B e g r ü n d u n g :
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- Florian Mann
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1 Bsw 26171/07 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Hümmer gg. Deutschland, Urteil vom , Bsw /07. Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK - Zeugeneinvernahme in Abwesenheit des Angeklagten. Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK ivm. Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK (einstimmig). Entschädigung nach Art. 41 EMRK: ,- für immateriellen Schaden, 4.150, für Kosten und Auslagen (einstimmig). B e g r ü n d u n g : Sachverhalt: Am informierten die Mutter, der Bruder und die Schwester des Bf. die Polizei über einen Vorfall, der sich in der Nacht von 2. auf ereignet hatte. Demnach hätte der Bf. im Haus seiner Eltern seine Schwester gewürgt und seinen Bruder mit einer Axt angegriffen, bevor er von den Eltern überwältigt werden konnte. Der Bf. selbst kann sich an die Ereignisse nicht erinnern. Nachdem Ermittlungen gegen den Bf. eingeleitet worden waren, wiederholten seine Geschwister und seine Mutter ihre Aussage am vor dem Ermittlungsrichter des Amtsgerichts Kronach im Beisein eines Polizeibeamten. Der Bf. war von dieser Anhörung nicht verständigt worden. Ein Verteidiger wurde nicht bestellt. Am wurde der Bf. in Untersuchungshaft genommen. Am wurde er aufgrund einer Anordnung des Landgerichts Coburg in ein
2 2 Bsw 26171/07 psychiatrisches Krankenhaus verlegt. Am ordnete das Landgericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß 63 StGB an. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass der Bf. am Abend des in das Haus seiner Eltern eingedrungen und seine Schwester gewürgt und seinen Bruder mit einer Axt angegriffen hatte. Er sei noch bis Ende September bei seinen Eltern geblieben und dann an seinen Wohnort Bingen zurückgekehrt. Nach einem weiteren unangekündigten Besuch im Haus seiner Eltern am hätten sich seine Geschwister und seine Mutter aus Furcht vor einem weiteren Angriff entschieden, die Polizei einzuschalten. Das Landgericht qualifizierte die Taten als gefährliche Körperverletzung und stellte aufgrund der vorliegenden Gutachten fest, dass der Bf. entweder in einem epileptischen Dämmerzustand oder während eines paranoid- - schizophrenen Schubs gehandelt hätte, weshalb er mangels Schuldfähigkeit nicht für die Taten zur Verantwortung gezogen werden könne. Da die Angehörigen des Bf. in der Hauptverhandlung von ihrem Recht Gebrauch gemacht hatten, die Aussage zu verweigern, stützte das Landgericht seine Tatsachenfeststellungen vor allem auf die Aussagen des Ermittlungsrichters über ihre Einvernahme im Vorverfahren. Das Gericht stellte fest, dass die Bestellung eines Verteidigers für den Bf. verabsäumt und er auch nicht von der Einvernahme verständigt worden sei. Dies führe zwar nach der Judikatur des BGH nicht zwingend zum Ausschluss der Aussage des Ermittlungsrichters, doch müsse diese besonders sorgfältig geprüft werden. Eine Feststellung könne nur dann auf sie gestützt werden, wenn sie durch andere wichtige Gesichtspunkte bestätigt werde.
