Lesung Klagelieder 3, Predigt Klagelieder
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- Inge Dittmar
- vor 7 Jahren
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1 Lesung Klagelieder 3, Die Huld des Herrn ist nicht erschöpft, sein Erbarmen ist nicht zu Ende. 23 Neu ist es an jedem Morgen; groß ist deine Treue. 24 Mein Anteil ist der Herr, sagt meine Seele, darum harre ich auf ihn. 25 Gut ist der Herr zu dem, der auf ihn hofft, zur Seele, die ihn sucht. 26 Gut ist es, schweigend zu harren auf die Hilfe des Herrn. 31 Denn nicht für immer verwirft der Herr. 32 Hat er betrübt, erbarmt er sich auch wieder nach seiner großen Huld. Predigt Klagelieder Liebe Gemeinde vielleicht erinnern Sie sich an das alte Kirchengesangbuch. (zeigen) Es war bis vor sieben Jahren das gebräuchliche Gesangbuch, auch in unserer Gemeinde. Es war dünner als das heutige. Wie dieses war es auch unterteilt in thematische Kapitel. Da gibt es Lob und Dank, Bitte und Fürbitte, Tageszeiten, das Kirchenjahr mit seinen besonderen Zeiten und Festen. Glaube, Trost und Vertrauen, Busse, Nachfolge Christi. Was es hingegen nicht gibt, ist ein Kapitel Klage. Im neuen Gesangbuch gibt es dieses Kapitel, im alten nicht. Das Lied, das wir am Anfang gesungen haben, ist im alten Gesangbuch im Kapitel Trost und Vertrauen zu finden, im neuen unter Klage. Wie ist das zu deuten? Ich denke, dass in den letzten Jahren in Kirche und Theologie ein Bewusstsein dafür gewachsen ist, dass Klagen erlaubt ist. Die Psalmen, insbesondere die Klagepsalmen, sind mit neuem Interesse untersucht worden und zum Teil auch in moderner Sprache frei übersetzt und neu interpretiert worden als Gebete für Menschen unserer Zeit. Das Gebet, das wir hier vor uns haben, ist nun aber eigentlich gar nicht so sehr eine Klage. Es tönt fast eher wie ein Trostlied. Es ist zu finden im Buch der Klagelieder. Die Klagelieder werden traditionell dem Propheten Jeremia zugeschrieben. Entstanden sind sie in einer Zeit, die für das alttestamentliche Volk Israel ein dunkles Kapitel in seiner Geschichte ist. Die Israeliten, oder wenigstens die gebildete Oberschicht, sind aus ihrem angestammten Land deportiert worden und leben im Exil in Babylon, mitten in einem fremden Volk. Ein berühmter Text aus jener Zeit ist der Klagepsalm 137: An den Flüssen Babylons sassen wir und weinten, wenn wir Zions gedachten. An die Weiden im Lande hängten wir unsere Harfen... Dem Volk Israel war damals, im 6. Jh.v.Chr., das Schlimmste passiert, was an kollektivem Schicksal möglich war: der Jerusalemer Tempel war 1
2 dem Erdboden gleich gemacht worden. Der Tempel in Jerusalem: das war nicht einfach ein Ort, wo man sich zum Gottesdienst versammelte. Der Tempel, das war der Ort, wo Gott in der Mitte seines Volkes anwesend war. Er war die Mitte, das Zentrum der religiösen Identität dieses Volkes. Er war Ziel von Wallfahrten, der Ort, der die Zukunftshoffnung des Volkes und der Einzelnen symbolisierte. Dieser Tempel war nicht mehr da. Damit ist auch Gott nicht mehr da. Die Gemeinschaft hat keine Mitte mehr und ist in alle Winde zerstreut, und der Einzelne weiss nicht mehr, wo er sich hinwenden soll. Die Menschen haben den Boden unter den Füssen und, so scheint es, auch den Himmel über sich verloren. Wie vielen mag es in diesen Tagen ähnlich ergehen? Die Stadt New Orleans gibt es nicht mehr. Was bis vor kurzem noch Heimat war, der Ort, wo das Leben sich abspielte, wo Familie und Freunde lebten, das gibt es nicht mehr. Der Boden unter den Füssen, den gibt es nicht mehr, buchstäblich. Und in die Klage über den Verlust lieber Menschen, des Hauses, des Lebensraumes mischt sich der Zorn darüber, dass es mit der Hilfe so langsam vorwärts geht. Die Menschen fühlen sich im Stich gelassen, vielleicht auch von Gott. Diesen Verlust von allem, was gestern noch gegolten hat, was getragen hat und dem Leben Ausrichtung gab, ist im Buch der Klagelieder beschrieben. 