II. Forschungsbericht
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- Dieter Vogel
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2 II. Forschungsbericht 21 pien des dramatischen Texts im Blick auf seine Mitteilungsqualitäten über die psychische Verfasstheit von Figuren in einer Szene zu ermitteln (Schmid 1976, Zimmer 1982, Greiner 1982, Hasler 1982). Hübler (1973) beschreibt das Drama mit Bezug auf Szondi als Vermittlung von Form (Sprache), Inhalt (Handlung) und pragmatischen Aspekten der Aufführung (Szene). Kiel (1992) sieht es im Zusammenhang durch Dialog und Handlung begründet. Aber auch in diesen Arbeiten ist noch die Folie der strukturalistischen Analyse bemerkbar (Schmid 1973). Erst in den semiotisch und ritualtheoretisch orientierten Theaterwissenschaften seit den 1980er Jahren, die auf Methoden der allgemeinen Semiotik bauen, verschiebt sich die Aufmerksamkeit weg vom dramatischen Text hin zur szenischen Realisierung (Fischer-Lichte 1983; dazu Krieger 2004, 72). Erst jetzt setzt sich die Abkehr vom bloßen Sprachkunstwerk hin zum Verhältnis von dramatischem Dialog und Alltagsdialog (Roumois-Hasler 1982) und zum ritualtheoretisch begründeten sozialen Drama (Turner 1989) durch. In diesem Rahmen entstehen Untersuchungen über die szenische Realisierung von Textvorlagen durch nichtsprachliche Zeichensysteme (Esslin 1989). In der Verbindung von Kommunikationsund Textforschung werden drameninterne Strukturen präzisiert, d. h. Aspekte der Informationsvergabe, der Kommunikation und Interaktion, indem soziologische und psychologische Erkenntnisse neue Bezugspunkte bilden. Das Rollenspiel des Menschen im Alltag dient hier als Vorgabe, um das Rollenspiel auf der Bühne nach Mustern alltäglichen Handelns zu begreifen. Das Drama ist vor diesem Horizont ein beispielhaftes, künstlerisch gestaltetes und ästhetisch produziertes Modell menschlichen Verhaltens, das im Theater genauso funktioniert wie im alltäglichen Leben. Zunehmend kommen dabei Perspektiven der Gendertheorie, etwa im Spiel mit Geschlechterrollen durch den Einsatz geschlechtsspezifischer Körperzeichen, in den Blick. Diese Verlagerung reagiert auf Tendenzen der Theatralisierung in der dramatischen Praxis der Moderne, insofern sich seit Brecht und dem Absurden Theater die Aufmerksamkeit auf nichtsprachliche Darstellungsformen verstärkt. Die Entliterarisierung des Dramas setzt sich seit den 1980er Jahren in den Befunden zum,postdramatischen Theater fort (Poschmann 1997, Lehmann 1999; resümierend Birkenhauer 2007). Lehmann unterscheidet das traditionelle Drama, das sich nach Aristoteles durch den Primat der Handlung auszeichnet, von prädramatischen und postdramatischen Formen, um so nicht zuletzt auch die Unabhängigkeit aktueller Theorieansätze von den bisher wirksamen Traditionsvorgaben zu demonstrieren. Neben den semiotischen Orientierungen begründet Lehmann eine Dramentheorie, in der die Rolle und Relevanz des Theaters im Rahmen konkurrierender Medien herausgehoben wird. Bereits zuvor hat Pfister erstmals systematisch das Drama als plurimediale Darstellungsform beschrieben. In jüngster Zeit häufen sich aber wieder die Befunde, die eine Rückkehr zum Handwerklichen und zum konventionell Dramatischen in der Abweisung des postdramatischen Theaters feststellen, weil man darin zunehmend Beliebigkeit und Dilettantismus identifiziert (Brincken/Englhart 2008, ). Auch die Abwendung vom dramatischen Text wird mittlerweile wieder relativiert (Korthals 2003). Im Bereich der systematischen Forschung gibt es Untersuchungen und Anthologien zum Wechselverhältnis zwischen Drama und Theater (Platz-Waury 1978, Turk 1992, Balme 2008, Brincken/Englhart 2008), daneben zur Systematische Forschung