3 3 Bsw 26171/07 Das Landgericht zog einige weitere Beweise zur Bestätigung der Aussage des Ermittlungsrichters heran. So betonte es, dass die drei Zeugenaussagen ein übereinstimmendes Bild der Ereignisse bieten würden. Sie würden zudem durch ihre spontanen Aussagen gegenüber der Polizei am untermauert. Auch der Arzt, der den Bruder des Bf. am versorgt hätte, habe ausgesagt, Zweifel an der Erklärung des Patienten gehabt zu haben, er sei durch eine Glasscheibe gefallen. Außerdem habe der Bruder später der Polizei eine Axt übergeben und diese als Tatwaffe bezeichnet. Die Revision des Bf., in der er geltend machte, die Aussagen seiner Angehörigen hätten nicht zugelassen werden dürfen, wurde am vom BGH als unbegründet verworfen. Das BVerfG nahm seine Beschwerde am nicht zur Entscheidung an. Rechtsausführungen: Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) in Verbindung mit Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK (Recht, Fragen an Belastungszeugen zu stellen). Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 lit. d EMRK Der Bf. bringt vor, weder er noch sein Verteidiger hätten die Belastungszeugen in irgendeinem Stadium des Verfahrens befragen können. Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK enthält den Grundsatz, dass vor der Verurteilung eines Angeklagten in der Regel alle Beweise in seiner Anwesenheit in einer öffentlichen Verhandlung vorgelegt werden müssen. Ausnahmen von dieser Regel sind möglich, dürfen aber nicht gegen die Rechte der Verteidigung verstoßen. Diese verlangen in der Regel
4 4 Bsw 26171/07 nicht nur, dass ein Angeklagter die Identität jener kennt, die ihn beschuldigen, um ihre Redlichkeit und ihre Glaubwürdigkeit in Frage stellen zu können, sondern auch, dass er ausreichende Gelegenheit hat, einen Belastungszeugen zu befragen. Die Aussage eines Zeugen muss nicht immer vor Gericht und öffentlich erfolgen, damit sie als Beweis zugelassen werden kann. In bestimmten Fällen kann sich dies als unmöglich erweisen. Art. 6 Abs. 1 ivm. Abs. 3 lit. d EMRK verpflichtet den Vertragsstaat aber dazu, aktive Schritte zu setzen, um dem Angeklagten zu ermöglichen, Belastungszeugen zu befragen oder befragen zu lassen. Im vorliegenden Fall waren die einzigen Augenzeugen die Mutter, die Schwester und der Bruder des Bf., die alle die Aussage in der Verhandlung verweigerten. Als Familienmitglieder waren sie dazu nach 52 StPO berechtigt. Sie konnten daher weder vom verhandelnden Gericht gehört, noch von der Staatsanwaltschaft oder der Verteidigung in der Verhandlung befragt werden. Bestimmungen, die Familienmitglieder des Angeklagten zur Verweigerung der Aussage berechtigen, sind als solche nicht unvereinbar mit Art. 6 Abs. 1 ivm. Abs. 3 lit. d EMRK. Zur Einvernahme des Ermittlungsrichters über die Aussagen der Zeugen im Vorverfahren erinnert der GH daran, dass die Verwendung von im Ermittlungsverfahren erlangten Aussagen als Beweismittel für sich nicht unvereinbar mit Art. 6 Abs. 1 ivm. Abs. 3 lit. d EMRK ist, vorausgesetzt dem Beschuldigten wurde entweder wenn sie gemacht wurden oder in einem späteren Stadium angemessene Gelegenheit gegeben, diese Aussagen in Frage zu stellen. Wie der GH in diesem Zusammenhang festgestellt hat, können die Verteidigungsrechte in einer mit Art. 6 EMRK unvereinbaren