1:1 Weh, wie einsam sitzt da die einst so volkreiche Stadt. Einer Witwe wurde gleich die Große unter den Völkern. Die Fürstin über die Länder ist zur Fron erniedrigt. 2 Sie weint und weint des Nachts, Tränen auf ihren Wangen. Keinen hat sie als Tröster von all ihren Geliebten. Untreu sind all ihre Freunde, sie sind ihr zu Feinden geworden. 3 Gefangen ist Juda im Elend, in harter Knechtschaft. Nun weilt sie unter den Völkern und findet nicht Ruhe. All ihre Verfolger holten sie ein mitten in der Bedrängnis. 8 Schwer gesündigt hat Jerusalem, deshalb ist sie zur Abscheu geworden. 12 Ihr alle, die ihr des Weges zieht, schaut doch und seht, ob ein Schmerz ist wie mein Schmerz, den man mir angetan, mit dem der Herr mich geschlagen hat am Tag seines glühenden Zornes. 14 Schwer ist das Joch meiner Sünden, von seiner Hand aufgelegt. Sie stiegen mir über den Hals; da brach meine Kraft. Preisgegeben hat mich der Herr, ich kann mich nicht erheben. Ich bin froh, dass solche Worte, dass solches Klagen in der Bibel stehen. Es sind Klagen einer ganzen Gemeinschaft, aber auch Klagen eines einzelnen Menschen. Es wechselt immer wieder ab. In den Klageliedern 2
3 mischt sich das Leiden von Einzelnen mit dem kollektiven Leiden in dieser schlimmen Zeit. Ich bin froh, dass es in der Bibel Klagelieder und Klagepsamen gibt. Es sind Gebete, in denen Erfahrungen aufgezeichnet sind, die Menschen aller Zeiten widerfahren können. Preisgegeben hat mich der Herr, ich kann mich nicht mehr erheben. Vielleicht gibt es Menschen unter uns, die genau das kennen. Ein Schicksalschlag, der alles zunichte macht. Der das Leben, wie es bisher war, in Frage stellt. Was vielleicht jahrelang Halt und Boden gegeben hat, ist nicht mehr da. Da ist nirgends Hilfe in Sicht. Keine Hoffnung, dass es irgendwo weitergehen könnte. Auch Gott scheint weit weg. Menschen, die das erlebt haben, haben ihre Gebete aufgeschrieben für andere. Für Zeiten, in denen keine eigenen Worte mehr möglich sind. Für Zeiten, in denen keine Loblieder, kein Halleluja über die Lippen kommen. Für diese Zeiten gibt es die Klagelieder. In ihnen hadern, kämpfen Menschen mit Gott. Sie suchen sein Gesicht in dem, was ihnen widerfährt. Sie fragen, ob Gott sie bestrafen wolle. Sie sehen Schuld und Fehler in ihrem Leben. Ihr ganzes Selbstvertrauen und Selbstverständnis ist am Boden. Aufgeschrieben und gesungen werden solche Lieder nach der Krise. Es sind Lieder von Leuten, die davongekommen sind. Die wieder Boden unter den Füssen gewonnen haben. Die wieder Loblieder singen können. Und die dies weitergeben wollen, diese Erfahrung aufbewahren für andere. Das ist viel mehr als ein billiger Trost im Sinn von Es geht schon wieder weiter. Oder Nach em Räge schynt dsunne. Die biblischen Gebete, aber auch viele Choräle, die wir in der Kirche singen, sind überlieferte Erfahrungen, in die man sich hineinstellen kann, wenn die eigenen Worte fehlen. Man kann sie singen oder sich vorlesen, als wäre es jemand anders, der sie einem zuspricht. Denn in Zeiten der Krise kann der Faden zum Leben und der Faden zu Gott abgeschnitten sein. Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Das sind Worte aus der jüdischen Tradition. Jesus gebraucht diese Worte im dunkelsten Moment seines Lebens, am Kreuz, wo auch er meint, Gott habe sein Gesicht von ihm abgewandt. Unser Glaube hat seinen Grund, sein Fundament in der Erfahrung, dass neues Leben kommt. Dass nach der tiefsten Gottverlassenheit und nach dem Tod das neue Leben aufscheint. Das können wir uns in der Zeit der Krise nicht oder nicht immer selber sagen. Deshalb können wir es uns zusprechen lassen. So auch im heutigen Predigttext, der Jahrhunderte vor Jesu Tod und Auferstehung von der Treue, Güte und Barmherzigkeit Gottes singt, die jeden Morgen neu ist. Das sind Worte, die wir vielleicht in der Krise nicht hören mögen, die auch heute vielen Menschen in New Orleans und anderswo noch wie Spott in den Ohren klingen. Aber die 3
4 Worte stehen da, wie ein Versprechen. In der Übersetzung von Martin Luther tönt der Anfang unseres Abschnitts so: Die Güte des Herrn ist's, dass wir nicht gar aus sind. Nicht gar aus! Das ist wie ein Feuerchen, das, fast erloschen, weiter glimmt, um beim nächsten Windstoss wieder aufzuflackern und zu brennen, dass es weit herum sichtbar wird. Und noch etwas. In den Versen 25 und 26 heisst es: 25 Gut ist der Herr zu dem, der auf ihn hofft, zur Seele, die ihn sucht. 26 Gut ist es, schweigend zu harren auf die Hilfe des Herrn. Gut ist es, schweigend zu harren! Das sagt jemand, der vorher auch geklagt hat. Wer soll da schweigen? Mir kommen, wenn ich an die Katastrophen der Gegenwart denke, vor allem Stimmen zu New Orleans in den Sinn, die vielleicht besser schweigen würden. Es gibt Christen in den USA, die öffentlich verlauten lassen, dass Gott New Orleans gestraft habe, weil diese Stadt sich besonders sündig verhalten habe. Es ist wahr, auch in den Klageliedern ist die Rede von Schuld! Hier wird aber über eigene Schuld nachgedacht. Über eigenes Fehlverhalten. Solche Überlegungen sind not-wendig, damit neues Leben, neue Freude, neue Gottesbeziehung möglich wird nach der Krise. Jene Christen aus den USA aber brechen den Stab über andere und benutzen die Katastrophe, um ihren eigenen Vorstellungen von richtigem und falschem Leben Geltung zu verschaffen. Die Frage nach Schuld und Strafe zu stellen, finde ich bei Katastrophen wie den Überschwemmungen oder dem Tsunami höchst problematisch. Schon nach den vielen Millionen unschuldigen Toten während dem zweiten Weltkrieg sollte diese Frage eigentlich verboten sein. Vielleicht ist heute vor allem das gemeint mit Gut ist es, schweigend zu harren. Die Güte des Herrn ist's, dass wir nicht gar aus sind. Ich möchte dazu zum Schluss ein Gedicht lesen, das die Lyrikerin Hilde Domin vor einem halben Jahr in Bern vorgelesen hat: Bitte Wir werden eingetaucht Und mit den Wassern der Sintflut gewaschen, wir werden durchnässt bis auf die Herzhaut. Der Wunsch nach der Landschaft diesseits der Tränengrenze taugt nicht, Der Wunsch, den Blütenfrühling zu halten, 4
5 der Wunsch, verschont zu bleiben, taugt nicht. Es taugt die Bitte, dass bei Sonnenaufgang die Taube den Ölzweig vom Ölbaum bringe. Dass die Frucht so bunt wie die Blüte sei, dass noch die Blätter der Rose am Boden eine leuchtende Krone bilden. Und dass wir aus der Flut, dass wir aus der Löwengrube und dem feurigen Ofen immer versehrter und immer heiler stets von neuem Zu uns selbst entlassen werden. 5
Nr. 56 Juni / Juli 2013
KIRCHE in der KLINIK Nr. 56 Juni / Juli 2013 Impressum: Herausgeber: ev. und kath. Klinikpfarramt an der MHH, Tel.: 532-5474, 532-5405 Produktion: MHH, Digitale Medien Erscheinungsweise alle zwei Monate,
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