Entwicklung des Europäischen Straf- und Strafverfahrensrechts 1
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- Nelly Böhler
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1 Entwicklung des Europäischen Straf- und Strafverfahrensrechts 1 1. Strafrechtsverfassung: Unter der irischen Präsidentschaft haben am die Staats- und Regierungschefs der seit fünfundzwanzig Mitgliedstaaten eine Einigung über den Vertrag über eine Verfassung für Europa erzielt. Dieser Vertrag wird erst in Kraft treten, wenn er von allen Mitgliedstaaten ratifiziert worden ist. In einigen Mitgliedstaaten sind hierfür Volksentscheide mit ungewissem Ausgang erforderlich. Aus strafrechtlicher Sicht ist zu diesem Verfassungstext folgendes zu betonen: Die Union erhält eine geteilte d.h. konkurrierende Zuständigkeit zur Verwirklichung des Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (Kap. IV des Verfassungsentwurfs). Die EU kann, muß aber nicht von dieser Zuständigkeitsermächtigung Gebrauch machen. Umfaßt sind - Festlegung von Regeln und Verfahren, mit denen die Anerkennung aller Arten von Urteilen und gerichtlichen Entscheidungen in der gesamten Union sichergestellt wird; - Beilegung und Verminderung von Kompetenzkonflikten; - Förderung der Weiterbildung von Justizangehörigen; 1 Der Beitrag basiert auf Verhandlungen anläßlich der 187. Tagung des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer vom in Freiburg. Auf dieser Tagung hat Prof. Vogel/Tübingen ein außerordentlich informatives Referat über "strafrechtsrelevante Entwicklungen in der EU (RS-Nr. 115/04) und die zuständige Referentin in der Generaldirektion Justiz und Inneres, Frau Carolin Morgan, hat über ihre Arbeit für die Kommission berichtet.
2 Erleichterung der Zusammenarbeit im Rahmen der Strafvollstreckung sowie des Vollzugs und der Vollstreckung von Entscheidungen. Verfassungsrang bekommt der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung. In materiellrechtlicher Hinsicht sollen Tatbestände und Strafen in folgenden Bereichen harmonisiert werden können - Terrorismus, - Menschenhandel, - sexuelle Ausbeutung von Frauen und Kindern, - illegaler Drogen- und Waffenhandel, - Geldwäsche, - Korruption, - Fälschung von Zahlungsmitteln, - Computerkriminalität, - und organisierte Kriminalität. Diese angestrebte Rechtsangleichung wird nach Inkrafttreten der Verfassung durch Rahmengesetze (entspricht den heutigen Richtlinien) erfolgen können, bei denen eine qualifizierte Mehrheit im Rat zum Erlaß genügt. Entgegen den Forderungen einiger Mitgliedstaaten ist also der sogenannte Bereich "Freiheit, Sicherheit und Recht" nicht dem Einstimmigkeitsprinzip unterworfen; ein Überstimmen einzelner Staaten ist möglich beim Abstimmungsverhalten im Rat. Dieser Überblick über die Verfassung beinhaltet einen Vorgriff auf die Zukunft. 2. Tampere-II-Programm
3 - 3 - Handlungsbedarf besteht nach einer Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament vom zur Verwirklichung des Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts in folgenden Bereichen: - Das gegenwärtige System der Rechtshilfe soll schrittweise durch ein einziges auf dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung basierenden Instrument ersetzt werden. - Durch Aufteilung der gerichtlichen Zuständigkeiten sollen positive Kompetenzkonflikte vermieden werden. - Es soll ein Europäisches Strafregister eingerichtet werden. - Das gegenseitige Vertrauen zwischen den einzelstaatlichen Justizbehörden soll durch Schaffung einheitlicher Verfahrensgarantien und Verbesserung der Opferschutzrechte sowie durch bessere Aus- und Fortbildung der Rechtsberufe und durch Arbeiten zur Bewertung von Justizsystemen gestärkt werden. - Die Bekämpfung jeglicher Form der schweren Kriminalität soll unionsweit durch weitere Angleichung bestimmter Teilbereiche des Strafrechts sowie durch Festlegung von Mindeststrafen für bestimmte Delikte verbessert werden.
4 Auf präventiv-polizeilicher Ebene sollen Maßnahmen zur verstärkten Bekämpfung des Terrorismus getroffen werden. 3. Materielles Strafrecht: Nach den Terroranschlägen von Madrid am hat der Europäische Rat am 25./ eine umfassende Erklärung zum Kampf gegen Terrorismus abgegeben. Die Mitgliedstaaten wurden u.a. aufgefordert, beschlossene Instrumente wie den Europäischen Haftbefehl oder gemeinsame Ermittlungsgruppen bis spätestens Juni 2004 umzusetzen. Am hat die Kommission ein Grünbuch über die Angleichung, die gegenseitige Anerkennung und die Vollstreckung strafrechtlicher Sanktionen in der Europäischen Union vorgelegt. In diesem Grünbuch werden folgende Fragen aufgeworfen: - Inwieweit führen unterschiedlich harte Strafen und die unterschiedliche Handhabung des Opportunitätsprinzips in den einzelnen Mitgliedstaaten zur Verlagerung der Kriminalität in bestimmte Mitgliedstaaten? - Ob, und ggf. wie können die in den Mitgliedstaaten bestehenden Unterschiede bei der Ausübung richterlichen Ermessens im Rahmen der Strafzumessung verringert werden? - Welche Maßnahmen sind erforderlich, um Strafurteile aus anderen Mitgliedstaaten im Rahmen der Strafzumessung berücksichtigen zu können (Schaffung eines europarechtlichen Rückfalltatbestandes)?