5 5 Bsw 26171/07 Weise eingeschränkt sein, wenn eine Verurteilung ausschließlich oder entscheidend auf den Aussagen einer Person beruht, die der Bf. nicht befragen oder befragen lassen konnte. Es ist unbestritten, dass der Bf. keine Gelegenheit hatte, seine Mutter und seine Geschwister in der Verhandlung zu befragen. Unbestritten ist auch, dass es die Staatsanwaltschaft verabsäumte, vor ihrer Einvernahme die Bestellung eines Verteidigers zu beantragen und es daher den innerstaatlichen Behörden zuzurechnen ist, dass der Verteidiger keine Gelegenheit zur Befragung der Zeugen im Ermittlungsverfahren hatte. Was die Bedeutung dieser Aussagen für das Verfahren betrifft, akzeptiert der GH das Argument der Regierung, dass sie nicht die einzigen Beweise waren. Das Landgericht stützte sich auch auf die Aussagen gegenüber dem Polizeibeamten, der ihre Anzeige aufgenommen hatte, die Verletzung des Bruders des Bf. und die Aussagen des ihn behandelnden Arztes sowie die als Tatwaffe übergebene Axt. Dabei handelte es sich allerdings entweder wiederum um Beweise vom Hörensagen oder um Indizien und sie scheinen die Abhängigkeit des Landgerichts von den Aussagen der Zeugen, die der Bf. nicht befragen konnte, noch verstärkt zu haben. Der einzige schlüssige Beweis für die Begehung des Angriffs durch den Bf. waren daher die Zeugenaussagen aus dem Ermittlungsverfahren. Das Landgericht betonte in seinem Urteil, dass seine Tatsachenfeststellung nicht nur auf der Aussage des Ermittlungsrichters beruhte, sondern auch auf drei übereinstimmenden Zeugenaussagen, die einen schlüssigen Bericht über die Ereignisse lieferten und glaubwürdig waren. Es scheint daher, dass die Feststellungen des Landgerichts zumindest in bedeutendem Umfang auf den
6 6 Bsw 26171/07 mittelbaren Aussagen der einzigen Augenzeugen der Ereignisse beruhten, die weder die Verteidigung noch das Gericht befragen konnten. Es war offensichtlich ein Beweis von großem Gewicht und der GH kommt zu dem Schluss, dass die Aussagen der Mutter und der Geschwister des Bf. im Ermittlungsverfahren für die Entscheidung des Gerichts entscheidend waren. Wo eine Aussage vom Hörensagen der einzige oder entscheidende Beweis gegen einen Beschuldigten ist, führt ihre Zulassung in der Hauptverhandlung nicht automatisch zu einer Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK. Beruht eine Verurteilung ausschließlich oder entscheidend auf der Aussage abwesender Zeugen, muss der GH das Verfahren der gründlichsten Prüfung unterziehen. Die Frage ist dabei, ob ausreichende ausgleichende Faktoren vorhanden sind, einschließlich Maßnahmen, die eine faire und angemessene Einschätzung der Verlässlichkeit dieser Beweise gestatten. Dies würde eine nur auf einem solchen Beweis beruhende Verurteilung erlauben, wenn er in Hinblick auf seine Wichtigkeit ausreichend verlässlich ist. Der GH muss daher prüfen, ob das Landgericht ausreichende ausgleichende Faktoren angewendet und eine faire und angemessene Einschätzung der Verlässlichkeit der verfügbaren Beweise vorgenommen hat. In diesem Zusammenhang erinnert der GH daran, dass für den Bf. entgegen dem innerstaatlichen Recht kein Verteidiger bestellt wurde, bevor die Zeugen im Ermittlungsverfahren einvernommen wurden. Der Bf. wurde dadurch einer prozessualen Sicherung beraubt, die im innerstaatlichen Recht vorgesehen war und darauf abzielte, der Verteidigung Gelegenheit zur Befragung wichtiger Belastungszeugen im Ermittlungsverfahren einzuräumen.
