Bilder lesen. Die Graphische Sammlung des Kunsthistorischen Instituts im Bonatzbau der Universitätsbibliothek
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1 Seite 148 Bilder lesen. Die Graphische Sammlung des Kunsthistorischen Instituts Bilder lesen. Die Graphische Sammlung des Kunsthistorischen Instituts im Bonatzbau der Universitätsbibliothek Anette Michels Über zehn Jahre ist es nun her, seitdem die Graphische Sammlung des Kunsthistorischen Instituts die beiden Räume des linken Obergeschosses im Bonatzbau der Universitätsbibliothek bezog! Kurz vor Ostern des Jahres 1992 stellte sich die Kustodin der Kollegenschaft der Universitätsbibliothek offiziell vor. Gedacht war diese räumliche Lösung als Interim, denn - laut den ursprünglichen Planungen der zentralen Universitätsverwaltung - sollte die Graphische Sammlung bereits voraussichtlich 1996, spätestens im Jahre 2001 in das gegenüberliegende Gebäude des ehemaligen Archäologischen Instituts umgezogen sein. Dort sollten dann auch die Bibliothek und die sonstigen Funktionsräume des Kunsthistorischen Instituts ihren Platz finden und somit die Graphiksammlung mit dem Institut wiedervereinigt werden. Für den Auszug der Graphischen Sammlung aus den viel zu eng gewordenen Räumen der Alten Burse, in denen kaum eine Benutzung des Bildbestandes gewährleistet werden konnte, in die U- niversitätsbibliothek waren damals mehrere Gründe ausschlaggebend. Mit der Asbestsanierung und der Übersiedlung des Theologischen Lesesaalbestandes in einen Neubau war eine Umorganisation innerhalb der Universitätsbibliothek erfolgt. Der Bonatzbau wurde mit der Einrichtung des Historischen Lesesaals zu einem Zentrum der Altbestandsbenutzung. Schon seit längerer Zeit befand sich außerdem als externe Einrichtung das Universitätsarchiv hier, und das Konzept des Amtsvorgängers unseres Jubilars sah vor, dass die Graphische Sammlung - ähnlich dem Universitätsarchiv - ihre verwaltungsmäßige, eigenständige Bindung an das Kunsthistorische Institut behalten solle bei gleichzeitiger funktionaler Anbindung an den Altbestandsbenutzungsbereich der Universitätsbibliothek. Man versprach sich davon Synergieeffekte und hoffte, perspektivisch eine gemeinsame Erschließung der historischen Bildbestände der Graphischen Sammlung und derjenigen der Universitätsbibliothek vorantreiben zu können. Auch wenn das Erschließungsprojekt leider bisher aus finanziellen Gründen noch nicht verwirklicht werden konnte, so hat sich jedoch die gute Nachbarschaft des Historischen Lesesaals und des Universitätsarchivs für unsere Benutzer sehr ausgezahlt. Denn vielfach konsultieren sowohl Studierende, Doktoranden oder externe Benutzer im Zusammenhang ihrer Recherchen alle genannten Abteilungen und loben häufig diese räumliche Nähe und gute Organisation! Umgekehrt profitiert die Graphische Sammlung intern nicht nur von dem praktischen Aufzug, sondern auch von den fachlichen Kontakten zum Archiv und zur Altbestandsabteilung der Universitätsbibliothek. Schon zu einem früheren Zeitpunkt gab es "graphische Berührungspunkte" zwischen Universitätsbibliothek und Kunsthistorischem Institut, denn 1941 übergab das Institut seine druckgraphische Portraitsammlung in die Obhut der Bibliothek, wo sich dieser Bestand noch heute befindet. Die Kustodenstelle der Graphischen Sammlung am Kunsthistorischen Institut bestand noch nicht, weshalb mit der Abteilung der alten Drucke der Universitätsbibliothek - unter damaligen Umständen - der effektivste Ort der Betreuung innerhalb der Universität gegeben war. Im Unterschied zur Bibliothek, die Graphik im Zusammenhang illustrierter Bücher in ihrem Bestand hütet, besitzt die Graphische Sammlung primär druckgraphische Einzelblätter sowie Handzeichnungen. Der Grundstock dieser Sammlung europäischer Druckgraphik des 16. bis 19. Jahrhunderts wurde offiziell im Jahre 1894 vom ersten Ordinarius für Kunstgeschichte,
