER AUSLÄNDEREXTREMISMUS

68 Bisky nannte das vom Bundesinnenministerium verhängte Verbot gegen den KONGRA GEL nahen Fernsehsender ROJ-TV einen Angriff auf die Pressefreiheit. (s. S. 129) In seiner auf einer großen Leinwand übertragenen Botschaft erklärte der KCK-Vorsitzende Murat Karayilan, dass die kurdische Freiheitsbewegung stärker denn je sei und Kurdistan kurz vor seiner Befreiung stünde. Öcalan wies in einer Botschaft darauf hin, dass eine demokratische und friedliche Lösung der Kurdenfrage noch möglich sei. Er sei sich seiner historischen Verantwortung, die er gegenüber seinem Volk trage, bewusst. Er versuche seine Pflichten zu erfüllen und seinen Beitrag zu leisten. In einer weiteren Botschaft betonte die Jugendorganisation KOMALEN CIWAN, dass sie bereit sei, die Vorreiterrolle im Kampf um die Freiheit Kurdistans zu übernehmen. Kurdische Freiheitsbewegung Im Vorfeld des Festivals hatten u. a. Vertreter hessischer YEK-KOM-Vereine alle Kurden aufgefordert, sich um den Vorsitzenden Apo (Öcalan) und die Guerilla zu scharen und, so die YÖP, unseren Willen zum Ausdruck zu bringen. Diesen Willen öffentlich kundzutun und weithin zu verbreiten, gelang den Organisatoren des Internationalen Kurdischen Kulturfestivals, indem sie die Veranstaltung trotz des für Deutschland geltenden Verbots von ROJ-TV über Newroz TV, einen sich vor allem an aus dem Iran stammenden Kurden richtenden Sender, live übertrugen. Jahrestag der Aufnahme des bewaffneten Kampfes und Gründungsfeiern Anlässlich des 24. Jahrestages der Aufnahme des bewaffneten Kampfes durch die PKK (1984) organisierten bundesweit örtliche YEK-KOM-Vereine am 15. August zahlreiche Picknicks und Grillfeiern. Für Hessen ist neben Wetzlar (Lahn-Dill-Kreis) und Kassel eine Veranstaltung in Frankfurt am Main zu erwähnen. Hier feierten am 17. August laut einer Meldung der YÖP rund 300 Kurden. Ein Vertreter der CDK soll über die Bedeutung des Jahrestages für das kurdische Volk gesprochen haben. 24 Jahre bewaffneter Kampf Anlässlich des Gründungstages der PKK am 27. November 1978 fanden im November und Dezember wie in den vergangenen Jahren europa- und bundesweit Gedenkfeiern statt. In Hessen initiierten dem KONGRA GEL nahe stehende Vereine in Gießen und in Kassel am 30. November sowie in Frankfurt am Main am 7. Dezember Jubiläumsfeiern mit Musikdarbietungen, die alle friedlich verliefen. An den Veranstaltungen nahmen jeweils mehrere hundert KONGRA GEL-Anhänger teil. Gedenkfeiern in Hessen Antisemitische Propaganda Öcalans Während der wöchentlichen Gespräche mit seinen Anwälten gab Abdullah Öcalan im April, aber auch noch mehrfach später, Erklärungen antisemitischen antizionistischen Inhalts ab, die in der türkischsprachigen YÖP und in ROJ-TV veröffentlicht wurden. Im Zusammenspiel mit den Juden, so Öcalan, werde die Welt vom Kapitalismus regiert, ihre Gedanken hätten die Juden auch den Deutschen eingeimpft und auf diese Weise Adolf Hitler auf den Plan gerufen. Die Juden seien die theoretischen Urväter des türkischen Nationalismus. Beim Verlust der historischen Kultur in der Türkei hätten sie eine maßgebliche Rolle gespielt und würden dies noch immer tun. Der Verunglimpfung der Juden als Urväter des türkischen Nationalismus ALLGEMEINER AUSLÄNDEREXTREMISMUS 67

69 jüdische Faktor in den meisten der großen Holdings der Türkei sei unübersehbar. Darüber hinaus versuchten die Juden, den kurdischen Nationalismus zu kontrollieren. Öcalan verstieg sich sogar zu der Behauptung, die Juden seien für die politische Existenz Hitlers verantwortlich: Die Juden waren es, die in Deutschland Hitler geschaffen haben, das sind historische Fakten. 5 Seine Äußerungen können als Ausdruck eines auf das Kurdentum fixierten sozialistischen Nationalismus gesehen werden, so wie er in vergleichbarer Form nach 1945 im von der Sowjetunion dominierten Osteuropa praktiziert worden war. In der Betrachtungsweise Öcalans werden Juden mit Kapitalismus und Imperialismus, den beiden Hauptfeinden der sozialistisch-kommunistischen Ideologie, gleichgesetzt. Die aktuellen Äußerungen Öcalans können vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen zwischen den HPG und dem türkischen Militär als antizionistische und antiimperialistische Kritik am Staat Israel verstanden werden, der aus seiner Sicht durch Bereitstellung von moderner hochtechnisierter militärischer Ausrüstung die Türkei im Nordirak unterstützt. Vergleich mit Hitler Darüber hinaus will Öcalan offensichtlich mit der Erklärung der Juden und des Staates Israel zu Feinden der Kurden und damit des KONGRA GEL in den eigenen Reihen gezielt ein antiisraelisches und antisemitisches Klima erzeugen. Öcalan besetzt mit dem Feld des Antisemitismus Antizionismus ein linksextremistisches Thema, das über die üblichen Programmpunkte des KONGRA GEL hinausreicht und der Erweiterung dessen personeller Basis dienen könnte. Möglicherweise gewinnt die Terrororganisation über diesen Denkansatz in der Türkei Gleichgesinnte unter den Kurden, da laut Öcalan der türkische Nationalismus zusehends vom englischen und jüdischen Kapital genährt werde. Öcalan wiederholte mehrfach seine These, dass der Geist des türkischen Nationalismus von Juden entwickelt worden sei und widersprach dem gegen ihn erhobenen Vorwurf des kurdischen Nationalismus. Über seine Anwälte gab Öcalan eine Erklärung ab, die am 3. Oktober in ROJ-TV ausgestrahlt wurde. Darin hieß es u. a: Hitler hatte eine Armee, Macht und Geld. Vor diesem Hintergrund betrieb er Nationalismus. Ich hingegen vertrete das arme kurdische Volk. Ich bin schon immer für Demokratie und Freiheit eingetreten. Der Geist des Nationalismus wurde von Juden ins Leben gerufen und weiterentwickelt. Auch den Hitler-Nationalismus haben Juden entwickelt, der am Ende jedoch gegen sie angewandt wurde. Auch den kurdischen Nationalismus haben Israelis erfunden. Spenden -Kampagne Finanzierung Zur Finanzierung der Propaganda, des Parteiapparates und der Aufrechterhaltung der Guerillaeinheiten benötigt der KONGRA GEL erhebliche Geldsummen. Diese werden durch Mitgliedsbeiträge, Einnahmen aus Veranstaltungen und den Verkauf von Publikationen erbracht, vor allem aber durch die jährliche Spendenkampagne bei Kurden und kurdischen Firmen. Sie bringt mehrere Millionen Euro ein. Der KONGRA GEL erwartet von den Spendern pro Jahr ungefähr die Abgabe eines Monatseinkommens. 5 Diese Aussagen fügen sich in frühere Erklärungen Öcalans ein. Insbesondere in den neunziger Jahren hatte er durch judenfeindliche und antizionistische Ansichten Aufsehen erregt. 68 ALLGEMEINER AUSLÄNDEREXTREMISMUS

70 Darüber hinaus ist bekannt, dass bei kriminellen Anhängern, wie z. B. Drogenhändlern, höhere Geldsummen abgeschöpft werden. Den einzelnen Parteigliederungen werden hohe Beträge vorgegeben. Spendengelder werden auch mit Hilfe von Drohungen und Gewalt eingetrieben. Entgegen dem Trend der Vorjahre ist im Berichtszeitraum das Spendenaufkommen erstmals merklich angewachsen. Geänderte politische Rahmenbedingungen, insbesondere der Konflikt im Nordirak und damit verbundene Solidarisierungseffekte mit den HPG sowie die Festnahme mehrerer hochrangiger Funktionäre dürften Ursachen für die höhere Spendenbereitschaft der KONGRA GEL-Anhänger gewesen sein. Die Steigerung zeigt, dass Deutschland für die Terrororganisation nach wie vor ein unverzichtbarer Rückzugsraum ist, der gebraucht wird, um Guerillaeinheiten, Propaganda und Parteiapparat zu finanzieren. Dies bedeutet, dass ein Abweichen des KONGRA- GEL von der bereits erwähnten Linie seines Friedenskurses keineswegs opportun wäre, da er dann infolge intensivierter staatlicher Maßnahmen mit empfindlichen Einbußen bei der jährlichen Spendenkampagne und somit seiner gesamten Logistik rechnen müsste. Höheres Spenden -Aufkommen Exekutivmaßnahmen und Verurteilungen Die Strafverfolgungsbehörden gingen vor allem gegen Funktionäre des KONGRA GEL vor, um die Handlungsfähigkeit der Organisation weiter zu schwächen: Seit August wird vor dem Landgericht Koblenz (Rheinland-Pfalz) der Prozess gegen einen mutmaßlichen Führungsfunktionär des KONGRA GEL verhandelt. Ihm wird die Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung vorgeworfen. Er soll zwischen den Jahren 2005 und 2007 mit Leitungsaufgaben in den Gebieten Frankfurt am Main, Darmstadt und Mainz betraut gewesen sein. Am 28. August wurde gegen den ehemaligen mutmaßlichen Gebietsverantwortlichen für das KONGRA-GEL-Gebiet Darmstadt wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung beim Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt am Main Anklage erhoben. Er war bereits im März von den Sicherheitsbehörden in Berlin festgenommen worden. Anklage gegen Funktionäre Ebenfalls im August wurde einem Funktionär vor dem OLG Frankfurt am Main vorgeworfen, dass er und zwei weitere hochrangige Jugendkader einen aus ihrer Sicht abtrünnigen Aktivisten der KONGRA GEL-Jugendorganisation KOMALEN CIWAN im März 2007 in Darmstadt in Parteihaft genommen hatten, um gegen diesen unter Androhung körperlicher Gewalt eine ungerechtfertigte Geldforderung für die Organisation durchzusetzen. Hierbei wurde er von dem oben erwähnten damaligen Gebietsleiter in Darmstadt unterstützt. Prozesse in Frankfurt am Main Einen weiteren führenden KONGRA GEL-Funktionär nahm die Polizei im Juli in Detmold (Nordrhein-Westfalen) fest. Ihm wird die Rädelsführerschaft in einer kriminellen Vereinigung zur Last gelegt. Laut Ermittlungen der Polizei soll der Beschuldigte von März bis Juni 2007 als Leiter des Gebietes Süd, dem auch größtenteils Hessen ALLGEMEINER AUSLÄNDEREXTREMISMUS 69

71 angehört, und von Juni 2007 bis Juni 2008 als Deutschlandverantwortlicher für den KONGRA GEL tätig gewesen sein. Die Bundespolizei nahm im Oktober einen KONGRA GEL-Funktionär in Schleswig-Holstein fest. Er soll Mitte der 1990er Jahre in Deutschland als Verantwortlicher für die seinerzeitige PKK-Region Süd Anschläge auf türkische Einrichtungen organisiert und angeordnet haben. Neben der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung wird ihm schwere Brandstiftung und Brandstiftung mit Todesfolge vorgeworfen. Im April sprach das OLG Frankfurt am Main gegen einen KONGRA GEL-Funktionär wegen der Rädelsführerschaft in einer kriminellen Vereinigung eine Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten aus. Er war nach Auffassung des Gerichts zwischen Juli 2005 und August 2006 in weiten Teilen Süddeutschlands für die organisatorischen, finanziellen sowie propagandistischen Angelegenheiten der PKK verantwortlich. Der Bundesgerichtshof hob im Dezember dieses Urteil auf. Es folgt nun eine Neuverhandlung in der Sache vor dem OLG Frankfurt am Main. Scheinbarer Erfolg vor dem Europäischen Gerichtshof Der Europäische Gerichtshof (EuGH) erklärte am 3. April die im Jahre 2002 erfolgte Aufnahme der PKK bzw. des jetzigen KONGRA GEL in die EU-Liste terroristischer Organisationen für nichtig. Die EU hatte, so das Gericht, die damalige Listung der PKK nicht hinreichend erläutert, wobei die im April 2007 nachgereichte Begründung im laufenden Verfahren keine Berücksichtigung fand. Nach wie vor auf EU-Terrorliste Das Urteil hat keine Auswirkungen auf die aktuelle Listung der Terrororganisation. Auf Grund der Vorgaben eines vorangegangenen Parallelurteils des EuGH erster Instanz reformierte die EU im ersten Halbjahr 2007 das gesamte Verfahren. Die Sanktionsliste wird seitdem halbjährlich überprüft und aktualisiert. Die im Urteil gerügten Mängel sind dabei hinsichtlich der PKK bzw. des KONGRA GEL behoben worden. Der KONGRA GEL bewertete das Urteil als Sieg gegen die Stigmatisierung als terroristische Organisation. In der Zeitung YÖP erklärte der KONGRA GEL-Vorsitzende für Europa, der EuGH habe bestätigt, dass unsere Bewegung keinerlei Verbindung zum Terrorismus hat, sondern eine Freiheitsbewegung ist, und dass man den Freiheitskampf eines Volkes nicht als Terrorismus verurteilen kann. Mit diesem Urteil habe der EuGH in Wirklichkeit auch die Politik der Türkei verurteilt. 70 ALLGEMEINER AUSLÄNDEREXTREMISMUS

72 Türkische Gruppen Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) Gründung: Leitung: 1994 aus der seit 1983 verbotenen Revolutionäre Linke (Devrimci Sol) hervorgegangen Zur Zeit unbekannt Anhänger / Mitglieder: In Hessen etwa 80, bundesweit 700 Politischer Arm: Terroristischer Arm: Medien (Auswahl): Revolutionäre Volksbefreiungspartei (DHKP Devrimci Halk Kurtulus Partisi) Volksbefreiungsfront (DHKC Devrimci Halk Kurtulus Cephesi Revolutionäre) Yürüjus (Zeitschrift), Internet-Präsenz Betätigungsverbot: Seit dem 13. August 1998 Ideologie Die Aktivitäten der DHKP-C sind darauf gerichtet, den türkischen Staat mit Gewalt zu zerschlagen und durch ein marxistisch-leninistisches Regime unter ihrer Kontrolle zu ersetzen. Das Ziel ist die Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft. In dem aus dem Jahre 1994 stammenden und nach wie vor gültigen Programm heißt es: Unsere Partei hat sich die marxistisch-leninistische Weltanschauung zu eigen gemacht und kämpft dafür. Das Endziel der DHKP ist, eine Gesellschaft und eine Welt ohne Ausbeutung und ohne Klassen zu schaffen. Aber unser heutiges Ziel ist die Errichtung der Revolutionären Volksmacht der Macht aller Volkskräfte, die gegen Oligarchie und Imperialismus sind. Revolutionäre Volksmacht als Ziel Die Gültigkeit dieser Programmatik bekräftigte die DHKP im März in einer anlässlich ihres Gründungstages (30. März 1994 in Damaskus, Syrien) im Internet veröffentlichten Erklärung. Seit ihrem Bestehen sei es ihr Ziel, den bewaffneten Befreiungskrieg in der Türkei zu führen und dort den Imperialismus [zu] verjagen und die oligarchische Diktatur [zu] stürzen. Immer wieder betont die Terrororganisation ihre revolutionäre Ausrichtung: Die Partei-Front steht für die Verteidigung der Revolution und des Sozialismus UNTER JEDER BEDINGUNG. [...] Partei-Front bedeutet, ein zum Sieg entschlossenes Revolutionärtum. WIR KÄMPFEN, UM DEN SIEG ZU ERRINGEN! Genauso wenig, wie unsere Existenz darauf begründet ist, gegen diese oder jene Handlung des Systems zu protestieren, kann es auch nicht unser endgültiges Ziel sein, gewisse Änderungen oder Reformen des Systems durchzuführen. Die Partei-Front hat die Arena des Klassenkampfes als Bewegung mit einer revolutionären Behauptung, mit einer Machtperspektive betreten, und sie ist niemals von dieser Position abgewichen. (Hervorhebung im Original) Verteidigung des Sozialismus ALLGEMEINER AUSLÄNDEREXTREMISMUS 71

73 Die mehrseitige Erklärung schließt mit den Worten: Der Weg der Revolution in der Türkei ist der Weg unserer Partei. Der Weg unserer Partei ist der Weg der Befreiung unseres Volkes. Bewaffneter Befreiungskrieg Ihren bewaffneten Befreiungskrieg führte die DHKP-C in den vergangenen Jahren mit zahlreichen Terroranschlägen vor allem in den Großstädten der Türkei gegen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens sowie gegen militärische und andere staatliche Einrichtungen. Im Berichtszeitraum wurde kein Anschlag bekannt. Außerhalb der Türkei beging die DHKP-C seit der 1999 durch ihren damaligen Generalsekretär für Europa abgegebenen Gewaltverzichtserklärung keine terroristischen Akte mehr. Die EU nahm die DHKP-C in die Liste terroristischer Organisationen auf, auch in den USA wird sie in einer entsprechenden Liste geführt. Festhalten an Unbesiegbarkeit des Sozialismus Tod des Generalsekretärs Dursun Karatas, der Gründer und Generalsekretär der DHKP-C, starb infolge einer langjährigen Erkrankung am 11. August in Etten-Leur (Niederlande). 6 Er hatte die Organisation seit ihrer Gründung bis zu seinem Tod geleitet. Die DHKP veröffentlichte noch am gleichen Tag eine Erklärung im Internet. Darin hieß es u. a.: Mit ihm sind wir zu einer Bewegung geworden, die die Geschichte mit Heldenhaftigkeiten schmückt, sich über Verrat hinwegsetzt, Umzingelungen überwindet, der ganzen Welt den Beweis für die Unbesiegbarkeit des Sozialismus erbringt und den gnadenlosen Angriffen des Imperialismus zum Trotz den antiimperialistischen Kampf und die Fahne des Internationalismus aufrecht hält. Seine Anhänger gedachten Karatas bei Trauerfeiern in der Türkei und in Europa. Nach Angaben der kurdischen Tageszeitung YÖP kondolierte auch der KONGRA GEL der DHKP-C in einer schriftlichen Erklärung. Er würdigte Karatas als Person, die bis zum Ende am Kampf in der Türkei und im Ausland beteiligt gewesen sei und viel zur Arbeit der linken Bewegung in der Türkei beigetragen habe. Für die DHKP-C bedeutet Karatas Tod einen immensen Verlust, da seine Person als Garant für den Zusammenhalt der Organisation galt. Inwieweit ein Nachfolger diese Institution ersetzen kann, ist nicht absehbar. Aufkommenden Unsicherheiten unter den Anhängern über die Zukunft versuchte die DHKP-C in Internet-Erklärungen zu begegnen: Unsere Kader, SympathisantInnen und unser Volk können gewiss sein: Unsere Organisation übt mit all ihren Führungsorganen ihre Funktionen weiter aus und sie wird anhand seiner Lehren den Kampf fortsetzen. [...] Wir werden auf diesem Weg in seine Fußstapfen treten, die unter jeder Bedingung standhaft und entschlossen waren. Und eines Tages werden wir mit seinen Händen unsere Fahne auf den Burgen der Oligarchie hissen in Elazig (Türkei) geboren, bekleidete Karatas seit Mitte der siebziger Jahre Führungsfunktionen in verschiedenen, teilweise von ihm selbst gegründeten bzw. mitbegründeten linksextremistischen Organisationen, z. B. in der Devrimci Sol festgenommen und in der Türkei zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt, brach er aus dem Gefängnis aus und tauchte im Ländereck Niederlande-Belgien-Deutschland bis zu seinem Tod unter. 72 ALLGEMEINER AUSLÄNDEREXTREMISMUS

74 Exekutivmaßnahmen gegen Aktivisten und Unterstützer Zentrales Thema unter den Anhängern der DHKP-C in Deutschland waren nach wie vor die Exekutivmaßnahmen der Strafverfolgungsbehörden gegen Funktionäre: Seit dem 17. März müssen sich fünf führende DHKP-C-Kader wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung vor dem OLG Stuttgart verantworten. Drei von ihnen sollen zwischen 1998 und 2003 zeitweilig in Hessen für die Terrororganisation aktiv gewesen sein. Anlässlich dieses Strafprozesses protestierten am 5. Juli rund 400 Personen in der Stuttgarter Innenstadt. An der Veranstaltung nahmen Aktivisten aus dem türkischen und dem deutschen linksextremistischen bzw. autonomen Spektrum teil. Das aus mehreren deutschen und türkischen Gruppierungen bestehende Antirepressionsbündnis setzte sich mit Transparenten, Redebeiträgen, Flugblättern und Sprechchören für eine Abschaffung der Paragrafen 129, 129a und 129b des Strafgesetzbuches (Bildung krimineller bzw. terroristischer Vereinigungen im In- und Ausland) sowie für die Freiheit für alle politischen Gefangenen ein. Im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens wegen des Verdachts der Unterstützung und Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung durchsuchten die Sicherheitsbehörden am 5. November mehrere Vereinsräume und Privatwohnungen in Nordrhein-Westfalen. Drei türkische Staatsangehörige wurden festgenommen. Sie werden verdächtigt, Funktionäre der DHKP-C zu sein und als solche Finanzmittel für die Organisation beschafft und weitergeleitet zu haben. Darüber hinaus sollen sie Schulungen und Propagandaveranstaltungen zur Rekrutierung neuer Mitglieder initiiert haben. Zwar hat die DHKP-C seit Ihrem Verbot im Jahre 1998 ihre Aktivitäten in Nachbarländer verlegt, die Exekutivmaßnahmen gegen Funktionäre der Organisation zeigen jedoch, dass ihre Aktivisten Deutschland nach wie vor als Rückzugsraum nutzen. Türkische Kommunistische Partei / Marxisten-Leninisten (TKP/ML) Gründung: Leitung: 1972 in der Türkei gegründet, 1994 Spaltung in Partizan und Ostanatolisches Gebietskomitee (DABK Dogu Anadolu Bölge Komitesi), 2003 Umbenennung des DABK in Maoistische Kommunistische Partei (MKP Maoist Komünist Partisi) Funktionärsgruppe Anhänger: In Hessen etwa 210, bundesweit Terroristischer Arm: Medien: Türkische Arbeiter- und Bauernbefreiungsarmee (TIKKO Türkiye Isci-Köylü Kurtulus Ordusu) tätig für die Partizan- Fraktion, Volksbefreiungsarmee (HKO Halk Kurtulus Ordusu) tätig für die MKP Revolutionäre Demokratie für das Volk (Halk Icin Devrimci Demokrasi), Volkskrieg (Halk Savasi) und Internet-Präsenz ALLGEMEINER AUSLÄNDEREXTREMISMUS 73

75 Ideologie Sowohl der Partizan-Flügel der TKP ML als auch die MKP vertreten die Ideologie des Marxismus-Leninismus und des Maoismus. Beide streben den Sturz des Imperialismus und die Beseitigung von Feudalismus und Kapitalismus in der Türkei an. Dabei befürworten beide Fraktionen den Volkskampf unter Einsatz bewaffneter Guerillaeinheiten mit dem Ziel, das türkische Staatsgefüge gewaltsam zu zerstören, um an dessen Stelle eine kommunistische Gesellschaftsordnung zu etablieren. In Deutschland agieren die Flügel der TKP ML seit Ende der 1980er Jahre gewaltfrei. Ihre Aktivitäten richten sich zuvorderst gegen die Verhältnisse in der Türkei und werden vorwiegend von den dortigen politischen Ereignissen beeinflusst. Neben den oben erwähnten terroristischen Einheiten, die in der Türkei agieren, stehen in Deutschland den beiden Teilorganisationen der TKP ML verschiedene Gruppierungen nahe. Bei ihren Aktionen verschleiern aber sowohl der Partizan-Flügel als auch die MKP weitgehend ihre Zugehörigkeit zur Mutterorganisation in der Türkei. Partizan-Flügel: Konföderation der Arbeiter aus der Türkei in Europa (ATIK Avrupa Türkyeli Isciler Konfederasyonu), Föderation der Arbeiter aus der Türkei in Deutschland e. V. (ATIF Almanya Türkiyeli İşçiler Federasyonu). MKP: Konföderation für demokratische Rechte in Europa e. V. (ADHK Avrupa Demokratik Haklar Konfederasyonu), Sitz in Frankfurt am Main, Föderation für demokratische Rechte in Deutschland e. V. (ADHF Almanya Demokratik Haklar Federayonu). Solidarisierung mit deutschen Linksextremisten Aktivitäten Partizan-Flügel und MKP traten sowohl in Deutschland als auch auf europäischer Ebene in den letzten Jahren vorwiegend propagandistisch in Erscheinung, indem sie innerdeutsche und weltpolitische Ereignisse thematisierten. Im Internet mobilisierte die ATIK für Proteste gegen den, so ihre Behauptung, politischen Schauprozess in Stammheim, der dort gegen DHKP-C-Mitglieder geführt werde. Die Angeklagten seien massivster Willkür, Menschenrechtsverletzungen und Isolationshaft ausgesetzt. Darüber hinaus setzte sich die ATIK für einen am 24. Oktober in der Bundesrepublik verhafteten Veteran[en] des Todesfastens ein, der in der Türkei gegen die angebliche Isolationsfolter in Einzelzellen in Gefängnissen protestiert hatte. Ebenso solidarisierte sich die Organisation mit drei Mitgliedern der deutschen linksextremistischen militanten gruppe, die in Berlin vor Gericht standen. In ihrem Internetauftritt wandte sich die ATIK gegen den berüchtigte[n] Gummiparagraph[en] 129 (Bildung krimineller Vereinigungen): Mit den 129ff stehen den Ermittlungsbehörden demnach weitergehende Eingriffsbefugnisse zu als bei den meisten Nicht-Organisationsvorwürfen. Das bekommen auch vermehrt linke MigrantInnen zu spüren, die in der BRD für kriminalisierte Organisationen im Ausland tätig sein sollen. 74 ALLGEMEINER AUSLÄNDEREXTREMISMUS

76 An den bundesweiten traditionellen Kundgebungen zum 1. Mai beteiligten sich zahlreiche Angehörige beider Parteiflügel der TKP ML. Unter den rund Demon - stranten in Frankfurt am Main sollen sich, laut der Marxistisch-Leninistischen Kommunistischen Partei (MLKP Marksist-Leninist Komünist Partisi), nahe stehenden Publi - kation Atilim, Mitglieder der ATIF und der ADHK befunden haben. Darüber hinaus sollen TKP ML-Aktivisten u. a. an den 1. Mai-Kundgebungen in Duisburg (Nordrhein- West-falen), Stuttgart und Nürnberg (Bayern) teilgenommen haben. Großveranstaltung in Paris Anlässlich des 35. Todestages (18. Mai) des TKP ML-Gründers Ibrahim Kaypakkaya beging der Partizan-Flügel am 24. Mai in Ludwigshafen (Rheinland-Pfalz) seine jährliche Gedenkveranstaltung, zu der etwa Personen aus dem gesamten Bundesgebiet und dem benachbarten Ausland (u. a. Niederlande, Frankreich, Schweiz) angereist waren. In der Einladung behauptete die Organisation, dass weder die türkische Regierungspartei noch eine andere bourgeoise Partei imstande seien, die Probleme im Heimatland zu lösen. Die einzige Lösung bestehe in dem Weg, den der kommunistische Führer Kaypakkaya vorgegeben habe. Dieser Ausweg sei in der seit ihrer Gründung bestehenden Grundideologie der TKP ML zu sehen: Sturz der türkischen Regierung durch einen bewaffneten Volkskrieg, um einen demokratischen Volksstaat unter Führung des Proletariats zu errichten. Bereits am 10. Mai hatte die MKP als konkurrierender Parteiflügel separat ihre Kaypakkaya-Gedenkveranstaltung in Köln (Nordrhein-Westfalen) durchgeführt, an der etwa Personen teilnahmen. Sie stand unter dem Motto Wir gedenken der Partei- und Revolutionsmärtyrer in der Person des kommunistischen Führers Kaypakkaya! Treffen wir uns auf der Mai-Veranstaltung der Auferstehung und des Widerstandes! Ein am 23. Mai bei der Einreise in die Bundesrepublik Deutschland am Flughafen Frankfurt am Main Hahn (Rheinland-Pfalz) festgenommener Aktivist der ATIK trat in der Justizvollzugsanstalt aus Protest gegen seine anstehende Abschiebung in die Türkei für etwa fünf Wochen in den Hungerstreik. Die ATIK startete eine Solidaritätskampagne, zu der sie ihre Anhänger und Sympathisanten insbesondere via Internet aufrief. Diese konnten dort Protestpostkarten und -faxe abrufen und an das Bundesministerium der Justiz schicken. Darüber hinaus initiierten u. a. die ATIK und die ADHK mehrere Protestdemonstrationen vor dem zuständigen OLG Koblenz (Rheinland-Pfalz). Unter den Solidaritätsbekundungen im Internet befanden sich Stellungnahmen der Partei DIE LINKE. und der Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands (MLPD). Nach einem Beschluss des OLG wurde der ATIK-Aktivist am 8. Oktober aus der Haft entlassen. Zusammen mit der Föderation der ArbeitsmigrantInnen aus der Türkei in Deutschland e. V. (AGIF Almanya Göcmen Isciler Federasyonu), dem deutschen Ableger der türkischen MLKP, forderte die ADHF im September in einem Flugblatt im Zusammenhang mit der deutschen Afghanistan-Politik: Widerstand den imperialistischen Aggressoren[,] Solidarität mit dem afghanischen Volk! [...] Besatzertruppen raus aus Irak, Afghanistan, Libanon, Palästina und anderen Ländern! ALLGEMEINER AUSLÄNDEREXTREMISMUS 75

77 Finanzierung Sowohl der Partizan-Flügel als auch die MKP führen jährliche Spendenkampagnen durch, die als wichtigste Einnahmequelle zur Finanzierung der Partei und des Guerillakrieges in der Türkei gelten. Darüber hinaus werden Finanzmittel bei den jeweils jährlich durchgeführten Gedenkveranstaltungen zu Ehren Kaypakkayas und aus dem Verkauf von Publikationen erzielt. Iranische Gruppen Nationaler Widerstandsrat Iran (NWRI) / Volksmodjahedin Iran (MEK Modjahedin-E-Khalgh) Gründung: 1965 Leitung (MEK): Maryam Radjavi (Paris) Anhänger / Mitglieder: In Hessen etwa 150, bundesweit 900 Deutschlandweiter Schwerpunkt: Terroristischer Arm: Medien (Auswahl): Berlin, Dr. Massoumeh Bolourchi (Sprecherin des NWRI) Nationale Befreiungsarmee (NLA) Modjahed (Glaubenskämpfer), Internet-Präsenz Ziele Klagen gegen Aufnahme in die EU-Terrorliste Die 1965 als revolutionäre marxistische Organisation gegründete MEK will im Iran das islamistische Regime beseitigen. In der Öffentlichkeit stellt sich ihr politischer Arm, der NWRI, als demokratische und zentrale Oppositionsbewegung dar, die angeblich besonders der Durchsetzung der Menschenrechte im islamistischen Regime des Iran verpflichtet ist. Der NWRI bezeichnet sich selbst auch als iranisches Exilparlament und verehrt Maryam Radjavi als vom iranischen Widerstand gewählte, künftige Präsidentin des Heimatlandes. MEK von Terrorliste gestrichen Sowohl der militante Arm der Organisation, die NLA, als auch die MEK standen mehrere Jahre auf der EU-Liste terroristischer Organisationen. Die MEK klagten gegen die Listung. In einer Entscheidung vom 4. Dezember erklärte das Europäische Gericht erster Instanz die Listung wegen Verfahrensfehlern für nichtig. In einer im Internet veröffentlichten Erklärung bezeichnete Maryam Radjavi das Urteil als eine Anerkennung des Rechts des iranischen Volkes, gegen Diktatur und religiösen Faschismus Widerstand zu leisten und bezeichnete es als einen Triumph der Gerechtigkeit über Politik und wirtschaftliche Geschäfte und Interessen. Sie sagte, dass der EU-Rat unverzüglich die MEK von der Terrorliste streichen und das iranische Volk für all die ihm zugefügten Schäden entschädigen und sich bei den MEK und dem iranischen Widerstand entschuldigen müsse. Die EU hat die MEK und deren militärischen Arm, die NLA, im Januar 2009 von ihrer Liste terroristischer Organisationen gestrichen. Diese Entscheidung trägt lediglich den 76 ALLGEMEINER AUSLÄNDEREXTREMISMUS

78 Bedenken des Gerichtes Erster Instanz in seinem Urteil vom 4. Dezember hinsichtlich der Verfahrensfehler im Listungsverfahren Rechnung. Das bisher in Europa eingefrorene Vermögen der MEK muss nun freigegeben werden. Die Organisation wird von Sicherheitsbehörden in Europa allerdings nach wie vor als terroristisch eingeschätzt. Die offiziell in Europa nicht existente MEK und der von ihnen beeinflusste NWRI verfolgen Bestrebungen, die durch Anwendung von Gewalt und darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden. Die MEK sind eine streng hierarchisch geführte Kaderorganisation mit totalitär-undemokratischem Charakter. Personen, die von den Vorgaben der Organisation abweichen, werden intern verfolgt. Nach wie vor haben sich die MEK nicht eindeutig von der möglichen Anwendung von Gewalt zur Durchsetzung ihrer Ziele losgesagt. Personenkult und Propaganda Die MEK fordern unbedingten Gehorsam und pflegen einen Personenkult um ihre Anführer, das Ehepaar Massoud und Maryam Radjavi, wobei Massoud seit dem letzten Irak-Krieg als verschollen gilt. In sporadisch verbreiteten Videobotschaften, die angeblich von ihm stammen, soll den Anhängern aber seine Existenz belegt werden. Maryam Radjavi leitet die Organisation von Frankreich aus, und die Propaganda der MEK bzw. des NWRI konzentriert sich fast vollständig auf sie. Mit einer Frau an der Spitze bilden die MEK und der NWRI einen demonstrativ-plakativen Gegensatz zur islamistischen Frauendiskriminierung im Iran. Nach wie vor versucht sich der NWRI bei westlichen Staaten als seriöser Ansprechpartner zu etablieren, insbesondere für die den Iran betreffenden politischen Themen. Nach im September in der Presse verbreiteten Angaben des NWRI sollen nordkoreanische Wissenschaftler den Iran bei der Entwicklung von atomaren Raketensprengköpfen unterstützen und in einer bislang geheim gehaltenen unterirdischen Anlage arbeiten. Mit dieser angeblichen Enthüllung wollte der NWRI allgemeines Interesse der Öffentlichkeit auf sich ziehen und sich in die Reihe der westlichen Länder einordnen, die dem Streben der iranischen Regierung nach atomarer Bewaffnung kritisch bis ablehnend gegenüber stehen. Mittels dieser Instrumentalisierung von Themen allgemeinen Interesses versucht die Organisation eine größere Akzeptanz in Politik und Gesellschaft zu erhalten und wirbt dabei in Deutschland gezielt um die Unterstützung von Parlamentariern. Aktivitäten Anhänger der MEK hielten vor Niederlassungen der Vereinten Nationen in Genf (Schweiz) sowie in Washington D. C. und in New York (USA) Mahnwachen, Kundgebungen und Sitzstreiks ab. Zentrales Thema der Proteste war das Gefangenenlager Ashraf im Irak und die Zukunft der dort verbliebenen und entwaffneten rund ehemaligen Kämpfer der NLA bzw. die Übergabe des Lagers durch die Vereinigten Staaten an irakische Sicherheitskräfte. Im Internet wandte sich der NWRI gegen die Forderung der iranischen Regierung, diese Personen auszuliefern, da sie dort Folterung und Hinrichtung erwarteten. Proteste und Mahnwachen ALLGEMEINER AUSLÄNDEREXTREMISMUS 77