3 22 II. Forschungsbericht Grundbegriffe der Interpretation von Dramen Dramentheorie bzw.,poetik des Dramas (Grimm 1971, Keller 1976, Profitlich 1998/1999) und zur Rolle der Nebentexte (Detken 2009). In jüngster Zeit verstärken sich im Zeichen der Wiederkehr begrifflicher Arbeit in der analytischen Literaturwissenschaft Reflexionen über die literarischen Gattungen und deren Organisationslogik, etwa in der gattungstheoretischen Untersuchung von ¾hnlichkeiten,zwischen Drama und Erzählung : Das Drama ist eine Form der gegenwartsillusionistischen Geschehensdarstellung, die maßgeblich aus geschehenskonstituierender Rede von Geschehensteilnehmern und teichoskopischer Rede eines Geschehensvermittlers besteht, sich allerdings auch erzählender oder erzähl-analoger Mittel zu bedienen vermag (Korthals 2003, 470). Neuere Fragestellungen zur informationslenkenden Rolle und Logik der ästhetischen Figur in narrativen Texten (Jannidis 2004) und im Film (Eder 2008) sind von der Dramenforschung im Unterschied zur Applikation der narratologischen Kategorie des Sujets (Andronikashvili 2009) noch nicht aufgegriffen worden. Vollständig wäre die Forschung zum Drama erst aufgeführt, wenn auch die internationale Forschung aus verschiedenen Disziplinen von der klassischen Philologie über die Anglistik, Romanistik bis hin etwa zur Slawistik beachtet würde. Die ausführlichste Bibliographie der älteren Forschung zum Drama in internationaler Perspektive liefert Pfister (1988, ), auf einem neueren Stand Korthals (2003, ) und Detken (2009, ). Pütz (1980) unterscheidet zwei Weisen der Interpretation von Dramen: die Theateraufführung selbst und die theorie- und methodengeleitete Explikation der Texte. Übersetzt diese die Fiktion des dramatischen Texts in einen Diskurs, repräsentiert jene die Fiktion in konkreter Anschauung. Die Aufführung wird dabei auch zur Korrektur des Textes, sei es als Erweiterung oder gar Ersetzung. Trotz des historischen Formenwandels zeigt das Drama im Vergleich zu den anderen Gattungen Lyrik und Epik eine relative Festigkeit. Geschuldet ist diese bestürzend starre Systematizität des Theaters (Pütz 1980, 12) der Abhängigkeit des Dramas von den Bedingungen seiner Aufführbarkeit. Diese Vorgabe prägt die Gattung bis in die innerste Struktur hinein. Letztlich bleiben die drei Einheiten auch in der Moderne aus dem Zwang zur Konzentration heraus bestehen, soweit man die Aufnahmekapazität des Publikums würdigt. In lyrischen und epischen Texten spielt dieser Aspekt keine Rolle, denn hier kann die stille Lektüre jederzeit unterbrochen werden. Für das Drama hingegen diktiert das Theater Ort und Stunde seiner Aktualisierung (ebd., 12), damit eben auch die Einheit von Raum und Zeit. Diese Vorgabe wirkt als Systemzwang auf den dramatischen Text zurück. Umgekehrt prägt auch die Intention auf den Zuschauer dessen Struktur: Dunkle Stellen sind für das akute Verständnis zugunsten von Transparenz, Rationalität, tektonischer und sprachlicher Kalkulation und Konzentration genauso zu vermeiden wie ausufernde Umfänge. Auf der Ebene der sprachlichen Gestaltung äußert sich dieser Systemzwang in der Pointierung, daneben in der auch metrisch organisierten Bildung von Sentenzen: Mit Ausnahme von Stücken des Naturalismus und der Neuen Sachlichkeit spricht kaum eine Figur im Drama so wie im richtigen Leben. Sentenzen aus Dramen gehen deshalb als Geflügelte Worte gern in Büchmanns Citatenschatz des deutschen Volkes ein (1864, 43. Aufl. 2007).