2 Bilder lesen. Die Graphische Sammlung des Kunsthistorischen Instituts Seite 149 Professor Konrad Lange ( ), vom Königlich Württembergischen Kupferstichkabinett in Stuttgart (heutige Graphische Sammlung der Staatsgalerie) erworben und im Laufe der Jahre durch Stiftungen und gezielte Einzelerwerbungen erweitert. Lange übernahm damals mit den über Graphiken auch die schönen, alten Sammlungsschränke des Königs, die der württembergische Ebenist Johannes Klinckerfuß 1810 gefertigt hatte. Die strenge Eleganz dieser Schränke kommt heute in dem noblen, wohlproportionierten Raum des Bonatzbaus adäquat zur Geltung. Parallel zu den Druckgraphiken benutzte man um die Jahrhundertwende auch Fotografien nach Werken hochrangiger Künstler der Vergangenheit zur Vermittlung im kunsthistorischen Unterricht. Solcherart Sammlungen von originalen Druckgraphiken und Fotografien stellten damals die Grundlage für die Lehre in der Kunstgeschichte dar und wurden später durch die Diaprojektion abgelöst. Darin dokumentiert sich auch das Primat der Anschauung als Grundlage analytischer Betrachtung und Bewertung von Kunst in besonderer Weise. Konrad Lange hatte - über seine Lehrtätigkeit hinaus - bereits 1893 eine programmatische Schrift zur künstlerischen Erziehung der Jugend veröffentlicht und stand mit seinen Ideen im Kontext der Kunsterziehungsbewegung der Jahrhundertwende (K. Lange: Die künstlerische Erziehung der deutschen Jugend, Darmstadt 1893). Dies dokumentiert sich auch in seinem Briefkontakt mit Alfred Lichtwark, dem damaligen Direktor der Hamburger Kunsthalle, der sich in seinen Schriften besonders der "Erziehung des Auges" widmete. Konrad Langes wissenschaftlicher Nachlass wird noch heute in der Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek aufbewahrt und stellt eine wichtige Quelle dar. Gerade in jüngerer Zeit wurden seine Schriften im Zusammenhang von wissenschaftshistorischen Recherchen verstärkt konsultiert. Übrigens stand bereits auch in der frühen Phase des Instituts die Bildersammlung für die größere Tübinger Bevölkerung offen, wie es sich beispielsweise in einer Anzeige der "Tübinger Blätter" aus dem Jahre 1898 dokumentiert (Tübinger Blätter, Beilage, 1898, Nr. 1, S.9-10). Auch klagte Konrad Lange über den großen Ansturm auf die Bestände der Graphiksammlung, denn er versah allein mit dem Pedell die Versorgung der Benutzer! (UAT 175/1) Wie stellt sich nun heute das "Bilder lesen" in der Graphischen Sammlung dar? Neben den kleinen Ausstellungen im Studiensaal der Sammlung, die jedes Semester wechseln und die thematisch häufig auch im Kontext von Lehrveranstaltungen des Kunsthistorischen Instituts stehen, sind sowohl zu festen Terminen als auch nach Vereinbarung Benutzerzeiten eingerichtet. Dabei können sich die Besucher einzelne Blätter oder größere Konvolute vorlegen lassen und mit Muße studieren. Auch besteht die Möglichkeit, Fotografien durch die Reprostelle der Universitätsbibliothek anfertigen zu lassen. Stete Benutzer der Graphischen Sammlung sind natürlich die Studierenden der Kunstgeschichte, die in den regelmäßig stattfindenden Lehrveranstaltungen vor Originalen eine praxisorientierte Ausbildung erfahren. In der Ära des scheidenden Universitätsbibliotheksdirektors gab es auch hin und wieder gemeinsame Ausstellungen in der Wandelhalle des Bonatzbaus, die dem Thema "Text-Bild" gewidmet waren. So hatten wir etwa die Zeichnungen von Günther Grass im Kontext seiner literarischen Themen präsentiert, ein Projekt, das gemeinsam mit Studierenden des Literaturwissenschaftlers Prof. Dr. Wertheimer realisiert wurde. Auch die Zeichnungen des ehemaligen Stuttgarter Professors Erich Mansen, der an der Staatlichen Akademie der Künste lange Jahre tätig war, und der sich - teilweise gemeinsam mit der Abteilung der Klasse für Buchgestaltung - mit unterschiedlichen Literaten des 20. Jahrhunderts künstlerisch auseinandergesetzt hatte, sind noch in schöner Erinnerung. Stets konnten wir bei diesen Vorhaben auf die volle