79 Wie in den vergangenen Jahren initiierte der NWRI am 28. Juni eine Großkundgebung in Paris (Frankreich). Nach organisationseigenen Angaben sollen Personen aus ganz Europa, den USA und verschiedenen arabischen Ländern (z. B. Irak, Ägypten, Algerien) an der Veranstaltung teilgenommen haben, wobei die Zahlen erfahrungsgemäß stark überhöht angegeben werden. Darunter sollen sich EU-Parlamentarier und weitere Persönlichkeiten mit politischem Hintergrund befunden haben. Zentrales Thema war erneut die Forderung nach der Streichung der MEK von der EU-Terrorliste. Die Rücknahme von der Liste in Großbritannien hatte zuvor bei den MEK die Hoffnung geschürt, dies auch in Bezug auf die Listung der EU erreichen zu können. 7 Mit der jährlich stattfindenden Großveranstaltung in Paris wollten die MEK sowohl an die gegen sie gerichteten Exekutivmaßnahmen der französischen Behörden am 17. Juni 2003 erinnern als auch an eine Großdemonstration 1981 in Teheran (Iran), die durch das Militär aufgelöst worden war und mit der Hinrichtung zahlreicher Anhänger der Organisation geendet hatte. In Deutschland machte der NWRI im Januar durch eine Demonstration vor dem Auswärtigen Amt in Berlin anlässlich der Beratungen der Außenminister aus Deutschland, den USA, Russland, China, Frankreich, Großbritannien und des Hohen Vertreters der EU gegen die Menschenrechtssituation im Iran in der Öffentlichkeit auf sich aufmerksam. Darüber hinaus protestierte die Organisation während der 44. Konferenz für Sicherheitspolitik im Februar in München öffentlichkeitswirksam gegen die atomare Aufrüstung Irans, für einen demokratischen Wandel im Iran. Ende November hielt sich Maryam Radjavi in Berlin auf und legte anscheinend in bewusster Opposition zu dem iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad, der mehrfach die Ermordung der Juden während der Terrorherrschaft des Nationalsozialismus geleugnet hat einen Kranz am Holocaust-Denkmal nieder. Tamilische Organisationen Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE) Gründung: 1972 Leitung: Velupillai Prabhakaran (Sri Lanka) Anhänger/Mitglieder: In Hessen etwa 150, bundesweit 800 Deutschlandweiter Schwerpunkt: Medien (Auswahl): Tamil Coordination Center (TCC), Oberhausen (Nordrhein-Westfalen) Viduthalai, Tamil Land, Internet-Präsenz 7 Am 7. Mai hatte der British Court of Appeal (britisches Berufungsgericht) zugunsten der MEK entschieden und einen Einspruch des Innenministeriums gegen das Urteil der Vorinstanz zurückgewiesen. Die britische Regierung musste die iranische Widerstandsgruppe von der nationalen Terrorliste streichen. 78 ALLGEMEINER AUSLÄNDEREXTREMISMUS

80 Ziele Guerillakrieg Die LTTE rebellieren auf Sri Lanka seit mehr als zwanzig Jahren gegen die Regierung mit dem Ziel, einen eigenen Tamilenstaat auf der mehrheitlich von Singhalesen bevölkerten Insel zu errichten. Die marxistisch-leninistisch orientierten LTTE wollen nach Aussage ihres Anführers Prabhakaran einen sozialistischen Ein-Partei-Staat errichten. Mehr als Menschen starben bisher bei den blutigen Guerillakämpfen zwischen der Terrororganisation und dem Militär bzw. bei von den LTTE verübten Anschlägen. Die Guerillas schrecken nicht davor zurück, Frauen für Selbstmordattentate einzusetzen und unschuldige Zivilisten bei Bombenattentaten zu töten. Tamilische Kinder werden von den LTTE zwangsrekrutiert und in ihren blutigen Krieg geschickt. Nach einem Angriff auf Vertreter der internationalen Beobachtermission auf Sri Lanka im Jahre 2006 nahm die EU die LTTE in die Terrorliste auf. Das amerikanische Federal Bureau of Investigation (FBI) bezeichnet die LTTE neben al Qaida und der HAMAS als die gefährlichste Terrororganisation der Welt. LTTE in der Defensive Nachdem die srilankische Regierung im Januar das seit Jahren brüchige Waffenstillstandsabkommen mit den LTTE gekündigt hatte, herrscht auf der Insel faktisch ein offener Bürgerkrieg. Ursache für diese Entscheidung war die massive Anschlagshäufung seitens der LTTE im Januar, wobei es zahlreiche Tote und Verletzte gegeben hatte, darunter auch mehrere Regierungsmitglieder. So kam bei einem Selbstmordattentat im April während einer Sportveranstaltung der srilankische Verkehrs- und Straßenbauminister ums Leben. Die srilankische Regierung erklärte, die LTTE nach der Aufkündigung des Waffenstillstandsabkommens mit allen Mitteln bekämpfen und vernichten zu wollen. Im Norden der Insel nahm das Militär nach eigenen Angaben im August zwei strategische Stützpunkte der LTTE ein und erreichte im November die Außenbezirke der Rebellenhochburg und Hauptstadt Kilinochchi. Doch selbst ein militärischer Sieg der Regierungstruppen würde den ethnischen Konflikt, Auslöser eines seit mehr als zwei Jahrzehnten währenden Bürgerkrieges, nicht lösen. Der srilankische Oberkommandierende räumte ein: Die LTTE könnte[n] mit Mann noch ein oder vielleicht zwei Jahrzehnte bestehen. Der Konflikt könnte ein ewig währender Aufstand werden. Militärische Niederlage Protestveranstaltungen in Deutschland Den LTTE nahe stehende Organisationen mobilisierten im März, Juni und Oktober mehrere tausend Anhänger und Sympathisanten für Demonstrationen vor dem Landtag in Düsseldorf und in der Innenstadt Berlins. Die Teilnehmer forderten die Streichung der LTTE von der EU-Liste terroristischer Organisationen und die Beendigung des Krieges in Sri Lanka. Die Demonstranten zeigten Plakate, auf denen u. a. stand: Stoppt die Bombardierung tamilischer Flüchtlingslager und Stoppt den Genozid am tamilischen Volk. In einem im März vom TCC verteilten Flugblatt hieß es: Da wir in unserem Heimatland nicht die Möglichkeit haben, unseren Protest zum Ausdruck zu bringen, ohne unser Leben zu riskieren, ist es notwendig, auch in Deutschland auf die eklatanten Menschenrechtsverletzungen gegen die tamilische Bevölkerung in Sri Lanka aufmerksam zu machen. [...] Solange das Selbstbestimmungsrecht der Proteste gegen Terrorliste ALLGEMEINER AUSLÄNDEREXTREMISMUS 79

81 Tamilen nicht anerkannt wird sowohl in Sri Lanka als auch international wird es keinen dauerhaften und gerechten Frieden geben und der Terror gegen die Tamilen fortdauern. Auseinandersetzung in Frankfurt am Main Anfang Dezember kam es in Frankfurt am Main im Zuge parallel verlaufender Veranstaltungen des Konsulates Sri Lankas und eines den LTTE nahe stehenden Vereins zu gegenseitigen Provokationen. Dieser Konflikt gipfelte in einer körperlichen Auseinandersetzung zwischen zwei Tamilen und mehreren Sri Lankern (Singhalesen), wobei einer der Tamilen mit einem Messer angegriffen wurde und dabei Stich- und Schnittverletzungen erlitt. Anschließend erhoben Tamilen im Internet Anschuldigungen, dass es sich bei den mutmaßlichen Angreifern angeblich um Mitarbeiter des Konsulates Sri Lankas in Frankfurt am Main gehandelt habe. Der den LTTE nahe stehende Verein protestierte am 20. Dezember in Frankfurt am Main mit einer Kundgebung gegen die mutmaßliche Misshandlung des Tamilen durch Singhalesen. An der Veranstaltung (Motto Frieden in Sri Lanka ) nahmen etwa 350 Personen teil. Sie verbreiteten Flugblätter, die u. a. die Messerattacke thematisierten. Heldengedenktag Ende November feierten mehrere tausend LTTE-Anhänger ihren traditionellen Heldengedenktag in Dortmund (Nordrhein-Westfalen). Diese Veranstaltung findet alljährlich zum Gedenken an die im Bürgerkrieg auf Sri Lanka gefallenen Märtyrer der LTTE statt. Die anwesenden Anhänger waren aus dem gesamten Bundesgebiet und den europäischen Nachbarländern angereist. Finanzierung Der Guerillakrieg auf Sri Lanka und damit verbunden die Unterhaltung der Rebellenarmee der LTTE sowie deren Marine- und Luftwaffeneinheiten (Tamil Air Force) kann nur durch einen steten Kapitalzufluss geführt werden. Die LTTE treiben bei Tamilen weltweit Gelder, d. h. sogenannte Spenden, ein. Schwerpunkt der Geldbeschaffung ist der nordamerikanische, europäische und australische Raum. In Deutschland erzielen die LTTE über von ihr beeinflusste bzw. gesteuerte Tarnorganisationen, wie die ihr nahe stehende Organisation Tamil Rehabilitation Organisation e. V. (TRO), Einnahmen über Spenden. Dabei werden Tamilen aufgefordert, bis zu einem Fünftel ihres Einkommens abzugeben. Personen, die sich weigern, oder deren Verwandte in Sri Lanka werden bedroht oder körperlich misshandelt. 80 ALLGEMEINER AUSLÄNDEREXTREMISMUS

82 RECHTSEXTREMISMUS

83 RECHTSEXTREMISMUS Merkmale des Rechtsextremismus Rechtsextremisten richten ihre Aktivitäten gegen wesentliche Elemente der freiheit - lichen demokratischen Grundordnung. Anstelle der pluralistischen und demokratischen Staatsordnung wird ein autoritäres System propagiert. Ihre ausländerfeindliche Agitation widerspricht der Menschenwürde und dem Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes. Das rechtsextremistische Menschenbild unterstellt eine biologisch bedingte, genetische Ungleichheit, aus der unterschiedliche Wertigkeiten der Menschen abgeleitet werden. Auf dieser Grundhaltung fußt ein übersteigerter Nationalismus, eine Ausländer- und Minderheitenfeindlichkeit sowie ein offener oder latenter Antisemitismus. Rechtsextremisten zeigen grundsätzlich keine Toleranz gegenüber Fremden oder Andersdenkenden. Aus ihren autoritären Herrschafts- und Staatsvorstellungen heraus wenden sich Rechtsextremisten gegen die liberale, auf Meinungs- und Parteienvielfalt aufbauende staatliche Ordnung. Ihr wird eine ethnisch homogene Volksgemeinschaft gegenübergestellt, deren kollektiver Wert gegenüber der individuellen Freiheit des Einzelnen Vorrang genießt. Die parlamentarische Demokratie wird als Grundübel der Gesellschaft bekämpft, weshalb die Staats- und Gesellschaftskritik der Rechtsextremisten nicht auf Verbesserung in Sachfragen abzielt, sondern auf die Abschaffung des auf dem Grundgesetz basierenden demokratischen Systems. Zur Legitimierung ihrer autoritären Herrschafts- und Staatsideen versuchen Rechtsextremisten, geschichtliche Tatsachen wie den Unrechtsgehalt des Nationalsozialismus oder Ereignisse wie die Ermordung der Juden im Dritten Reich mit pseudowissenschaftlichen Belegen zu revidieren bzw. zu relativieren (Revisionismus). Überblick Trends 2008 Die Entwicklung des Rechtsextremismus in Hessen war im Berichtszeitraum durch folgende Trends gekennzeichnet: den Rückgang der Aktivitäten der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD), eine Abschwächung der Bindungen zwischen Neonaziszene und NPD, die Neustrukturierung von Kameradschaften sowie eine stärkere Hinwendung zu anlassbezogenen und spontanen Aktivitäten. Stagnation bei der NPD Insgesamt verfügte die NPD in Hessen über eine geringere Mobilisierungskraft als noch im Jahre 2007 und erreichte eine schwächere Außenwirkung. Bereits bei der Landtagswahl vom 27. Januar 2008 musste sie mit 0,9 Prozent der Listenstimmen eine empfindliche Niederlage hinnehmen. Bei der erneuten Landtagswahl am 18. Januar 2009 erzielte sie ein Ergebnis in gleicher Höhe. Somit gelang es ihr in beiden Fällen nicht, die Ein-Prozent-Hürde zu überspringen und damit die staatliche Parteienfinanzierung 82 RECHTSEXTREMISMUS

84 zu erreichen. Damit bleibt der finanzielle Spielraum des Landesverbandes auf absehbare Zeit äußerst gering. Die Mitgliederzahl stagniert bei etwa 450 Personen. Die Aktivitäten der hessischen NPD und ihrer Gliederungen waren rückläufig, sie erreichten zudem eine geringere Öffentlichkeitswirksamkeit als in der Vergangenheit. Diese Entwicklung stand in engem Zusammenhang mit dem Rückzug führender Funktionäre. Der Landesvorsitzende Marcel Wöll kandidierte im April nicht mehr für dieses Amt und verlegte seinen Hauptwohnsitz im August nach Sachsen-Anhalt. Wöll hatte die rechtsextremistische Szene in Hessen in den letzten Jahren maßgeblich geprägt und eine verhältnismäßig große Außenwirkung erzielt. Sein Nachfolger Jörg Krebs, Stadtverordneter im Frankfurter Römer, agierte vergleichsweise wenig öffentlichkeitswirksam. Darüber hinaus haben auch andere Führungskräfte der hessischen NPD ihre Aktivitäten in andere Bundesländer verlagert oder eingestellt. Führungswechsel bei der NPD Mit den personellen Entwicklungen in engem Zusammenhang stand die nachlassende Bindungskraft der NPD gegenüber der Neonaziszene. Wöll hatte für eine Verzahnung von NPD und Neonazis gesorgt. Er war auf Grund seines persönlichen Lebensweges in der Skinhead- und Kameradschaftsszene fest verankert. Durch die Anerkennung, die ihm in diesen Kreisen zuteil wurde, konnte er der NPD ein erhebliches zusätzliches Personenpotenzial erschließen. Wöll öffnete die Partei gegenüber subkulturellen und neonazistischen Strukturen und richtete sie aktionistischer als in der Vergangenheit aus. Dies machte die NPD für Neonazis attraktiv. Seit dem Rückzug von Wöll war diesbezüglich eine neue Entwicklung zu beobachten. Sein Nachfolger verfügt über keine vergleichbare Verwurzelung in der Neonaziszene, seine Bindungs- und Mobilisierungsfähigkeit ist in diesem Bereich deutlich geringer. Dementsprechend war eine teilweise Verselbständigung der hessischen Kameradschaftsszene zu beobachten. Verhältnis zwischen NPD und Neonazis Die Neonaziszene unterliegt in Hessen einem strukturellen Wandel. Das gilt insbesondere für Südhessen, wo sich vermehrt eigenständige Gruppierungen bildeten. Die Szene versucht, sich im Sinne ihrer neuen Selbständigkeit zu reorganisieren. Die Neonazis in Südhessen unterhalten zugleich enge Kontakte nach Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg, was vor allem bei Demonstrationen deutlich wird. Neustrukturierung der Neonaziszene Neben der Lösung von der NPD und der Neubegründung oder Reorganisation eigenständiger Strukturen fiel bei Neonazis eine Hinwendung zu anlassbezogenen und spontanen Aktivitäten auf. Eine entsprechende Mobilisierungsfähigkeit ist durchaus gegeben. Exemplarisch hierfür war die Demonstration vom 11. Oktober in Wetzlar (Lahn-Dill-Kreis), zu der die Rechtsextremisten mit 300 Personen eine für hessische Verhältnisse erstaunlich hohe Zahl von Teilnehmern auf die Straße bringen konnten. Dies war insbesondere vor dem Hintergrund vergangener Misserfolge bei der Mobilisierung bemerkenswert. So erschienen zur zentralen Wahlkampfkundgebung der NPD am 19. Januar 2008 in Frankfurt am Main gerade einmal knapp 100 Personen. Aufmärsche und Kundgebungen Wenn Neonazis stärker anlass- und situationsbezogen agieren, sind ihre Aktivitäten entsprechend schwerer zu kontrollieren. Unter Umständen kann es dabei auch zu Gewaltanwendung kommen. Ein markantes und in Hessen im Berichtsjahr singuläres Rechtsextremistische Gewalt RECHTSEXTREMISMUS 83

85 Beispiel hierfür war der Überfall von Rechtsextremisten auf ein Zeltlager der Links - jugend [ solid] im Schwalm-Eder-Kreis. Die beschriebenen Tendenzen schlugen sich auch in der Entwicklung des rechtsextremistischen Personenpotenzials nieder. Dieses ging insgesamt leicht zurück, bei den Neonazis war allerdings ein Zuwachs zu beobachten. In Hessen waren etwa 300 Personen (2007: 250) in der Neonaziszene aktiv. Die NPD stagnierte bei etwa 450 Mitgliedern, die übrigen rechtsextremistischen Parteien und sonstigen Vereinigungen verzeichneten einen Rückgang. Ebenfalls rückläufig, von 750 auf 650, war die Zahl rechtsextremistischer Skinheads. Zwar konnte diese Szene weiterhin Jugendliche neu ansprechen und durch Musik bzw. Konzerte an den Rechtsextremismus heranführen oder sogar binden. Allerdings wandte sich im Gegenzug eine Vielzahl älterer Skinheads von der subkulturellen Szene ab. Teilweise war bei ihnen eine stärkere Politisierung und damit einhergehende Hinwendung zum Neonazismus beobachtbar; teilweise zogen sie sich aber auch ganz aus dem Rechtsextremismus zurück. Die Veränderungen im hessischen Personenpotenzial lagen im deutschlandweiten Trend. Die Mitgliederzahlen der NPD gingen auf Bundesebene leicht zurück (von auf 7.000), die Zahl der Neonazis stieg an (von auf 4.800). Bei den Angehörigen subkultureller rechtsextremistischer Strömungen bzw. Skinheads war ein Rückgang zu verzeichnen (von auf 9.500). Rechtsextremistisches Personenpotenzial NPD Hessen Bund DVU Hessen Bund Gewaltbereite / Skinheads Hessen Bund Neonazis Hessen Bund Sonstige Hessen Bund Rechtsextremisten gesamt Hessen Bund Die Zahlen sind gerundet und wurden teilweise geschätzt. 2 Nach Abzug von Mehrfachmitgliedschaften. 84 RECHTSEXTREMISMUS

86 Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) Gründung: 1964 Landesvorsitzender: Bundesvorsitzender: Jörg Krebs Udo Voigt Mitglieder: In Hessen ca. 450, bundesweit ca Jugendorganisation: Medien (Auswahl): Junge Nationaldemokraten (JN) Deutsche Stimme (DS) (Erscheinungsweise monatlich) Internet-Präsenz Ideologie und Ziele Die NPD wendet sich offen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung. Sie steht für Antiparlamentarismus sowie Antipluralismus und will eine ethnisch homogene Volksgemeinschaft schaffen. Ihre Programmatik ist fremdenfeindlich, rassistisch und antisemitisch. Verfassungsfeindliche Ideologie Die Partei fordert einen Nationalen Sozialismus. Dieser soll die mit Globalisierungsprozessen einhergehenden tatsächlichen und vermeintlichen Missstände beseitigen. Ziel der NPD ist eine nationale Solidargemeinschaft, welche die Volkswirtschaft vor den Risiken des Weltmarkts und den Einzelnen vor sozialer Not schützt. Damit verbindet die NPD Nationalismus und Antikapitalismus. Die Solidarität der Volksgemeinschaft soll nur ethnischen Deutschen zuteil werden. Alle nach den Kriterien der Partei Fremden sollen in ihre Herkunftsländer zurückgeführt werden: In Zeiten der Massenarbeitslosigkeit ist eine Massenausweisung von Ausländern [...] nötig. Zurückgehende Aktivitäten des Landesverbandes Das Abschneiden der NPD bei der Landtagswahl vom 27. Januar 2008 war, ebenso wie das Ergebnis vom 18. Januar 2009, eine Niederlage für die Partei. Mit 0,9 Prozent der Listenstimmen verfehlte sie in beiden Fällen nicht nur den Einzug in den Hessischen Landtag, sondern mit dem Minimalziel der Ein-Prozent-Hürde auch die staatliche Parteienfinanzierung. Die Wahlniederlage bei der Landtagswahl des Jahres 2008 führte zu einer gewissen Lähmung innerhalb des Landesverbandes. Dies galt insbesondere für Aktivitäten mit Außenwirkung. Während die NPD im Jahr 2007 einen Schwerpunkt auf die Durchführung von Demonstrationen legte, meldete die Partei im Berichtsjahr nur zwei Aufmärsche an. Einer davon war die Abschlusskundgebung zum Landtagswahlkampf des Jahres 2008 am 19. Januar in Frankfurt am Main. Erfolglosigkeit bei Wahlen Die einzige Demonstration, welche die NPD danach in Hessen durchführte, fand am 8. November in Fulda statt. Das Motto der Veranstaltung lautete Endlich auferstehen aus den Ruinen. Deutschlands Zukunft liegt in unserer Hand!. Unmittelbarer Anlass für den Aufmarsch war nach Darstellung der NPD der 19. Jahrestag des Mauerfalls in Verbindung mit den haarsträubenden sozialen RECHTSEXTREMISMUS 85

87 Demonstration am in Fulda Verhältnissen nicht nur in Hessen, sondern in ganz Deutschland. Als Redner traten Thorsten Heise (Thüringen, Beisitzer im NPD-Bundesvorstand) und Daniel Knebel (Beisitzer im hessischen NPD-Landesvorstand) auf. Es erfolgte keine weitere Unterstützung oder Mobilisierung durch die Bundespartei. An dem Aufzug beteiligten sich 150 Personen. Nicht zuletzt dies spricht für eine eingeschränkte Mobilisierungsfähigkeit der hessischen NPD. Insgesamt dominierte sie im Berichtszeitraum keineswegs das Demonstrationsgeschehen in Hessen. Vielmehr haben Veranstaltungen von Neonazis deutlich stärkeren Zulauf erfahren als solche der Partei. Die Demonstration in Fulda wurde von der NPD allerdings nachträglich zum gelungenen Wahlkampfauftakt stilisiert. Wahlkampfthema islamische Landnahme Die NPD stellte auf einem außerordentlichen Parteitag am 22. November ihre Liste für die Landtagswahl 2009 auf. Zum Spitzenkandidaten wurde der Landesvorsitzende Jörg Krebs gewählt. Dieser legte bereits wenige Tage nach seiner Nominierung als Schwerpunkt des geplanten Wahlkampfs die islamische Landnahme fest. Im Internet führte Krebs dazu aus: Ich erlebe es in meiner Heimatstadt Frankfurt Tag für Tag, wie immer mehr Stadtteile anscheinend systematisch in vom Deutschtum befreite Zonen verwandelt werden. Verantwortlich hierfür sei das etablierte Parteienkartell, von dem sich Krebs mit der NPD abgrenzen will: Wir Nationaldemokraten halten jedenfalls Wort, und werden der islamischen Landnahme und der Schaffung von vom Deutschtum befreiten Zonen auch in Zukunft unseren erbitterten Widerstand entgegensetzen. 3 Mitgliederrückgang bei der NPD Stagnation Der Zustand der NPD jedenfalls in Hessen spiegelte sich auch in den Mitgliederzahlen und der Präsenz der Partei in der Fläche wider. Während die Mitgliederzahl in den letzten Jahren kontinuierlich wuchs, stagnierte diese Entwicklung im Berichtsjahr. Der Partei gehörten weiterhin etwa 450 Mitglieder an, für die Zukunft ist eher mit einem Rückgang zu rechnen. Die hessische Entwicklung liegt dabei im Bundestrend. Die NPD verlor im Berichtszeitraum bundesweit etwa 200 Mitglieder und lag bei (2007: rund 7.200). Diese Abnahme ist auf eine Reihe von Austritten zurückzuführen. Ursache hierfür war zum einen die Unzufriedenheit eines Teils der Basis mit der unzulänglichen Aufarbeitung der schlechten finanziellen Situation. Zum anderen wurde in einzelnen Kreisverbänden Kritik an einer vermeintlichen Verbürgerlichung und Verbonzung der NPD laut. Eine Reihe von diesen Kritikern verließ die Partei anschließend. Geringe Außenwirkung Der in den vergangenen Jahren noch von Wöll forcierte Ausbau der Kreisverbandsstrukturen in Hessen konnte im Berichtsjahr nicht erfolgreich weitergeführt werden. Vielmehr ließ sich ein Rückgang der Aktivitäten in den Regionen beobachten. In einigen Kreisverbänden wurde zwar versucht, über die vermehrte Durchführung von Infoständen Präsenz zu zeigen, so zum Beispiel im Wetteraukreis oder im Kreis Waldeck- Frankenberg. Allerdings entfalteten diese Aktivitäten für Hessen insgesamt nur eine geringe Außenwirkung und waren wenig geeignet, der Partei Anhänger zuzuführen. 3 Vgl. Kapitel zur Landtagswahl, S. 108 ff. 86 RECHTSEXTREMISMUS

88 Ein Zeichen für die geringe Resonanz, welche die hessische NPD erfuhr, war auch ihr Abschneiden bei kommunalen Direktwahlen. Exemplarisch sei auf die Bürgermeisterwahl in Wölfersheim (Wetteraukreis) verwiesen. Für die NPD trat der stellvertretende Landesvorsitzende und Landesgeschäftsführer Daniel Lachmann an. Das von ihm erzielte Ergebnis von 78 Stimmen (1,75%) stellte einen erheblichen Rückschritt für die Partei dar. Wölfersheim konnte über viele Jahre als eine ihrer Hochburgen angesehen werden. Bei der Kommunalwahl 2006 hatte sie in dieser Gemeinde noch einen Anteil von 10,4 Prozent der Stimmen erreichen können (2001: 12,1%, 1997: 22,7%). Der deutliche Rückgang zeigt, dass die NPD erhebliche Schwierigkeiten bei der Wählermobilisierung hat. Ein weiteres Zeichen für die Schwierigkeiten der hessischen NPD war die geringe Handlungsfähigkeit des Landesverbandes der Jungen Nationaldemokraten (JN). Im Frühjahr 2007 hatte der bis dahin amtierende Landesvorsitzende der JN sein Amt niedergelegt. Anschließend trat er aus NPD sowie JN aus und distanzierte sich öffentlich vom Rechtsextremismus. Seitdem waren die JN in Hessen nicht mehr handlungsfähig. Bemühungen um eine Neustrukturierung bestehen zwar, haben aber im Berichtsjahr keinen Erfolg gehabt. Nur bei der rechtsextremistischen Demonstration am 11. Oktober (s. S. 94) zeigten sich die hessischen JN mit einem Transparent. Wegzug von Führungsaktivisten Als eine wesentliche Ursache für die Schwächung der NPD kann der Wegzug führender Aktivisten angesehen werden. Hierbei ist an erster Stelle der ehemalige Landesvorsitzende Marcel Wöll zu nennen. Wöll kandidierte auf dem Landesparteitag der hessischen NPD im April nicht mehr für ein Amt. Im Sommer verlegte er seinen Wohnsitz nach Sachsen-Anhalt. Wöll war fast zwei Jahre lang Vorsitzender der hessischen NPD und hat das Profil der Partei in dieser Zeit maßgeblich geprägt. Rückzug des Landesvorsitzenden Wöll Insbesondere für die Einbindung von Neonazis in NPD-Strukturen spielte Wöll eine zentrale Rolle. Durch das Ansehen, welches er in Kameradschaftskreisen genoss, gelang es ihm, der Partei ein erhebliches zusätzliches Personenpotenzial zuzuführen. Wöll wirkte als Bindeglied zwischen Neonazis und NPD. Er gab der Partei eine stärker aktionistische Ausrichtung, was sich in einer zunehmenden Zahl von Demonstrationen und Mahnwachen niederschlug. Diese wurden nicht mehr primär von Neonazis organisiert und durchgeführt, sondern von der NPD. Unter deren Dach fanden sich viele Kameradschaftsaktivisten zusammen, die zuvor eigenständig agiert hatten. Mit dem Amtsverzicht und Weggang von Wöll hat die NPD ihre Integrationskraft gegenüber der Neonaziszene zumindest in Teilen eingebüßt. Sein Nachfolger als Landesvorsitzender, Jörg Krebs, verfügt über keine vergleichbare Verwurzelung in der Szene, seine Bindungs- und Mobilisierungsfähigkeit ist deutlich geringer. Nachlassende Bindungskraft gegenüber der Neonaziszene Darüber hinaus hatte die NPD den Abgang weiterer Führungskader zu verzeichnen. So verließen Doris und Alfred Zutt, langjährige Funktionäre und Mandatsträger aus dem Lahn-Dill-Kreis, Hessen, um sich in Mecklenburg-Vorpommern niederzulassen. Beide hatten die NPD über viele Jahre in Kommunalparlamenten vertreten (Kreistag des Lahn-Dill-Kreises, Gemeindevertretung Ehringshausen) und maßgeblichen Anteil an RECHTSEXTREMISMUS 87

89 den Aktivitäten des Kreis- sowie Landesverbandes. Die Eheleute genossen in rechtsextremistischen Kreisen Ansehen, vermochten als Identifikationsfiguren zu wirken und verfügten über einen gewissen Bekanntheitsgrad. Nach ihrem Wegzug ist ein deutliches Nachlassen der Aktivitäten im NPD-Kreisverband Lahn-Dill zu beobachten. Neonazis: Neustrukturierung der Szene Anhänger / Mitglieder: In Hessen etwa 300, bundesweit etwa Schwerpunkte: Kameradschaftsstrukturen in Südhessen; informelle Zusammenschlüsse in Nord- und Mittelhessen Organisationsformen Neonazis im Überblick: Organisation und Ideologie Die Neonaziszene weist unterschiedliche Strukturen und Organisationsgrade auf. Neben einigen noch immer bestehenden neonazistischen Vereinen sind dabei Kameradschaftsstrukturen sowie unter dem Begriff Freie Kräfte zusammengefasste Strukturen prägend. Vereine waren in den 1980er und frühen 1990er Jahren die typische Organisationsform im Neonazismus. Diese Gruppierungen waren zumeist sehr formal und hierarchisch strukturiert. Die Mehrzahl dieser Vereine wurde bis Mitte der 1990er Jahre verboten. Beispiele hierfür sind die Aktionsfront Nationaler Sozialisten Nationale Aktivisten (ANS NA, 1983 verboten), die Nationalistische Front (NF, 1992 verboten) oder die Wiking-Jugend (WJ, 1994 verboten). Zu diesen klassischen neonazistischen Vereinen sind auch die jüngst verbotene Heimattreue Deutsche Jugend (HDJ, s. S. 104) sowie die Hilfsorganisation für Nationale Politische Gefangene und deren Angehörige (HNG, s. S. 93) zu zählen. Neonazis Vereine Kameradschaften Freie Kräfte Abnehmender Organisationsgrad Das Konzept der Freien Kräfte ist eine Reaktion der rechtsextremistischen Szene auf staatliche Maßnahmen. Entwickelt wurde es in der Folge der Verbote Anfang der 1990er Jahre. Es umschreibt lose Organisationsformen, die in bewusster Abgrenzung zum Modell fester, in der Regel bundesweit auftretender neonazistischer Vereine stehen. Damit wollen Neonazis den Sicherheitsbehörden eine Zuordnung von Aktivitäten zu 88 RECHTSEXTREMISMUS

90 konkreten Gruppierungen erschweren. Vereine, die sich fest und formal organisieren, über Statuten, eine Kasse und Mitgliederlisten verfügen, können leicht verboten werden. Freie Kräfte, die anlassbezogen auftreten und vorrangig regional agieren, sind hingegen mit den Mitteln des Verbots weniger gut zu greifen und schwerer zu beobachten. Konzept Freie Kräfte Die neonazistischen Freien Kräfte treten in verschiedenen Erscheinungsformen auf. Ein Teil von ihnen ist netzwerkartig organisiert und weist eine hohe Professionalität auf. Derartige Zusammenschlüsse lassen sich am besten als Aktionsgruppen charakterisieren. Deutlich unverbindlicher und weniger stark politisiert sind demgegenüber informelle Zusammenschlüsse, bei denen es sich eher um Jugendcliquen handelt. Ihre Angehörigen verbindet in erster Linie das Interesse an gemeinsamen Freizeitaktivitäten. Diese informellen neonazistischen Zusammenschlüsse werden häufig durch Personen getragen, die sich auf der Grundlage persönlicher Bekanntschaften und gleich gelagerter Orientierungen bei der eigenen Lebensgestaltung zusammenfinden. Eine Mischform zwischen dem Organisationstyp Verein und dem der Freien Kräfte sind die sogenannten Kameradschaften. Das Kameradschaftsmodell ist zeitgleich zum Konzept der Freien Kräfte entstanden, weist aber stärker formale Elemente auf. Kameradschaften sind hierarchisch aufgebaut, haben meist einen autoritär agierenden Kameradschaftsführer und halten regelmäßige Treffen ab. Sie agieren auf lokaler oder regionaler Ebene. Einige Kameradschaften geben sich Namen, die sie nach außen erkennbar machen und eine gemeinsame Identität schaffen. In einigen Fällen existieren eine Kameradschaftskasse, eine Mitgliederliste, regelmäßig erhobene Mitgliedsbeiträge und eine der Wiedererkennung dienende Symbolik. Modell Kameradschaft Die überregionale Koordinierung neonazistischer Bestrebungen erfolgt über das In ternet oder durch sogenannte Aktionsbüros, wie etwa das Aktionsbüro Rhein- Neckar. Die ideologische Grundlage des Neonazismus bildet der historische Nationalsozialismus. Die Bezugnahme auf diesen erfolgt allerdings in unterschiedlicher Weise. In Teilen der Szene werden Politik und Positionen Adolf Hitlers idealisiert, in anderen wird eine davon abweichende Interpretation der nationalsozialistischen Ideologie vertreten. Alle Neonazis wenden sich offen und entschieden gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung. An ihre Stelle wollen sie einen autoritären Führerstaat sowie eine ethnisch homogene Volksgemeinschaft setzen. Neonazistische Ideologie Autonome Nationalisten Eine Sonderform im Neonazismus stellen die Autonomen Nationalisten (AN) dar. Bei den AN handelt es sich um eine Strömung innerhalb des Neonazismus. Sie unterscheiden sich von anderen Neonazis vor allem durch ihre Aktionsformen und das Erscheinungsbild. Hierbei ist eine Orientierung an linksextremistischen Autonomen und der Demonstrationstaktik des sogenannten Schwarzen Blocks zu beobachten. Die AN kleiden sich moderner als herkömmliche Neonazis, vermummen sich häufig auf Demonstrationen, übernehmen linke Symbole sowie Slogans für ihre Außendar- RECHTSEXTREMISMUS 89

91 stellung, verwenden auf ihren Transparenten Anglizismen und zeigen eine hohe Bereitschaft zur Militanz. Die Gewaltausübung gegen den politischen Gegner (linksextremistische und nichtextremistische Antifa-Gruppen) und die Polizei wird ausdrücklich bejaht. AN treten schwerpunktmäßig in Berlin und den Ballungszentren Nordrhein- Westfalens auf. In Hessen bestehen bislang keine fassbaren Strukturen der AN, allenfalls Einzelpersonen oder einzelne kleine Gruppierungen orientieren sich an deren Stil. Stärkere Eigenständigkeit der Neonaziszene Die Abschwächung der NPD-Aktivitäten ging mit einem Erstarken der Neonaziszene einher. Beide Entwicklungen bedingen einander. So war zu beobachten, dass sich ein Teil der Neonazis, die im Verlauf der letzten Jahre in die NPD eingetreten waren, wieder stärker in Kameradschaftsstrukturen engagierte. Sie traten dazu nicht aus der Partei aus, verlagerten aber ihre Aktivitäten in Zusammenhänge, die von der NPD unabhängig sind. Lockerung der Bindung an die NPD Nach dem schwachen Abschneiden der NPD bei der Landtagswahl 2008 und dem Rückzug von Wöll wandten sich viele Neonazis wieder von der Partei ab. Ihre Hinwendung war unter dem Vorzeichen einer Neuausrichtung des hessischen Landesverbandes der Partei erfolgt. Die alte NPD war für sie nicht attraktiv. Erst durch die stärkere Betonung des Kampfes um die Straße 4, die seit Ende der 1990er Jahre bundesweit von der NPD vorangetrieben wurde, begann die Partei eine Anziehungskraft auf Neonazis zu entwickeln. In Hessen war diese Entwicklung maßgeblich von Wöll forciert worden. Personen aus der Neonaziszene traten seit 2006 vermehrt in die NPD ein und engagierten sich in ihr. So organisierten sich ganze Kameradschaftsgefüge in NPD-Kreisverbänden. Nach dem enttäuschenden Ergebnis der Landtagswahl 2008 wurde der parteipolitische Weg von vielen Neonazis wohl als gescheitert angesehen. Sie sahen und sehen keine Perspektive mehr für eine aus ihrer Sicht sinnvolle Betätigung innerhalb der NPD. Das gilt insbesondere vor dem Hintergrund des Führungswechsels in der Partei. Der neue NPD-Landesvorsitzende Jörg Krebs ist nicht wie sein Vorgänger in der Neonaziszene verwurzelt, seine Bindungs- und Mobilisierungsfähigkeit in diesem Bereich ist deutlich geringer. Dementsprechend begann für die Neonaziszene seit dem Rückzug Wölls eine Phase der Neuorientierung. Sie versuchte, sich neu zu strukturieren und grenzte sich stärker von der NPD ab. Das galt insbesondere in Südhessen, wo ein Trend zur Neugründung von Kameradschaften zu beobachten war. Neubildung von Kameradschaften Neubildung von Kameradschaften in Südhessen Die Neonaziszene in Südhessen versuchte, sich zu reorganisieren und neu auszurichten. Bis zur Landtagswahl 2008 lag ihr Aktionsschwerpunkt noch auf der NPD-Parteiarbeit. Danach hat sich dies jedoch deutlich verändert. Ein sichtbares Zeichen der stärkeren Eigenständigkeit war die Bildung neuer Gruppierungen. Besonders auffällig verhielt 4 Der Kampf um die Straße ist ein Teil des strategischen Konzepts der NPD. Hierbei geht es ihr darum, Präsenz in der Öffentlichkeit zu zeigen (z. B. durch Kundgebungen). Andere Elemente der NPD-Strategie sind der Kampf um die Köpfe, der Kampf um die Parlamente und der Kampf um den organisierten Willen. 90 RECHTSEXTREMISMUS