4 II. Forschungsbericht 23 Vor dem Hintergrund dieser Befunde unterscheidet Pütz vier Zugangsweisen der Interpretation von Dramen: (1) Die strukturanalytischen Begriffe leiten sich von Aristoteles her: Die Geschlossenheit der Handlung verweist auf die Konzentration und auf Bauprinzipien (als Wie der Darstellung und als Aktion der Figuren). Dramaturgische Grundbegriffe sind in diesem Zusammenhang Figur, Raum, Handlung und Zeit. Je nach Beobachterperspektive lassen sich daraus unterschiedliche Typologien ableiten. (2) Zu den anthropologischen Begriffen gehört die menschliche Qualifizierung der Figuren, ihre Beschaffenheit als Typus oder Charakter (gut, schlecht,,mittlerer Charakter), ihr soziales Ansehen und ihr Pathos als stellvertretendes Leid oder ihre Komik durch Typisierung eines Fehlers; schließlich gehört dazu die Frage, in welcher Weise dramatische Figuren allgemeine Verhaltens- und Lebensweisen des Menschen repräsentieren. An diese Aspekte knüpfen Überlegungen zu Freiheit und Notwendigkeit, Schicksal, Schuld und Zufall an, die im Gegeneinander von subjektivem Ich und Welt, im Konflikt des Besonderen mit dem Allgemeinen auf szenische Weise ausgetragen werden. (3) Die wirkungsästhetischen Begriffe leiten sich von der aristotelischen Katharsis her. Sie werden von Lessing über Lenz bis Brecht und dessen Polemik gegen Aristoteles als Abkehr von der Was-Spannung zur Wie-Spannung diskutiert. (4) Schließlich untersucht die Dramenforschung mit historisch abgrenzenden Begriffen Spezifikationen im Gattungssystem wie etwa das Bürgerliche Trauerspiel, mit anderen Worten historische Neuerungen, die auf der normativen Folie einer klassizistischen Dramaturgie im Prozess der wachsenden Aufmerksamkeit gegenüber den Dramen Shakespeares im 18. Jahrhundert entstehen.
5 III. Grundbegriffe der Dramen-Analyse 1. Bauelemente der dramatischen Rede Haupttext Nebentext Wortkulisse Die ¾ußerung einer Figur im Drama, d.h. die Bühnenrede nennt man den Haupttext (Keiper 1997). Im Unterschied zu epischen und lyrischen Texten ist sie im Drama die sprachliche Hauptform, auch weil sie als gesprochene Handlung wirkt (Pfister 1988, 23 f.). Darüber hinaus ist die Figurenrede im Drama polyfunktional ausgerichtet, denn sie ist hier eingebettet in den szenischen wie in den theatralischen Kontext (ebd., 282). Dieser doppelte Aspekt betrifft die interne Kommunikation zwischen den Figuren auf der einen, die äußere Kommunikation mit dem Zuschauer auf der anderen Seite: Einerseits sprechen Figuren, indem sie sich auf andere Figuren des Stücks beziehen; andererseits sprechen sie den Zuschauer als nichtfiktionalen Adressaten an. Der Rezipient des Dramas hat es folglich mit einer doppelten Kommunikation zu tun. Gegenüber dem Haupttext versteht man unter dem Nebentext (ohne abwertende Bedeutung) sämtliche Textelemente außerhalb der Figurenrede: diejenigen Texte in einem Drama, die in der Aufführung üblicherweise nicht in Erscheinung treten (Platz-Waury 2000). Dazu gehören alle Paratexte wie der Titel des Stücks, der Untertitel mit Angaben zum Genre, möglicherweise auch eine Widmung oder ein Motto, daneben das Verzeichnis der dramatis personae samt Orts- und Zeitangaben, nicht zuletzt eventuelle Vorreden oder ein Nachwort des Autors. Die zuletzt genannten Elemente sind wiederum vom Prolog und Epilog bzw. vom Vor- und Nachspiel zu unterscheiden, weil diese als szenische Einheiten die Handlung umgeben. Zu den Nebentexten zählen weitere Textelemente im Fortgang des Stücks: Angaben zu Akt und Szene, zum Auftritt und Abgang der Figuren, schließlich Hinweise zu den Figuren selbst. Nebentexte sind in diesem Fall die Bemerkungen vor, in, zwischen oder nach den direkten Reden und umfassen damit alle Szenenbzw. Regieanweisungen (Weimar 2003). Sie beziehen sich entweder auf die Theatersituation oder auf die Umstände der Handlung, indem Angaben über Requisiten, das Bühnenbild, das Licht, die Kostüme oder Masken gemacht werden. Auf die Schauspieler bezogen sind schließlich die Hinweise zur Aktion, Gestik oder zur Mimik einer Figur. Regie-, Szenen- und Inszenierungshinweise gibt es allerdings auch im Haupttext, u. a. dergestalt, dass der umgebende Raum besprochen wird (Hasler 1982, 75 78). Aber auch Verhalten, Aussehen und Körperregungen einer Figur, daneben die Eigenheiten in der Art und Weise ihres Sprechens in wechselnden Situationen liefern Signale für die Inszenierung. Dies ist der Fall, wenn in einer erregten Situation die syntaktische Ordnung zerrüttet wird, angezeigt durch unvollständige Sätze oder durch Abtönungspartikel bzw. Interjektionen, die etwa die Monologe Odoardos in Lessings Emilia Galotti in ein affektgetriebenes Stammeln auflösen ( ha! ha! Ha! ; Ah!, V/7; Lessing 2000, 367). Besonders Shakespeare arbeitet mit der sog. Wortkulis-