3 Seite 150 Bilder lesen. Die Graphische Sammlung des Kunsthistorischen Instituts Unterstützung von Herrn von Egidy zählen, die für die Realisation unverzichtbar war und uns allen in bester Erinnerung ist. Wie wir wissen, hat unser Jubilar auch eine große persönliche Affinität zur Kunst, was sich auch darin ausdrückt, dass er seit vielen Jahren Mitglied des Fördervereins des Kunsthistorischen Instituts, der "Tübinger Kunsthistorischen Gesellschaft e.v." ist. So durfte die Gesellschaft auch mehrfach bei besonderen Gelegenheiten zu Gast in der Universitätsbibliothek sein. Alle Teilnehmer denken noch gern an die profunde Führung des Bibliotheksdirektors im letzten Jahr zurück, als wir nicht nur - vor der offiziellen Eröffnung - durch den neuen Ammerbau geleitet wurden, sondern darüber hinaus gemeinsam mit ihm in fröhlicher Runde im ehemaligen Dozentenzimmer des Bonatzbaus den Abend bei Speis und Trank ausklingen lassen konnten. Für den guten Übergang in den neuen Lebensabschnitt des Jubilars sei zum Schluss ein Bild aus der Graphischen Sammlung gestellt, was für sein vielfältiges berufliches Wirken rund um das Buch als Leitmotiv dienen kann. Gleichzeitig öffnet sich vielleicht damit eine neue Perspektive, die sicherlich von Muße begleitet wird. Im Jahre 1910 kam eine bedeutende Graphiksammlung als Vermächtnis des Tübinger Kreisgerichtsrates und Stuttgarter Abgeordneten Otto Freiherr von Breitschwert ( ) in den Besitz des Kunsthistorischen Instituts, während dessen Büchersammlung übrigens die Universitätsbibliothek erbte. Zu dieser Stiftung gehören auch die Radierungen des großen Amsterdamer Künstlers Rembrandt van Rijn ( ) in der Graphischen Sammlung. Ein Blatt unserer Rembrandtsammlung zeigt eine für die Entstehungszeit unkonventionelle Darstellung des Hl. Hieronymus, der am Fuße eines Baumes lesend gezeigt wird. Dieser sitzt hier scheinbar gemütlich in der Natur mit seinem Begleittier, dem Löwen. Die Szene erscheint fast losgelöst von ihrem religiösen Kontext, und die momentane Handbewegung der Figur leitet die Aufmerksamkeit des Betrachters auf das großformatige Buch und das Versenken des Blicks in diese Lektüre. Diese Darstellung geistiger Konzentration und Muße in einer harmonischen Landschaftsumgebung, scheinbar losgelöst von jeglichen zeitlichen Bindungen, ästhetisch verdichtet in dieser kleinformatigen meisterlichen Druckgraphik, soll gleichsam als bildliche Metapher dienen für unseren aktuellen Anlass. Trotz des Ausscheidens von Herrn von Egidy aus der Vita activa im Kontext der Universitätsbibliothek steht weiterhin die Tür zum "Bilderlesen" im Bonatzbau immer offen, und alle guten Wünsche sollen auf diesem Wege den neuen Lebensabschnitt begleiten!
4 Bilder lesen. Die Graphische Sammlung des Kunsthistorischen Instituts Seite 151 Rembrandt van Rijn ( ): Hl. Hieronymus, 1634 Radierung (Graphische Sammlung am Kunsthistorischen Institut, Universität Tübingen, Vermächtnis Freiherr Otto von Breitschwert, 1910)
5 Aus: "Fest-Platte" : Beiträge aus der Universitätsbibliothek Tübingen für Berndt von Egidy anläßlich seines Ausscheidens aus dem aktiven Bibliotheksdienst im Juli 2003 / herausgegeben von Bettina Fiand, Thomas Hilberer, Wilfried Lagler und Ulrich Schapka. Redaktion der Textbeiträge: Wilfried Lagler. Technische Unterstützung: Monika Hahn, Armin Rempfer. - Tübingen: Universitätsbibliothek Tübingen, / Universitätsbibliothek Tübingen / Eberhard Karls Universität Tübingen
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