92 sich die Kameradschaft Darmstadt. Sie nahm seit dem Frühjahr an rechtsextremistischen Aufmärschen teil und klebte oder verteilte regelmäßig Flugblätter im Raum Südhessen. Die verwendeten Slogans lauteten beispielsweise: Kriminelle Ausländer ausweisen, Revolution ist machbar, Herr Nachbar, Heimattreue Bewegung System BRD abschaffen oder Mindestlohn statt Abzocke. Kameradschaft Darmstadt Die Kameradschaft Darmstadt trat erstmals am 1. Mai anlässlich einer Doppeldemonstration in Kaiserslautern und Neustadt Weinstraße (Rheinland-Pfalz) in Erscheinung. Die neonazistische Ausrichtung der Gruppierung zeigt sich auf ihrer Homepage. Dort heißt es beispielsweise: Neonazi sein heißt: Ein System abzulehnen, daß seit über 50 Jahren Politik gegen uns Deutsche macht. Es heißt aber auch: Eigenständig politische Alternativen zu entwickeln, mit denen wir Deutsche unsere Zukunft frei und ohne fremde Einflüsse gestalten können. (Fehler im Original) Zu den Forderungen der Kameradschaft zählen u. a.: Systemparteien auflösen!, Schaffung einer Volksgemeinschaft, Verausländerung stoppen! Mit den Forderungen nach Auflösung der Parteien und Schaffung einer Volksgemeinschaft zeigt die Kameradschaft Darmstadt offen ihre Agitation gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung. Sie zielt auf die Bekämpfung des Parlamentarismus, des Mehrparteienprinzips und des Rechts auf Opposition. Die fremdenfeindliche Ausrichtung macht deutlich, dass elementare Prinzipien der Verfassung, wie der Gleichheitsgrundsatz, abgelehnt werden. Verfassungsfeindliche Ausrichtung Am rechtsextremistischen Aufmarsch vom 11. Oktober in Wetzlar (Lahn-Dill-Kreis) präsentierten Angehörige der Kameradschaft Schilder mit der Aufschrift Finger weg Von unseren Kindern! (s. S. 94) Die Kameradschaft Darmstadt behielt ihre aktionistische Ausrichtung auch Anfang 2009 bei. So brachte sie ihre Aufkleber weiterhin in Umlauf. Ferner beteiligte sie sich am sogenannten Trauermarsch der rechtsextremistischen Szene am 14. Februar 2009 in Dresden. Rechtsextremistischer Trauermarsch in Dresden Seit Mitte der 1990er Jahre findet in Dresden alljährlich ein sogenannter Trauermarsch der rechtsextremistischen Szene anlässlich der Bombardierung Dresdens im Zweiten Weltkrieg statt. Der Aufmarsch wird von der Jungen Landsmannschaft Ostdeutschland (JLO früher: Junge Landsmannschaft Ostpreußen) organisiert und hat sich in den letzten Jahren zu einem der größten rechtsextremistischen Aufzüge in Deutschland entwickelt nahmen etwa rechtsextremistische Demonstranten aus dem gesamten Bundesgebiet sowie dem europäischen Ausland teil. Die Kameradschaft Darmstadt beteiligte sich an dem Aufmarsch am 14. Februar 2009 unter Verwendung eines Transparents mit der Aufschrift: Wir gedenken den Opfern des alliierten Bombenterrors. Kameradschaft Darmstadt. RECHTSEXTREMISMUS 91

93 Vereinzelt zeigten Angehörige der Kameradschaft Darmstadt Ansätze für Aktivitäten, die auf eine Konfrontation mit dem politischen Gegner gerichtet waren, wodurch ein grundsätzliches Gewaltpotenzial erkennbar wurde. (s. S , hier S. 98) Weiße Rebellen Im Frühjahr des Berichtsjahres tauchte neben der Kameradschaft Darmstadt im Internet eine Gruppe namens Weiße Rebellen auf. Diese, in dieser Form inzwischen nicht mehr aktive Gruppierung, stellte sich wie folgt vor: Wir sind die Weissen-Rebellen Süd-Hessen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben etwas gegen die gegenwärtigen Zustände in diesem Staat zu tun! Wir gehören keiner Partei an und agieren daher völlig Frei nach unserem Gewissen. (Fehler im Original) Die Neonazis haben sich in nahezu ganz Südhessen neu aufgestellt. Bemerkenswert ist, dass dort Strukturen erkennbar werden. Dazu gehören beispielsweise ein Kameradschaftsführer, Regelmäßigkeit der Treffen oder Mitgliedsbeiträge. Neben den bereits erwähnten Gruppierungen bildeten sich u. a. auch Zusammenschlüsse im Landkreis Bergstraße sowie im Raum Groß-Gerau. Hierbei konnte eine enge Verzahnung mit der Neonaziszene in den angrenzenden Bundesländern festgestellt werden. Vernetzung der Neonaziszene Länderübergreifende Vernetzung der südhessischen Neonazis Die Neonazis in Südhessen verfügen über enge Kontakte nach Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg. Beispielsweise beteiligten sich hessische Rechtsextremisten am 1. Mai in Rheinland-Pfalz an der Doppeldemonstration in Kaiserslautern (Motto: Arbeit und soziale Gerechtigkeit für alle Deutschen! Gemeinsam gegen Globalisierung ) und Neustadt an der Weinstraße (Motto: Arbeit und soziale Gerechtigkeit für alle Deutschen! Ausbeutung und Überfremdung stoppen ). Die Aufmärsche wurden durch führende Neonazis aus Rheinland-Pfalz und Hessen angemeldet. Bei der Veranstaltung in Kaiserslautern präsentierte die oben erwähnte neu gegründete Kameradschaft Darmstadt ein Banner mit dem Verweis auf ihre Homepage und dem Spruch: Heraus auf die Strasse Soziale Missstände stoppen. Weitere hessische Rechtsextremisten beteiligten sich an der Kundgebung, zum Teil mit Transparenten und Fahnen. Im Internet wurde die Doppeldemonstration von den Veranstaltern als Erfolg gewertet: [Es ist] uns gelungen eine große Resonanz in der Bevölkerung und den Meiden [Medien] zu erreichen. Auch konnte ein deutliches Zeichen zur Bündelung [der] nationalen Kräfte gesetzt werden! (Fehler im Original) Aktionsbüro Rhein-Neckar Ein Teil der Koordinierung neonazistischer Aktivitäten im Dreiländereck Baden-Württemberg Hessen Rheinland-Pfalz erfolgt über das Aktionsbüro Rhein-Neckar. Es wurde nach eigenen Angaben im August 2003 gegründet und dient als regionale Anlaufstelle für Neonazis und sonstige Rechtsextremisten. Über seine Homepage werden Demonstrationstermine bekannt gegeben und Ereignisse sowie Nachrichten aus rechtsextremistischer Sicht kommentiert. In erster Linie dient das Aktionsbüro dem Informationsaustausch und der Kooperation zwischen Rechtsextremisten in der Region. 92 RECHTSEXTREMISMUS

94 Etablierte neonazistische Gruppierungen verlieren an Bedeutung Die Umstrukturierung der Neonaziszene zeigte sich nicht nur im Aufbau neuer oder der Reaktivierung bereits vorhandener Kameradschaftsstrukturen. Gleichzeitig verlieren traditionelle neonazistische Zusammenschlüsse an Bedeutung. In Hessen ist das beispielsweise die Deutsche Bürgerinitiative (DBI). Die von Manfred Roeder geleitete Gruppierung hat in den letzten Jahren kontinuierlich an Bedeutung verloren. Seine Sonnwendfeiern und ähnliche Veranstaltungen hatten nur noch geringen Zulauf. Deutsche Bürgerinitiative Ebenfalls ohne neue Impulse verlief die Entwicklung der Hilfsorganisation für Nationale Politische Gefangene und deren Angehörige (HNG). Die bundesweite Gruppierung hat ihren Sitz zwar in Frankfurt am Main, entfaltete in Hessen aber kaum Aktivitäten. Im Berichtsjahr gehörten ihr in Hessen etwa 60 Personen an (bundesweit: etwa 600 Personen). Die HNG versteht sich als organisations- und lagerübergreifendes Sammelbecken. Als ihre Hauptaufgabe definiert sie die Betreuung inhaftierter Rechtsextremisten. Ihr Tätigkeitsschwerpunkt bleibt die Herausgabe der monatlich erscheinenden Nachrichten der HNG. Die Zahl der Teilnehmer an der Jahreshauptversammlung geht seit Jahren kontinuierlich zurück. HNG Im Juli erklärte der Kampfbund Deutscher Sozialisten (KDS) seine Selbstauflösung. Ziel dieser im Mai 1999 unter hessischer Beteiligung gegründeten Gruppierung war die Annäherung rechter und linker Sozialisten sowie deren Bündelung in einer Querfront. Der KDS verstand sich als nationalrevolutionäres Forum und strebte die Errichtung eines deutschen Sozialismus an. Mit der Selbstauflösung gestand die Gruppierung die Erfolglosigkeit ihrer Bemühungen ein. Unter der Überschrift KDS Ein Experiment wird eingestellt wurde im Internet festgestellt: Allen Beteiligten ist die Bilanz nach diesen zehn Jahren zu dürftig und vor allem scheinen die Erfolgsaussichten zu gering, um die weitere Investition von Zeit, Kraft, Arbeit und Geld zu rechtfertigen. Sein Ziel eine richtungsweisende Querfrontstrategie nicht nur zu betreiben, sondern auch als Erfolgsmodell populär zu machen, konnte der KDS ebensowenig erreichen, wie das Entfalten einer Sogwirkung auf bewährte Unterführer und Aktivisten des Nationalen Widerstandes. (Fehler im Original) Auflösung des KDS Zuvor hatte im Januar ein hessischer KDS-Funktionär die Organisationsleitung der Bundesgeschäftsstelle übernommen. Er fungierte dabei u. a. als Ansprechpartner für Mitglieder und Interessenten. Die Auflösung des KDS und die zurückgehende Bedeutung traditioneller rechtsextremistischer Gruppierungen deuten auf eine Abwendung neonazistischer Aktivisten von herkömmlichen Organisationsformen hin. Das bedeutet aber keineswegs, dass sich diese Personen nicht mehr betätigen. Auch der KDS hatte in seiner Auflösungserklärung im Internet angekündigt: Wird eine Waffe in der politischen Auseinandersetzung stumpf, dann muß eben eine neue geschmiedet werden. Und so wird auch das Ende des KDS gleichzeitig der Anfang neuer Projekte und der Aufbruch zu effektiverem Handeln sein. RECHTSEXTREMISMUS 93

95 Eine der Optionen, die für hessische Neonazis hierbei an Bedeutung gewinnt, ist die Hinwendung zu eher anlassbezogenen Aktivitäten. Feste Strukturen verlieren, insbesondere in Zeiten von Verbotsmaßnahmen, an Attraktivität, das Modell Freier Kräfte wird populärer. Hinwendung zu anlassbezogenen Aktivitäten Fehlende organisatorische Kontinuität und lose Personenzusammenhänge Der hessischen Neonaziszene gehörten etwa 300 Personen an (bundesweit 4.800). Ein regionaler Schwerpunkt liegt nach wie vor in Südhessen, wo die Szene auch auf Grund der Reorganisation von Kameradschaftsstrukturen Neuzugänge zu verzeichnen hatte. Allerdings ist das Personenpotenzial auch in Nord- und Mittelhessen leicht angewachsen. Dort sind vermehrt lose Zusammenschlüsse von Neonazis zu beobachten. Personelle, aber keine organisatorische Kontinuität Über alle Regionen hinweg fehlt der hessischen Neonaziszene organisatorische Kontinuität. Über Jahre fortbestehende Kameradschaftsstrukturen sind nicht erkennbar. Relevante Gruppierungen der vergangenen Jahre wie beispielsweise die Freien Nationalisten Rhein-Main sind mittlerweile inaktiv. Die handelnden Personen sind demgegenüber häufig die gleichen. Zwar sind auch einzelne Führungsfiguren weggebrochen. Ein Großteil der Aktivisten verbleibt jedoch in der Szene, freilich in unterschiedlichen Zusammenhängen. Besonders kennzeichnend für Nordhessen sind eher lose Personenzusammenschlüsse. Dort existieren keine auf Dauer angelegten Kameradschaften. Aktivitäten gingen im Berichtszeitraum primär von Einzelaktivisten aus. Ihnen gelang es nur ansatzweise, einen festen Personenkreis um sich zu scharen. Eine Mobilisierung erfolgt zumeist anlassbezogen und in wechselnder personeller Zusammensetzung. Demonstration in Wetzlar am Mobilisierung zu Demonstrationen Die größte rechtsextremistische Demonstration in Hessen, der Aufmarsch am 11. Oktober in Wetzlar (Lahn-Dill-Kreis), belegt mehrere der dargestellten Trends. Sie zeigt die Lösung der Neonaziszene von der NPD sowie das anlassbezogen hohe Mobilisierungspotenzial. Angemeldet wurde die Demonstration durch eine Initiatorin der Gruppierung Ersthelfer, welche bundesweit auf rechtsextremistischen Veranstaltungen Sanitätsdienst versieht. Unter dem Motto Es passiert auch vor deiner Tür Gegen Kinderschänder demonstrierten etwa 300 Rechtsextremisten, vornehmlich Neonazis, aus ganz Hessen sowie den umliegenden Bundesländern. Es gab auch Teilnehmer aus der NPD. Die Partei unterstützte die Veranstaltung nach eigenen Angaben. An der Gegendemonstration beteiligten sich rund 500 Personen, darunter etwa 120 Linksextremisten (s. S. 136). Beide Veranstaltungen verliefen weitgehend störungsfrei. Bemerkenswert war, dass nicht die NPD, sondern parteifreie Aktivisten die Demonstration anmeldeten. Unter dem NPD-Landesvorsitzenden Marcel Wöll verhielt es sich in Hessen genau umgekehrt. Demonstrationen wurden vorrangig unter dem Dach der 94 RECHTSEXTREMISMUS

96 Partei angemeldet und durchgeführt. Die Veranstaltung in Wetzlar steht also für eine Emanzipierung der hessischen Neonaziszene von der NPD. Darüber hinaus fiel die für hessische Verhältnisse recht hohe Teilnehmerzahl auf. Seit Juli war auf vielen rechtsextremistischen Internet-Präsenzen und in Foren für die Veranstal tung stark geworben worden (s. S. 146). Auf Grund der Tatsache, dass die Demon - stra tion nicht von der NPD angemeldet wurde, konnten auch jene Freien Kräfte mobilisiert werden, die sich von der Partei abgewendet haben bzw. ihr von vornherein kritisch gegenüberstanden. Mit dem Motto Gegen Kinderschänder widmete sich die Veranstaltung einem emotionalen Reizthema, das eine starke Mobilisierung ermöglichte. Auch bezüglich der Teilnehmerzahl ist der vergleichende Blick auf die Entwicklung bei der NPD aufschlussreich. Diese konnte zur einzigen nach der Landtagswahl 2008 durchgeführten Demonstration (s. S. 85f.) nur 150 Teilnehmer und damit wesentlich weniger als die Freien Kräfte in Wetzlar mobilisieren. Es wird zu beobachten sein, ob diese Entwicklung anhält und NPD-Veranstaltungen in Hessen auch zukünftig eine geringere Attraktivität als solche parteifreier Neonazis haben. Anlassbezogene Aktivitäten Aktivitäten der Neonaziszene waren über das Demonstrationsgeschehen hinaus vor allem anlassbezogen feststellbar. Eine Gelegenheit hierzu bietet den Rechtsextremisten der Todestag von Rudolf Heß (17. August), dem Stellvertreter Adolf Hitlers in der NSDAP-Hierarchie. Auch in Hessen kam es im Umfeld dieses Datums zu spontanen Aktionen. Rudolf-Heß-Gedenken : Alljährlich führt die rechtsextremistische Szene anlässlich des Todestages des Hitler- Stellvertreters Rudolf Heß am 17. August Gedenkveranstaltungen durch. Gedenken und sonstige öffentlichkeitswirksame Aktionen finden in zeitlicher Nähe des Todestages statt. Ein wichtiges Ziel der Rechtsextremisten ist die Durchführung einer zentralen Veranstaltung in der Nähe der Grabstätte von Heß in Wunsiedel (Bayern). Wie in den Vorjahren wurde eine solche, für den 16. August angemeldete Veranstaltung, vom zuständigen Landratsamt verboten. Dieses Verbot wurde letztinstanzlich durch das Bundesverfassungsgericht bestätigt. Rudolf-Heß-Gedenken Auf Grund des Verbots für Wunsiedel herrschte Verunsicherung in der rechtsextremistischen Szene. In der Folge fand nur eine zurückhaltende Mobilisierung statt und es wurden nur kleinere, dezentrale Gedenkveranstaltungen durchgeführt. Das konsequente staatliche Vorgehen hat mittlerweile dazu geführt, dass die alljährlichen Heß-Gedenkveranstaltungen ihren Charakter als Jahreshöhepunkt für viele Rechtsextremisten eingebüßt haben. Diese Entwicklung könnte sich in Zukunft fortsetzen. Zu den in Hessen durchgeführten Spontanaktionen gehörte ein Aufzug von etwa 30 Personen am 16. August in Hanau (Main-Kinzig-Kreis). Die Rechtsextremisten führten RECHTSEXTREMISMUS 95

97 Plakate mit dem Konterfei von Heß sowie ein Transparent mit sich. Der Aufmarsch wurde von der Polizei aufgelöst. Am 17. August kletterten Rechtsextremisten während des Festumzugs anlässlich der Kerb in Zwingenberg (Kreis Bergstraße) auf einen Motivwagen und verteilten Handzettel mit der Aufschrift Märtyrer des Friedens! Rudolf Heß. In verschiedenen Teilen Hessens tauchten darüber hinaus Plakate sowie Farbschmierereien mit einem Bezug zum Todestag von Heß auf. Hessische Rechtsextremisten beteiligten sich ferner an Aktionen in angrenzenden Bundesländern. Freie Kräfte Schwalm-Eder (FKSE) Gewaltanwendung und Rechts-Links-Konfrontation Freie Kräfte Schwalm-Eder Die Personen, welche unter der Bezeichnung Freie Kräfte Schwalm Eder (FKSE) auftreten, sind ein typisches Beispiel für die bereits angesprochenen eher losen und informellen Zusammenschlüsse von Neonazis. Diese waren insbesondere in Nord- und Mittelhessen anzutreffen. Den FKSE können im Berichtszeitraum etwa 30 Personen zugerechnet werden. Die Gruppierung fällt durch aggressives und gewaltbereites Vorgehen gegen politische Gegner auf. Sie ist in wechselnder Zusammensetzung mobilisierbar, wobei keine Anzeichen für eine strukturierte Organisation erkennbar sind. Bei ihrem Auftreten orientieren sich die FKSE an der Strömung der Autonomen Nationalisten (AN, s. S. 89). Anhaltspunkte für diese Nähe zu den AN fanden sich u. a. im früheren Internetauftritt der Gruppe und in der Aufmachung der von ihr verwendeten Aufkleber. So wurden auf der Homepage der FKSE diverse Stilelemente der linksextremistischen Autonomen verwendet. Bereits auf der Startseite waren mit Palästinensertuch vermummte Personen abgebildet. Bei den FKSE blieb es allerdings bei einer rein äußerlichen Orientierung an bestimmten Stilelementen dieses Spektrums und der Übernahme einzelner Versatzstücke sozialrevolutionärer Ideen. Eine geschlossene rechtsextremistische Ideologie oder ein durchdachtes Handlungskonzept wies die Gruppierung zu keinem Zeitpunkt auf. Die Agitation der FKSE richtet sich eindeutig gegen das politische System der Bundesrepublik Deutschland und die freiheitliche demokratische Grundordnung. So heißt es in einem von der Gruppierung verbreiteten Flugblatt: Die Freien Kräfte Schwalm-Eder versteht sich als eine Gruppierung von Nationalisten, die sich mit dem herrschenden System nicht zufrieden geben und dem entarteten System eine radikale und revolutionäre Alternative entgegen stellen. (Fehler im Original) Aktivitäten der FKSE Der Name FKSE fand bereits in der Vergangenheit Verwendung. So wurde bei einer Veranstaltung von Rechtsextremisten im Schwalm-Eder-Kreis im Jahre 2005 ein Transparent mit dieser Aufschrift beobachtet. 5 Eine dahinter stehende aktive Gruppierung konnte aber nicht festgestellt werden. Erst seit dem Frühjahr des Berichtsjahres traten die FKSE dann in Erscheinung. Es kam insbesondere zu Farbschmierereien und Aufkleber-Aktionen. Zudem gab es eine Homepage der Gruppe, über die rechtsextremistische Inhalte verbreitet wurden. Links bestanden zu rechtsextremistischen Seiten wie der des Aktions- 5 Verfassungsschutzbericht Hessen 2005, S. 86f. 96 RECHTSEXTREMISMUS

98 büros Rhein-Neckar. Im Gästebuch der Homepage kam es seit Beginn des Jahres immer wieder zu heftigen verbalen Auseinandersetzungen, zum Teil auch Gewaltandrohungen, zwischen Rechtsextremisten und Antifaschisten. Diese Konflikte blieben nicht im virtuellen Raum. Zum Handlungsrepertoire der FKSE gehören durchaus konkrete Attacken gegen den politischen Gegner. Hierzu zählen beispielsweise Belästigungen, verbale Angriffe und tätliche Übergriffe auf Personen, die als Feinde gesehen werden. Die FKSE suchen stärker als andere rechtsextremistische Gruppierungen in Hessen den Konflikt mit diesen Gegnern. Bei entsprechenden Konfrontationen kommt es in Einzelfällen situativ zu offenen, gewalttätigen Aktionen. Dies macht die besondere Gefährlichkeit aus, die von den FKSE ausgeht. Gewaltpotenzial der FKSE So bewarfen Angehörige der FKSE ihre Gegner im Juni in Frielendorf-Todenhausen (Schwalm-Eder-Kreis) mit Steinen und schlugen sie; dabei wurde auch ein Mobiltelefon entwendet. Überfall am Neuenhainer See Ihren traurigen Höhepunkt fanden die Aktionen in dem gewalttätigen Angriff auf ein Sommercamp der Linksjugend [ solid] am Neuenhainer See (Schwalm-Eder-Kreis). Hierbei überfielen am frühen Morgen des 20. Juli mehrere vermummte, schwarz gekleidete Personen das Zeltlager. Mehrere der Angreifer schlugen zunächst auf dem Parkplatz die Heckscheiben von drei Fahrzeugen ein und entwendeten ein Transparent. Einer der Täter begab sich im Anschluss in das Innere des Camps. Er drang in ein Zelt ein und schlug dort mit einem Klappspaten und einer leeren Bierflasche auf eine 13-jährige Teilnehmerin des Sommercamps und deren 23-jährigen Stiefbruder ein. Das Mädchen wurde dabei erheblich verletzt. Noch im Verlauf des 20. Juli konnten der Haupttäter und die weiteren Beteiligten ermittelt werden. Einige der Angreifer waren dem Umfeld der FKSE zuzurechnen. Überfall am 20. Juli Der Haupttäter ist ein rechtsextremistischer Aktivist aus dem Neonazi- bzw. NPD-Umfeld. Er nahm u. a. an verschiedenen rechtsextremistischen Veranstaltungen und Demonstrationen teil. Zudem fiel er durch eine Reihe von Aktivitäten im Internet auf. Im Sommer 2007 trat er in mehreren Videoclips mit rechtsextremistischen Inhalten auf. Eingestellt wurden diese Videos zum Beispiel über die Internetplattform YouTube und über das rechtsextremistische Portal Volksfront-Medien. 6 Vorausgegangen war dem Überfall eine Konfrontation am Rande einer Linksjugend [ solid]-demonstration in Schwalmstadt am Vortag. Hierbei hatten Anhänger der FKSE vereinzelt Teilnehmer der Kundgebung provoziert und damit einen Zugriff durch die Polizei erzwungen. Den Entschluss zum Überfall auf das Camp scheinen die Täter jedoch spontan nach dem Besuch einer Kirmesveranstaltung gefasst zu haben. Die Tat ist Ausdruck einer zunehmenden Gewaltbereitschaft von Teilen der nordhessischen Neonaziszene. Der Haupttäter wurde am 12. Januar 2009 vom Landgericht Kassel wegen gefährlicher Körperverletzung und Sachbeschädigung zu einer Haftstrafe von zwei Verurteilung des Haupttäters 6 Über diese rechtsextremistische Internetplattform berichtete das LfV Hessen im Verfassungsschutzbericht 2007 auf S RECHTSEXTREMISMUS 97

99 Jahren und drei Monaten ohne Bewährung verurteilt. Gegen die Mitbeschuldigten wurden im Dezember 2008 durch das Amtsgericht Schwalmstadt Geld- und Bewährungsstrafen verhängt. Rechts-Links-Konfrontationen Im Kontext der Tat am Neuenhainer See aber auch darüber hinaus war im Berichtsjahr eine Eskalation von Rechts-Links-Auseinandersetzungen zu beobachten. So häuften sich im Schwalm-Eder-Kreis nach dem Überfall auf das Linksjugend [ solid]-sommercamp Straftaten zum Nachteil regionaler rechtsextremistischer Aktivisten. Hierzu zählen insbesondere Sachbeschädigungen an Kraftfahrzeugen, welche Personen aus dem Umfeld der FKSE gehören. Gegen Ende des Berichtszeitraums haben sich wiederholt Situationen ergeben, die das Potenzial für eine mit erheblicher Gewalt erfolgende Austragung des Konflikts haben. Die Konfliktlage im Schwalm-Eder-Kreis ist allerdings nicht allein auf ideologische Aspekte und solche mit Extremismusbezug zurückzuführen. Vielmehr spielen persönliche Kennverhältnisse eine nicht unerhebliche Rolle. Die Kontrahenten aus den Jugendszenen, die sich an unterschiedlichen politischen Richtungen orientieren, kennen einander zum Teil bereits aus der Schulzeit. Die im Berichtszeitraum zu beobachtenden Konfrontationen beruhten zumindest teilweise auf einer Übertragung rein persönlicher Animositäten auf eine Auseinandersetzung zwischen neonazistischem und linksextremistischem bzw. linkem Spektrum. Konfliktpotenzial im Wetteraukreis Ähnlich wie im Schwalm-Eder-Kreis hat sich auch im Wetteraukreis eine konfrontative Situation entwickelt. Der medienwirksame Ausstieg eines zuvor dort aktiven Neonazis aus der rechtsextremistischen Szene und seine anschließende Betätigung in antifaschistischen Zusammenhängen hatten für erheblichen Konfliktstoff gesorgt. So traten vermehrt wechselseitige Gewaltandrohungen auf. Bei Zusammentreffen von Personen aus dem rechtsextremistischen sowie dem linken Spektrum kam es auch zu zum Teil massiven tätlichen Auseinandersetzungen. Gewaltpotenzial der südhessischen Neonaziszene In jüngster Vergangenheit waren zudem in Südhessen vermehrt gewalttätige Aktionen bzw. Aktionen mit dem Potenzial einer Rechts-Links-Konfrontation zu beobachten. Gerade Angehörige der Kameradschaft Darmstadt waren an Störaktionen bei Veranstaltungen von Initiativen gegen Rechtsextremismus beteiligt. Maßgebliche Aktivisten der Kameradschaft können als gewaltbereit eingeschätzt werden bzw. sind bereits durch entsprechende Straftaten aufgefallen 7. Insgesamt könnten diese Entwicklungen ein Hinweis darauf sein, dass sich die Neonaziszene in Hessen stärker als in der Vergangenheit sogenannten Anti-Antifa - Aktivitäten zuwendet. Allerdings ist die von Rechtsextremisten ausgehende Gewalt zu- 7 Im Anschluss an einen rechtsextremistischen Aufmarsch in Dresden am 14. Februar 2009 (s. S. 91) kam es auf der Raststätte Teufelstal (Thüringen) zu einem gewalttätigen Überfall von Rechtsextremisten auf Gegendemonstranten. Das Zusammentreffen erfolgte zufällig auf der Rückreise. Die Gegendemonstranten wurden von Rechtsextremisten zunächst verbal und im weiteren Verlauf tätlich angegriffen, eine Person wurde schwer verletzt. Die Tat verdeutlicht die hohe Gewaltbereitschaft der neonazistischen Szene. Unter den Insassen des von den Tätern benutzten Reisebusses befanden sich auch Rechtsextremisten aus der südhessischen Neonaziszene. 98 RECHTSEXTREMISMUS

100 meist spontan und ergibt sich situativ. Die Opfer geraten häufig zufällig ins Visier der Täter. Nur in Einzelfällen kommt es zu gezielt provozierten Auseinandersetzungen oder auch geplanten Übergriffen. Dies erschwert zusätzlich die Vorhersehbarkeit solcher Entwicklungen. Anti-Antifa : Der Begriff Anti-Antifa bezeichnet Aktivitäten von Rechtsextremisten, die sich gegen den politischen Gegner richten. Bei diesen Gegnern handelt es sich meistens um Personen, die dem linksextremistischen, aber auch dem nichtextremistischen Spektrum antifaschistischer Gruppen angehören. In den Bereich Anti-Antifa fallen beispielsweise Outing-Aktionen, bei denen die Namen, Anschriften oder andere persönliche Daten von Gegnern der Rechtsextremisten veröffentlicht werden. Dies geschieht vermehrt im Internet. Anti-Antifa Anti-Antifa -Aktivitäten können sich durchaus auch gewalttätig äußern. So werden tatsächliche oder vermeintliche Linke bisweilen Opfer gezielter Gewalt von Rechtsextremisten. Die Methode wurde von der linksextremistischen Antifa übernommen. Weitere wichtige Entwicklungen im Rechtsextremismus Parallel zu den oben dargestellten Haupttendenzen in der Entwicklung des hessischen Rechtsextremismus waren weitere relevante Bestrebungen zu beobachten. Dies gilt vor allem für den Bereich des subkulturellen Rechtsextremismus. Diese Szene wird noch immer maßgeblich durch die Skinheadkultur geprägt. Auch wenn das entsprechende Personenpotenzial in Hessen zurückgeht, stellen Skinheads weiterhin das Gros der gewaltbereiten Rechtsextremisten; auch hier sind aber Wandlungsprozesse festzustellen. Ein weiterer wichtiger Zusammenschluss war die Heimattreue Deutsche Jugend (HDJ, s. S. 104). Sie rückte im Berichtsjahr verstärkt in den Fokus der Öffentlichkeit. Das galt auch für die Verbotsmaßnahmen gegen die rechtsextremistischen Vereine Collegium Humanum und Verein zur Rehabilitierung der wegen Bestreitens des Holocaust Verfolgten. (s. S. 105) Rechtsextremistische Skinheads Anhänger / Mitglieder: In Hessen 650, bundesweit etwa Skinhead-Bands: Hauptkampflinie (HKL), Gegenschlag, Rachezug, Blutschuld / Ahnenerbe, Störmanöver, Nordglanz, Faust, Streitmacht Wetterau Die Skinhead-Bewegung ist eine facettenreiche jugendliche Subkultur, in der sich verschiedene Strömungen und Einflüsse wiederfinden. Ihre Ursprünge liegen im RECHTSEXTREMISMUS 99

101 Ursprünge der Skinhead-Subkultur Arbeitermilieu Großbritanniens Ende der 60er Jahre. Diese Herkunft stellen die Skinheads bewusst heraus. Straßenkämpfe, hoher Alkoholkonsum und die Begeisterung für Fußball waren für die Szene ebenso kennzeichnend wie ein bestimmtes Outfit. Zu diesem zählten Bomberjacke, breite Hosenträger, Springerstiefel und demonstrativ kurz geschorene Haare. Zunächst verstand sich diese jugendliche Subkultur weitgehend als unpolitisch. Im Laufe der Jahre kam es jedoch zu einer Differenzierung. Neben den unpolitischen Skinheads (sogenannte Oi!-Skinheads) finden sich auch antirassistische S.H.A.R.P. (Skinheads Against Racial Prejudice) sowie linksextremistische Redskins. Ein Großteil der Skinheads ist heute allerdings der seit Beginn der 1990er Jahre größer werdenden rechtsextremistischen und gewaltbereiten Szene zuzurechnen. Wenn im Folgenden von Skinheads die Rede ist, sind ausdrücklich nur rechtsextremistische Skinheads gemeint. Die Aussagen einiger Jugendlicher geben Aufschluss darüber, was es für sie bedeutet, Skinhead zu sein: Protest, gegen die Gesellschaft zu demonstrieren. [...] Zusammenhalt, Spaß haben, nationales Bewußtsein haben, Politik zum Kotzen finden, gute Konzerte besuchen, saufen, den Alltag vergessen. [...] Eine Mode, mit der ich zeige, daß ich stolz darauf bin, Arbeiter und Nationalist zu sein. [...] Deutsch sein [...] Durch mein Aussehen und Auftreten zu zeigen, daß es in Deutschland noch Leute gibt, denen es nicht egal ist, ob hierher immer mehr Ausländer kommen; zu zeigen, daß ich mit der Vergangenheitsbewältigung fertig geworden bin und daß ich mein Vaterland, wenn nötig mit Gewalt, immer und überall verteidigen werde. [...] Prellbock sein gegen Ausländer und Rotfrontterror. [...] Den Stolz auf meine Heimat und Rasse zu zeigen. Skinheadtum & Nationaler Sozialismus ist für mich nicht mehr zu trennen. 8 (Fehler im Original) Die Mehrzahl der Skinheads besitzt kein geschlossenes rechtsextremistisches Weltbild, sondern lehnt sich an diffuse rechtsextremistische Vorstellungen an. Rassismus und die Verherrlichung des Nationalsozialismus stehen hierbei im Mittelpunkt. Wichtig für die Szeneangehörigen sind das Treffen im Rahmen ihrer Bezugsgruppe, das gemeinsame Hören ihrer Musik, die Teilnahme an rechtsextremistischen Demonstrationen und der Besuch von Skinhead-Konzerten. Derartige Aktivitäten wirken identitätsstiftend. Besorgniserregend ist die latente Gewaltbereitschaft. Skinheads fühlen sich leicht durch den Feind provoziert, insbesondere wenn sie durch Alkohol aufgeputscht und von Fremdenhass getrieben sind. Personenpotenzial der Skinheads geht zurück Bundesweit waren der Skinheadszene etwa (2007: ) Personen zuzurechnen. In Hessen sank die Zahl der Skinheads auf etwa 650 (2007: 750). Das lag daran, dass sich ein Teil von ihnen in Richtung Neonaziszene orientierte. Darüber hinaus konnte in Hessen im Berichtsjahr erstmals verhindert werden, dass auch nur ein Skinhead-Konzert vollständig stattfand. Damit fehlte ihnen eine Möglichkeit, ihr Skinhead-Dasein auszuleben oder gar eine größere Zahl neuer Anhänger zu gewinnen. 8 Zitiert nach Klaus Farin/Eberhard Seidel-Pielen (1993): Skinheads. München (Verlag C.H. Beck), S RECHTSEXTREMISMUS