5 Sollte die strafrechtliche Verantwortlichkeit juristischer Personen harmonisiert werden? - Inwieweit soll die Möglichkeit zur Verhängung alternativer Sanktionen (z.b. gemeinnützige Arbeit) harmonisiert werden? - Inwieweit können die Modalitäten einer vorzeitigen Haftentlassung harmonisiert werden? 4. Strafverfahrensrecht: Am hat die Kommission, aufbauend auf dem viel diskutierten Grünbuch zu Verfahrensgarantien, einen Vorschlag für einen Rahmenbeschluß des Rates über bestimmte Verfahrensrechte in Strafverfahren innerhalb der EU vorgelegt. Der Vorschlag betrifft - das Recht auf unentgeltlichen Rechtsbeistand während des gesamten Strafverfahrens, - das Recht auf unentgeltliche Beiziehung eines Dolmetschers und Übersetzers, - das Recht auf besondere Aufmerksamkeit für Personen mit besonderen Bedürfnissen wie Minderjährige und Kranke, - das Recht auf Kommunikation mit Familienangehörigen, den Konsulaten seines Heimatstaates etc.,
6 die Aushändigung einer Erklärung der Rechte "letter of rights". Die Verhandlungen zu einem europäischen "ne bis in idem" kommen nicht voran; infolgedessen sollen zwei Entscheidungen des EuGH in Verfahren zu Art. 54 SDÜ abgewartet werden. Vergeblich sucht man in diesem Rahmenbeschluß nach Verfahrensrechten, die in der BRD selbstverständlich sind wie - Unschuldsvermutung - Schweigerecht - Beweispflicht für Staatsanwaltschaft. Auch zu den Problemen von - Telefonüberwachung - Postöffnung - Abwesenheitsurteilen schweigt sich der Vorschlag aus. Sicherheit geht vor Verbürgung von Verteidigungs- und Freiheitsrechten. 5. Umsetzung des Europäischen Haftbefehls:
7 - 7 - Nachdem der Bundesrat am Einspruch gegen das Europäische Haftbefehlsgesetz eingelegt hatte, hat der Bundestag den Einspruch am mit Kanzlermehrheit zurückgewiesen. Die Verkündung im Bundesgesetzblatt steht derzeit noch aus. Da die Bundesratsmehrheit das Gesetz für zustimmungsbedürftig hält, ist ein Normenkontrollverfahren vor dem BVerfG nicht ausgeschlossen. 6. Europäische Beweisanordnung: Es existiert ein Vorschlag der Kommission für einen Rahmenbeschluß des Rates über die Europäische Beweisanordnung zur Erlangung von Sachen, Schriftstücken und Daten zur Verwendung in Strafverfahren vom An diesem Vorschlag können die Einwände und Bedenken gegen die vorschnellen und überhasteten europäischen Harmonisierungsbestrebungen im Straf- und Strafverfahrensrecht besonders exemplifiziert werden. Zu einem Vorschlag der Kommission wird das Europäische Parlament ohne Mitentscheidungsrecht angehört. Ist auf den Vorschlag der Kommission hin ein Rahmenbeschluß, der durch den Rate erlassen wird, ergangen, muß dieser Rahmenbeschluß auf nationaler Ebene umgesetzt werden und Korrekturmöglichkeiten bestehen nur noch in Nebensächlichkeiten. Die vorgesehene europäische Beweisanordnung dient dem Zweck der Effizienzsteigerung und soll das Europaratsabkommen über Rechtshilfe in Strafsachen und das Schengener Durchführungsübereinkommen ersetzen. Weder soll das Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit (im ersuchenden und im ersuchten Staat) eine Rolle spielen, noch soll die europäische Beweisanordnung in eine innerstaatliche Entscheidung umgewandelt werden.
8 - 8 - Gegenüber dem Europäischen Haftbefehl sollen die ungenau definierten 32 Deliktsgruppen auf 39 erweitert werden, ohne daß in irgendeiner Art und Weise die beiderseitige Strafbarkeit nachgeprüft würde. Gegen eine europäische Beweisanordnung kann Rechtsschutz nur im Anordnungsstaat erlangt werden. In einzelnen Staaten können auch Staatsanwälte eine Beweisanordnung erlassen. Die Wahrung der Grundrechte und die differenzierte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Beweiserhebungs- und Beweisverwertungsverboten wird nach Inkrafttreten der europäischen Beweisanordnung überhaupt keine Rolle mehr spielen. Dabei bleiben insbesondere unbeachtet die - Mindestanforderungen an die Begründung, - die zulässige Vollstreckungsdauer von nur 6 Monaten, - der Richtervorbehalt und die Zurückdämmung des Arguments "Gefahr im Verzug". Der Präsident der Bundesrechtsanwaltskammer, Dr. Dombeck, hat in einem ausführlichen Schreiben vom an die Frau Bundesministerin der Justiz, Brigitte Zypries, fundierte Einwände gegen den Rahmenbeschluß über die europäische Beweisanordnung in Strafverfahren erhoben. Der Antwortbrief der Bundesministerin der Justiz vom zeichnet sich insbesondere dadurch aus, daß an den zentralen Problemen vorbeiargumentiert wird. Es bedarf besonderer Wachsamkeit der Anwaltschaft, daß im Zuge der europäischen Harmonisierung von bewährten und anerkannten Verfahrensgarantien keine Abstriche erfolgen.
9 - 9 - Rechtsanwalt Dr. Müller Fachanwalt für Strafrecht Vizepräsident der RAK München
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