6 1. Bauelemente der dramatischen Rede 25 se. Darunter versteht man diejenige Technik, mit der ein Schauplatz rein sprachlich,vor Augen gestellt wird (Pfister 1988, 37f., ). Die elisabethanische Bühne kommt ohne Kulissen aus (vgl. Abb. Schabert 1992, 82). Sie ist also noch keine Illusions- bzw. Guckkastenbühne, die den Zuschauer vom Geschehen durch die,vierte Wand trennt und sich erst im 17. Jahrhundert durchsetzt (Pfister 1988, 41 44; Lösch 1997). Wenn mindestens zwei Figuren miteinander sprechen, hat man es mit einem Dialog zu tun: sei es in Form einer Unterredung oder eines sprachlichen Kampfes, sei es in Form einer Konversation. Eine gesteigerte Form ist die Stichomythie im griechischen und später im klassizistischen Drama. Im Drama der Klassik und im 19. Jahrhundert kehrt sie als Formzitat auf die griechische Tragödie wieder (und muss entsprechend als spezifisches Traditionsverhalten interpretiert werden). Gemeint ist damit eine antagonistische Wechselrede, organisiert nach Sentenzen, die jeweils nur eine Verszeile in Anspruch nehmen. In der schnellen Abfolge von Rede- und Gegenrede steigert diese Zeilenrede die Dynamik der Ereignisse und bildet entsprechende Erregungszustände der Figuren ab (z. B. in Goethes Tasso II/4, V ff.). Beim Monolog dagegen spricht die Figur allein. Ihre Rede ist weder an das Publikum noch an andere Dramenfiguren gerichtet, für den Zuschauer aber vernehmbar, so dass der Monolog v. a. der Selbstaussprache dient. Auch daran lässt sich die doppelte Kommunikation des Dramas vor Augen führen: Als Selbstgespräch in der fiktiven Handlung angesiedelt, bleibt der Monolog dem Publikum zugänglich. Er wird daher zur Darstellung psychischer Verfasstheiten und individueller Besonderheiten einer Figur genutzt, so etwa für Odoardos Erregung am Ende von Emilia Galotti. Im Drama blieb der Haupttext lange Zeit meist metrisch gebunden. Erst im 18. Jahrhundert dringt die Prosa vor. Diese Unterscheidung stellt ein zentrales Kriterium für die Beurteilung einer Figurenrede und damit für die Konzeption einer Figur bereit: einerseits im Blick auf ihren sozialen Stand, anderseits im Blick auf die Art und Weise ihres Sprechens. Metrische Bindung und Nuancierung einer Figurenrede in Prosa durch Soziolekt, Dialekt oder durch Hochsprache sind an der Stilhöhe der Rede orientiert. Gemeint sind damit die genera dicendi, d. h. die Stillagen nach Maßgabe der Regelpoetik, die bis Mitte des 18. Jahrhunderts für alle Gattungen gelten. Unterschieden werden drei Stillagen: (1) Der stilus sublimis/gravis ist der hohe Stil; er kommt hohen Gegenständen und hohen Personen zu und wird im Epos, in der Tragödie oder im Sonett verwendet. (2) Stilus mediocris nennt man den mittleren Stil; er wird ständisch gesehen in der weltläufig-eleganten Prosa oder im Volkslied eingesetzt und zeigt sich im Bürgerlichen Trauerspiel in der Figurenrede in Prosa. (3) Der stilus humilis schließlich, der niedere Stil, ist unteren Gesellschaftsschichten zugewiesen und kommt in der Komödie und in der derb-komischen Epik (z. B. im Schelmenroman) zum Einsatz. Der Gebrauch der jeweiligen Formen nach diesen Vorgaben ist zweckgebunden, denn er basiert auf der Rhetorik, einer Technik der öffentlichen Rede, die in die Kunst der Überredung einüben will. Der primäre Zweck rhetorischer Mittel besteht auch in literarischen Texten im Überreden (persuadere). Bis ins 18. Jahrhundert hinein wird Poesie grundsätzlich für lehrbar und erlernbar gehalten, weil sie festen Regeln folgt. Diese Regeln sind schriftlich niedergelegt und normiert in Poetiken, die ein Anweisungssystem erstellen, Formen und Funktionen der Figurenrede genera dicendi
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