102 Skinhead-Konzerte Konzerte bilden den eigentlichen Bezugspunkt der Skinheadszene. Sie stiften Identität, vermitteln ein Gefühl von Stärke und Gemeinschaft und dienen der Kommunikation. Gerade auf Jugendliche üben die konspirativen, oft illegalen und damit nicht alltäglichen Konzerte große Anziehungskraft aus. Die Veranstaltungsräume sind zumeist mit Transparenten und Flaggen der regionalen Skinheadszene, international aktiver Neonazioder Skinhead-Organisationen bzw. Emblemen der auftretenden Bands geschmückt. Oft bieten sogenannte fliegende Händler oder von den Veranstaltern lizenzierte Verkäufer rechtsextremistische Devotionalien wie CDs, T-Shirts oder ähnliches an. In den 1990er Jahren wurde für die meisten Skinhead-Konzerte im Internet sowie mit Flyern geworben. Dies hat sich durch den staatlichen Verfolgungsdruck mittlerweile gravierend verändert. Heute werden Konzerte erheblich konspirativer vorbereitet und durchgeführt. Die Rechtsextremisten bemühen sich um zugleich unverfängliche wie geeignete Räumlichkeiten: Das können beispielsweise Gaststätten im ländlichen Raum mit angeschlossenen Hallen oder leerstehende Fabrikgebäude sein. Die Räumlichkeiten werden meist unter Vorspiegelung falscher Tatsachen von ahnungslosen Eigentümern oder Betreibern angemietet. Geburtstags-, Hochzeits- oder Verlobungsfeiern bzw. Klassentreffen entpuppen sich dann erst im Nachhinein als rechtsextremistische Konzerte. Genaue Kenntnis von Konzerten (Ort, Zeit, auftretende Gruppen usw.) hat im Vorfeld meist nur ein kleiner Kreis von eingeweihten Personen. Diese fungieren dann am eigentlichen Veranstaltungstag als Multiplikatoren für Teilnehmer. Die Anreisenden werden mittels Mobiltelefonen oder Wegskizzen über Anfahrtsrouten sowie Schleusungspunkte zu den eigentlichen Veranstaltungsorten gelotst. Konspirative Vorgehensweise bei der Organisation von Konzerten Die Zahl der in Hessen durchgeführten Skinhead-Konzerte sank seit 2005 kontinuierlich (damals sieben). Konnten die Rechtsextremisten im Jahr 2007 in Hessen noch ein Konzert in vollem Umfang durchführen, so gelang ihnen das im Berichtszeitraum bei keinem einzigen. Dies ist u. a. darauf zurückzuführen, dass sich die Sicherheitsbehörden besser auf die konspirative Vorgehensweise der Skinheads bei der Veranstaltungsplanung eingestellt und die Durchführung von Konzerten damit erschwert oder unmöglich gemacht haben. Auch auf Bundesebene sank die Zahl der Konzerte von 138 im Jahre 2007 auf 127 im Berichtsjahr. Mangels Konzerten oder sonstiger Veranstaltungen, auf denen sich Skinheads treffen können, reisten viele hessische Anhänger dieser Subkultur zu Musikveranstaltungen in anderen Bundesländern oder ins Ausland. Zahl der Konzerte in Hessen rückläufig Skinhead-Bands Konzerte stärken das Zusammengehörigkeitsgefühl der Skinheads. Die Mitgliedschaft in einer Band bietet die Möglichkeit, innerhalb der Szene eine herausgehobene Position einzunehmen und sich so zu profilieren. Je größer der Bekanntheitsgrad einer Gruppe ist, desto höher ist das Ansehen, welches deren Mitglieder genießen. In Deutschland gab es im Berichtsjahr etwa 150 Skinhead-Bands, in Hessen waren unverändert acht Gruppen aktiv. Etwa ein Drittel der Gruppen ist bereits seit mehreren Jahren aktiv und in der Szene populär. Die meisten Bands bestehen allerdings nicht lange, sondern lösen sich rasch wieder auf oder bilden teilweise in ähnlicher Zusam- RECHTSEXTREMISMUS 101

103 mensetzung - eine Gruppe unter neuem Namen. Ein Grund für diese Fluktuation ist der anhaltende Druck von Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden. Spielen Bands auf Konzerten Lieder mit strafrechtlich relevanten Texten oder veröffentlichen sie entsprechende Tonträger, so leiten die Behörden konsequent Ermittlungs- und Strafverfahren ein. Dem glauben sich die Betroffenen durch wechselnde Besetzungen entziehen zu können. Zudem ist eine generelle Abneigung der Skinheadszene zur Bildung fester Organisationsstrukturen festzustellen. Kontinuität bei den Bands ist dementsprechend eher untypisch. Skinhead-Band Hauptkampflinie Die bekannteste hessische Skinhead-Band Hauptkampflinie (HKL) veröffentlichte mittlerweile über 20 Tonträger. Ende 2007 produzierte HKL zusammen mit der rechtsextremistischen Band Nothung (Schweden) die CD Die Weiße Botschaft des Ian Stuart Donaldson auf Deutsch. Für diese CD wurden 13 Lieder von Donaldson 9 ins Deutsche übersetzt. In dem Lied Morgen ist s vielleicht zu spät heißt es: Du sagst mir was du machen willst, ich will davon nichts hören Mein einziges Interesse ist, das System zu zerstören [...] Unsere Feinde sind das Kapital, doch auch der Kommunist weil beides für unser Volk ein Todesurteil ist [...] Wir müssen weiterkämpfen, wir müssen rebellieren gegen die Verbrecher, die Unschuldige inhaftieren Nie vergessen wir das Opfer des Märtyrers Rudolf Hess laßt unsere Kameraden raus, sonst gibt es richtig Stress! (Fehler im Original) Wegen fehlender Auftrittsmöglichkeiten im eigenen Bundesland spielen hessische Skinhead-Bands gelegentlich auf Veranstaltungen rechtsextremistischer Gruppierungen in anderen Ländern. Vertrieb erfolgt meist über Kleinhändler und über das Internet Vermarktung von Skinheadmusik und Szeneartikeln Rechtsextremistische Musik und Szeneartikel sind häufig nur über den rechtsextremistischen Versandhandel erhältlich. Anfang der 1990er Jahre wurde diese Vertriebsstruktur von Großhändlern geprägt, heute werden die Geschäfte hingegen zunehmend von Klein- und Kleinsthändlern betrieben. Damit reagierte die Szene auf Exekutivmaßnahmen vergangener Jahre, bei denen große Mengen strafrechtlich relevanter Produkte sichergestellt wurden. Meist wird die Ware per Internet bestellt. In Hessen existierten im Berichtszeitraum zunächst vier, später nur noch zwei Versandläden (2007: vier). Der Sleipnir-Shop und White Noise Records handeln mit Artikeln für Skinheads. Bundesweit waren es etwa 80 Versandläden. Die bundesweit hohe Zahl der Vertriebe zeigt deutlich, wie wichtig und lukrativ der Handel mit rechtsextremistischen 9 Ian Stuart Donaldson ( ): Wegbereiter der rechtsextremistischen Skinheadmusik und Mitbegründer der seit September 2000 in Deutschland verbotenen Organisation Blood & Honour. (Vgl. hessischer Verfassungsschutzbericht 2007, S. 97) 102 RECHTSEXTREMISMUS

104 Materialien mittlerweile ist. Die noch bis Mitte des Berichtsjahres von hessischen Rechtsextremisten betriebenen Versandläden Footballfanworld und Streetfightversand sind inzwischen in anderen Bundesländern ansässig. Veränderungsprozesse in der subkulturellen rechtsextremistischen Szene Die Zahl der vom hessischen Verfassungsschutz erfassten rechtsextremistischen Skinheads ist erstmals seit über acht Jahren rückläufig. Hierfür gibt es verschiedene Ursachen. Konzerte konnten nur selten durchgeführt werden. Außerdem fehlen Strukturen wie Skinhead-Kameradschaften. Schließlich wandern ältere Skinheads zu neonazistisch geprägten Strukturen ab. Dort können sie zumindest aktionistisch tätig sein. Festzuhalten ist außerdem eine anhaltende Abkehr von der klassischen Skinhead-Subkultur. Das macht sich am veränderten Erscheinungsbild von Szeneangehörigen sowie an den inzwischen breit gefächerten Musikstilen rechtsextremistischer Bands bemerkbar. Ursprünglich dominierten Reggae und Ska-Stile, mittlerweile ist die musikorientierte Szene jedoch deutlich ausdifferenzierter. Es überwiegen zwar Rechtsrock, Hardcore und Heavy Metal (einschließlich Sonderstilen wie Trash-, Death- oder Black-Metal). Allerdings sind auch Stile wie Rap, Hip-Hop oder Techno vertreten. Neue Stilelemente in der rechtsextremistischen Subkultur Zunehmend verschwindet der typische Skinhead mit Springerstiefel, Bomberjacke und kurz geschorenen Haaren. Jüngere Skinheads kleiden sich mittlerweile so, dass ihre ideologische Verortung nicht mehr an ihrem äußeren Erscheinungsbild zu erkennen ist. Dabei gehört die Übernahme bzw. Uminterpretation von Symbolen der autonomen bzw. linksextremistischen Szene zu einem stilistischen Wandel des Rechtsextremismus, dem sich auch die Skinheads nicht verschließen. So treten sie auf Demonstrationen oder Konzerten im Stil der linksextremistischen autonomen Antifa mit schwarzen Kapuzenpullovern und Baseballmützen auf. Manche zeigen sich sogar mit dem sogenannten Palästinensertuch, um damit ihrem Antisemitismus Ausdruck zu verleihen. Skinhead-Kleidung : Marken wie Lonsdale, Fred Perry oder Ben Sherman, die heute auch in normalen Bekleidungsgeschäften erworben werden können, sind alte Kultmarken der Skinheads. Mit ihrem Tragen sollte ursprünglich die Herkunft aus der Arbeiterschicht ausgedrückt werden. Der einheitliche, gruppenspezifische Kleidungsstil diente zum einen dazu, nach innen Gemeinschaft zu stiften und nach außen Geschlossenheit zu demonstrieren. Zum andern transportierte die Bekleidung aber auch politische oder weltanschauliche Botschaften. Heute werden die oben genannten Marken von traditionsbewussten Skinheads ebenso getragen wie von explizit nicht-rassistischen. Die hinter den Marken stehenden Firmen bemühten sich teilweise bewusst, das rechtsextremistische Image durch aufwendige Kampagnen loszuwerden. Inzwischen gibt es neben den Traditionsmarken einige kleinere Bekleidungshersteller, die sich fast ausschließlich an die rechtsextremistische Szene wenden. RECHTSEXTREMISMUS 103

105 Heimattreue Deutsche Jugend (HDJ) Sitz: Plön (Schleswig-Holstein) Mitglieder: In Hessen Einzelpersonen, bundesweit Verbandszeitung: Der Funkenflug, Erscheinungsweise vierteljährlich Verbot: 31. März 2009 Verbot der HDJ Die HDJ war eine rechtsextremistische Kinder- und Jugendorganisation mit neonazistischer Ausrichtung. Sie verstand sich als volks- und heimattreue Jugendbewegung für alle deutschen Mädel und Jungen im Alter von 7 bis 29 Jahren. Am 31. März 2009 wurde sie vom Bundesminister des Innern verboten. Die HDJ richtete sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung und wies eine Wesensverwandschaft mit dem Nationalsozialismus auf. Gezielte Ideologisierung von Jugendlichen und Kindern Die HDJ spiegelte eine jugendpflegerische Tätigkeit vor; sie betrieb damit allerdings die gezielte Ideologisierung ihrer Mitglieder. Während scheinbar unpolitischer Aktivitäten wie der Veranstaltung von Zeltlagern, Fahrradtouren, Kanufahrten usw. wurden die Kinder und Jugendlichen an das völkische und nationalistische Gedankengut der Organisation herangeführt. Ihre rechtsextremistische Grundeinstellung trug die HDJ nicht offen zur Schau. In Aussagen in der Vereinspublikation findet sie sich nur mittelbar wieder: Und dieses Leben bedeutet Kampf! Für Menschen unserer Rasse gilt dieser Grundsatz im Besonderen er ist Ausdruck der seelischen Grundhaltung, tief und fest verankert in unserem Ahnenerbe. Zu Beginn des Berichtsjahres stellte die HDJ auf ihrer Internet-Präsenz ein Werbevideo mit Szenen aus ihrem Winterlager 2006 / 07 ein, das Einblicke in ihre Ausrichtung offenbart. Die Filmaufnahmen, die in erster Linie Kinder und Jugendliche ansprechen sollen, zeigen neben Schneeballschlachten, Bastelarbeiten und Volkstänzen auch Jugendliche, die zu Appellen antreten. Der an Hierarchien, körperlicher Ertüchtigung und vormilitärischer Erziehung orientierte Charakter von HDJ-Veranstaltungen wird erkennbar. Regionale Gliederung der HDJ Der seit dem Jahre 1990 bestehende Verein verfügte neben einer Bundesführung über eine regionale Gliederung in sogenannte Leitstellen. Die Leitstellen Nord, Mitte, Süd und West umfassten jeweils Einheiten, die zum Teil den Bundesländern entsprachen. In den Einheiten wurde die eigentliche Vereinsarbeit organisiert. Neben der Jugendorganisation unterhielt die HDJ auch Freundes- und Familienkreise. Sie sollten Schnittstellen zwischen den Generationen bilden und die Einbindung von Erwachsenen und Kleinkindern ermöglichen. 10 In der Gesamtzahl der bundesweit 450 HDJ-Mitglieder sind Kinder unter 16 Jahren enthalten. Diese werden von den Verfassungsschutzbehörden jedoch nicht als Rechtsextremisten beobachtet. 104 RECHTSEXTREMISMUS

106 In Hessen waren keine festgefügten Organisationsstrukturen erkennbar. Der Verein wurde hier vielmehr von Einzelaktivisten getragen. Die HDJ war ein fester Bestandteil der rechtsextremistischen Szene. Ihre Aktivisten verfügten über zahlreiche Verbindungen in neonazistische Kreise sowie zur NPD und weiteren rechtsextremistischen Organisationen. Am 9. Oktober durchsuchten Polizeikräfte im Rahmen eines vereinsrechtlichen Ermittlungsverfahrens bundesweit Wohnungen und Geschäftsräume von nahezu 100 Angehörigen der HDJ. Auch Hessen war hiervon betroffen. Ziel der Maßnahme war die Sicherstellung von Beweismitteln, die belegen, dass sich die Bestrebungen der HDJ in aggressiv-kämpferischer Weise gegen die verfassungsmäßige Ordnung richten und ihre Aktivitäten den Strafgesetzen zuwiderlaufen. Durchsuchungsmaßnahmen im Oktober Auch auf Grund dieser Beweismittel erfolgte das Verbot der HDJ. Aus diesem Anlass wurden in Berlin, Brandenburg, Niedersachsen und Sachsen Durchsuchungs- und Beschlagnahmungsmaßnahmen gegen führende Mitglieder der HDJ durchgeführt. Verbotsmaßnahmen gegen rechtsextremistische Vereine Am 7. Mai verbot der Bundesminister des Innern die rechtsextremistischen Vereine Collegium Humanum e. V., dessen Teilorganisation Bauernhilfe e. V. sowie den Verein zur Rehabilitierung der wegen Bestreitens des Holocaust Verfolgten (VRBHV). Am selben Tag fanden Durchsuchungen und Beschlagnahmungen in mehreren Bundesländern, u. a. auch in Hessen statt. Dabei wurden umfangreiches Beweismaterial sowie Vermögenswerte der verbotenen Organisationen sichergestellt. Bei dem Collegium Humanum und dem VRBHV handelte es sich um Organisationen, deren gesamte Tätigkeit auf die Leugnung des Holocaust, die Verbreitung antisemitischer Propaganda und die Verherrlichung des Nationalsozialismus ausgelegt war. Die Bauernhilfe war eine Unterorganisation des Collegium Humanum mit Sitz in Hessen (Söhrewald, Landkreis Kassel). Ihr Zweck war die Verwaltung des Vermögens des Collegium Humanum. RECHTSEXTREMISMUS 105

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108 BETEILIGUNG EXTREMISTISCHER PARTEIEN AN DER LANDTAGSWAHL VOM 18. JANUAR 2009

109 BETEILIGUNG EXTREMISTISCHER PARTEIEN AN DER LANDTAGSWAHL VOM 18. JANUAR 2009 Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) NPD bleibt erneut unter 1,0 Prozent Zustimmung Die NPD erhielt bei der Wahl zum Hessischen Landtag am 18. Januar 2009 einen Zweitstimmenanteil von 0,9 Prozent ( Stimmen; 2008: ). Sie blieb damit erneut unter einem Prozent. Mit diesem Wahlergebnis liegt sie prozentual gleichauf mit dem Wahlergebnis der Landtagswahl Bei der absoluten Stimmenzahl musste die NPD allerdings einen Verlust von Stimmen verzeichnen. Da die Beteiligung bei der jüngsten Wahl geringer war als bei der vorangegangenen, schlug sich dies nicht in einem Verlust bei den Stimmanteilen nieder. Im Bereich der Wahlkreisstimmen konnten die Direktkandidaten landesweit einen leichten Zuwachs erreichen. Die NPD steigerte sich von 0,6 Prozent ( Stimmen) der Erststimmen bei der Wahl 2008 auf 0,7 Prozent ( Stimmen) im Jahre Hochburg der NPD Ihr bestes Ergebnis konnte die NPD, wie auch bei der Landtagswahl 2008, im Wahlkreis 26 (Wetterau II) erzielen. Hier erreichte sie ein Erststimmenergebnis von 2,6 Prozent und ein Zweitstimmenergebnis von 2,4 Prozent. In diesem Wahlkreis kandidierte der NPD-Kreisvorsitzende und Landesgeschäftsführer Daniel Lachmann. Der Kreisverband Wetterau ist einer der aktivsten NPD-Kreisverbände in Hessen. Weitere überdurchschnittliche Ergebnisse erzielte die NPD in den Wahlkreisen 11 (Hersfeld) mit jeweils 2,0 Prozent der Erst- und Zweitstimmen, 16 (Lahn-Dill I) mit 1,8 Prozent der Erst- und 1,5 Prozent der Zweitstimmen sowie 27 (Wetterau III) mit 1,8 Prozent der Erst- und 1,4 Prozent der Zweitstimmen. Der Landesvorsitzende Jörg Krebs erreichte in seinem Wahlkreis 39 (Frankfurt am Main VI) 1,0 Prozent der Erst- und 0,9 Prozent der Zweitstimmen. Enttäuschung über das Ergebnis Am 19. Januar 2009 nahm der NPD-Landesvorsitzende Stellung zum Wahlausgang. Er zeigte sich maßlos enttäuscht darüber, dass die NPD an der psychologisch wichtigen 1%-Hürde gescheitert ist. Die Partei sei hinter ihren eigenen Erwartungen zurück geblieben. Für ihn sei es ein kleiner Trost, dass sein Ziel, die Republikaner hinter sich zu lassen, erreicht werden konnte. Er selbst trage aber die alleinige Verantwortung für den enttäuschenden Ausgang der Landtagswahl. Der Wahlkampf der NPD verlief im Vergleich zu dem der Landtagswahl 2008 mit deutlich weniger Veranstaltungen und Außenwirkung. Dies lag an der Kürze des Wahlkampfes und an der geringen Vorbereitungszeit. Bis Mitte Dezember hatte die NPD zudem sämtliche personellen Ressourcen auf die Erreichung der erforderlichen Unterstützungsunterschriften verwendet. Angesichts der kurz bemessenen Frist bis zur Abgabe dieser Unterstützungsunterschriften war dies eine ernstzunehmende Hürde für die Partei. Am 22. November wurde die Landesliste der NPD Hessen für die vorgezogene Neuwahl des hessischen Landtags auf einem außerordentlichen Landesparteitag im 108 BETEILIGUNG EXTREMISTISCHER PARTEIEN, LANDTAGSWAHL

110 mittelhessischen Wölfersheim (Wetteraukreis) gewählt. Sie bestand aus 16 Kandidaten und wurde vom hessischen NPD-Landesvorsitzenden angeführt. Auf der Liste befanden sich zwei Kandidaten der Deutsche Volksunion (DVU), die selbst nicht zur Wahl antrat. Eine darüber hinausgehende Unterstützung der NPD seitens der DVU war nicht erkennbar. Aufstellung der Landesliste Die NPD konnte mehr als die erforderliche Zahl an Unterstützungsunterschriften einreichen und in Folge dessen mit ihrer Landesliste an der Wahl teilnehmen. Krebs äußerte hierzu, dass er hocherfreut sei, dass es den hessischen Nationaldemokraten innerhalb von weniger als drei Wochen gelungen sei, die undemokratische Hürde der notwendigen Unterstützungsunterschriften erfolgreich zu nehmen. Erforderliche Unterstützungsunterschriften eingereicht Tatsächlich erscheint das Erzielen der erforderlichen Unterstützungsunterschriften in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit beachtlich. Es mag zwar für die Partei naheliegend gewesen sein, die Unterstützer aus dem vergangenen Jahr erneut um ihre Unterschrift zu bitten. Allerdings stellt auch dies einen hohen logistischen Aufwand dar. Zudem wurden vom Landeswahlausschuss 34 Kreiswahlvorschläge der NPD zugelassen. Bei der Landtagswahl 2008 trat die NPD mit 38 Direktkandidaten an. Ihr ist es 2009 somit erneut gelungen, in mehr als der Hälfte der 55 Wahlkreise mit Kandidaten vertreten zu sein. Im Wahlkampf verbreitete die NPD eine vierseitige Zeitung mit dem Titel Hessen Stimme. In dieser äußerte sich die Partei vor allem ausländerund islamfeindlich. So wurde in der Wahlkampfzeitung eine vermeintliche Überfremdung unserer Städte durch immer mehr Ausländer thematisiert. Die NPD forderte die Bürger auf, der Partei ihre Stimme zu geben und damit gegen die schleichende Landnahme des Islam zu protestieren. Der auf Listenplatz 2 kandidierende NPD-Funktionär Volker Sachs führte in der Wahlkampfzeitung aus: Wir wollen keine Mullahs, keine Muezzin-Rufe und keine Minarette in unserer Heimat! [...] Auch im Hinblick auf die Bedrohungen durch eine grenzenlose Einwanderung ausländischer Arbeitsplatzkonkurrenten und Sozialschnorrer haben die Etablierten hoffnungslos versagt. Wahlkampfzeitung Die Wahlkampfzeitung der NPD ist in einigen Regionen Hessens verteilt worden, von einer flächendeckenden Verbreitung kann jedoch keine Rede sein. Darüber hinaus hängte die NPD Plakate auf, die den Slogan Wir halten Wort beinhalteten. Ferner waren Flugblätter im Umlauf, in denen u. a. eine Verstaatlichung der Banken gefordert wurde. Das Veranstaltungsaufkommen der NPD war während des gesamten Wahlkampfes äußerst gering. Groß angelegte Kundgebungen, wie die Demonstrationsabfolge im Vorfeld der Landtagswahl 2008 mit der Abschlusskundgebung auf dem Frankfurter Römerberg am 19. Januar, blieben diesmal aus. Diese Zurückhaltung dürfte zum einen in der Kürze des Wahlkampfes begründet liegen, die eine organisatorische Vorbereitung und Mobilisierung erschwerte. Zum anderen dürften die Erfahrungen aus dem Geringe Wahlkampfaktivitäten BETEILIGUNG EXTREMISTISCHER PARTEIEN, LANDTAGSWAHL

111 vorangegangenen Landtagswahlkampf, bei dem die Mobilisierung der eigenen Klientel stetig zurück ging, ein Grund für den Verzicht auf Großkundgebungen gewesen sein. Einzige größere Veranstaltung der NPD war der sogenannte Hessenkongress am 10. Januar 2009 in Wölfersheim. Auf der Veranstaltung, an der etwa 75 Personen teilnahmen, trat der Rechtsextremist Pierre Krebs (Kassel) als Redner auf. Die rechtsextremistische Band Carpe Diem gestaltete den musikalischen Rahmen. Der Hessenkongress war eine rein interne Veranstaltung ohne Außenwirkung. Unterstützung von außerhalb Die hessische NPD wurde im Wahlkampf sowohl von Freien Kräften als auch von außerhessischen Partei-Verbänden unterstützt. So wurde der Landesgeschäftsführer der NPD Thüringen, Patrick Wieschke, zum Wahlkampfleiter für den hessischen Landtagswahlkampf ernannt. Mitglieder anderer Landesverbände beteiligten sich teilweise am Sammeln von Unterstützungsunterschriften oder dem Verteilen der Wahlkampfzeitung. Die Unterstützung des Bundesvorstands war dagegen eher zurückhaltend. Der NPD-Vorsitzende Udo Voigt kam nicht nach Hessen; bei der Landtagswahl des Vorjahres war er noch zu einer Kundgebung erschienen. Die Bundespartei dürfte ihr Engagement auf die Landtagswahlkämpfe in Sachsen, Thüringen und dem Saarland im Sommer 2009 konzentrieren. Dort erscheinen ihr die Wahlchancen offensichtlich besser als in Hessen. Wahlkampf 2007 intensiver als 2008 Insgesamt ist festzustellen, dass die hessische NPD es trotz der kurzen Vorbereitungszeit geschafft hat, genügend Unterstützungsunterschriften für die Landesliste zu sammeln und somit an der hessischen Landtagswahl 2009 teilnehmen konnte. Die geringen finanziellen Mittel des Landesverbandes schränkten die Möglichkeiten des Wahlkampfes allerdings ein. Die Bundespartei ist außerdem durch die Affäre um den ehemaligen Schatzmeister Erwin Kemna finanziell erheblich geschwächt und konnte die hessische NPD vermutlich nur begrenzt unterstützen. Deren wirtschaftliche Lage wird sich durch das erneute Scheitern an der Ein- Prozent-Hürde und die damit verbundene Nichtbeteiligung an der Parteienfinanzierung kaum verbessern. Der Landtagswahlkampf war unter der Leitung von Marcel Wöll noch sehr aufwendig durch zahlreiche Kundgebungen und Veranstaltungen geführt worden. Hierzu stellte der Wahlkampf mit dem Spitzenkandidaten und Landesvorsitzenden Krebs durchaus einen Kontrast dar. Es fand keine größere, öffentlichkeitswirksame Kundgebung statt, die Plakatierung war quantitativ deutlich geringer, die Zahl der Infostände erreichte die Anzahl des Vorjahres bei weitem nicht. In einer vergleichbaren Zeitspanne in der Endphase des vorjährigen Wahlkampfes war das Aktivitätsaufkommen wesentlich höher. Die ausländer- und islamfeindlichen Wahlkampfthemen der NPD fanden nur geringen Zuspruch. Auch eine Selbststilisierung als Protestpartei hatte keinen Erfolg. Sie konnte nicht von einer von ihr unterstellten Politikverdrossenheit profitieren. Auch das aktuelle Thema Finanzkrise wirkte sich für die NPD nicht positiv aus. 110 BETEILIGUNG EXTREMISTISCHER PARTEIEN, LANDTAGSWAHL

112 Angesichts des deutlichen Unterschieds in der Wahlkampfführung 2008 aggressivprovokant mit hoher Außenwirkung, 2009 eher zurückhaltend und unspektakulär ist es durchaus bemerkenswert, dass die NPD-Wahlergebnisse beider Jahre nahezu identisch sind. Dies zeigt zum einen, dass ein provokanter Wahlkampf kein höheres Wählerpotenzial mobilisierte. Zum anderen kann angenommen werden, dass die NPD in Hessen unabhängig von der Wahlkampfführung über einen, freilich marginalen, Grundsockel an Wählern verfügt. Ein Indiz hierfür ist auch, dass die Hochburgen sich nicht verändert haben. Es gelingt der NPD in Hessen nicht, in neue Wählerschichten vorzudringen. Gegenüber früheren Wahlen ist ihr Wählerpotenzial landesweit sogar noch enger geworden. Das Landtagswahlergebnis vom Januar 2009 zeigt erneut, dass die NPD in Hessen marginalisiert und stigmatisiert ist. NPD bleibt bei Wahlen in Hessen bedeutungslos Wahlkreisstimmen (Direktkandidaten) der NPD Wahlkreis Kandidat Landtagswahl 2009 Nr. Name Stimmen % 1 Kassel-Land I n. a. 1 2 Kassel-Land II n. a. 3 Kassel-Stadt I n. a. 4 Kassel-Stadt II Radtke, M ,1 5 Waldeck-Frankenberg I n. a. 6 Waldeck-Frankenberg II n. a. 7 Schwalm-Eder I Wißler, G ,9 8 Schwalm-Eder II Drechsler, H.-G ,3 9 Eschwege-Witzenhausen Mosebach, M ,0 10 Rotenburg Weber, N ,2 11 Hersfeld Bentz, K ,0 12 Marburg-Biedenkopf I Horst, A ,3 13 Marburg-Biedenkopf II n. a. 14 Fulda I Bosold, H.-J ,1 15 Fulda II Kohlhepp, M ,5 16 Lahn-Dill I Groß, T ,8 17 Lahn-Dill II Waldschmidt, D ,4 18 Gießen I n. a. 19 Gießen II n. a. 20 Vogelsberg Schäfer, U ,4 21 Limburg-Weilburg I n. a. 22 Limburg-Weilburg II n. a. 23 Hochtaunus I n. a. 24 Hochtaunus II n. a. 25 Wetterau I Jagsch, S ,3 26 Wetterau II Lachmann, D ,6 27 Wetterau III Sachs, V ,8 28 Rheingau-Taunus I n. a. 29 Rheingau-Taunus II n. a. 1 n.a. = nicht angetreten BETEILIGUNG EXTREMISTISCHER PARTEIEN, LANDTAGSWAHL

113 Wahlkreis Kandidat Landtagswahl 2009 Nr. Name Stimmen % 30 Wiesbaden I n. a. 31 Wiesbaden II n. a. 32 Main-Taunus I n. a. 33 Main-Taunus II n. a. 34 Frankfurt am Main I Spengler, C ,3 35 Frankfurt am Main II Windecker, E ,8 36 Frankfurt am Main III Regner, A ,6 37 Frankfurt am Main IV Müller, C ,6 38 Frankfurt am Main V n. a. 39 Frankfurt am Main VI Krebs, J ,0 40 Main-Kinzig I Hilpert, B ,4 41 Main-Kinzig II Knebel, D ,9 42 Main-Kinzig III Ullmann, F ,2 43 Offenbach-Stadt Marschner, F ,2 44 Offenbach-Land I Steingräber, C ,9 45 Offenbach-Land II Haase, S ,3 46 Offenbach-Land III Fröhlich, J ,2 47 Groß-Gerau I n. a. 48 Groß-Gerau II n. a. 49 Darmstadt-Stadt I Dietrich, K ,7 50 Darmstadt-Stadt II Solf, A ,9 51 Darmstadt-Dieburg I Zeuner, W.-J ,2 52 Darmstadt-Dieburg II Verständig, T ,1 53 Odenwald Hartmann, G ,9 54 Bergstraße I Christophersen, K ,4 55 Bergstraße II Levien, P ,2 Gesamt ,7 Listenstimmen (Zweitstimmen) der NPD Wahlkreis Landtagswahl 2009 Landtagswahl 2008 Nr. Name Stimmen % Stimmen % 1 Kassel-Land I 401 0, ,7 2 Kassel-Land II 350 0, ,5 3 Kassel-Stadt I 175 0, ,3 4 Kassel-Stadt II 275 0, ,9 5 Waldeck-Frankenberg I 266 0, ,6 6 Waldeck-Frankenberg II 233 0, ,8 7 Schwalm-Eder I 362 0, ,8 8 Schwalm-Eder II 552 1, ,3 9 Eschwege-Witzenhausen 329 0, ,8 10 Rotenburg 382 1, ,3 11 Hersfeld 717 2, ,2 12 Marburg-Biedenkopf I 500 1, ,9 13 Marburg-Biedenkopf II 275 0, ,4 112 BETEILIGUNG EXTREMISTISCHER PARTEIEN, LANDTAGSWAHL

114 Wahlkreis Landtagswahl 2009 Landtagswahl 2008 Nr. Name Stimmen % Stimmen % 14 Fulda I 441 0, ,9 15 Fulda II 625 1, ,2 16 Lahn-Dill I 720 1, ,5 17 Lahn-Dill II 665 1, ,3 18 Gießen I 319 0, ,7 19 Gießen II 499 0, ,9 20 Vogelsberg 601 1, ,0 21 Limburg-Weilburg I 262 0, ,9 22 Limburg-Weilburg II 284 0, ,8 23 Hochtaunus I 240 0, ,6 24 Hochtaunus II 182 0, ,4 25 Wetterau I 533 1, ,1 26 Wetterau II 966 2, ,0 27 Wetterau III 574 1, ,0 28 Rheingau-Taunus I 182 0, ,4 29 Rheingau-Taunus II 347 0, ,7 30 Wiesbaden I 323 0, ,5 31 Wiesbaden II 262 0, ,5 32 Main-Taunus I 298 0, ,7 33 Main-Taunus II 299 0, ,6 34 Frankfurt am Main I 349 1, ,1 35 Frankfurt am Main II 250 0, ,8 36 Frankfurt am Main III 206 0, ,6 37 Frankfurt am Main IV 221 0, ,6 38 Frankfurt am Main V 136 0, ,4 39 Frankfurt am Main VI 377 0, ,8 40 Main-Kinzig I 617 1, ,0 41 Main-Kinzig II 417 0, ,9 42 Main-Kinzig III 631 1, ,1 43 Offenbach-Stadt 396 1, ,1 44 Offenbach-Land I 301 0, ,6 45 Offenbach-Land II 375 0, ,8 46 Offenbach-Land III 445 0, ,9 47 Groß-Gerau I 591 1, ,1 48 Groß-Gerau II 485 0, ,7 49 Darmstadt-Stadt I 226 0, ,5 50 Darmstadt-Stadt II 280 0, ,5 51 Darmstadt-Dieburg I 504 1, ,8 52 Darmstadt-Dieburg II 474 0, ,7 53 Odenwald 388 0, ,0 54 Bergstraße I 566 1, ,9 55 Bergstraße II 498 0, ,7 Gesamt , ,9 BETEILIGUNG EXTREMISTISCHER PARTEIEN, LANDTAGSWAHL

115 DIE LINKE.Hessen Bei der hessischen Landtagswahl am 18. Januar 2009 trat der Landesverband der Partei DIE LINKE. erneut an. Erklärtes Ziel der Partei DIE LINKE.Hessen war zum einen, stärker als zuvor im nächsten hessischen Landtag vertreten zu sein und zum anderen, einen Politikwechsel in Hessen herbeizuführen. Bei der Landtagswahl im Januar 2008 hatte die Partei 5,1 Prozent der Wählerstimmen erhalten und war mit sechs Abgeordneten in den hessischen Landtag eingezogen. Unterstützung durch DKP Auch zur Landtagswahl 2009 erhielt DIE LINKE.Hessen im Wahlkampf Unterstützung von der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP). In einem im Internet auf der Homepage der DKP Hessen veröffentlichten Artikel Gedanken zur erneuten Landtagswahl am 18. Januar 2009 in Hessen wurde dazu ausgeführt: Wir, die DKP, haben vor einem Jahr zur Wahl der Partei Die Linke aufgerufen. Wir haben den Einzug dieser Partei in den Hessischen Landtag begrüßt, obwohl wir mit Sorge die Politik der Ausgrenzung gegenüber der DKP und anderen linken Gruppen gesehen haben und sehen. Auch die Partei Die Linke war nicht immun gegenüber dem Kochschen Antikommunismus. Dennoch würden wir es als einen Triumph Kochscher Politik betrachten, wenn Kapital und Kabinett mit ihren miesen Kampagnen gegen alle Linken erfolgreich und die Fraktion der Partei Die Linke zudem nicht mehr im Hessischen Landtag vertreten wäre. Wir treten für die Wahl der Partei Die Linke bei den kommenden Landtagswahlen ein und werben für einen engagierten außerparlamentarischen Kampf für soziale Sicherheit, für Demokratie, für Menschenrechte und Frieden. Der hessische Landesverband der Partei DIE LINKE. führte am 29. und 30. November in Flörsheim (Main-Taunus-Kreis) einen außerordentlichen Landesparteitag durch. Im Mittelpunkt des Parteitags standen die Verabschiedung des Wahlprogramms und die Aufstellung der Landesliste für die Landtagswahl am 18. Januar Das Wahlprogramm welches u. a. die Forderung nach einer Überführung privater Banken in öffentliches Eigentum enthält wurde ohne Gegenstimme angenommen. In der Präambel des Wahlprogramms bekräftigt DIE LINKE.Hessen, dass sie an den Feststellungen und Zielen festhält, mit denen sie in die Landtagswahl 2008 gegangen ist. In Hessen sei mit der Partei DIE LINKE. eine Alternative zu den herrschenden Parteien entstanden: Dem kapitalistischen System, das Profite vor Menschen stellt, hält DIE LINKE die Idee eines demokratischen Sozialismus entgegen. Wir streben eine andere Gesellschaftsordnung an, in der Freiheit, Frieden und soziale Gerechtigkeit elementare Grundwerte sind. 114 BETEILIGUNG EXTREMISTISCHER PARTEIEN, LANDTAGSWAHL

116 Die Krise des Finanzkapitalismus stelle auch DIE LINKE. vor neue Herausforderungen. Es sei Zeit, aufzustehen und für die Verbesserung der Lebensverhältnisse dem ausbeuterischen Kapitalismus entgegenzutreten global und auch [...] in Hessen. Einzig der Gegendruck der Betroffenen werde die Politik der Herrschenden verändern. DIE LINKE. sei Teil dieses Drucks der sozialen Gegenkräfte. Deutschland und die Welt stünden am Beginn einer schweren Krise der kapitalistischen Ökonomie. Die Unternehmen und die neoliberalen Parteien versuchten, die Krise auf die Bevölkerung abzuwälzen. DIE LINKE. stehe daher vor der Aufgabe, jeden Widerstand gegen diese Versuche zu unterstützen. Wahlkreisstimmen (Direktkandidaten) von DIE LINKE.Hessen Wahlkreis Kandidat Landtagswahl 2009 Nr. Name Stimmen % 1 Kassel-Land I Albrecht, K ,5 2 Kassel-Land II Pilgram, H ,0 3 Kassel-Stadt I Selbert, A ,0 4 Kassel-Stadt II Schott, M ,7 5 Waldeck-Frankenberg I Kalhöfer, D ,2 6 Waldeck-Frankenberg II* 7 Schwalm-Eder I Böhme-Gingold, H ,5 8 Schwalm-Eder II Baumann, L ,4 9 Eschwege-Witzenhausen Eisenträger-Tomcuk, W ,9 10 Rotenburg Biernoth, G ,5 11 Hersfeld Zanger, H ,1 12 Marburg-Biedenkopf I Zeller, H ,9 13 Marburg-Biedenkopf II Schalauske, J ,2 14 Fulda I Licht, B ,8 15 Fulda II Wahl, M ,9 16 Lahn-Dill I Lippmann, H ,9 17 Lahn-Dill II Göktas, N ,7 18 Gießen I Richter, A ,9 19 Gießen II Feuster, M ,9 20 Vogelsberg Schnell, D ,6 21 Limburg-Weilburg I Steioff, B ,6 22 Limburg-Weilburg II Benack, R ,8 23 Hochtaunus I Schaus, H ,7 24 Hochtaunus II Abel, E ,1 25 Wetterau I Etling, H ,5 26 Wetterau II Faulhaber, G ,4 27 Wetterau III Zeichner, P ,6 * Im Wahlkreis 6 Waldeck-Frankenberg II kandidierte die Partei DIE LINKE. nicht mit einem Direktkandidaten. BETEILIGUNG EXTREMISTISCHER PARTEIEN, LANDTAGSWAHL

117 Wahlkreis Kandidat Landtagswahl 2009 Nr. Name Stimmen % 28 Rheingau-Taunus I Müller, G ,3 29 Rheingau-Taunus II Pörtner, B ,0 30 Wiesbaden I Jungmann, J ,4 31 Wiesbaden II Bohrer, H ,3 32 Main-Taunus I Dr. Kessler, A ,2 33 Main-Taunus II van Ooyen, W ,1 34 Frankfurt am Main I Pauli, D ,2 35 Frankfurt am Main II Dr. Gärtner, P ,7 36 Frankfurt am Main III Ritter, A ,0 37 Frankfurt am Main IV Hooge, D ,6 38 Frankfurt am Main V Dr. Wilken, U ,4 39 Frankfurt am Main VI Wißler, J ,7 40 Main-Kinzig I Müller, A ,1 41 Main-Kinzig II Feistel, U ,3 42 Main-Kinzig III Müller, R ,4 43 Offenbach-Stadt Coppik, M ,2 44 Offenbach-Land I Elgert, F ,9 45 Offenbach-Land II Cárdenas Alfonso, B ,5 46 Offenbach-Land III Oldehaver, P ,6 47 Groß-Gerau I Heyl, B ,9 48 Groß-Gerau II Papoutsakis, K ,9 49 Darmstadt-Stadt I Busch-Hübenbecker, W ,9 50 Darmstadt-Stadt II Plaßmeier, A ,0 51 Darmstadt-Dieburg I Deistler, M ,8 52 Darmstadt-Dieburg II Daum, B ,8 53 Odenwald Pfeiffer, B ,1 54 Bergstraße I Dr. Schwarz, B ,3 55 Bergstraße II Schwartz, R ,6 Gesamt ,5 Listenstimmen (Zweitstimmen) von DIE LINKE.Hessen Wahlkreis Landtagswahl 2009 Landtagswahl 2008 Nr. Name Stimmen % Stimmen % 1 Kassel-Land I , ,8 2 Kassel-Land II , ,3 3 Kassel-Stadt I , ,8 4 Kassel-Stadt II , ,3 5 Waldeck-Frankenberg I , ,6 6 Waldeck-Frankenberg II , ,4 7 Schwalm-Eder I , ,6 8 Schwalm-Eder II , ,5 9 Eschwege-Witzenhausen , ,6 10 Rotenburg , ,8 116 BETEILIGUNG EXTREMISTISCHER PARTEIEN, LANDTAGSWAHL

118 Wahlkreis Landtagswahl 2009 Landtagswahl 2008 Nr. Name Stimmen % Stimmen % 11 Hersfeld , ,4 12 Marburg-Biedenkopf I , ,2 13 Marburg-Biedenkopf II , ,6 14 Fulda I , ,4 15 Fulda II , ,2 16 Lahn-Dill I , ,4 17 Lahn-Dill II , ,0 18 Gießen I , ,7 19 Gießen II , ,4 20 Vogelsberg , ,9 21 Limburg-Weilburg I , ,1 22 Limburg-Weilburg II , ,2 23 Hochtaunus I , ,1 24 Hochtaunus II , ,7 25 Wetterau I , ,4 26 Wetterau II , ,6 27 Wetterau III , ,2 28 Rheingau-Taunus I , ,6 29 Rheingau-Taunus II , ,7 30 Wiesbaden I , ,6 31 Wiesbaden II , ,4 32 Main-Taunus I , ,5 33 Main-Taunus II , ,6 34 Frankfurt am Main I , ,3 35 Frankfurt am Main II , ,9 36 Frankfurt am Main III , ,0 37 Frankfurt am Main IV , ,5 38 Frankfurt am Main V , ,3 39 Frankfurt am Main VI , ,4 40 Main-Kinzig I , ,8 41 Main-Kinzig II , ,8 42 Main-Kinzig III , ,7 43 Offenbach-Stadt , ,6 44 Offenbach-Land I , ,2 45 Offenbach-Land II , ,7 46 Offenbach-Land III , ,8 47 Groß-Gerau I , ,3 48 Groß-Gerau II , ,8 49 Darmstadt-Stadt I , ,7 50 Darmstadt-Stadt II , ,0 51 Darmstadt-Dieburg I , ,4 52 Darmstadt-Dieburg II , ,6 53 Odenwald , ,7 54 Bergstraße I , ,3 55 Bergstraße II , ,6 Gesamt , ,1 BETEILIGUNG EXTREMISTISCHER PARTEIEN, LANDTAGSWAHL

119 Mit einem Stimmenanteil von 5,4 Prozent überwand die Partei DIE LINKE.Hessen bei der Hessischen Landtagswahl erneut die Fünf-Prozent-Hürde und zog wie schon vor einem Jahr mit sechs Abgeordneten in den Landtag ein. Allerdings hat die Partei ihre erklärten Ziele, stärker im neuen Hessischen Landtag vertreten zu sein und einen Politikwechsel in Hessen zu ermöglichen, nicht erreicht. Zwar konnte die Partei auf Grund der niedrigeren Wahlbeteiligung (61 Prozent) als noch ein Jahr zuvor (64,3 Prozent) ihren Stimmenanteil geringfügig verbessern, musste aber real einen Stimmenverlust hinnehmen. Da sich wegen der Überhangs- und Ausgleichsmandate die Anzahl der Sitze im Hessischen Landtag von 110 auf 118 Mandaten erhöht hat, ist die Partei zudem nunmehr anteilsmäßig schwächer im Landtag vertreten als nach der letzten Landtagswahl. Über dem Durchschnitt liegende Ergebnisse konnte die Partei mit 7,1 Prozent bis 9,2 Prozent der Wählerstimmen erneut in den größeren Städten wie Kassel (Wahlkreise 3 und 4), Marburg (Wahlkreis 13), Frankfurt am Main (Wahlkreise 34 bis 36, 38 und 39), Offenbach (Wahlkreis 43) und Darmstadt (Wahlkreis 49) erzielen. Unterdurchschnittliche Ergebnisse wurden mit 3,5 Prozent bis 3,8 Prozent der Wählerstimmen in den Wahlkreisen Main-Taunus I (Wahlkreis 32) und Hochtaunus II (Wahlkreis 24) erzielt. 118 BETEILIGUNG EXTREMISTISCHER PARTEIEN, LANDTAGSWAHL

120 LINKSEXTREMISMUS

121 LINKSEXTREMISMUS Merkmale des Linksextremismus Die Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und die Errichtung eines totalitären, sozialistisch-kommunistischen Systems oder einer herrschaftsfreien Gesellschaft (Anarchie) sind die Ziele linksextremistischer Bestrebungen. Orthodoxe Kommunisten wie die Deutsche Kommunistische Partei (DKP) oder einzelne Zusammenschlüsse in der Partei DIE LINKE. orientieren sich an den Lehren von Karl Marx und Friedrich Engels. Marxismus Marx und Engels analysierten die zu ihrer Zeit bestehenden Eigentums- und Wirtschaftsverhältnisse und leiteten hieraus Grundaussagen einer gesellschaftlichen Entwicklung ab, die zunächst zum Sozialismus und dann zum Kommunismus führen soll. Marx und Engels Theorie geht davon aus, dass in allen Gesellschaften Menschen bestimmten Klassen angehören. Die Klassen seien untereinander hierarchisch gegliedert und führten einen andauernden Klassenkampf gegeneinander. Die in einer Gesellschaft herrschende Klasse kontrolliere die Produktionsmittel und damit den in der Gesellschaft erwirtschafteten Reichtum. In kapitalistischen Gesellschaften sei die Arbeiterklasse gezwungen, ihre Arbeitskraft an Kapitalisten welche die Produktionsmittel besitzen zu verkaufen. Die Arbeiter erhielten von den Kapitalisten jedoch nicht den tatsächlichen Gegenwert ihrer Arbeit, sondern lediglich einen geringen Teil. Den Rest eigneten sich die Kapitalisten an. Durch diese Ausbeutung würden die Kapita listen immer reicher und die Arbeiter immer ärmer. Deshalb müssten sich die Arbeiter vom Kapitalismus befreien. Hierzu müssten sie die bestehenden Eigentumsverhältnisse umwerfen und sich die Produktionsmittel aneignen. Dieses sei nur im Rahmen des Klassenkampfes und einer Revolution möglich. An den Sturz der Kapitalisten durch eine Revolution der Arbeiter schließe sich eine Übergangsphase des Sozialismus an, in der das politische und wirtschaftliche System eines Landes grundlegend verändert werde, und die schließlich nach der weltweiten Durchsetzung dieses Systems in einer klassenlosen Gesellschaft, dem Kommunismus, münde. Leninismus Neben Marx und Engels berufen sich orthodoxe Kommunisten auch auf Lenin. Dieser formulierte aufbauend auf der Theorie der beiden Vordenker des Marxismus die Notwendigkeit, die Arbeiterklasse durch eine als Kaderpartei konzipierte kommunistische Partei, bestehend aus Berufsrevolutionären, zu führen. Diese Partei habe die Aufgabe, die Arbeiterschaft politisch zu mobilisieren und zu lenken. Gemäß der Vorstellungen des Marxismus-Leninismus muss die kommunistische Partei dann die Macht im Staate durch eine Revolution erringen und über eine Diktatur des Proletariats die angestrebte kommunistische Gesellschaft errichten. Auch Vertreter des Maoismus und des Trotzkismus stellen die Partei als Instrument der Errichtung einer kommunistischen Gesellschaft in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen. 120 LINKSEXTREMISMUS

122 Bei maoistischen Organisationen wie der Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands (MLPD) wird der Partei die Rolle zugewiesen, durch Vorgabe immer neuer Ziele ein dauerhaftes revolutionäres Handeln zu gewährleisten. Maoismus und Trotzkismus Trotzkisten wie die Sozialistische Alternative (SAV) berufen sich auf die Lehren Leo Trotzkis. Trotzkis Modifikation des Marxismus-Leninismus entstand aus seiner Opposition zu Stalin. Wesentliche Elemente des Trotzkismus sind die Theorie der permanenten Revolution und das Festhalten am proletarischen Internationalismus. Trotzkisten haben zudem die Intention, das gesellschaftliche System zu unterwandern, um letztendlich der Partei die Verwaltung des Staates zu übertragen. Anarchisten hingegen lehnen in Abgrenzung zu den kommunistischen Organisationen jede institutionalisierte Form der Macht ab. Verbindliche Lehren und Theorien sind ihnen fremd. Ihre Absicht ist es, eine Ordnung auf natürlicher Basis zu erzeugen. Anarchismus Autonome stehen wie auch immer gearteten Reglementierungen, verbindlichen Strukturen sowie gesellschaftlichen und staatlichen Normen ablehnend gegenüber. Ihre Positionen bauen insbesondere auf Negativabgrenzungen, sogenannten Anti-Haltungen auf, die typisch für ihre grundsätzliche Protest- und Verweigerungshaltung gegenüber dem bestehenden politischen und gesellschaftlichen System sind. Ihr Handeln zielt u. a. auf die Errichtung herrschaftsfreier Räume, um dem Einzelnen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Um ihre Ziele zu erreichen, halten sie die Anwendung von Gewalt gegen Personen und Sachen für ein legitimes Mittel. Durch ihren militanten Aktionismus mit dem Ziel der gewaltsamen Zerschlagung des Staates und seiner Einrichtungen stellen sie seit Jahren eine Bedrohung für die Innere Sicherheit in Deutschland dar. Ihr Handeln orientiert sich stets an aktuellen politischen Problemfeldern, um eine möglichst breite Vermittelbarkeit und Akzeptanz ihrer Ziele in der Gesellschaft zu erreichen. Autonome Anti-Haltungen Überblick Die Partei DIE LINKE. vertritt programmatische Ziele, die mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung nicht vereinbar sind. Offen extremistische Zusammenschlüsse wie die Kommunistische Plattform der Partei DIE LINKE. (KPF) sind auch im hessischen Landesverband der Partei weiterhin aktiv. Bei den Wahlen zum hessischen Landesvorstand der Partei DIE LINKE. sind darüber hinaus mehrere Vertreter offen extremistischer Zusammenschlüsse innerhalb der Partei gewählt worden. Im Vorstand sind auch Personen mit einem Vorlauf oder einer aktiven Mitgliedschaft in trotzkistischen Gruppierungen wie Linksruck (LR) bzw. SAV sowie der DKP und der Roten Hilfe e. V. (RH). DIE LINKE. Der auch in Hessen aktive parteinahe Jugendverband der Partei DIE LINKE., Linksjugend [ solid], verabschiedete im April sein neues Grundsatzprogramm. In diesem Programm bekennt sich Linksjugend [ solid] offen zu den Zielen des grundsätzlichen Systemwechsels und der Überwindung kapitalistischer Produktions- und Herrschaftsverhältnisse in Deutschland. Linksjugend [ solid] LINKSEXTREMISMUS 121

123 Deutsche Kommunistische Partei (DKP) Die DKP feierte im Berichtsjahr ihr vierzigjähriges Bestehen. Insgesamt ist jedoch festzustellen, dass andauernde Flügelkämpfe, fehlender Nachwuchs und eine angespannte finanzielle Lage das Bild einer Partei vermitteln, die im Niedergang begriffen ist. Rote Hilfe (RH) Die RH hat als Hilfs- und Unterstützungsorganisation des linksextremistischen Spektrums eine unverändert hohe Bedeutung. In Hessen bestehen personelle und räumliche Verbindungen der RH zur Partei DIE LINKE.. Autonome Bei hessischen Autonomen ist im Hinblick auf das Personenpotenzial nach Jahren des Rückgangs oder der Stagnation erstmals wieder ein Anstieg erkennbar. So wurden insbesondere im Rhein-Main-Gebiet und in Mittelhessen mehrere neue Gruppierungen gegründet. Autonome in Hessen beschäftigten sich erneut vor allem mit dem Themenfeld Antifaschismus. Darüber hinaus bildeten die Aktionsfelder Antirepression und Selbstverwaltete Freiräume verstärkt thematische Schwerpunkte. Gerade die sich verfestigende autonome Szene in Frankfurt am Main lässt bei ihren Aktionen sowohl gegenüber Rechtsextremisten, als auch gegenüber den staatlichen Repressionsorganen eine erhöhte Aggressivität und Gewaltbereitschaft erkennen. Linksextremistisches Personenpotenzial Gewaltbereite Linksextremisten 2 Autonome Hessen Bund Anarchisten Hessen Bund Sonstige Linksextremisten Marxisten-Leninisten, Trotzkisten u. a. Hessen Bund Linksextremisten gesamt 5 Hessen Bund Die Zahlen sind gerundet und teilweise geschätzt. In den Zahlen nicht enthalten sind Mitglieder linksextremistisch beeinflusster Organisationen. 2 Berücksichtigt sind nicht nur Personen, die als Täter oder Tatverdächtige festgestellt wurden, sondern auch Personenzusammenschlüsse, bei denen Anhaltspunkte für Gewaltbereitschaft vorhanden sind. 3 Der Anstieg der Zahlen zwischen 2007 und 2008 beruht insbesondere auf dem Anstieg der Mitgliederzahl der Partei DIE LINKE. Der Anstieg der Zahlen zwischen 2006 und 2007 beruht vor allem auf dem Beitritt der Mitglieder der WASG, die bis zur Fusion nicht Beobachtungsobjekt der Verfassungsschutzbehörden war, zur Partei DIE LINKE. Dies bedeutet gleichzeitig, dass nicht alle Mitglieder des neu gegründeten Landesverbandes der Partei DIE LINKE. als Extremisten bezeichnet werden können. 4 DIE LINKE. wird in der Gesamtsumme der Mitgliedschaften nicht mitgezählt, da das Bundesamt für Verfassungsschutz von den Mitgliedern der Partei nur die der Kommunistischen Plattform (KPF) erfasst. 5 In der Gesamtsumme sind Mehrfachmitgliedschaften abgezogen. 122 LINKSEXTREMISMUS

124 DIE LINKE. Gründung: 2007 Landesvorsitzende: Bundesvorsitzende: Mitglieder: Ulrike Eifler, Ulrich Wilken Lothar Bisky, Oskar Lafontaine In Hessen 2.491, bundesweit (nach Eigenangaben der Partei zum ) Medien (Auswahl): Neues Deutschland (Erscheinungsweise täglich), hessen links (Erscheinungsweise unregelmäßig), Politische Berichte (Erscheinungsweise 14-tägig), Frankfurter Kurier (Erscheinungsweise vierteljährlich), Internet-Präsenz Auf dem Sonderparteitag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) im Dezember 1989 wurde die Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) durch Umbenennung der SED in SED PDS gegründet; seit ihrem 1. Parteitag im Februar 1990 hieß sie nur noch PDS. Auf einer außerordentlichen Tagung des 9. Parteitages der PDS am 17. Juli 2005 benannte sie sich um in Die Linkspartei. PDS (Die Linke.PDS). Der hessische Landesverband verzichtete auf den Zusatz PDS. Im Rahmen der Fusion zwischen Die Linke.PDS und der Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit (WASG) 6 fand am 16. Juni 2007 der Gründungsparteitag der Partei DIE LINKE. in Berlin statt. Entstehung Programmatik Aktuelle Aussagen zur politischen Zielsetzung der Partei DIE LINKE. sind seit dem Gründungsparteitag in dem Grundlagenpapier Programmatische Eckpunkte Programmatisches Gründungsdokument der Partei DIE LINKE. ( Programmatische Eckpunkte ) zu finden. Darin propagiert DIE LINKE. unter ausdrücklicher Bezugnahme auf ein Zitat von Karl Marx, dass alle Eigentums- und Herrschaftsverhältnisse überwunden werden müssten, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist. Aus dieser Zielsetzung leitet die Partei für sich ausdrücklich den Anspruch ab, Grundzüge einer umfassenden gesellschaftlichen Umgestaltung vor[zulegen]. Ein solch grundlegender Veränderungsansatz stellt ausdrücklich nicht nur das Wirtschaftssystem, sondern gerade auch die Gesellschaftsordnung insgesamt in Frage. Umfassende gesellschaftliche Umgestaltung Als politische Umsetzungsstrategie gilt der von der Partei geprägte Begriff des strategischen Dreiecks. Dieser beinhaltet als Richtschnur politischen Handelns außerparlamentarischen Kampf, parlamentarische Mitarbeit und Regierungsbeteiligung sowie das Ziel eines über die Grenzen der bisherigen Gesellschaftsordnung hinausgehenden Systems. In den Programmatischen Eckpunkten heißt es dazu: Gesellschaftlicher Protest, Entwicklung von Alternativen und Gestaltungsanspruch: DIE LINKE wird gesellschaftlichen Protest, den Einsatz für soziale Verbesserungen und die Entwicklung von Reformalternativen unter den gegebenen Strategisches Dreieck 6 Kein Beobachtungsobjekt der Verfassungsschutzbehörden. LINKSEXTREMISMUS 123

125 kapitalistischen Verhältnissen und die Gestaltung von Entwicklungswegen, die über die gegenwärtige Gesellschaft hinausweisen, zusammenführen. Keiner dieser drei Aspekte darf zu Gunsten der anderen vernachlässigt werden. Dies zeigt, dass DIE LINKE. ungeachtet ihrer Mitarbeit in Regierungen und Parlamenten ein über die Grenzen der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung hinausgehendes System gerade auch mit außerparlamentarischen Mitteln anstrebt. Demokratischer Sozialismus DIE LINKE. bekennt sich zum demokratischen Sozialismus. In textlicher Anlehnung an die Definition des sozialistischen Zieles im Manifest der kommunistischen Partei von Karl Marx und Friedrich Engels heißt es hierzu in den Programmatischen Eckpunkten : Ziel des demokratischen Sozialismus, der den Kapitalismus in einem transformatorischen Prozess überwinden will, ist eine Gesellschaft, die in der Freiheit des anderen nicht die Grenze, sondern die Bedingung der eigenen Freiheit ist. Geschulte Parteimitglieder erkennen die große textliche Ähnlichkeit des letzten Halbsatzes mit einer Passage des Kommunistischen Manifests zur Beschreibung der Sozialistischen Gesellschaft. Sie erkennen daher auch die für den transformatorischen Prozess notwendige Voraussetzung, nämlich, dass das Proletariat sich durch eine Revolution [...] zur herrschenden Klasse macht. Bundesparteitag Am 24. und 25. Mai führte die Partei DIE LINKE. in Cottbus (Brandenburg) ihren 1. Bundesparteitag durch. Die rund 550 Delegierten verabschiedeten den Leitantrag, der unter dem Motto Eine starke Linke für eine andere, bessere Politik stand. Darin vertritt DIE LINKE. die Auffassung, dass die bestehenden kapitalistischen Verhältnisse nicht das letzte Wort der Geschichte sind, dass demokratischer Sozialismus möglich und nötig ist, damit für alle ein besseres Leben in Freiheit, Würde und wechselseitigem Respekt erreichbar wird. Die gegenwärtige Gesellschaft, welche sich in ihrem Wohlergehen immer stärker von wenigen großen wirtschaftlichen Machtzusammenballungen abhängig mache, sei für DIE LINKE. keine erstrebenswerte Gesellschaft, sondern die Aufforderung, die Frage nach den Regeln des Systems zu stellen und über das bestehende System hinauszugehen. Offen extremistische Zusammenschlüsse innerhalb der Partei DIE LINKE. versteht sich als pluralistische Partei. Sie duldet und fördert innerhalb der Partei verschiedene Gruppen, Arbeitsgemeinschaften und Plattformen mit unterschiedlicher politischer Ausrichtung. Für den Verfassungsschutz sind die folgenden offen extremistischen Zusammenschlüsse bzw. Strömungen der Partei besonders relevant: Kommunistische Plattform Die Kommunistische Plattform (KPF) ist innerhalb der Partei der Zusammenschluss, der sich am deutlichsten zum Kommunismus bekennt. So heißt es in einer Selbstdarstellung der KPF auf der Internetseite der Partei DIE LINKE.: 124 LINKSEXTREMISMUS

126 Die Kommunistische Plattform ist ein offen tätiger Zusammenschluß von Kommunistinnen und Kommunisten in der Partei DIE LINKE, die auf der Grundlage von Programmatik und Satzung der Partei aktiv an der Basis und in den Parteistrukturen wirken. Die Bewahrung und Weiterentwicklung marxistischen Gedankenguts ist wesentliches Anliegen der Kommunistischen Plattform. Die Plattform tritt sowohl für kurz- und mittelfristig angestrebte Verbesserungen im Interesse der Nicht- und wenig Besitzenden innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft als auch für den Sozialismus als Ziel gesellschaftlicher Veränderungen ein. (Fehler im Original) Beim Landesparteitag vom 29. bis zum 31. August in Lollar (Landkreis Gießen) brachte die vom hessischen Landesverband der Partei DIE LINKE. formell als Landesarbeitsgemeinschaft anerkannte KPF einen Antrag Einsatz zur Aufhebung des KPD-Verbots ein. In diesem Antrag forderte die KPF die Rehabilitierung der von der Adenauer-Justiz verfolgten Kommunistinnen und Kommunisten. Man müsse sich für eine Aufhebung des KPD-Verbots von 1956 einsetzen. Der Antrag wurde jedoch nicht beschlossen. Das Marxistische Forum (MF) ist ein orthodox-kommunistisch geprägter Zusammenschluss zur marxistischen Analyse der politischen Situation. Auf einer Internetseite der Partei DIE LINKE. finden sich Ausführungen zu Gründung, Zielen und Schwerpunkten des MF: [Das MF] wurde im Mai 1995 gegründet. In den Diskussionen dieser Jahre um das Oppositionsverständnis der PDS, die Rolle des Klassenkampfs in der bestehenden Gesellschaft und über den Umgang mit der Eigentumsfrage als Grundlage zur Überwindung des Kapitalismus bildete sich das Marxistische Forum. Sein Ziel ist, den Rang der marxistischen Gesellschaftsanalyse innerhalb der Diskussion in der Partei durch die Verbreitung marxistischen Wissens und dialektischen Herangehens zu erhöhen. Marxistisches Forum In der Partei DIE LINKE. ist der Geraer Dialog Sozialistischer Dialog (GD SD) ein bundesweiter Zusammenschluss von Dogmatikern. Er wurde u. a. von führenden Vertretern der KPF und des MF gegründet und versteht sich als Plattform im Kampf gegen Sozialdemokratisierung und zum Erhalt des sozialistischen Charakters der Partei. In seiner Gründungserklärung bekennt er sich zur Zielsetzung einer sozialistischen Gesellschaft. Die Hauptursache für gegenwärtige Krisen, Arbeitslosigkeit und Kriege sei die kapitalistische Produktionsweise. Es gelte die Gegenwehr gegen den Angriff von Kapital und bürgerlicher Regierung zu unterstützen. Geraer Dialog / Sozialistischer Dialog Ebenfalls als offen extremistisch ist die Strömung Antikapitalistische Linke (AKL) einzustufen. Mit dem Aufruf Für eine antikapitalistische Linke begründeten führende Vertreter offen extremistischer Gruppierungen innerhalb der damaligen Linkspartei. PDS im März 2006 die parteiinterne Strömung AKL. Antikapitalistische Linke Die programmatischen Aussagen der AKL zeichnen sich durch vier Aspekte aus. Erstens fordert die AKL die Überwindung der bestehenden Gesellschaftsordnung und die Einführung des Sozialismus. In ihrer Gründungserklärung ist formuliert, dass das kapitalistische System mit dem Wegfall der Systemkonkurrenz in eine neue expansive und LINKSEXTREMISMUS 125

127 aggressive Phase getreten sei. DIE LINKE. müsse deshalb die gesellschaftliche Alternative zum Kapitalismus wieder in die öffentliche Debatte [...] bringen. Dabei sei eine an die Wurzeln gehende Kapitalismuskritik und eine Orientierung auf eine sozialistische Perspektive nötig. Als positiver Bezugspunkt sollten in diesem Zusammenhang gemäß einer Erklärung vom Juni 2006 die jüngsten Entwicklungen in Bolivien und Venezuela dienen. 7 Zweitens verharmlost die AKL die Diktatur in der DDR. Mitte März 2007 führte sie in Erfurt eine bundesweite Konferenz mit etwa 300 Teilnehmern durch. Unter ihnen befanden sich auch Funktionäre der DKP. In der Abschlusserklärung des Treffens heißt es u. a., dass sozialistische Errungenschaften zu würdigen seien. Man dürfe sich nicht an der totalitarismustheoretischen Diskreditierung gegenwärtiger oder vergangener Sozialismusversuche beteiligen. Aus der Geschichte der DDR müsse gelernt und deren fortschrittliche Entwicklungen gewürdigt werden. Drittens interpretiert die AKL den antifaschistischen Kampf als Kampf gegen das Ganze, d. h. gegen die bestehende Gesellschaftsordnung. Diese ist, ihrer Auffassung nach, für das Entstehen faschistischer Tendenzen verantwortlich. Bei dem Treffen im März 2007 mahnte die AKL in ihrer Abschlusserklärung, man müsse sich für einen konsequenten Antifaschismus einsetzen. Antifaschistischer Widerstand müsse sich auch gegen die strukturellen Bedingungen von Unfreiheit, Ungleichheit und Ausbeutung richten. Schließlich seien es die bestehenden Eigentums- und Machtverhältnisse, die faschistoiden Entwicklungen und Gefahren den Boden bereiten. Viertens betont die AKL die Bedeutung einer Bündnispolitik, um breiten gesellschaftlichen Widerstand gegen die herrschenden Verhältnisse zu erzeugen. Diese Bündnispolitik schließt ausdrücklich auch die DKP mit ein. Im September 2007 veröffentlichte die AKL eine Erklärung Für eine antikapitalistische Politik und Praxis in und mit der neuen Partei DIE LINKE. Darin heißt es, man habe mit bundesweiten Konferenzen auch Parteiunabhängige und VertreterInnen aus Gewerkschaften, den sozialen Bewegungen, der Friedensbewegung sowie aus der DKP in den Prozess der Parteibildung einbezogen und damit deutlich gemacht, dass die neue linke Partei sich nicht nur auf eine Fusion zwischen WASG und Linkspartei.PDS beschränken darf, sondern auf ein breites Bündnis von linken Kräften orientieren muss. Ziel sei ein strömungsübergreifendes Bündnis linker Kräfte in der Partei, deren gemeinsamer Nenner darin bestehe, dass die neue Linke auch perspektivisch keine Machtreserve der neoliberalen SPD werden darf, sondern eine Partei des Protestes, des Widerstands und der grundsätzlichen Kapitalismuskritik wird, die die Systemalternative wieder in die öffentliche Debatte bringt. 7 Im Juni 2006 fand in Berlin das erste bundesweite Treffen von rund 200 Unterzeichnern und Sympathisanten des Aufrufs statt. Es wurde eine Erklärung mit dem Titel Gegenmacht organisieren Gesellschaft verändern. Dieses Land braucht weder eine gespaltene noch eine angepasste, sondern eine starke Linke! verabschiedet. 126 LINKSEXTREMISMUS

128 In einer Erklärung vom 4. Januar mit dem Titel Antikommunismus stoppen! Bündnisfähigkeit ausbauen! DIE LINKE stärken! thematisierte die AKL die Bündnispolitik der Partei DIE LINKE. sowie die von Teilen der Partei ausgehenden Absetzbewegungen gegenüber anderen Kräften des linken Spektrums. Die öffentlichen Überlegungen, künftig ausschließlich Parteimitglieder bei den Listenaufstellungen zu berücksichtigen, gefährdeten die Bündnisfähigkeit und die linke Bewegung insgesamt. Verbindungen zur DKP würden teilweise als schädlich hingestellt. DIE LINKE. dürfe sich nicht dadurch schwächen, dass sie sich gegenüber marxistischen Strömungen in der Partei und kommunistischen Parteien wie der DKP abgrenzt. Dieses schädige die Partei langfristig selbst. Schließlich sei der Erfolg der Partei DIE LINKE. auch der Solidarität der DKP zu verdanken. Stattdessen müsse die Partei das Parlament als Bühne für die Darstellung emanzipatorischer Alternativen nutzen, um den öffentlichen Diskurs zu verändern und auf diese Weise breiten gesellschaftlichen Widerstand zu mobilisieren. In der Bundespartei ist die AKL lediglich ein informeller Zusammenschluss bzw. eine Strömung. Vom hessischen Landesverband der Partei DIE LINKE. ist sie demgegenüber formell als Landesarbeitsgemeinschaft anerkannt. In der jüngeren Vergangenheit entfaltete die AKL in Hessen vermehrt Aktivitäten. Zudem sind drei Mitglieder des Landesvorstands von DIE LINKE.Hessen der AKL zuzurechnen. Dies zeigt den Einfluss dieses offen extremistischen Zusammenschlusses im hessischen Landesverband der Partei DIE LINKE.. Das als Strömung in die Partei integrierte Netzwerk Sozialistische Linke (SL) wurde am 19. August 2006 im Rahmen eines Strömungstreffens unter dem Motto Sozialistische Linke: realistisch und radikal! als neue sozialistische Strömung in der Partei DIE LINKE. gegründet. Im Gründungsaufruf der SL heißt es: Wir stehen für eine Linke, die die Tradition der sozialistischen ArbeiterInnenbewegung in sich aufhebt und einen neuen Anlauf unternimmt, die Vorherrschaft des Kapitals zu überwinden. [...] Mit diesem Text melden wir uns als eine breite Strömung zu Wort, die an linkssozialdemokratische und reformkommunistische Traditionen anknüpft. Wichtige Grundlagen unserer Positionen bilden marxistische Gesellschaftsanalyse und Strategiediskussion. Sozialistische Linke Der SL welche in Hessen mit einer Landesgruppe aktiv ist gehören auch Trotzkisten eines am 1. und 2. September 2007 in Frankfurt am Main gegründeten marxistischen Netzwerks in der neuen Linken an. Dieses marxistische Netzwerk im Umfeld der Publikation marx21 Magazin für internationalen Sozialismus besteht aus ehemaligen Mitgliedern der Anfang September 2007 aufgelösten trotzkistischen Gruppe LR. Angehörige dieses Netzwerks sind in Positionen aufgestiegen, in denen sie Einfluss auf das Wirken des hessischen Landesverbandes ausüben können. In der Partei DIE LINKE. wollen die Mitglieder des Netzwerks in der Strömung SL für eine neue Partei des Klassenkampfes und eines Sozialismus von unten kämpfen. Sie beabsichtigen ein Netzwerk von Marxisten [zu] gründen, das in und mit der Sozialistischen Linken als übergreifende Strömung für eine am Klassenkampf orientierte Partei streitet. Sie wollen damit dazu beitragen, dass die Partei Die Linke. ihr Potential entfaltet. LINKSEXTREMISMUS 127

129 Das Ziel ihrer Politik ist die Überwindung der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung durch eine Revolution. So heißt es in einer Ausgabe der Publikation marx21: Massenbewegungen in Rätestrukturen [können] eine demokratische Selbstverwaltung entwickeln, welche in einer Revolution den bestehenden Staatsapparat entmachtet, das Großkapital enteignet und die Grundlage für eine neue Gesellschaftsordnung legt. Strömungspartei Die Partei DIE LINKE. ist eine Strömungspartei: Neben gemäßigten Strömungen agieren in ihr auch offen extremistische Zusammenschlüsse. Bemerkenswert ist, dass ein Großteil der extremistischen Strömungen als bundesweiter Zusammenschluss durch den Parteivorstand akzeptiert ist. Einige dieser extremistischen Strömungen stellen in Parteigremien Delegierte oder Funktionsträger. Bündnispolitik Kontakte zu extremistischen Organisationen Ergänzend zu der parlamentarischen Tätigkeit in Bund, Ländern und Gemeinden arbeitet DIE LINKE. im Rahmen ihres außerparlamentarischen Kampfes auch mit anderen linksextremistischen Organisationen und Parteien zusammen und beteiligt sich auch an von diesen initiierten bzw. gesteuerten Aktionen. In den Programmatischen Eckpunkten wird zum Verhältnis von parlamentarischer und außerparlamentarischer Arbeit klargestellt: Die parlamentarische Arbeit werden wir so gestalten, dass sie der Zusammenarbeit mit außerparlamentarischen Kräften der Linken [...] dient. Zusammenarbeit mit der DKP In Hessen arbeitet die Partei auf kommunaler Ebene zum Teil mit der DKP zusammen. So bilden die beiden Parteien im Kreistag Darmstadt-Dieburg eine gemeinsame Fraktion. Bei den hessischen Kommunalwahlen 2006 traten auch in weiteren Kommunen Mitglieder der DKP auf offenen Listen der Partei DIE LINKE. an und errangen Mandate. Internationale Kontakte Exemplarisch für die Zusammenarbeit von DIE LINKE.Hessen mit extremistischen Parteien und Gruppierungen steht auch der LinksTreff Georg Fröba in Darmstadt. Hier teilen sich die Stadtverordnetenfraktion von DIE Linke.Darmstadt, der Kreisverband DIE LINKE.Darmstadt Odenwald, die Kreistagsfraktion DIE LINKE. DKP Darmstadt-Dieburg und der Kreisverband DKP Darmstadt-Dieburg Büroräume. Ein weiterer Nutzer ist die Rote Hilfe Darmstadt. Auch auf Bundesebene bestehen vielfältige Kontakte zwischen der DKP und der Partei DIE LINKE.. Auf internationaler Ebene pflegt DIE LINKE. enge Beziehungen zu marxistisch-leninistischen Parteien. So ist die Partei Mitglied der im Mai 2004 in Rom gegründeten Partei der Europäischen Linken (EL). Diese ist ein Zusammenschluss von 19 Parteien aus 17 Ländern, darunter auch Parteien aus dem kommunistischen Spektrum. Die Solidaritätsarbeit mit Kuba ist für die Partei nach wie vor von großer Bedeutung. Diese Arbeit wird maßgeblich von der 1991 gegründeten AG Cuba Si beim Parteivorstand der Partei DIE LINKE. (AG Cuba Si) einem bundesweiten Zusammenschluss innerhalb der Partei getragen. Die politische und materielle Solidarität mit dem sozialistischen Kuba ist das wesentliche Anliegen der Arbeit von Cuba Si. Nach eigenen Angaben unterhält Cuba Si partnerschaftliche Kontakte mit der Kommunistischen Partei Kubas (PCC), der Partei Fidel Castros. 128 LINKSEXTREMISMUS

130 Die Partei DIE LINKE. greift wie in der Vergangenheit die PDS sowohl durch einzelne Vertreter als auch durch Gremien der Partei Anliegen der in Deutschland mit einem vereinsrechtlichen Betätigungsverbot belegten PKK bzw. deren Nachfolgestrukturen KADEK und KONGRA GEL auf, um diese politisch zu unterstützen. So hielt z. B. der Bundesvorsitzende der Partei DIE LINKE., Lothar Bisky auf dem 16. internationalen Kurdistan-Kulturfestival unter dem Motto Frieden in Kurdistan Freiheit für Öcalan am 6. September in Gelsenkirchen, einer von der dem KONGRA GEL nahestehenden Föderation Kurdischer Vereine in Deutschland (YEK-KOM) durchgeführten Veranstaltung, eine Rede. Dort forderte er die Aufhebung des Verbots des PKK-nahen Senders ROJ-TV. Das erst im Laufe des Sommers verhängte Verbot sei ein Verstoß gegen die Pressefreiheit. (s. S. 66) Landesverband Hessen Der Landesverband DIE LINKE.Hessen ist in 25 Kreis- und Stadtverbände gegliedert. Gliederung in Hessen Auf dem vom 29. bis 31. August in Lollar bei Gießen durchgeführten Landesparteitag der Partei DIE LINKE. wurden die beiden Vorsitzenden sowie die Mitglieder des geschäftsführenden und des erweiterten Landesvorstands gewählt. Von insgesamt 25 gewählten Mitgliedern des Landesvorstands waren 11 bereits im vorigen Vorstand vertreten. Landesparteitag Die Wahlen zum Landesvorstand zeigen erneut, dass offen extremistische Strömungen in der Partei DIE LINKE. über Einfluss verfügen. Zahlreiche Vertreter dieser Strömungen oder Personen mit einem Vorlauf bzw. einer aktiven Mitgliedschaft in der RH, der DKP oder in trotzkistischen Gruppierungen 8, wurden in den Vorstand gewählt. Sozialistische Alternative (SAV) Die SAV bezeichnet sich selbst als revolutionäre, sozialistische Organisation und ist die deutsche Sektion des trotzkistischen Dachverbandes Committee for a Workers International mit Sitz in London (Großbritannien). Entrismus der SAV In Hessen ist die SAV mit den Ortsgruppen Kassel, Fulda und Frankfurt am Main vertreten. Mitglieder dieser trotzkistischen Organisation gelangten im Rahmen der für Trotzkisten typischen Entrismuspolitik also durch die offene oder verdeckte Unterwanderung bestehender Organisationen zunächst in die WASG und darüber in die Partei DIE LINKE. Im Spätsommer des Berichtsjahres hat die SAV ihre Mitglieder in Ostdeutschland dazu aufgefordert wie in Westdeutschland größtenteils schon zuvor geschehen in DIE LINKE. einzutreten. Hierdurch wolle man den Kräften mehr Gewicht verleihen, die sich in der LINKEN für eine kämpferische, sozialistische Politik engagieren. Es gelte, innerhalb der Partei den Aufbau eines marxistischen Flügels zu forcieren und über den Rahmen des kapitalistischen Systems hinauszugehen als Ausgangspunkt, um den Kapitalismus zu überwinden und eine sozialistische Demokratie zu erkämpfen. 8 Dazu gehören die 2007 aufgelöste Gruppe LR und die SAV. LINKSEXTREMISMUS 129

131 Jugendarbeit Seit Mai 2007 existieren die beiden parteinahen Jugendorganisationen der Partei DIE LINKE., der Jugendverband Linksjugend [ solid] und der Hochschulverband DIE LINKE.Sozialistisch-Demokratischer Studierendenverband (DIE LINKE.SDS). Linksjugend [ solid] Linksjugend [ solid] bezeichnet sich selbst als Jugendverband der Partei DIE LINKE. Knapp ein Jahr nach seiner Gründung trafen sich die Delegierten vom 3. bis 5. April in Leipzig zu ihrem 1. Bundeskongress und verabschiedeten ein neues Grundsatzprogramm. Darin unterstützt Linksjugend [ solid] ausdrücklich die Ziele des grundsätzlichen Systemwechsel[s] und die Überwindung kapitalistischer Produktions- und Herrschaftsverhältnisse. Zudem bekennt sich Linksjugend [ solid] unmissverständlich zum Marxismus: Wir wollen eine Welt, in der Menschen friedlich, frei, gesund und gleichberechtigt leben können. Weil uns der Kapitalismus Menschenwürde, Gerechtigkeit, unzerstörte Natur, Freiheit, Demokratie und Gleichberechtigung nicht geben kann, haben wir uns in einem sozialistischen Jugendverband zusammengeschlossen. Unser Ziel ist und bleibt alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist (Karl Marx). Linksjugend [ solid] will also nicht weniger als die Welt verändern. Die Überwindung kapitalistischer Produktions- und Herrschaftsverhältnisse sei notwendig, um in einer Gesellschaft ohne Ausbeutung, Unterdrückung und Krieg ein menschenwürdiges Leben für [...] alle zu erreichen. Als SozialistInnen, KommunistInnen, AnarchistInnen kämpfen die Mitglieder von Linksjugend [ solid] für das Ziel einer klassenlose[n] Gesellschaft. Um diesen grundsätzlichen Systemwechsel zu erreichen, wolle Linksjugend [ solid] die Bühne des Parlamentarismus [...] nutzen, sich aber nicht der Illusion hingeben, dass dort der zentrale Raum für reale Veränderungen sei. Diese gesellschaftlichen Veränderungen fänden schwerpunktmäßig außerhalb der Parlamente statt. Massenhafter Widerstand, die Selbstorganisation in Betrieben, Schulen und Hochschulen und die bewusste Aktion der organisierten Mehrheit der Bevölkerung könnten zur Umwälzung der Verhältnisse führen. Der Kampf von Linksjugend [ solid] gelte dem Kapitalismus, für ein ganz anderes Ganzes für eine Gesellschaft, in der die Menschen ihr Leben endlich selbstbestimmt gestalten können. Als Quintessenz ihres Grundsatzprogramms formuliert Linksjugend [ solid]: Es reicht nicht, von einer besseren Welt zu reden. Wir müssen sie uns erschaffen. Hier und jetzt. Linke Politik darf nicht nur im Kopf stattfinden, sondern muss so radikal wie die Wirklichkeit gelebt werden. [...] Natürlich wollen wir den Kapitalismus zerstören. Aber diesem Zerstörerischen ruht auch etwas Schöpferisches inne. 130 LINKSEXTREMISMUS

132 Der Landesverband Linksjugend [ solid] Hessen ist nach eigener Darstellung im Internet in 13 Orts- bzw. Regionalgruppen untergliedert. Der Studentenverband DIE LINKE.SDS bekennt in seinem Programm offen, die bestehende kapitalistische Gesellschaftsordnung überwinden und den Sozialismus einführen zu wollen: Der Kapitalismus ist für uns nicht das Ende der Geschichte. Wir stehen ein für die Überwindung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung und stellen ihr unsere handlungsbestimmende Perspektive einer sozialistischen Gesellschaft entgegen. DIE LINKE.SDS In Hessen sind Hochschulgruppen von DIE LINKE.SDS in Darmstadt, Frankfurt am Main, Kassel, Gießen und Marburg aktiv. Deutsche Kommunistische Partei (DKP) Gründung: 1968 Landesvorsitzender: Bundesvorsitzende: Michael Beltz Heinz Stehr Mitglieder: In Hessen 450, bundesweit Medien (Auswahl): Unsere Zeit (UZ) (Auflage 6.300, Erscheinungsweise wöchentlich), Internet-Präsenz Die DKP versteht sich als revolutionäre Partei der Arbeiterklasse, die in der Tradition der 1956 vom Bundesverfassungsgericht verbotenen Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) steht. Sie ist eine orthodox-kommunistische Partei, deren Ziel [...] der Sozialismus Kommunismus ist. Die DKP verfolgt damit eindeutig verfassungsfeind - liche Ziele. Programmatik Sie hält die kapitalistischen Macht- und Eigentumsverhältnisse für die Ursache von Ausbeutung und Entfremdung, Krieg, Verelendung und Zerstörung unserer natürlichen Umwelt. Das kapitalistische Profitprinzip sei so zu einer Gefahr für den Fortbestand der menschlichen Zivilisation geworden. Daher will sie die bestehenden Verhältnisse in einem revolutionären Bruch, durch den Klassenkampf für eine neue Gesellschaftsordnung, den Sozialismus überwinden. Als erste Phase der kommunistischen Gesellschaftsformation sei der Sozialismus zugleich eine Etappe auf dem Weg zum Kommunismus. Dabei beruft sich die DKP auf die Lehren von Marx, Engels und Lenin: Fundament und politischer Kompass der Politik der DKP sind die von Marx, Engels und Lenin begründeten und von anderen Marxistinnen und Marxisten weitergeführten Erkenntnisse des wissenschaftlichen Sozialismus [...] Die DKP wendet diese Lehren des Marxismus auf die Bedingungen des Klassenkampfes in unserer Zeit an und trägt zu ihrer Weiterentwicklung bei. LINKSEXTREMISMUS 131

133 Parteitag Vom 23. bis 24. Februar dieses Jahres fand unter dem Motto DKP in Bewegung DKP für Sozialismus im hessischen Mörfelden (Landkreis Groß-Gerau) der 18. Parteitag der DKP statt. Im Parteitagsbeschluss Aktiv für die Zusammenarbeit der Linken betont die DKP die Bedeutung des gemeinsamen und partnerschaftlichen Handelns aller linken Kräfte. Der Parteivorsitzende Heinz Stehr machte in seiner Parteitagsrede deutlich, dass die DKP im Rahmen ihrer Bündnispolitik auch weiterhin die Zusammenarbeit mit der Partei DIE LINKE. suchen werde: Wir werden uns weiterhin zu Diskussionsveranstaltungen mit Mitgliedern der Linken treffen, um Meinungen auszutauschen, Standpunkte zu vertreten und auch konstruktive Debatten zu unterschiedlichen Positionen zu führen. [...] Wir setzen auf eine möglichst offene, kameradschaftliche, solidarische Zusammenarbeit, um konkret vor Ort mit den Menschen gemeinsam für eine Veränderung der politischen Verhältnisse zum Positiven zu wirken. Zunehmend wird das auch in der Wahlpolitik offensiv und konstruktiv praktiziert. Vierzigjähriges Bestehen Im Berichtsjahr feierte die DKP ihr vierzigjähriges Bestehen. An der zentralen Feier in Recklinghausen am 27. September nahmen nach Angaben der Partei über 600 Besucher teil, darunter auch Vertreter der Partei DIE LINKE.. Sevim Dagdelen, Bundestagsabgeordnete der Partei DIE LINKE., wird anlässlich der Jubiläumsfeierlichkeiten in der DKP-Zeitung Unsere Zeit wie folgt zitiert: Die DKP ist eine sehr traditionsreiche Partei, [...] deren Mitglieder [...] über Jahrzehnte Widerstand geleistet und sich für das Ziel einer gerechten, einer besseren Gesellschaft eingesetzt haben. Ich bin beeindruckt von dieser Stärke der Kommunisten. Ich wünsche mir, dass wir in unserem gemeinsamen Kampf größere Erfolge in der nächsten Zeit erreichen werden und ich freue mich auf den gemeinsamen Kampf. Überschattet wurden die Feierlichkeiten durch die schwierige Lage, in der sich die Partei befindet. Die DKP wird weiterhin durch andauernde Flügelkämpfe, Überalterung und eine angespannte finanzielle Lage geschwächt. Gliederung in Hessen In Hessen gliedert sich die DKP nach eigener Darstellung in 14 Kreisorganisationen. Sie sind unterschiedlich aktiv und geben zum Teil eigene Kleinzeitungen heraus. Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend Mit der DKP eng verbunden ist der Jugendverband der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend (SDAJ). Vorrangige Aufgabe der SDAJ ist die Entwicklung und Verbreitung eines sozialistischen Klassenbewusstseins unter Jugendlichen. In Hessen verfügt die SDAJ über etwa 50 Mitglieder. Rote Hilfe e. V. (RH) Gründung: 1975 Mitglieder: In Hessen 200, bundesweit Medien (Auswahl): Die Rote Hilfe (Erscheinungsweise vierteljährlich), Internet-Präsenz 132 LINKSEXTREMISMUS

134 Die RH wurde 1975 in Anlehnung an eine 1924 in der Weimarer Republik entstandene, von der KPD initiierte, Hilfsorganisation gleichen Namens gegründet. Die RH versteht sich als parteiunabhängige, strömungsübergreifende linke Schutz- und Solidaritätsorganisation. Diesem Selbstverständnis entsprechend sorgt die von Linksextremisten unterschiedlicher Ausrichtung getragene RH für politische und finanzielle Unterstützung von staatlicher Repression ausgesetzten Aktivisten aus dem gesamten linken und linksextremistischen Spektrum. Auf diese Weise versucht die RH, unter Linksextremisten Vertrauen in eine leistungsfähige Solidaritätsorganisation zu erzeugen und so staatlichen Strafandrohungen ihren abschreckenden Charakter zu nehmen. Entstehung und Selbstverständnis In ihrer Selbstdarstellung im Internet schreibt die RH: Unsere Unterstützung gilt allen, die als Linke wegen ihres politischen Handelns z. B. wegen presserechtlicher Verantwortlichkeit für staatsverunglimpfende Schriften, wegen Teilnahme an spontanen Streiks, wegen Widerstand gegen polizeiliche Übergriffe oder wegen Unterstützung der Zusammenlegungsforderung für politische Gefangene ihren Arbeitsplatz verlieren, vor Gericht gestellt, verurteilt werden. [...] Zu politischen Gefangenen halten wir persönlichen Kontakt und treten dafür ein, daß die Haftbedingungen verbessert, insbesondere Isolationshaft aufgehoben wird; wir fordern ihre Freilassung. (Fehler im Original) In der Publikation Die Rote Hilfe wirbt die RH für Solidarität mit inhaftierten Linksextremisten im In- und Ausland. In der Ausgabe publizierte und unterstützte die RH unter der Überschrift Freilassungskampagne Noch immer sitzen vier Gefangene aus der Roten Armee Fraktion (RAF) im Knast: Birgit Hogefeld, Eva Haule, Christian Klar und Brigitte Mohnhaupt folgende Erklärung: Wir Unterzeichner beziehen zum Teil unterschiedliche politische Positionen. gemeinsam halten wir jedoch die langjährige Einkerkerung der Gefangenen aus der RAF für einen eklatanten Verstoß gegen Menschenwürde und Menschenrechte. Auch nach bürgerlich-demokratischen Gesichtspunkten ist eine weitere Inhaftierung der Gefangenen nicht zu legitimieren. Deshalb fordern wir die politisch und juristisch Verantwortlichen der Bundesrepublik Deutschland auf: Laßt endlich Eva Haule, Birgit Hogefeld, Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar frei! (Fehler im Original) Publikation Die Rote Hilfe In der gleichen Ausgabe der Publikation kommt unter dem Titel Staatliche Repression zudem die ablehnende Haltung der RH gegenüber der freiheitlichen demokratischen Grundordnung deutlich zum Ausdruck. So wird die Bundesrepublik Deutschland beschrieben als ein nationalstaatlich fixiertes, bürgerlich-kapitalistisches Herrschaftssystem, das von unterschiedlichen Unterdrückungsmechanismen (wie Rassismus oder Sexismus) strukturiert und geprägt wird. In der Ausgabe der Publikation wird hierzu ausgeführt: Wir haben ein sehr ernsthaftes Anliegen und das richtet sich gegen die bestehenden Herrschaftsverhältnisse. Die RH verfügt bundesweit nach eigener Angabe über fast 40 Orts- und Regionalgruppen. In Hessen existieren Ortsgruppen der RH in Darmstadt, Gießen und Mainz LINKSEXTREMISMUS 133

135 Gliederung Wiesbaden. Die Darmstädter Ortsgruppe teilt sich ihre Büroräume u. a. mit Kreisverbänden der Partei DIE LINKE. und der DKP. Autonome Aktivisten: In Hessen rund 400, bundesweit Regionale Schwerpunkte: Publikationen (Auswahl): Frankfurt am Main, Offenbach, Wiesbaden, Hanau, Südhessen, Marburg, Gießen Swing (Erscheinungsweise zweimonatlich), Interim (Erscheinungsweise vierzehntägig), Internet-Präsenzen Autonome Organisationsstrukturen Selbstverständnis Die unter der Phänomenbezeichnung Autonome geführten linksextremistischen Gruppierungen und Einzelpersonen sind nicht als eine einheitliche Bewegung oder gar Organisation zu verstehen. Autonome sind weder als Partei noch auf eine andere formale Weise etwa als Verein organisiert. Unter autonomen Gruppierungen bestehen vielmehr lose Verbindungen und Netzwerke, aber auch lockere Gruppenstrukturen. Viele dieser Gruppen existieren jedoch nur temporär. Dennoch ist in den letzten Jahren beispielsweise in Frankfurt am Main eine höhere Beständigkeit einzelner autonomer Gruppierungen festzustellen. Ziele Die Überwindung des herrschenden Systems ist die gemeinsame Zielsetzung aller Autonomen. Sie bekämpfen die freiheitliche demokratische Grundordnung, um stattdessen eine herrschaftsfreie Gesellschaft zu errichten. Die autonome Bewegung verfügt über keine gefestigte oder einheitliche programmatische Ausrichtung. Vielmehr sind unterschiedliche ideologische Ansätze zu beobachten. So gibt es innerhalb der Bewegung sozialrevolutionäre Vorstellungen, die sich zum einen auf kommunistische bzw. marxistische sowie zum anderen auf anarchistische Erklärungsansätze beziehen. Autonome lehnen das staatliche Gewaltmonopol ab und empfinden eigene Gewaltanwendung zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele als legitim. Sie wollen ihren Vorstellungen mit allen Mitteln, d. h. auch durch die Anwendung von Gewalt, Nachdruck verleihen. Derartige Aktivitäten umfassen zivilen Ungehorsam, Demonstrationen, Blockaden, Sabotage sowie symbolische und Direkte Aktion[en]. Dabei reichen die Aktionsformen von gewaltsamen Angriffen auf (vermeintliche) Rechtsextremisten, dem Überrennen von Polizeiketten, Sachbeschädigungen bis hin zum Anzünden von Autos. Auftreten Um sich einer möglichen Identitätsfeststellung und Strafverfolgung zu entziehen, treten Autonome bei Aktionen teilweise vermummt bzw. in überwiegend schwarzer Kleidung auf. Diese Konspirativität ist auch im Rahmen der szeneinternen Kommunikation über 134 LINKSEXTREMISMUS

136 das Internet und in Szenezeitschriften festzustellen. So werden beispielsweise Mobilisierungsaufrufe für Demonstrationen auf den Internet-Präsenzen der Szene wenn überhaupt mit Pseudonymen unterzeichnet. Auch bei Auftritten in der Öffentlichkeit werden mitunter falsche Namen benutzt. Die Kommunikation sowie der Informationsaustausch untereinander erfolgt in der Szene neben der Nutzung von Telekommunikationstechnik (Handys und Internet) auch über Publikationen, Infoläden und persönliche Kontakte. Autonome Aktionsfelder Antifaschismus Eines der Hauptaktionsfelder für Linksextremisten und insbesondere Autonome ist der Themenbereich Antifaschismus. Hierbei setzen Autonome den Kampf gegen Rechts mit dem Kampf gegen das Ganze, das heißt gegen den demokratischen Rechtsstaat gleich. Die Wurzeln des Faschismus werden in der bürgerlichen Klassengesellschaft gesehen. Demokratie und Faschismus, so Autonome, sicherten die Macht des Kapitals. Kampf gegen Rechts als Kampf gegen das Ganze Die grundsätzliche Attraktivität der Thematik Antifaschismus für Autonome liegt in verschiedenen Aspekten begründet: Zum Einen nutzen Autonome bei ihren antifaschistischen Aktivitäten die Tatsache, dass zentrale Elemente rechtsextremistischer Ideologie Nationalismus und Rassismus in der Bevölkerung keine Akzeptanz finden. Dadurch erreichen antifaschistisch ausgerichtete Proteste ein über die linksextremistische Szene hinausgehendes Mobilisierungs- und Rekrutierungspotenzial. Zum Anderen können Autonome ihr eigentliches revolutionäres Ziel des Kampfes gegen das Ganze, also den demokratischen Rechtsstaat, bei antifaschistischen Veranstaltungen sehr anschaulich und einprägsam für nichtextremistische Teilnehmer vermitteln. Die Argumentation Autonomer, dass der Faschismus von den staatlichen Organen toleriert oder gar unterstützt werde, da er die Macht des Kapitals stütze, wird durch die Einsätze der Polizei zur Durchsetzung des Demonstrationsrechts der Rechtsextremisten scheinbar gestützt. Eben diesen Eindruck versuchen Autonome u. a. durch entsprechende Parolen ( Deutsche Polizisten schützen die Faschisten ) zu erwecken. Bei Gegendemonstrationen gegen Aufmärsche von Rechtsextremisten verfolgen Autonome das Ziel, die Aufmärsche mit allen Mitteln zu verhindern. Gegendemonstrationen Anlässlich der Wahlkampfkundgebungen rechtsextremistischer Parteien am 19. und 20. Januar auf dem Frankfurter Römerberg riefen im Vorfeld Autonome sowie linksextremistisch beeinflusste Gruppierungen und Organisationen dazu auf, die Kund- LINKSEXTREMISMUS 135

137 gebungen mittels Aktionen und Gegenveranstaltungen zu verhindern. Federführend hierfür war die linksextremistisch beeinflusste Anti-Nazi-Koordination Frankfurt a. M. (ANK). Weiterhin beteiligten sich autonome Gruppierungen an einer Veranstaltung gegen eine Kundgebung des rechtsextremistischen Spektrums am 11. Oktober in Wetzlar. Auf Grund von Blockadeaktionen der Gegendemonstranten musste die Marschroute der Rechtsextremisten umgeleitet werden. (s. S. 94) Ohne schwere Zwischenfälle verliefen eine Kundgebung der NPD sowie eine Gegenveranstaltung zu der auch linksextremistische Gruppen mobilisiert hatten am 8. November in Fulda. Auf der Rückreise von der NPD-Demonstration wurden jedoch Personen aus der rechtsextremistischen Szene im S-Bahnbereich des Frankfurter Hauptbahnhofs vermutlich durch Autonome mit Flaschen sowie Baseballschlägern geschlagen bzw. beworfen, mit Springerstiefeln getreten und mit Reizgas besprüht. Dabei wurden durch die Angreifer auch zwei Türscheiben einer S-Bahn eingeschlagen. Recherchen und Outings Einen weiteren Teilbereich des Aktionsfeldes Antifaschismus stellen von Autonomen durchgeführte Recherchen, Aufklärungsarbeit, Dokumentation und Verbreitung von Informationen über Rechtsextremisten dar. Hierdurch sollen einzelne Personen aus dem rechtsextremistischen Spektrum etwa mittels Flugblattaktionen, Farbschmierereien oder Internetveröffentlichungen als Faschisten geoutet werden. Antirepression Neben dem Bereich Antifaschismus gewinnt das Aktionsfeld Antirepression für Autonome in Hessen zunehmend an Bedeutung. Staatliche Repression Unter Repression verstehen Linksextremisten alle Formen strukturell verankerter Unterdrückung und Einschüchterung durch massives, gewaltsames und autoritäres Auftreten des Staates unter der Zuhilfenahme seiner Repressionsorgane also vor allem der Polizei. Dem Empfinden der Linksextremisten nach drückt sich das breite Angebot repressiver Politik durch Polizeiknüppel über Strafbefehle bis hin zum Wegsperren aus. Kampagne der Jugendantifa Frankfurt/M In diesem Zusammenhang führte die Jugendantifa Frankfurt M vom 8. bis zum 12. April eine Kampagne gegen Polizeigewalt und Repression durch. Die unter dem Motto Keine Freunde, keine Helfer! stehende Kampagne fand ihren Abschluss und Höhepunkt in einer Demonstration am 12. April in Frankfurt am Main, an der sich auch mehrere autonome Gruppen beteiligten. Im Verlauf der Veranstaltung wurden drei Polizeibeamte verletzt, nachdem ein aus dem Aufzug heraus geworfener Böller neben den Köpfen der Beamten explodierte. Ferner kam es zu Sachbeschädigungen. An der jährlich in Frankfurt am Main durchgeführten Nachttanzdemo am 2. Oktober nahmen im Berichtsjahr etwa Personen, darunter auch Autonome, teil. Während 136 LINKSEXTREMISMUS

138 der Versammlung kam es zu Farbschmierereien, Vermummungen, zahlreichen Sachbeschädigungen an Autos sowie zu Stein- und Flaschenwürfen auf eingesetzte Polizeibeamte. Nach Auflösung der Nachttanzdemo wurden in der Innenstadt weitere Sachbeschädigungen und Farbschmierereien durchgeführt. Nachttanzdemo Vor allem aber im Nachgang zur Nachttanzdemo fanden mehrere Aktionen der autonomen Szene in Frankfurt am Main als Racheakte statt. Als Legitimation wurde die Repression der Stadt und des Ordnungsamtes im Zusammenhang mit den Auflagen für die Nachttanzdemo bzw. deren Auflösung durch die Polizei angeführt. Noch in der Nacht nach der Demonstration wurde ein Einsatzfahrzeug der Polizei mit Steinen, pyrotechnischen Gegenständen sowie einer Stahlstange durch schwarz gekleidete, vermummte Personen angegriffen und stark beschädigt. Am 4. Oktober drangen etwa 50 Autonome in Frankfurt am Main in den Veranstaltungssaal des Balls der Polizei ein und störten den Festverlauf. Im Rahmen der Aktion kam es u. a. zu Pöbeleien und Sachbeschädigungen im Gebäude. Außerdem wurde am 7. Oktober in einem Frankfurter Industriegebiet mit Molotow- Cocktails ein Brandanschlag auf einen Bus der Polizei verübt. In einer Interneterklärung der autonomen antifa [f] unter der Überschrift Nachspielzeit mit Bus und Ball hieß es im Nachhinein: [Die] abgefackelten Reisebusse der Bundespolizei sind [...] ein Grund für mehr als nur klammheimliche Freude. [...] Repression kommt hier teuer. Am 8. November drangen aus einer Gruppe von 100 Personen etwa zehn Personen in den Vorraum des Frankfurter Römers ein. Es wurden Plakate und Flugblätter mit dem Text Fuck the police hinterlassen. Im Anschluss an die Aktion veranstalteten etwa 65 Personen an einer U-Bahnhaltestelle eine Musikveranstaltung, den sogenannten Cityrave. Wände und Böden wurden mittels Kreide und Stiften mit Hinweisen auf die Homepage der Nachttanzdemo sowie beleidigenden Texten gegen die Polizei beschmiert. Selbstverwaltete Freiräume Ein weiteres Aktionsfeld für Autonome ist der Kampf für den Erhalt und die Schaffung selbstverwalteter Freiräume. Unter Freiräumen verstehen Autonome Räume ohne vorgefertigte Definition, Wertesystem und Funktion, ein Raum der nach belieben selbst gestaltet und gefüllt werden kann. (Fehler im Original) Bedeutung in der Szene Diese Freiräume werden von Autonomen als eine Art Gegengewicht zu Kommerzialisierung, zur Vertreibung aus den Städten und öffentlichem Raum, sowie zum Kapitalismus ganz allgemein gesehen. In diesen Inseln im Kapitalismus könne man sich, so ein Beitrag in der Szenezeitschrift Interim, die Zeit bis zu seiner [gemeint ist der Kapitalismus] Abschaffung etwas [...] versüßen. LINKSEXTREMISMUS 137

139 Als Teil der selbstverwalteten Freiräume bilden insbesondere Infoläden Schaltstellen in der Kommunikation von Autonomen. Freiraumkampagnen Mit dem Ziel der Schaffung weiterer Freiräume initiierten hessische Autonome im Berichtsjahr mehrere öffentlichkeitswirksame Kampagnen. An europaweiten Aktionstagen am 11. und 12. April beteiligten sich hessische Autonome unter dem Motto Aktionstage für selbstverwaltete Freiräume mit Veranstaltungen in Marburg und Darmstadt. Weiterhin wurde mit Unterstützung verschiedener hessischer autonomer Gruppierungen eine Kampagne Für ein autonomes Zentrum in Darmstadt! ins Leben gerufen. Sie verfolgt das Ziel, bestehende linke Freiräume zu verteidigen und darüber hinaus neue Freiräume einzufordern. In der Nacht vom 2. auf den 3. August besetzten Personen welche ihrem Habitus nach zum Teil dem autonomen Spektrum zuzurechnen sind das leerstehende ehemalige Jugendzentrum Bockenheim in Frankfurt am Main. Auf dem Balkon wurde ein Spruchband mit der Aufschrift faites votre jeu altes Juz wieder Besetzt! (Fehler im Original) angebracht. Inzwischen dient das besetzte Haus auch als weiterer Treffpunkt für Autonome in Frankfurt am Main. Daher erfreuen sich die Hausbesetzer breiter Unterstützung durch zahlreiche autonome Gruppierungen, welche die Besetzungsaktion auch auf ihren Internet-Präsenzen thematisieren und begrüßen. Aktuelle Entwicklungen und Tendenzen Im Berichtsjahr gab es in Bezug auf Autonome eine Reihe interessanter Entwicklungen. Neugründungen Erstens konnten zahlreiche neue Gruppierungen festgestellt werden. Damit hat sich der Trend aus dem Jahr 2007 fortgesetzt, dass sich neue autonome Gruppierungen in Hessen bilden. Neugründungen waren sowohl im regionalen Schwerpunkt der autonomen Szene, dem Rhein- Main-Gebiet, als auch in Nord- und Mittelhessen zu verzeichnen. Verfestigung von Strukturen Zweitens haben sich vor allem in Frankfurt in Main bereits bestehende Strukturen verfestigt. Autonome Gruppierungen wie beispielsweise die autonome antifa [f] oder die Jugendantifa Frankfurt M sind schon seit mehreren Jahren durchgängig aktiv und nehmen innerhalb der Szene eine führende Rolle ein. Verstärkter Kampf gegen Rechts Drittens haben Autonome eine verstärkte Präsenz von Rechtsextremisten in der Öffentlichkeit ausgemacht. Sie meinen, hierauf reagieren zu müssen. Dies erfolgt auch durch vermehrte körperliche Angriffe gegen Rechtsextremisten. Auf Grund der starken Polizeiaufgebote bei Demonstrationen des rechtsextremistischen Spektrums ist es den linksextremistischen Gegendemonstranten, die vorrangig die direkte Konfrontation mit den Teilnehmern der rechtsextremistischen Aufmärsche suchen, nahezu unmöglich, direkt zu deren Aufmärschen zu gelangen. Gerade im 138 LINKSEXTREMISMUS

140 Berichtsjahr fanden die Aktionen der Autonomen gegen Rechtsextremisten daher verstärkt am Rande oder völlig unabhängig von Veranstaltungen statt. Dies erschwert die Vorhersehbarkeit solcher zum Teil gewaltsamen Aktionen für die Sicherheitsbehörden zusätzlich. Mit dieser Vorgehensweise tragen Autonome zudem ihrer eigenen Forderung Rechnung, in Zukunft neue Konzepte gegen eine erstarkende, zunehmend aggressivere und selbstbewußtere Nazibewegung einerseits und immer brutaler gegen antifaschistischen Widerstand vorgehende Bullen andererseits zu entwickeln. (Fehler im Original) Die in dieser Äußerung mitschwingende, vehemente Kritik an der Polizei ist Ausdruck des vierten Trends: Die Polizei als sichtbarstes Repressionsorgan des Staates rückt als Feindbild zunehmend in den Fokus der hessischen Autonomen. So wurden der Polizeipräsident sowie der Ordnungsdezernent von Frankfurt am Main nach der Nachttanzdemo im Internet von Autonomen massiv angefeindet: Die Schuld für die Eskalation liegt bei Ordnungsamt, Stadt und Polizei. Jeder Mensch, der sich nicht der autoritären Politik in dieser Stadt unterwirft, hat ganz offensichtlich damit zu rechnen, von Achim Thiel und Volker Stein verprügelt zu werden. [...] Herr Stein und die Stadt Frankfurt haben heute nicht zum letzten Mal von uns gehört. Polizei als Feindbild Die autonome Szene kündigte an, dass sie die städtische Politik mit allen Mittel so lange kritisch begleiten werde, bis Stein und Thiel zurückgetreten sind. Fünftens konnte sowohl bei Angriffen gegen Rechtsextremisten, als auch bei Aktionen gegen die Polizei in der jüngsten Vergangenheit eine deutlich erhöhte Gewaltbereitschaft Autonomer beobachtet werden. So wurden u. a. wie oben dargestellt von einer Demonstration zurückkehrende Rechtsextremisten am 8. November am Frankfurter Hauptbahnhof massiv von Autonomen angegriffen. Auch während der Nachttanzdemo 2008 wurde die hohe Gewaltbereitschaft Autonomer deutlich, als es zu zahlreichen körperlichen Angriffen auf Polizisten kam. Hohe Gewaltbereitschaft LINKSEXTREMISMUS 139

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143 NUTZUNG DES INTERNETS DURCH EXTREMISTEN Allgemeines Extremisten aller Phänomenbereiche nutzen das Internet zur Selbstdarstellung, zur Verbreitung ihrer Propaganda, zur Radikalisierung und Rekrutierung neuer Anhänger sowie als Kommunikationsmedium. Die aktuellen Entwicklungen in den einzelnen Extremismusbereichen werden nachfolgend näher beleuchtet. Islamismus und islamistischer Terrorismus Internet als zentrales Kommunikationsmedium Das Internet ist für Islamisten ein ganz zentrales Kommunikationsmedium. Jihadisten nutzen die Möglichkeiten des weltweiten Netzes, um Kontakt zu anderen Mujahidin in allen Teilen der Welt zu halten. Dabei werden nahezu alle Möglichkeiten der elektronischen Kommunikation ausgeschöpft. Vor allem die sogenannte Internet-Telefonie ( Voice-Over-IP, Skype usw.) gewinnt in der globalen Kommunikation zwischen Jihadisten zunehmend an Bedeutung. Informationsplattform Daneben wird das Internet aber zunehmend auch als Informationsplattform genutzt. So existieren zahlreiche Webseiten mit islamistischen oder jihadistischen Inhalten. Sie werden zumeist in arabischer Sprache veröffentlicht und haben propagandistischen Charakter. Allerdings konnten in den vergangenen Jahren auch deutschsprachige Webseiten festgestellt werden, die sich mit dem Themenfeld des gewaltsamen Jihad beschäftigen. Mit diesen Internetangeboten sollen offensichtlich gerade Muslime angesprochen werden, die die arabische Sprache nicht beherrschen. So finden sich auf diesen Seiten z. B. deutsch untertitelte Videobotschaften islamistischer Führer sowie Anschlags- und Tötungsvideos mit deutschsprachigen Untertiteln. Aber auch vollständige Bücher jihadistischer Theoretiker sind im Internet in deutscher Sprache zu finden. In einem Auszug aus einem Buch über den Jihad ist zu lesen: Wenn vom Jihad gesprochen wird, bedeutet dies; Kampf gegen die Kuffar (Ungläubigen), aber auch gegen Muslime die gegen Muslime kämpfen. [...] Es soll unter den Muslimen eine Gruppe sein, die immer bereit ist, die Ummah (Muslimische Gemeinschaft) gegen die Kuffar (Ungläubigen) zu verteidigen. Aber auch soll diese Gruppe zwei bis drei mal im Jahr Angriffe gegen die Kuffar (Ungläubige) führen. [...] (Fehler im Original) 142 NUTZUNG DES INTERNETS DURCH EXTREMISTEN

144 Im Verhältnis zu arabisch- oder türkischsprachigen Internetauftritten islamistisch-jihadistischer Prägung sind rein deutschsprachige Webseiten jedoch selten. Allerdings hat die Zahl deutschuntertitelter oder in deutscher Sprache produzierter Botschaften islamistisch-terroristischer Gruppierungen, von deren Führern oder prominenten Anhängern im Internet zugenommen. Auf diese Weise soll gezielt auf in Deutschland lebende Jihadisten weiter radikalisierend eingewirkt werden. Im Mai erschien eine Videobotschaft, die der Islamischen Jihad Union (IJU) zuzurechnen ist. In dieser wandte sich der aus dem Saarland stammende Konvertit Eric Breininger in deutscher Sprache offenbar insbesondere an deutschsprachige Muslime. Inhaltlich wollte er diese zur Unterstützung des gewaltsamen Jihad und der IJU bewegen 1. Gleichzeitig stellte er Terroranschläge gegen deutsche Interessen in Aussicht: Wie wir wissen sind die Deutschen unmittelbar an diesem Krieg beteiligt der in Afghanistan stattfindet. [...] Desweiteren helfen sie den amerikaner indem sie im Inland das errichten von Stuetzpunkte zulassen. Diese Stuetzpunkte werden von den amerikaner genutzt um Krieg gegen die muslime zu fuehren. Solange das dies der fall ist muss Deutschland und jedes andere Besatzungsland mit Anschlaege von seiten der muslime erwarten. Wer Krieg will der bekommt den auch. (Fehler im Original) Rein deutschsprachige Seiten eher selten Videobotschaft Islamische Jihad Union Auch im Zusammenhang mit islamistischen Schulungen und Vortragsveranstaltungen, sogenannten Islamseminaren, kommt dem Internet eine zentrale Bedeutung zu: Islamistische Prediger kündigen dort ihre Auftritte in Moscheen an oder veröffentlichen Vortragstexte oder Videomitschnitte ihrer Veranstaltungen. Vielfach lassen sich die salafistisch 2 geprägten islamistischen Grundpositionen der jeweiligen Vortragenden bereits in ihren Veröffentlichungen im Internet nachweisen. Gelegentlich wird sogar eine jihadistische Orientierung erkennbar, unmittelbare Aufrufe zur Beteiligung am Jihad bleiben aber sowohl in öffentlichen Islamseminaren als auch in den dazugehörigen Internetauftritten die Ausnahme. Ankündigungen für Islamseminare Die Betreiber islamistischer Internetangebote sind sich bewusst, dass die von ihnen veröffentlichten Inhalte nicht nur von einem interessierten Publikum, sondern auch von den Sicherheitsbehörden zur Kenntnis genommen werden. Deshalb versuchen vor allem die Betreiber jihadistischer Internetseiten möglichst unerkannt zu bleiben. Das Strafverfahren gegen Aktivisten der Globalen Islamischen Medien Front (GIMF) 3 in Österreich beobachteten auch in Deutschland ansässige Online-Jihadisten mit Aufmerksamkeit. So ist in einem sogenannten Weblog-Beitrag zu lesen: An die Brüder und Schwestern: [...] lernt von den Fehlern unserer Brüder und macht nicht dieselben Fehler. [...] Gebt acht mit wem ihr im Internet chattet, denn es taumeln sich viele Agenten in Chaträumen und Foren herum [...] Schreibt nicht Sachen in Foren, die gegen euch vor Gericht verwendet werden können [...] (Fehler im Original) 1 Vgl. S Vgl. S Vgl. S. 38. NUTZUNG DES INTERNETS DURCH EXTREMISTEN 143

145 Wichtiges Radikalisierungsmedium Ausblick Das Internet wird auch in Zukunft eines der wichtigsten Radikalisierungsmedien im Bereich des Islamismus und islamistischen Terrorismus bleiben. Durch die Möglichkeit, Videoclips ins Internet zu stellen, erhalten interessierte junge Muslime weltweit immer mehr die Gelegenheit, sich einen vermeintlich authentischen Eindruck vom Leben und Kampf der Mujahidin in Zentralasien oder anderen Regionen der Welt zu verschaffen. In den oft professionell produzierten und mit Heldengesängen unterlegten Videobotschaften wird der Kampf der Mujahidin verherrlicht und ideologisch unterfüttert. So können gerade Muslime mit geringem Wissen über ihre Religion sowie historische und politische Zusammenhänge den Eindruck gewinnen, dass es nicht nur ihre religiöse Pflicht sei, gegen die Ungläubigen zu kämpfen, sondern auch eine große Ehre. Zunahme deutschsprachiger Propaganda Bereits heute deutet Vieles darauf hin, dass vor allem deutschsprachiges jihadistisches Propagandamaterial im Internet zukünftig insbesondere im Vorfeld der Bundestagswahl 2009 weiter zunehmen wird. Dies bestätigt die derzeitige Einschätzung der Sicherheitsbehörden, nach der Deutschland als Teil eines weltweiten Gefahrenraums nach wie vor im Zielspektrum islamistischer Terroristen liegt. In den vergangenen Jahren haben sich immer wieder Hinweise darauf ergeben, das auch in Deutschland aufgewachsene Muslime für jihadistische Ideologien empfänglich sind. Einige von ihnen haben bewusst den Weg in jihadistische Ausbildungslager gesucht oder sich terroristischen Gruppierungen im Ausland angeschlossen. Dort werden sie offenbar auch im Kampf an der Informationsfront eingesetzt, um etwa die oben genannten Propagandavideos in deutscher Sprache erstellen zu können. Auf diese Weise stellt die jihadistische Internetpropaganda einen wesentlichen Baustein für einen sich selbst erhaltenden Radikalisierungskreislauf dar, der letztlich dazu führen soll, dass den jihadistischen Vordenkern auch in Zukunft eine genügende Zahl von möglichen Kämpfern zur Verfügung steht. Allgemeiner Ausländerextremismus Auch Organisationen aus dem Bereich des Ausländerextremismus nutzen intensiv nahezu alle Möglichkeiten des Internets, insbesondere zur Selbstdarstellung der Aktivitäten und der programmatischen Ziele, zur Verbreitung von Propaganda sowie zur Rekrutierung neuer Anhänger und Kämpfer. So unterhalten hierfür z. B. die militanten Volksverteidigungskräfte (HPG) der kurdischen Terrororganisation KONGRA GEL eine eigene Internetseite. Neben Nachrichten und Erklärungen über politische und militärische Ereignisse im Zusammenhang mit ihrem Freiheitskampf veröffentlichen die HPG dort u. a. in deutscher Sprache Texte, in denen sie den Guerillakrieg verherrlichen. Dies geschieht mit angeblichen Tagebüchern von Kämpfern sowie verklärenden Gedichten über den bewaffneten Kampf. Ergänzt werden die Texte durch Fotogalerien, die vorwiegend die Bergwelt Kurdistans zeigen. So will der KONGRA GEL vor allem 144 NUTZUNG DES INTERNETS DURCH EXTREMISTEN

146 bei Jugendlichen ein idealisiertes Bild des von den HPG geführten Guerillakrieges schaffen. In einem auf deutsch verfassten Aufruf mit dem Titel Jugend, für den Sieg gleich in die Berge heißt es: Wir rufen Tausende von weiblichen und männlichen Jugendlichen in die Herrlichkeit der Zagrosberge, die mit dem Blut unserer Märtyrer getränkt sind. All unsere Guerillakräfte sind auf den Bergen in Stellung. In diesem Sinne, wendet eure Perspektive in die Berge, unserem Heiligtum, um in kürzester Zeit mit den Guerillakräften zusammen zu kommen. Die HPG verherrlicht getötete Kämpfer im Internet als Märtyrer, hierzu haben sie eine eigene Onlinedatenbank eingerichtet, in der biographische Angaben und Fotos der Getöteten enthalten sind. Auch die tamilischen LTTE nutzen das Internet in großem Umfang. Auf zahlreichen, ihren Zielen offensichtlich nahestehenden Internetseiten werden propagandistische Texte und Bilder vorwiegend in tamilischer und englischer, teilweise in deutscher Sprache veröffentlicht. Auf ihnen wird einseitig über den Befreiungskampf der LTTE auf Sri Lanka berichtet, um Tamilen in aller Welt zu beeinflussen. Dabei zielen diese Internetseiten vor allem auf die Indoktrinierung von Kindern und Jugendlichen ab. Neben Informationen über die tamilische Sprache und Kultur werden auf ihnen auch bewaffnete weibliche Jugendliche dargestellt. Befreiungskampf der tamilischen LTTE Besonders erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang eine Internetseite, auf der in großem Umfang Propagandamaterial mit Bezug zur LTTE zum Kauf angeboten wird. Den Schwerpunkt des Angebots bildet die weltweite Versandmöglichkeit propagandistischer Audio-CDs, von Büchern, Zeitschriften und DVDs. Vereinzelt sind auch Veröffentlichungen in deutscher Sprache erhältlich. Umschläge und Verpackungen der angebotenen Artikel sind häufig mit martialischen Bildern von Truppenaufmärschen, schwerem Kriegsgerät der Guerilla sowie mit Porträts einzelner LTTE-Führer versehen. Ausblick Je mehr sowohl der KONGRA GEL in der Türkei als auch die LTTE auf Sri Lanka durch das Vorrücken der Regierungstruppen in die militärische und politische Defensive gedrängt werden, desto mehr wird das Internet für beide Terrororganisationen an Bedeutung zunehmen. Gerade aus einer Position der Schwäche heraus wird ihnen daran gelegen sein, propagandistisch auf ihre schmaler werdende Basis in ihrer Heimat aufmerksam zu machen, Befürworter ihres Befreiungskampfes für ein breites Spektrum öffentlicher Aktionen zu mobilisieren und die demokratische Öffentlichkeit für ihre Ziele zu interessieren. Nicht zuletzt können KONGRA GEL und LTTE durch die intensivere Nutzung des Internets auch das Fundament für eine größere Spendenbereitschaft unter ihren Anhängern und Sympathisanten für die Finanzierung des bewaffneten Kampfes in der Türkei und auf Sri Lanka verbreitern. Daher ist zu erwarten, dass die Aktivitäten beider Organisationen im Internet zunehmen werden, falls nicht staatliche Internet hat Auswirkung auf Spendenbereitschaft NUTZUNG DES INTERNETS DURCH EXTREMISTEN 145

147 Gegenmaßnahmen sowohl in den Heimatländern als auch weltweit die rechtlichen, technischen und politischen Voraussetzungen hierfür entscheidend beschränken. Rechtsextremismus Weltnetz : wichtiges Rekrutierungsmedium Das Internet hat sich in den letzten Jahren vom begleitenden und ergänzenden zu einem zentralen Medium rechtsextremistischer Strukturen entwickelt. Es dient der Szene als Informations- und Kommunikationsplattform, festigt den Zusammenhalt und ist zugleich ein wichtiges Instrument zur Rekrutierung von Sympathisanten. Rechtsextremisten bezeichnen das Internet als Weltnetz. Hessen: rund 50 rechtsextremistische Websites Die Zahl der rechtsextremistischen Homepages wird bundesweit unverändert auf rund geschätzt. In Hessen sind derzeit rund 50 rechtsextremistische Internetseiten bekannt. Die Fluktuation der Internetauftritte ist sehr hoch. Anlassbezogene Sonderseiten zu Demonstrationen, Kampagnen und Veranstaltungen werden von den verantwortlichen Personen oder Organisationen kurzfristig ins Netz gestellt. Für größere Veranstaltungen wird zum Teil massiv mobilisiert. So wurde für eine Demonstration am 11. Oktober in Wetzlar, unter dem Motto Es passiert auch vor deiner Tür Gegen Kinderschänder, bundesweit geworben. 4 Rechtsextremisten stellten auf dem allgemeinen Video-Portal You Tube im Vorfeld der Demonstration ein Werbe-Video ein. NPD Die hessische Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) präsentierte sich im Berichtszeitraum zum Einen als Landesverband und zum Anderen mit zwölf Kreisverbänden im Internet. Nicht alle Seiten weisen aktuelle Bezüge auf, einige sind über längere Zeiträume nicht aufrufbar. Auch Internetseiten von NPD-Ortsverbänden sind inzwischen keine Seltenheit mehr. Neben regionalen Beiträgen sind auf den einzelnen Seiten auch bundesweite Themen aufrufbar. Für viele rechtsextremistische Demonstrationen wird auf den NPD-Homepages geworben. Weiterhin verweisen die NPD-Internetseiten auf Homepages rechtsextremistischer Gruppierungen wie z. B. die der Jungen Nationaldemokraten (JN) oder Seiten neonazistischer Kameradschaften. Volksfront-Medien Die rechtsextremistische Internetplattform Kritische Nachrichten der Woche 5, ursprünglich im Umfeld der hessischen NPD entstanden, hat sich von ihrer Anbindung an die Partei gelöst. Sie ist inzwischen in die rechtsextremistische Plattform Volksfront-Medien integriert, die mit Video-Material aus der gesamten rechtsextremistischen Szene versorgt wird. In diesem Portal werden neonazistische Veranstaltungen in Form von Videoclips aufbereitet. Außerdem erfolgen Verweise auf Termine rechtsextremistischer Veranstaltungen und es gibt Tipps für das Verhalten von Rechtsextremisten gegenüber Sicherheitsbehörden. 4 S. S. 94 f. 5 Siehe hessischer Verfassungsschutzbericht 2007, S NUTZUNG DES INTERNETS DURCH EXTREMISTEN

148 Auch hessische Neonazis sind mit ihren sogenannten Aktionsbüros im Internet präsent. Über diese erfolgt mittlerweile der wesentliche Teil der Mobilisierung von Rechtsextremisten für Demonstrationen und Aktionen des rechten Spektrums. Beispiele hierfür sind das Aktionsbüro Rhein-Neckar und, mit deutlichen Abstrichen in der Resonanz, das Aktionsbündnis Mittelhessen. Internet-Präsenz von Aktionsbüros Das Aktionsbüro Rhein-Neckar ist im Dreiländereck Hessen Rheinland-Pfalz Baden- Württemberg aktiv und hat seiner Internet-Präsenz ein zusätzliches Informationsportal angegliedert. Hier werden Demonstrationsaufrufe sowie Berichte zu Veranstaltungen Aktionen von Rechtsextremisten veröffentlicht. Beispielsweise sind hier verschiedene Berichte zu Aktionen anlässlich des 21. Todestag von Rudolf Heß eingestellt. So wird in einer den Nationalsozialismus verherrlichenden Weise über den Gedenkmarsch für den Friedensflieger berichtet; es sei den Systembütteln nicht gelungen, den Protest zu unterbinden. Das Infoportal verbreitet auch extremistische Propaganda. So war dort eine Stellungnahme zur Wahl von Barack Obama zum US-Präsidenten zu finden, in der ein offener Rassismus deutlich wird: Das weiße, von europäischen Auswanderern getragene Amerika befindet sich durch Einwanderung und Rassenmischung in Auflösung und hat mit dem Afrika-Sprößling seinen symbolischen Totengräber ins Präsidentenamt gewählt. Rechtsextremisten nutzen die Internationalität des Internets, um ihre Propaganda möglichst anonym verbreiten zu können. Zahlreiche im Ausland ansässige Provider bieten die Möglichkeit, internetbasiert eigene Netzwerke zu errichten. Eine Identifizierung des Erstellers der jeweiligen Internetseite über derartige Betreiber ist kaum möglich. Kunden werden in der Regel nicht preisgegeben bzw. die angegebenen Kundendaten werden vom Provider nicht auf ihre Echtheit überprüft, so dass auch unter Pseudonym Seiten eingestellt werden können. Diese Tatsache nutzen Rechtsextremisten zunehmend, um Bild- und Propagandamaterial über das Internet öffentlich zugänglich zu machen. Die sogenannte Web 2.0-Technologie bietet eine Vielfalt an Möglichkeiten zur Kommunikation, von Foren über Blog-Seiten bis hin zu kleinen Chatsystemen und Webmailern. Im Schutze dieser Anonymität fällt die Hemmschwelle, extremistische Propaganda mit strafrechtlich relevantem Inhalt zu verbreiten. Für die Sicherheitsbehörden wird die Bekämpfung dieser Propaganda immer schwieriger. Anonymität Neben der Anonymisierung ist eine Tendenz der Abschottung zu beobachten. Szene - interne Kommunikation wird immer häufiger in geschlossene Internetforen verlagert, um dort ohne Restriktionen kommunizieren zu können. Foren, als Plattform für die Kommunikation und den Informationsaustausch, teilen sich in öffentlich zugängliche und geschlossene Bereiche. Geschlossene Foren sind nur dann für den Nutzer einzusehen, wenn eine Registrierung erfolgt ist. Zum Teil ist neben der Registrierung eine bestimmte Anzahl von eigenen Diskussionsbeiträgen erforderlich, um im Forum bleiben zu können. Abschottung NUTZUNG DES INTERNETS DURCH EXTREMISTEN 147

149 Professionalisierung der Websites Ausblick Das Internet als medialer Darstellungs- und Verbreitungsraum des Rechtsextremismus, aber auch als zentraler Koordinierungs- und Aktionsort wird in Zukunft noch weiter an Bedeutung gewinnen. Die zusätzlichen Möglichkeiten, die das Internet gegenüber den bisherigen Medien bietet, werden schon jetzt in professioneller Weise genutzt. Dies reicht von der optischen Aufmachung der Internet-Angebote rechtsextremistischer Parteien und Organisationen über die zielgerichtete, inhaltliche Ansprache der Klientel bis hin zu Formen verschlüsselter bzw. passwortgeschützter Kommunikation. Diese Professionalisierung dürfte die Internet-Seiten zunehmend auch für unpolitische Jugendliche attraktiv machen. Im Kampf gegen Rechtsextremismus kommt der politischen Aufklärungsarbeit über dessen Erscheinungsformen, und der Vermittlung der tragenden Werte unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung durch die politische Bildung eine besondere Bedeutung zu. Stichwort: Gegenöffentlichkeit Es ist das erklärte Ziel der Rechtsextremisten, mittels Internet eine Gegenöffentlichkeit zur etablierten Berichterstattung zu schaffen. Die Nachrichtensendung Kritische Nachrichten der Woche war und ist nur die markanteste Facette dieses Versuchs. Im Grunde ist jede Internet-Präsenz der Extremisten ein Versuch, Gegenöffentlichkeit zu etablieren. Das Internet bietet hierzu die Möglichkeit, die Adressaten unmittelbar, ohne redaktionellen Zwischenfilter etwa der Tageszeitungen, zu erreichen. Rechtsextremisten setzen auf das Konzept der Gegenöffentlichkeit via Internet gerade deshalb, weil sie keine Chance für sich in den etablierten Medien sehen. Linksextremismus Etwa 100 Internetseiten mit Hessenbezug Wie bereits in den Vorjahren blieb die Anzahl der linksextremistischen Internetseiten mit bundesweit annähernd konstant. Von diesen weisen derzeit etwa 100 hessische Bezüge auf. Bei der Nutzung elektronischer Kommunikationsmedien wenden Linksextremisten verschiedene Techniken und organisatorische Konzepte an. Deutliche Unterschiede hinsichtlich der Internetnutzung sind zwischen orthodox-kommunistischen Organisationen und den aktionistisch ausgerichteten Autonomen erkennbar: Parteien und Organisationen Parteien und Organisationen aus dem dogmatischen Spektrum stellen sich entsprechend ihrer internen Parteistruktur auch im Internet hierarchisch und gegliedert dar. Die Seiteninhalte sind meist aktuell und den politischen Thematiken der Zeit angepasst. So präsentieren sich die Parteien DIE LINKE. und die DKP auf Bundes-, Landes- und Ortsgruppenebene im Internet. In ähnlicher Form ist die MLPD mit ihren verschiedenen Verbandsebenen und Parteieinrichtungen im Internet vertreten. Trotzkisten nutzen das Internet auf ähnliche Weise. Die Internet-Präsenz der SAV dient der umfassenden Information über ihre Zielsetzungen und Themenfelder sowie der Dokumentation und Archivierung von Verlautbarungen oder Broschüren. 148 NUTZUNG DES INTERNETS DURCH EXTREMISTEN

150 Autonome nutzen dagegen das Medium Internet vor allem, um zeitnah Ereignisberichte und Bildmaterial zu verbreiten, aber auch um Recherchen über den politischen Gegner zu veröffentlichen. Autonome Selbst kleinere autonome Gruppen sind zumeist wenn auch zum Teil mit einfachen Mitteln und ohne regelmäßige Aktualisierungen im Internet vertreten. Einige Gruppierungen verfügen sogar über durchaus ambitioniert gestaltete Internetpräsenzen. Nahezu alle dieser Internetseiten sind miteinander verlinkt. Oft werden Inhalte einzelner Seiten etwa Demonstrationsaufrufe von anderen autonomen Gruppierungen übernommen. Dieses zeigt die enge Vernetzung innerhalb der autonomen Szene. Neben ihren Internetauftritten betreiben Linksextremisten sogenannte Kampagneseiten, die wie z. B. für die diesjährige Antirepressions-Kampagne der Jugendantifa Frankfurt M oder die Nachtanzdemo 2008 temporär eingerichtet und zur Mobilisierung genutzt werden. Mobilisierung und Terminkalender Einen weiteren Schwerpunkt autonomer Internet-Präsenz stellen Terminkalender mit aktuellen Ankündigungen über regionale und bundesweite Veranstaltungen und andere Aktivitäten dar. Beispiele für hessische Internet-Präsenzen sind die Internetportale Linksnavigator Rhein-Main und Antifa Frankfurt. Im Gegensatz zu den Internet-Präsenzen von Parteien oder parteinahen Organisationen fehlt Internetauftritten der autonomen Szene eine ausgeprägte Strukturierung. Der Zugang erfolgt häufig über einzelne Themenfelder, die für den jeweiligen Nutzer interessant sind. Spezielle Nutzungsformen des Internets durch Linksextremisten Mailinglisten Das Instrument der Mailinglisten hat im Bereich der linkextremistischen Internetaktivitäten vor dem Hintergrund der gängigen Praxis der Bündnis- und Kampagnenpolitik sowie der damit einhergehenden Notwendigkeit der Information und Mobilisierung verschiedenster Akteure einen hohen Stellenwert. Es wird dabei zwischen offenen und geschlossenen Mailinglisten unterschieden: Offene Mailinglisten sind für jeden Internetnutzer nach einer Anmeldung per beim Listenbetreiber zugänglich. Sogenannte Listenmoderatoren garantieren eine sachgerechte Informationssteuerung und bemühen sich zudem sicherzustellen, dass die Teilnehmer nicht nur Informationen beziehen (passive Teilnahme), sondern auch entsprechende Beiträge liefern (aktive Mitarbeit). Offene Mailinglisten In geschlossenen Mailinglisten findet ein Informationsaustausch nur innerhalb einer Gruppe statt. Der Zugang erfolgt über persönliche Kontakte. Die Teilnehmer sind gehalten, aktiv mitzuarbeiten. Eine ausschließlich passive Teilnahme führt in der Regel Geschlossene Mailinglisten NUTZUNG DES INTERNETS DURCH EXTREMISTEN 149

151 zum sofortigen Ausschluss. Der Datentransfer in geschlossenen Mailinglisten findet vornehmlich über spezielle Verschlüsselungsprogramme statt. Angriffe politischer Gegner Cyber-Guerilla Netzaktivismus Das Internet bietet jedoch nicht nur offene oder geschlossene Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten, sondern stellt für Linksextremisten auch eine geeignete Plattform für gezielte elektronische Angriffe auf den politischen Gegner dar. Im Fokus stehen dabei insbesondere Unternehmen mit Bezug zu einem linksextremistischen Themenfeld sowie Internetseiten und Versandhandel der rechtsextremistischen Szene. Unternehmen, die zum Ziel solcher Cyber-Guerilla-Attacken werden, werden zum Beispiel dadurch geschädigt, dass an abgesprochenen Aktionstagen ihre Kommunikationsmedien etwa durch Massenanfragen von Aktivisten aus dem linksextremistischen Spektrum lahm gelegt werden. Mobilisierung Ausblick Linksextremisten bedienen sich intensiv der vielfältigen Möglichkeiten, die das Internet bietet. So ist das Internet als Mobilisierungsinstrument etwa bei Demonstrationen oder Aktionen des linksextremistischen Spektrums nicht mehr wegzudenken. Dieses war unter anderem bei der im Berichtsjahr angelaufenen Mobilisierung zu Protesten gegen den NATO-Gipfel 2009 in Kehl (Baden-Württemberg) und Straßburg (Frankreich) zu beobachten. Hier spielen Kampagnenseiten eine wichtige Rolle. Gerade die Möglichkeiten der Web 2.0-Technologie nutzen Linksextremisten dabei oft auf außerordentlich professionelle Weise. Auch in der Zukunft werden sie neue technische Entwicklungen sehr schnell erkennen und für ihre Zwecke zu nutzen wissen. Daher wird das Internet im linksextremistischen Spektrum zukünftig noch weiter an Bedeutung gewinnen. Insbesondere Aktionsformen wie Cyber-Guerilla-Attacken könnten dabei noch häufiger als bisher zum Einsatz kommen. Die Möglichkeiten, die sich für technisch versierte Aktivisten in diesem Bereich bieten, sind noch lange nicht ausgereizt. Gerade der durch solche Aktionen entstehende Schaden sowie die mediale Aufmerksamkeit im Falle gelungener Attacken lassen diese Aktionsform für Linksextremisten attraktiv erscheinen. 150 NUTZUNG DES INTERNETS DURCH EXTREMISTEN

152 ORGANISIERTE KRIMINALITÄT

153 ORGANISIERTE KRIMINALITÄT Ziel und Zweck der Beobachtung Das LfV Hessen beobachtet auch Strukturen und Personen, die dem Bereich der Organisierten Kriminalität (OK) zuzurechnen sind. Dabei ist die Beobachtung nicht auf die Aufklärung von einzelnen Straftaten und die Überführung von Straftätern gerichtet; dies ist Aufgabe der Strafverfolgungsbehörden. Vielmehr sollen staatliche Einrichtungen und andere öffentliche Stellen über Gefahren informiert und in ihrem Handeln gegen kriminelle Geschäfte oder Einflussnahmen in diesen Bereichen unterstützt werden. Insoweit nimmt der Verfassungsschutz auch in diesem Aufgabenbereich seine Rolle als Frühwarnsystem wahr. Mit der Erkenntnisgewinnung zu personellen Strukturen, zu Deliktsfeldern, zur Logistik, zu wirtschaftlichen Verflechtungen und zum Finanzgebaren erkannter OK-Gruppierungen kann die Arbeit der Strafverfolgungsbehörden unterstützt und ergänzt werden. Vorrangiges Ziel der Verfassungsschutzarbeit ist es jedoch, kriminelle Strukturen und Netzwerke im Vorfeld konkreter Straftaten zu erkennen. Definition OK wird in 2 Absatz 3 Satz 1 lit. d) LfV Gesetz definiert als die von Gewinn- oder Machtstreben bestimmte planmäßige Begehung von Straftaten, die einzeln oder in ihrer Gesamtheit von erheblicher Bedeutung für die Rechtsordnung sind, durch mehr als zwei Beteiligte, die auf längere oder unbestimmte Dauer arbeitsteilig tätig werden: unter Verwendung gewerblicher oder geschäftsähnlicher Strukturen oder unter Anwendung von Gewalt oder durch entsprechende Drohung oder unter Einflussnahme auf Politik, Verwaltung, Justiz, Medien oder Wirtschaft. Mittel der Erkenntnisgewinnung Schwerpunkte OK ist von hoher Konspiration geprägt. Kriminelle Aktivitäten sollen gezielt verschleiert und vor Entdeckung geschützt werden. Zur Informationsgewinnung werden daher Vertrauenspersonen und andere nachrichtendienstliche Mittel eingesetzt. Erkenntnisse werden auch aus der Zusammenarbeit mit anderen Verfassungsschutzbehörden und mit ausländischen Nachrichtendiensten gewonnen, die in fast allen europäischen Staaten mit der Beobachtung der OK beauftragt sind. Aus der Analyse von offen zugänglichem Material, dem Berichtsaufkommen anderer Aufgabenbereiche des Verfassungsschutzes und der Zusammenarbeit mit polizeilichen Dienststellen zur Bekämpfung der OK wird das Informationsaufkommen ergänzt. Vor dem Hintergrund der weltweiten Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus, der Bedeutung des politischen Extremismus, insbesondere des Rechtsextremismus, und der begrenzten Ressourcenlage ist es notwendig, auch im Arbeitsbereich OK Schwerpunkte zu setzen. Diese lagen im Berichtszeitraum weiterhin im Bereich von Rockerclubs (kriminelle Gruppen unter den Motorradclubs) und den Versuchen der OK aus der früheren Sowjetunion (russische OK; ROK), über Tarnfirmen und Scheingeschäfte grenzüberschreitende kriminelle Strukturen zu etablieren. Den Phänomenbereich krimineller Rockergruppen beobachtet das LfV mit dem Ziel, frühzeitig Informationen und Erkenntnisse zu Strukturen, Aufbau, Organisation, drohenden gewalttätigen Auseinandersetzungen und Expansionsbemühungen bereits im Vorfeld strafbarer Handlungen zu erhalten. Auch die Frage nach möglichen Querver- 152 ORGANISIERTE KRIMINALITÄT

154 bindungen zur rechtsextremistischen Szene findet dabei Beachtung. Kriminelle Rockergruppen, sogenannte Outlaw Motorcycle Gangs (OMCGs) werden überwiegend der OK zugeordnet. Zu ihnen gehören insbesondere der Hells Angels MC, der Bandidos MC, der Gremium MC und der Outlaws MC. Sie zeichnen sich insbesondere durch einen strengen hierarchischen Aufbau, enge persönliche Bindungen der Gruppenmitglieder untereinander, sowie selbst geschaffene Regeln und Satzungen aus. Somit besteht die Gefahr, dass sich eine Parallelgesellschaft entwickelt bzw. in Teilen schon entwickelt hat. Kriminelle Handlungen der Gruppe bzw. ihrer Mitglieder liegen vornehmlich im Bereich des Rauschgifthandels und -schmuggels, des Waffenhandels, der Hehlerei und der Gewaltdelikte. Eine besondere Affinität besteht auch zur Kriminalität im Zusammenhang mit dem Nachtleben. Kriminelle Rockergruppen Die vier genannten OMCGs sind derzeit mit ca. 18 ihrer sogenannten Charter bzw. Chapter (Ortsgruppen) in Hessen vertreten. Deren Gesamtmitgliederzahl liegt bei etwas über 200 Mitgliedern. Kriminelle Rockergruppen in Hessen Zu gewalttätigen Auseinandersetzungen unter den einzelnen OMCGs in Hessen liegen für das Berichtsjahr keine Erkenntnisse vor. Auf der Tattooconvention in Frankfurt am Main kam es entgegen früheren Veranstaltungen zu einem massiven Auftreten von ca. 30 Hells Angels MC Mitgliedern. Über die Gründe dieses Auftretens liegen keine genauen Erkenntnisse vor. Ob dadurch Gebietsansprüche der Hells Angels MC verdeutlicht werden sollten oder es um eine mögliche persönliche Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Mitgliedern von Rockergruppen ging, ist derzeit nicht eindeutig festzustellen. Ausrichter bzw. Mitbetreiber der Tattooconvention ist ein Mitglied des Gremium MC. Weiterhin sind Mitglieder der Hells Angels MC vermehrt durch das demonstrative Zeigen massiver Präsenz im Frankfurter Bahnhofsgebiet aufgefallen. Anlass könnten Rivalitäten mit anderen ausländischen kriminellen Gruppen sein. Kriminelle Rockergruppen und ihre Interessen sind auch insoweit ein für die Sicherheitslage stets zu beachtender Einflussfaktor. Dass das Verhältnis zwischen einzelnen Rockergruppen stets von Spannungen geprägt ist und dies jederzeit auch spontan zu gewalttätigen Auseinandersetzungen führen kann, zeigten im Berichtsjahr Beispiele aus anderen Regionen Deutschlands. So kam es in verschiedenen Bundesländern zu mehreren gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen verfeindeten Rockergruppen. Diese Konfrontationen wiesen zum Teil eine neue Qualität in der Art und Ausführung der Gewalt sowie der damit verbundenen Machtdemonstration nach außen auf. So gab es unter anderem im Februar in Cottbus (Brandenburg) ein gewaltsames Aufeinandertreffen zwischen Sympathisanten des Bandidos MC und Hells Angels MC Mitgliedern Sympathisanten. Ein Mitglied einer Unterstützergruppe des Bandidos MC war mit seiner Freundin und dem gemeinsamen elf Wochen alten Baby in der Innenstadt von Cottbus unterwegs. Laut Zeitungsangaben soll das Paar zufällig auf mehrere Mitglieder und Sympathisanten des Hells Angels MC Cottbus gestoßen sein. Das Pärchen sei daraufhin von der Gruppe umringt, verbal provoziert und körperlich angegriffen worden. Nachdem der Sympathisant des Bandidos MC (der spätere Beschuldigte) zunächst flüchten konnte, wurde er jedoch von einigen Personen der anderen Gruppe, die mit Auseinandersetzungen zwischen Rockergruppen ORGANISIERTE KRIMINALITÄT 153

155 Schlagstöcken und Pfefferspray bewaffnet gewesen sein sollen, verfolgt. Dabei sei es dann zu den Schüssen gekommen, durch die ein Sympathisant des Hells Angels MC mehrfach getroffen wurde. Er musste im Krankenhaus notoperiert werden. Der Schütze stellte sich später der Polizei. Im März gab es Auseinandersetzungen im Türsteher-Milieu in Leipzig (Sachsen), an denen mehrere sogenannte Prospects (Anwärter) des Hells Angels MC Charter Berlin beteiligt gewesen sein sollen. Dabei wurden eine Person getötet und zehn weitere verletzt. Der Hells Angels MC soll als Unterstützung gerufen worden sein, da die dortige Türsteherszene von einer albanischen Gruppe bedroht worden sei. Ende August lieferten sich laut Zeitungsberichten Mitglieder der Rockergruppe des Hells Angels MC mit einer anderen rivalisierenden Gruppe vor dem Kieler Amtsgericht (Schleswig-Holstein) eine Schlägerei. Zwischen beiden Gruppen sei es bereits in der Vergangenheit zu blutigen Auseinandersetzungen gekommen. Aktuell sollte eine dieser Auseinandersetzungen aus dem Jahre 2007, bei dem ein Mitglied der Hells Angels MC mit einem Messer niedergestochen und lebensgefährlich verletzt worden war, vor dem Amtsgericht verhandelt werden. Kurz vor Prozessbeginn kam es jedoch erneut zu einem Streit beider Gruppen. Bei dieser erneuten Auseinandersetzung wurden zwei Personen (darunter auch das verletzte Hells Angels MC Mitglied aus dem Jahr 2007) mit Messern schwer verletzt. Im Bereich der OMCGs und deren Supporter Clubs sind starke Expansionsbemühungen und Wechselbestrebungen festzustellen. So sind seit Herbst 2007 vermehrt Wechselbestrebungen von gesamten Chaptern bzw. einzelnen Mitgliedern und Führungspersonen des Gremium MC zum Hells Angels MC bekannt geworden. Sollte es allerdings zu einem bundesweit einheitlichen Übertritt der Gremium MC Chapter zu den Hells Angels MC kommen, entstünde ein deutliches Übergewicht des Hells Angels MC gegenüber dem Bandidos MC, sowohl in den westlichen als auch den östlichen Bundesländern, mit entsprechenden Gebietsansprüchen. Daraus können sich zusätzliche Rivalitäten zwischen Bandidos MC und Hells Angels MC ergeben, welche die Sicherheitslage bundesweit, auch in Hessen, beeinträchtigen können. Wechselbestrebungen von einzelnen Clubs und Mitgliedern konnten in Hessen allerdings noch nicht festgestellt werden. Hells Angels in Hessen Am 8. Mai wurde der Prozess gegen sieben Beschuldigte und Mitglieder des Hells Angels MC Charter Kassel, im Alter von 31 bis 50 Jahren, wegen räuberischer Erpressung zum Nachteil eines ehemaligen Mitgliedes in Kassel eröffnet. Bereits am gleichen Tag wurde der Prozess mit der Verurteilung der Beschuldigten zu Bewährungsstrafen beendet. Die Angeklagten gestanden vor Gericht, das ehemalige Mitglied im April 2007 beraubt und bedroht zu haben. Mit dem Urteil wurden Freiheitsstrafen in Höhe von zehn bis 22 Monaten ausgesprochen, jedoch gleichzeitig zur Bewährung ausgesetzt. Das Hells Angels MC Charter Kassel wurde nach derzeitigem Erkenntnisstand geschlossen. Die anderen Charter Darmstadt, Frankfurt am Main, Hanau, Offenbach und das Westend in Frankfurt am Main bestehen weiterhin. 154 ORGANISIERTE KRIMINALITÄT

156 In Münster (Nordrhein-Westfalen) wurden fast zeitgleich zwei verschiedene Verfahren gegen Mitglieder des Bandidos MC vor Gericht verhandelt. Am 26. Mai wurde das erste Urteil in einem der beiden Verfahren verkündet. In diesem Fall ging es um einen Raubüberfall zum Nachteil des eigenen Schatzmeisters des Clubs. Dieser soll Euro aus der Clubkasse veruntreut haben. Daraufhin wurde das Mitglied zu Hause überfallen, zwei seiner Harley Davidson Motorräder sowie weitere persönliche Gegenstände geraubt und die Familie bedroht. Der Präsident des Clubs, der als Drahtzieher dieser Vergeltungsaktion galt, wurde zu einer Haftstrafe von vier Jahren und drei Monaten verurteilt. Darüber hinaus wurden die anderen Angeklagten zu Freiheitsstrafen von zweieinhalb Jahren, zwei Jahren und neun Monaten sowie drei Jahren und drei Monaten verurteilt. Am 10. Juni wurde das Urteil im zweiten Bandidos Prozess verkündet. Bei diesem Prozess ging es um einen Mord an einem Hells Angels MC Mitglied aus Ibbenbüren (Nordrhein-Westfalen), der von zwei Mitgliedern des Bandidos MC verübt worden sein soll. Das Opfer soll von den beiden Angeklagten im Mai 2007 in seinem Geschäft erschossen worden sein. Die beiden Angeklagten, 36 und 48 Jahre alt, wurden zu lebenslanger Haft verurteilt. Die Anklage stützte sich dabei auf Indizien, da eindeutige Beweise fehlten. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. In Bezug auf Verbindungen von kriminellen Rockergruppen zur rechtsextremistischen Szene haben sich keine neuen Anhaltspunkte ergeben. Die in vergangenen Jahren vereinzelt erfolgte Vermietung von Clubhäusern an die rechtsextremistische Szene konnte nicht mehr festgestellt werden. Es liegen derzeit von Einzelkontakten abgesehen auch keinerlei Erkenntnisse zu strukturierten Verbindungen von kriminellen Rockergruppen zur rechtsextremistischen Szene vor. ROK-Gruppierungen handeln unter Ausnutzung personeller Verflechtungen zwischen Politik, Wirtschaft, Verwaltung und Kriminellen. Der Aktionsraum dieser Personenzusammenschlüsse umfasst mit z. B. New York, London, Genf, Zürich und Frankfurt am Main viele bedeutende Wirtschafts- und Finanzzentren der Welt. Mit Hilfe eines undurchschaubaren Geflechts von Wirtschaftsunternehmen, mit unterschiedlichsten Beteiligungs- und Kooperationsformen, investieren sie in bereits bestehende Industrieund Wirtschaftsmärkte. Die Privatisierungsprozesse großer russischer Konzerne sowie die Etablierung und Weiterentwicklung von Nachfolgeunternehmen werden vielfach von personellen Verflechtungen zwischen Politik, Wirtschaft, Verwaltung und OK in Russland beeinflusst. Für diese Unternehmen bieten sich ideale Möglichkeiten, um legale und illegale Geschäftsaktivitäten zu mischen. Die Herkunft von illegal erwirtschaftetem Vermögen kann somit verschleiert werden. ROK-Gruppierungen agieren in unterschiedlichen Kriminalitätsbereichen. Häufig betroffen sind Deliktsfelder der Betrugs- sowie Falschgeldkriminalität, der Geldwäsche, des Drogenhandels, des Waffenhandels, der Erpressung und Entführung, der Kunstfälschung, der Korruption und schwerste Gewalttaten bis hin zu Tötungsdelikten. Russische OK-Gruppen Das LfV Hessen beobachtet die Aktivitäten von Personenzusammenschlüssen und darin agierender Einzelpersonen aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion und deren Verbindungen zu national und international handelnden ROK-Gruppierungen. ORGANISIERTE KRIMINALITÄT 155

157 Diese halten sich häufig bis regelmäßig im Rhein-Main-Gebiet auf und unterhalten Verbindungen zu hier ansässigen Geschäftspartnern. Mit deren Hilfe wird die Abwicklung von Geldangelegenheiten bzw. Finanztransaktionen bei in- und ausländischen Geldinstituten vorbereitet oder die Gründung und Führung von Einzelfirmen oder Niederlassungen bewerkstelligt. Wegen der niedrigen rechtlichen und steuerlichen Hürden werden Unternehmensgründungen in Gesellschaften nach britischem Recht (Limited Ltd.) mit Niederlassungen in Deutschland bevorzugt. Vielfach verfügen diese Personen über hohe Geldsummen, mit denen hochwertige Immobilien erworben werden. Die Herkunft der Gelder ist unklar. Sie stammen angeblich aus Geschäften oder privaten Vermögensübertragungen in Osteuropa, was somit kaum zu überprüfen bzw. zu widerlegen ist. Erkenntnisse ausländischer Sicherheitsbehörden sprechen jedoch dafür, dass die Gelder auch aus illegalen Geschäften, z. B. illegalem Glückspiel, Raubüberfällen, Erpressungen und dem illegalen Kunsthandel stammen. Gegen einzelne Personen aus diesem Kreis wurden zwischenzeitlich Geldwäscheverdachtsanzeigen erstattet. Ein Informationsaustausch mit der zuständigen Polizeibehörde hat stattgefunden. ROK-Gruppierung Solntsevskaya Des Weiteren beobachtet das LfV Hessen mit der ROK-Gruppierung Solntsevskaya eine der bedeutendsten international tätigen ihrer Art. Sie ist nach ihrem Hauptsitz in einem Vorort von Moskau benannt und verfügt über mehrere Stützpunkte in ausländischen Großstädten. Ein solcher befindet sich auch im Rhein-Main-Gebiet. Diese einflussreiche und gefährliche kriminelle Organisation betätigt sich vorwiegend in den Deliktsfeldern der Betrugs- sowie Fälschungskriminalität, Geldwäsche, Erpressung und Korruption. Ein weltweit gesponnenes Netzwerk von Finanzunternehmen, Gesellschaften und weiteren Firmen macht es der Organisation möglich, unrechtmäßig beispielsweise auch durch den Handel mit illegal erworbenen Kunstgegenständen und Bildern erwirtschaftetes Geld zu waschen bzw. so entstandenes Vermögen in weitere kriminelle Aktivitäten zu reinvestieren. Personen, die dem persönlichen Umfeld der Führungspersönlichkeiten dieser ROK- Gruppierung zugerechnet werden, reisen in regelmäßigen Abständen aus dem Ausland ins Bundesgebiet ein und treffen sich zur Planung und Vorbereitung von Aktivitäten sowie geschäftlichen Absprachen und Verhandlungen. Als Anlaufstelle dient u. a. ein im Rhein-Main-Gebiet angesiedelter Geschäftsbetrieb. Dessen Betreiber sind ebenfalls der ROK-Gruppierung zuzurechnen. Das Verhalten der Personen ist von Konspiration geprägt. Es sind hierarchische Strukturen mit Weisungsverhältnissen und eine Aufgabentrennung zwischen den legalen und undurchsichtigen Tätigkeitsfeldern des Geschäftsbetriebes festzustellen. Der Geschäftsbetrieb dient der ROK-Gruppierung offensichtlich als Logistikstützpunkt, der eine ideale Plattform für die Planung und Durchführung von Aktivitäten bietet, gleichzeitig aber die eigenen Bestrebungen und Handlungen zu verschleiern hilft. Vorhandene moderne Kommunikations- und Transportmittel werden genutzt. Es haben sich Geschäftsverbindungen der Personen ins europäische und außereuropäische Ausland, einschließlich sogenannter Steueroasen ergeben. Es zeichnen sich Anhaltspunkte für die Vorbereitung von Straftaten aus den o. g. Deliktsfeldern und die Verschleierung von Geldflüssen aus illegal im Ausland erworbenen Geldern ab. 156 ORGANISIERTE KRIMINALITÄT

158 SPIONAGEABWEHR

159 SPIONAGEABWEHR Zielobjekte Wirtschaft, Politik und Militär Die Bundesrepublik Deutschland ist für fremde Nachrichtendienste von großem Interesse. Deren Aktivitäten (Spionage) zielen auf wirtschaftliche, politische und militärische Informationen. Darüber hinaus sind sie an Informationen über Gruppierungen interessiert, die in ihren Herkunftsländern Oppositionsbewegungen unterstützen. Dabei werden insbesondere Demonstrationen observiert. Generalskonsulate und sonstige ausländische Einrichtungen werden dazu genutzt. In einem Fall beobachtete ein afghanischer Staatsangehöriger für den pakistanischen Nachrichtendienst eine Sikh-Veranstaltung. Im wirtschaftlichen Sektor und in allen wissenschaftlichen Bereichen geht es um die Beschaffung von Know-how und neuer Technologien, um gerade die eigene Wirtschaft besser zu positionieren. Dadurch sollen Entwicklungskosten gespart und Konkurrenten im globalen Wettbewerb ausgeschaltet werden. Im Extremfall dient die Technologiebeschaffung durch Spionage auch der Herstellung von Massenvernichtungswaffen. Gerade dieser Teil geheimdienstlicher Aktivitäten wird öffentlich besonders wahrgenommen. Aktivitäten fremder Nachrichtendienste in Hessen Aktivitäten syrischer Nachrichtendienste Syrische Nachrichtendienste Syrien unterhält für die Auslandsaufklärung sowohl einen zivilen Nachrichtendienst (Idrat al-mukhabarat al-amma) als auch einen militärischen Geheimdienst (Shu batalmuk-habarat al-askariya). Darüber hinaus existiert ein weiterer eigener Nachrichtendienst der Luftwaffe (Jihat al-mukhabaraf al-quweial Jawiyya), der für Sonderaufgaben eingesetzt wird. Unter anderem ist dieser Dienst für die zivile Flugsicherheit zuständig. Grundsätzlich sind die syrischen Geheimdienste an der Beschaffung aller Informationen interessiert, die Syrien sowie den Nahen und Mittleren Osten betreffen. Hierzu gehören insbesondere Erkenntnisse über alle anti-syrischen Aktivitäten unabhängig davon in welchem Land sie entfaltet werden. Der Geheimdienstapparat hat nach wie vor ein starkes Interesse an der Auslandsopposition. 1 Ein weiterer Schwerpunkt ist im Übrigen die Kontrolle von Ausländern, die sich privat oder beruflich in Syrien aufhalten. Informanten werden teilweise aggressiv geworben. Sie werden eingeschüchtert, erpresst oder direkt mit Gewalt bedroht. Ein Druckmittel sind auch gezielte Hinweise auf Verwandte, die sich im direkten Zugriffsbereich der syrischen Dienste aufhalten. Es kann auch zu konstruierten Anschuldigungen kommen. In einem Fall wurde der Versuch unternommen, einen seit vielen Jahren im Ausland lebenden Syrer damit zu werben, dass man der Verlängerung seines Passes nur dann zustimmen würde, wenn er zu einer Mitarbeit bereit wäre. Ferner wurde damit argumentiert, dass er (mit Familie) aus 1 Die Tätigkeiten konzentrieren sich auf syrische, libanesische und kurdische Personen. 158 SPIONAGEABWEHR

160 dem Gastland ausgewiesen werde. Die so geworbenen Agenten gelten wegen ihrer Furcht vor möglichen Konsequenzen als zuverlässig. Insbesondere bei Besuchsreisen in den Nahen Osten besteht die Gefahr eines Anwerbungsversuchs. Nach Hinweisen sind insbesondere Intellektuelle (Ärzte, Wissenschaftler, Dolmetscher) interessant. In Deutschland als Ausland im Sinne der Perspektive fremder Nachrichtendienste argumentieren diese bei der Gewinnung von Agenten vorrangig mit dem Mittel der patriotischen Pflicht. Diese Methode wird vor allem bei Studenten und Geschäftsleuten angewandt, denen wirtschaftliche oder berufliche Nachteile drohen, sofern sie nicht kooperieren. Die so für eine nachrichtendienstliche Mitarbeit gewonnenen Personen gelten als die zuverlässigsten Agenten. Informanten oder Mitarbeiter eines Dienstes werden als Beobachter z. B. zu anti-syrischen Veranstaltungen entsandt. Sie berichten dann darüber und versuchen, die Teilnehmer zu identifizieren, sie auszuspähen und nach Möglichkeit ein Lichtbild zu erlangen. Im 1. Quartal des Berichtsjahres wurde ein deutscher Staatsangehöriger syrischer Herkunft wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit verurteilt. Der Verurteilte hatte sich im Rahmen einer Syrienreise schriftlich zur nachrichtendienstlichen Zusammenarbeit verpflichtet. Seine Tätigkeit wurde von Führungsoffizieren in Deutschland gesteuert. Auftragsgemäß berichtete der Agent über in Deutschland lebende und gegenüber dem syrischen Regime kritisch eingestellte Personen sowie über Veranstaltungen regimekritischer Vereine. Sudanesische Nachrichtendienste Der Sudan hat besonderes Interesse, Informationen über regimekritische Bewegungen oder über die Krisenregion Darfur zu erhalten. In Hessen wurden mehrere Sachverhalte mit Bezug zum sudanesischen Nachrichtendienst bearbeitet. So hatte eine Person äthiopischer Herkunft Kontakt zu einem sudanesischen Nachrichtendienst-Offizier. Die Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen. In der ersten Jahreshälfte wurde ein Sudanese verurteilt, dem der Kontakt zum sudanesischen Nachrichtendienst eindeutig nachgewiesen werden konnte. Ausforschung der Opposition in Deutschland Der Verurteilte engagierte sich in Oppositionskreisen von Exil-Sudanesen, z. B. bei der Sudan People s Liberation Movement (SPLM). Die Verbindung wurde klassisch aus der nachrichtendienstlichen Residentur heraus geführt. Die wirtschaftlichen Verhältnisse des Verurteilten sowie dessen verwandtschaftliche Bindung zu kranken Familienmitgliedern im Sudan wurden rücksichtslos ausgenutzt. Die Weitergabe lebenswichtiger Medikamente für den Vater machte es dem sudanesischen Dienst besonders leicht. Gegenstand der nachrichtendienstlichen Zusammenarbeit zwischen dem Verurteilten und dem Sudanesischer Nachrichtendienst (NSIB National Security and Intelligence Bureau) war die Beschaffung von Informationen über Menschenrechtsgruppen, die von Deutschland aus im Sudan tätig sind. Einzelaufträge bezogen sich auf den Besuch SPIONAGEABWEHR 159

161 von Veranstaltungen in Deutschland, die sich kritisch mit der politischen oder humanitären Lage im Sudan beschäftigten. Russisches Generalkonsulat und Residentur Nachrichtendienste der Russischen Föderation Politische Entwicklungen in Deutschland und Europa stehen unverändert im zentralen Interesse der Russischen Föderation. Wichtig sind weiterhin die Auslandsnachrichtendienste SWR (Slushba Wneschnej Raswedkij) für zivile und GRU (Glawnoje Raswediwatelnoje Uprawlenije) für militärische Themen und Objekte. Die konsularischen Vertretungen der Russischen Föderation (Residenturen) und deren Umfeld werden bevorzugt zur Tarnung von Spionen genutzt. 2 Der völkerrechtliche Status solcher Einrichtungen sowie die diplomatische Immunität ihrer Beschäftigten schützt in der Regel vor Strafverfolgung am Einsatzort. Dennoch fällt, gerade für Frankfurt, eine große Zurückhaltung auf, was nachrichtendienstliche Aktivitäten unmittelbar aus dem Konsulat heraus betrifft. Dies darf jedoch nicht zu fehlender Aufmerksamkeit gegenüber nachrichtendienstlichen Bemühungen führen. Die Führung von Agenten wird aus der Zentrale in Moskau gesteuert. Dabei wird darauf geachtet, die Kontakte möglichst sicher zu gestalten. Die Informationen werden durch Gespräche, aber auch mit moderner Kommunikationstechnik gewonnen. Daneben werden sogenannte Tote Briefkästen oder Funkverbindungen genutzt, die gerade über Kurzwelle gestaltet sind. Eine erhöhte Aufmerksamkeit muss dem Umfeld der offiziellen konsularischen Einrichtungen gewidmet werden. Öffnung und Kooperation insbesondere auf dem wirtschaftlichen Sektor ermöglichen es, dass gerade ehemalige Mitarbeiter russischer Dienste durch privatwirtschaftliche Kontakte Informationen liefern. Insbesondere westliche Geschäftspartner vermuten hierbei oft keine nachrichtendienstliche Steuerung. Regimekritiker und Oppositionelle im Visier der iranischen Dienste Iranische Nachrichtendienste Folgende Dienste sind in der Auslandsaufklärung tätig. Das Ministerium für Nachrichten und Sicherheit (Ministry of Information and Security MOIS, in Farsi: Vezarat e Ettela at Va Amniat e Keshvar VEVAK) als ziviler Nachrichten- und Sicherheitsdienst nimmt unter den iranischen Sicherheitsorganen eine zentrale Rolle ein. Neben der Sammlung politischer, militärischer und wissenschaftlich-technischer Informationen im Ausland gehören die Überwachung der iranischen Oppositionellen im Exil zu seinen Aufgabenschwerpunkten. Darüber hinaus unterhalten auch die Pasdaran Truppen (Sepah-e Pasdaran-e Enqelabi Iranische Revolutionsgarde) eine eigene Nachrichtendienstabteilung (Revolution Guards Intelligence Department), die auch außerhalb des Iran Aktivitäten entfaltet. Die Aufklärung regimekritischer Bewegungen steht auch für die Islamische Republik Iran im Mittelpunkt ihres nachrichtendienstlichen Interesses. So wurde ein gebürtiger 2 Einen dieser Schwerpunkte bildet dabei auch das russische Generalkonsulat in Frankfurt am Main, eröffnet am SPIONAGEABWEHR

162 Iraner bei einer Geschäftsreise in den Iran von den dortigen Behörden vorgeladen. Er wurde über Oppositionelle im Rhein-Main-Gebiet befragt. Zugleich wurden ihm Umsturzpläne zum Nachteil des iranischen Regimes vorgeworfen. Schließlich wurde der Geschäftsmann aus der IT-Branche zur nachrichtendienstlichen Zusammenarbeit aufgefordert. Für den Fall der Weigerung wurden Repressionen angedroht. Bei einem weiteren Gespräch wurden ihm Ermittlungsergebnisse aus Deutschland vorgehalten. Um Probleme bei der Ausreise zu vermeiden, willigte der Geschäftsmann in eine künftige Zusammenarbeit ein. Proliferation Die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen (Proliferation) zu verhindern ist weiterhin das Ziel internationaler Bemühungen. Insbesondere Atomwaffen sind für solche Staaten von Interesse, die überzeugt sind, hierdurch außenpolitische Bedrohungen abwehren oder politische Forderungen durchsetzen zu können. Sensibilisierung der Wirtschaft Nach wie vor steht der Iran im Verdacht, sein ziviles Atomprogramm auszubauen und auch militärisch nutzen zu wollen. Dies setzt umfangreiche Ausrüstung (z. B. Maschinen, Vorprodukte, Ersatzteile) sowie technisches Know-how voraus. Häufig wird versucht, entsprechende Produkte unter Umgehung bestehender Exportrestriktionen auf dem Weltmarkt einzukaufen. Das LfV Hessen erhielt Mitte des Jahres über das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) den Hinweis eines ausländischen Nachrichtendienstes auf die Ausfuhr proliferationsrelevanter Technik. Bedarfsträger war in diesem Fall eine Firmeneinrichtung im Iran. Die Ware selbst sollte aber an einen Empfänger in Dubai geliefert werden, so dass der deutschen Firma aus Hessen der Proliferationshintergrund nicht ersichtlich war. Durch die Zusammenarbeit deutscher Dienststellen konnte die Ausfuhr über einen deutschen Seehafen verhindert werden. Muster und Auffälligkeiten der Proliferationssachverhalte insbesondere mit dem Iran, aber auch mit anderen Staaten sind dabei regelmäßig folgende: Der tatsächliche Verbleib der Güter ist unklar und kann nicht plausibel erklärt werden. Der Kunde kann nicht erklären, wofür das Produkt gebraucht wird bzw. der beabsichtigte Verwendungszweck weicht erheblich von der vom Hersteller vorgegebenen Produktbestimmung ab. Der Kunde handelt üblicherweise mit militärischen Gütern. Der auftretende Käufer verfügt nicht über das erforderliche Fachwissen. Die tatsächliche Identität eines Neukunden ist nicht bekannt. Es werden ohne erkennbaren Grund Zwischenhändler eingeschaltet. Der Kunde wünscht eine außergewöhnliche Etikettierung oder Kennzeichnung Beschriftung, um die Güter zu neutralisieren. Angebotene Zahlungsbedingungen sind besonders vorteilhaft, wie z. B. Barzahlung, hohe Vorauszahlungen oder ungewöhnliche Provisionen. Der Käufer verzichtet auf das Einweisen in die Handhabung, auf Serviceleistungen oder auf Garantie. SPIONAGEABWEHR 161

163 Firmenangehörige werden zu Ausbildungszwecken zur Herstellerfirma nach Deutschland geschickt, obwohl eine Einweisung vor Ort praktischer und sinnvoller wäre. Mitglieder von Besucherdelegationen werden namentlich nicht vorgestellt. Zu weiteren Geschäftskontakten nach Deutschland wird geschwiegen. Es ist daher immer empfehlenswert, sich zu Detailfragen bei eventuell genehmigungspflichtigen Sachverhalten unmittelbar mit dem Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle in Verbindung zu setzen. Wirtschaftsspionage Chinesische Dienste und wirtschaftliche Ziele Die Volksrepublik China ist derzeit auf dem Weg zur wirtschaftlichen, politischen und militärischen Großmacht. Man unternimmt daher auch weiterhin enorme Anstrengungen, um zügig die Technologielücke zu den hochentwickelten Industriestaaten zu schließen. Die chinesischen Nachrichten- und Sicherheitsdienste haben mit ihren speziellen Instrumenten und Möglichkeiten dieses strategische Vorhaben umfassend zu unterstützen. Folgende Dienste können hierbei eingesetzt werden. Das Ministerium für Staatssicherheit (MSS) ist als ziviler Dienst sowohl für die Innere Sicherheit als auch für die Auslandsaufklärung zuständig. Ziel des MSS ist die Informationsbeschaffung aus den klassischen Feldern der nachrichtendienstlichen Aufklärung wie Politik, Wirtschaftswissenschaft und Technik, Forschung sowie den Randbereichen des Militärwesens. Der militärische Nachrichtendienst (MID) hat die Aufgabe der Beschaffung von Informationen mit militärischem Bezug. Das Ministerium für Öffentliche Sicherheit (MÖS) ist die nationale Polizeibehörde der Volksrepublik China. Mit dieser Einrichtung können alle Reisende in die Volksrepublik China in Kontakt kommen, sowohl bei privaten als auch dienstlich veranlassten Aufenthalten. Am Beispiel chinesischer Nachrichtendienste kann die Intensität der Wirtschaftsspionage dargestellt werden. Die Volksrepublik China unternimmt erhebliche Anstrengungen, um den technologischen und wirtschaftlichen Vorsprung westlicher Länder aufzuholen. Diesem Zweck dienen vielfältige Spionageaktivitäten chinesischer Geheimdienste, so auch der Einsatz ehemaliger chinesischer Staatsbürger im Ausland, die scheinbar keine Beziehungen mehr zum Heimatland unterhalten. Häufig spielen dabei Verwandte die Mittlerfunktion zur nachrichtendienstlichen Führungsstelle in der VR China. Dadurch wird vermieden, die Legalresidenturen der chinesischen Nachrichtendienste in offiziellen Vertretungen des Landes (Botschaften, Konsulate) in alle nachrichtendienstlichen Operationen einzubinden. 162 SPIONAGEABWEHR

164 Die chinesischen Spionageaktivitäten belegen das anhaltende Interesse der Volksrepublik China auch an der illegalen Beschaffung von Kommunikations- und Rüstungstechnologie. Der klassische Agenteneinsatz spielt dabei nach wie vor eine entscheidende Rolle. Im November gestand ein chinesischstämmiger US-Physiker, zwischen 2003 und 2007 technische Raumfahrtdaten illegal an China weitergegeben zu haben. Darunter befanden sich militärische Daten über Flüssigwasserstoffbehälter für Raumfahrtprojekte. Diese Informationen sollen in den Besitz chinesischer Raumfahrtexperten auf der Insel Hainana gelangt sein. Damit wurde gegen Rüstungsexportverbote verstoßen. Ein anderer Fall betraf einen ehemaligen Chinesen, der nach seiner Einbürgerung in den Vereinigten Staaten im Bereich der Luftfahrtindustrie die dort zur Verfügung stehenden Informationen an chinesische Auftraggeber weitergegeben hatte. Da es sich in allen Fällen um Staatsbürger chinesischer Herkunft handelt, zeigt dies deutlich die Grenzen und Risiken notwendiger Sicherheitsüberprüfungen. Geheimdienstliche (Agenten-) Tätigkeit im Geltungsbereich des Grundgesetzes für eine fremde Macht (einen Nachrichtendienst eines fremden Staates) siehe 2 Abs. 2 Ziff. 2 des LfV-Gesetzes stellt kein Kavaliersdelikt dar. Das Strafgesetzbuch sieht daher empfindliche Freiheitsstrafen vor. Zentrale Vorschriften hierfür sind die 98 und 99 StGB. 98 StGB Landesverräterische Agententätigkeit (1) Wer 1. für eine fremde Macht eine Tätigkeit ausübt, die auf die Erlangung oder Mitteilung von Staatsgeheimnissen gerichtet ist, oder 2. gegenüber einer fremden Macht oder einem ihrer Mittelsmänner sich zu einer solchen Tätigkeit bereit erklärt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wenn die Tat nicht in 94 oder 96 Abs. 1 mit Strafe bedroht ist. In besonders schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren; 94 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 gilt entsprechend. (2) Das Gericht kann die Strafe nach seinem Ermessen mildern ( 49 Abs. 2) oder von einer Bestrafung nach diesen Vorschriften absehen, wenn der Täter freiwillig sein Verhalten aufgibt und sein Wissen einer Dienststelle offenbart. Ist der Täter in den Fällen des Absatzes 1 Satz 1 von der fremden Macht oder einem ihrer Mittelsmänner zu seinem Verhalten gedrängt worden, so wird er nach dieser Vorschrift nicht bestraft, wenn er freiwillig sein Verhalten aufgibt und sein Wissen unverzüglich einer Dienststelle offenbart. 99 StGB Geheimdienstliche Agententätigkeit (1) Wer 1. für den Geheimdienst einer fremden Macht eine geheimdienstliche Tätigkeit gegen die Bundesrepublik Deutschland ausübt, die auf die Mitteilung oder Lieferung von Tatsachen, Gegenständen oder Erkenntnissen gerichtet ist, oder 2. gegenüber dem Geheimdienst einer fremden Macht oder einem seiner Mittelsmänner sich zu einer solchen Tätigkeit bereit erklärt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wenn die Tat nicht in 94 oder 96 Abs. 1, in 97a oder 97b in Verbindung mit 94 oder 96 Abs. 1 mit Strafe bedroht ist. SPIONAGEABWEHR 163

165 (2) In besonderen Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu 10 Jahren. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn der Täter Tatsachen, Gegenstände oder Erkenntnisse, die von einer amtlichen Stelle oder auf deren Veranlassung geheim gehalten werden, mitteilt oder liefert und wenn er 1. eine verantwortliche Stellung missbraucht, die ihn zur Wahrung solcher Geheimnisse besonders verpflichtet, oder 2. durch die Tat die Gefahr eines schweren Nachteils für die Bundesrepublik Deutschland herbeiführt. (3) 98 Abs. 2 gilt entsprechend. Hilfe durch tätige Reue Das Strafgesetzbuch bietet jedoch die Möglichkeiten sowohl strafbefreiend vom Versuch zurückzutreten als auch sogar bei bereits vollendeten Delikten Strafbefreiung oder -milderung zu erlangen. Erforderlich hierfür ist sogenannte tätige Reue, d. h. der Täter muss einen ausreichenden Beitrag zur Schadensverhinderung bzw. -begrenzung leisten. Dann kann unter bestimmten weiteren Voraussetzungen von der Verfolgung der Tat oder von der Bestrafung abgesehen werden. Der Gesetzgeber sieht es als ausreichend an, wenn der Täter sein gesamtes mit der Tat zusammenhängendes Wissen einer Dienststelle - z. B. den Verfassungsschutzbehörden - offenbart. Diese vom Gesetzgeber bereitgehaltenen Rückzugswege sind jedoch den wenigsten bekannt. Der Agent erfährt hierüber nichts von seinem nachrichtendienstlichen Auftraggeber. Im Vordergrund steht, den Anschein zu erwecken, aus einer nachrichtendienstlichen Verstrickung gebe es keinen Ausweg. In der Regel werden Verpflichtungen vorgenommen, die als dauerhaft dargestellt werden. Angebote für Beratung und Hilfe Vor dem Hintergrund der massiven Strafandrohung gemäß Strafgesetzbuch lohnt es sich für Betroffene, darüber nachzudenken, ob die vom Gesetz gebotene Umkehr nicht der bessere Weg sei. Darüber hinaus steht der Verfassungsschutz jedem privaten Betroffenen sowie Unternehmen und öffentlichen Stellen für Gespräche, Beratungen und Informationen zur Verfügung, dies auch bei der Prävention im technischen Bereich. Im Einzelfall ist dabei auch die Vermittlung von Spezialisten möglich. Dieser Bericht und die darin gegebenen Hinweise sollen daher auch die Scheu nehmen, Probleme oder Hinweise mit geheimdienstlichem Hintergrund vertrauensvoll mit dem Verfassungsschutz zu erörtern. 164 SPIONAGEABWEHR

166 GEHEIM- UND WIRTSCHAFTSSCHUTZ

167 GEHEIM- UND WIRTSCHAFTSSCHUTZ Deutschland ist ein Land, dessen Kernkompetenzen auf Ideenreichtum, Innovation und Wissensvorsprung beruhen. Dadurch ist es in besonderem Maße durch Spionageaktivitäten fremder Nachrichtendienste, Sabotage und illegalen Technologietransfer (gerade auch durch nicht-staatliche Konkurrenzspionage) gefährdet. Dies gilt im Besonderen für das Rhein Main Gebiet als bedeutender Wirtschaftsregion in Europa. Know-how schützen Daher besteht ein elementares Interesse, illegalen Wissenstransfer zu verhindern sowie unternehmerisches und technologisches Know-how zu schützen. Die Verfassungsschutzbehörden leisten dabei gemäß ihres gesetzlichen Auftrages einen entscheidenden Beitrag. Dies umfasst die Aufgabe, staatliche Verschlusssachen durch geeignete Maßnahmen zu schützen (Geheimschutz), sowie die Beratung von Unternehmen in Bezug auf mögliche Sicherheitskonzepte (Wirtschaftsschutz). Geheimschutz Der Zugriff auf (staatliche) Verschlusssachen soll durch Vorkehrungen sowohl personeller als auch materieller Art verhindert werden. Dies bedeutet vor allem, unbefugten Personen zu erschweren, Kenntnis von vertraulichen, geheim zu haltenden Informationen zu erhalten. Materieller Geheimschutz In Bezug auf den materiellen Geheimschutz bestehen Vorgaben für technische oder organisatorische Sicherheitsmaßnahmen. Diese sind in der Verschlusssachenanweisung des Landes Hessen und den hierzu ergangenen Vorschriften geregelt. Dort ist der Umgang mit geheim zu haltenden Informationen von ihrer Herstellung, über die Aufbewahrung bis zur Vernichtung festgelegt. Die Regelungen sind für alle staatlichen Institutionen, die mit Verschlusssachen arbeiten, bindend. Sicherheitsüberprüfungen Alle technischen und organisatorischen Vorkehrungen können jedoch nur wirksam werden, wenn zusätzlich darauf geachtet wird, welche Personen mit der Bearbeitung von Verschlusssachen betraut werden. Es handelt sich um eine sicherheitsempfindliche Tätigkeit, bei der nur vertrauenswürdige und zuverlässige Bedienstete eingesetzt werden sollten. Dazu gibt es die Möglichkeit, Personen einer Sicherheitsüberprüfung zu unterziehen. Im Bereich des personellen Geheimschutzes ist sie das zentrale Instrument. Durch die Sicherheitsüberprüfung soll das Sicherheitsrisiko minimiert werden. Es wird geprüft, dass kein Anlass zu Zweifeln an der Zuverlässigkeit einer Person oder an ihrem Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung besteht. Für Ansprachen fremder Nachrichtendienste darf sie nicht gefährdet erscheinen. Im Hessischen Sicherheitsüberprüfungsgesetz (HSÜG) ist der Verfahrensablauf nach Art und Bedeutung der zu bearbeitenden oder verwaltenden Verschlusssachen geregelt. Das Landesamt für Verfassungsschutz hat dabei eine Mitwirkungsfunktion. Dies bedeutet, dass es bei Sicherheitsüberprüfungen nur auf Ersuchen der zuständigen öffentlichen Stellen mitwirkt. 166 GEHEIM- UND WIRTSCHAFTSSCHUTZ

168 Wirtschaftsschutz Unternehmen sind durch Aktivitäten fremder Nachrichtendienste und durch Konkurrenzspionage gefährdet. Dabei spielt die Globalisierung und damit verbunden eine umfassende Öffnung der nationalen Märkte und deren Zusammenwachsen zu einem Weltmarkt eine große Rolle. Eine nicht zu unterschätzende Gefahr stellen darüber hinaus unterschiedliche Interessen bei Firmenzusammenschlüssen und Joint Ventures dar, besonders bei ausländischen Anteilseignern. Gefährdung von Unternehmen Der Faktor Wissen muss immer stärker geschützt werden, gerade auch wegen der Bedeutung der weltweit vernetzten Kommunikations- und Informationssysteme. Sicherheit ist daher für ein Unternehmen ein wesentlicher Teil des Managementprozesses. Angriffe von außen, z. B. über das Internet, spielen eine große Rolle. Häufig wird eine Schadsoftware eingesetzt, um einen PC auszuspähen (Spionage) oder zu manipulieren (Sabotage). Dies kann unbemerkt und risikolos mit Hilfe von s, die einen durchaus seriös wirkenden Absender haben, erfolgen. Beim Öffnen des Mailanhangs wird die Schadsoftware dann von einem vorbestimmten Rechner unerkannt nachgeladen. Schadsoftware kann aber auch über präparierte Datenträger, die z. B. als Geschenk überreicht werden, auf einen PC gespielt werden. Befindet sie sich erst einmal auf einem Rechner, ist es dem Angreifer möglich, Systeme fernzusteuern, Daten zu sammeln, zu verändern oder zu löschen. Spionage versus Sabotage Gerade das Internet bietet Ansatzpunkte, Informationen über Bedienstete eines Unternehmens zu erlangen. Hierzu zählen z. B. Foren, die den Charakter eines sozialen Netzwerks haben. Darüber ist es nicht nur möglich, Bediensteten ihren Interessen entsprechende s zu senden. Mitarbeiter in sicherheitsrelevanten Bereichen sollten daher sehr genau überlegen, in wie weit ihr öffentliches Auftreten auch im Internet mit dem berechtigten Bedürfnis nach Geheimhaltung in Einklang zu bringen ist. Auf keinen Fall sollte direkt oder indirekt in solchen Foren ein Rückschluss auf die ausgeübte Tätigkeit möglich sein. Internetforen und -netzwerke Auch der Einsatz von Fremdpersonal oder die Beschäftigung von Praktikanten in einem Unternehmen birgt Gefahren. Dieser Personenkreis erhält häufig umfangreiche Möglichkeiten, auch von internen Vorgängen Kenntnis zu erlangen. Wegen der fehlenden Bindung an das Unternehmen ist die Gefahr hoch, dass Informationen gegen den Willen des Unternehmens abfließen. Diesem Risiko einer Ausforschung kann nur durch rechtzeitige und möglichst umfassende Vorkehrungen begegnet werden. Dies gilt insbesondere für Zugriffsmöglichkeiten auf informationstechnische Systeme, die auf das unbedingt Notwendige beschränkt sein sollten. Einsatz von Fremdpersonal oder Praktikanten Der Abfluss von Know-how sowohl durch staatliche Stellen (Wirtschaftsspionage) als auch durch konkurrierende Unternehmen (Konkurrenzspionage) ist problematisch und kann im Extremfall die Existenz eines Unternehmens bedrohen. Je früher Bedrohungen erkannt werden, desto höher ist die Möglichkeit, geeignete Schutz- und Sicherheits- Verfassungsschutz berät GEHEIM- UND WIRTSCHAFTSSCHUTZ 167

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