7 7 Bsw 26171/07 Dieser Verfahrensfehler berührte auch die Fairness des Hauptverfahrens. Der GH ist nicht überzeugt vom Argument der Regierung, das Landgericht Coburg hätte die daraus für die Verteidigung resultierenden Einschränkungen ausreichend kompensiert. Was die Beweise betrifft, die zur Untermauerung der Zeugenaussagen herangezogen wurden, wiederholt der GH seine Feststellung, wonach diese bestenfalls indirekte Unterstützung für die Behauptung boten, der Bf. habe seine Geschwister angegriffen. Die Aussagen der Zeugen boten die einzigen schlüssigen Beweise dafür. Die Aussagen dieser Zeugen und die Umstände, unter denen sie gemacht wurden, sind zu einem gewissen Grad widersprüchlich oder zumindest inkohärent. So erstatteten die Mutter und die Geschwister des Bf. erst drei Monate nach dem Vorfall Anzeige. Es ist daher fraglich, ob eine zu dieser Zeit gemachte Aussage gegenüber dem Polizisten noch als spontane Äußerung angesehen werden kann, wie dies das Landgericht tat. Es ist weiters nicht überraschend, dass die Zeugen nach einer so langen Zeit vor dem Ermittlungsrichter ähnliche und kohärente Berichte über den angeblichen Angriff lieferten, hatten sie doch reichlich Gelegenheit, ihre Erinnerungen an die Ereignisse zu vergleichen. Was die Verletzungen des Bruders des Bf. betrifft, gab dieser selbst an, durch eine Glasscheibe gefallen zu sein. Während der Arzt vor Gericht Zweifel an dieser Schilderung äußerte, lässt seine Aussage auch nicht den Schluss zu, dass die Verletzungen nicht grundsätzlich durch einen solchen Unfall verursacht hätten werden können, oder dass sie tatsächlich von der als Tatwaffe bezeichneten Axt stammten. Der GH muss schließlich auch zur Kenntnis nehmen, dass die Schwester des Bf., obwohl sie ihren Bruder ins Krankenhaus begleitete,
8 8 Bsw 26171/07 nicht untersucht wurde und keine Indizien für irgendwelche Verletzungen etwa Würgemale existieren. Diese Ungereimtheiten, die im Urteil des Landgerichts nicht angesprochen werden, konnten weder vom Bf. noch vom verhandelnden Gericht durch ein Kreuzverhör der Zeugen untersucht werden. Außerdem konnten weder das Gericht noch der Staatsanwalt, der Angeklagte oder sein Verteidiger das Verhalten der unmittelbaren Zeugen bei der Befragung beobachten und sich selbst einen Eindruck von ihrer Redlichkeit und Glaubwürdigkeit bilden. Dieser Mangel wurde auch nicht dadurch ausgeglichen, dass der Bf. und sein Verteidiger das Verhalten des Ermittlungsrichters und des Polizisten bei ihrer Aussage vor Gericht beobachten konnten. Die Einschätzung des Ermittlungsrichters, die Zeugenaussagen wären glaubwürdig gewesen und es habe keine Anzeichen für eine Verabredung gegeben, kann ebenfalls kaum als angemessener Ersatz für die Möglichkeit der Verteidigung und des Gerichts angesehen werden, die Zeugen persönlich zu befragen und sich selbst ein Urteil über ihr Verhalten und ihre Verlässlichkeit zu bilden. Angesichts dieser Überlegungen ist der GH der Ansicht, dass die Schwierigkeiten der Verteidigung nicht angemessen ausgeglichen wurden und dass dem Bf. keine angemessene Gelegenheit eingeräumt wurde, die einzigen unmittelbaren Belastungszeugen anzufechten und zu befragen. Dies scheint sogar noch offensichtlicher, wenn berücksichtigt wird, dass der Bf. selbst wegen des von ihm erlittenen epileptischen Dämmerzustands keine Erinnerung an die fraglichen Ereignisse hatte und daher nicht einmal die Tat leugnen konnte. Das Gericht konnte aufgrund des entscheidenden Gewichts der Zeugenaussagen, die durch die Aussage des
9 9 Bsw 26171/07 Ermittlungsrichters Eingang in die Hauptverhandlung fanden, und des Fehlens starker Beweise, die diese Aussagen untermauert hätten, keine faire und angemessene Beurteilung der Verlässlichkeit dieser Beweise vornehmen. Mit Blick auf die Fairness des Verfahrens insgesamt kommt der GH zu dem Ergebnis, dass keine ausreichenden ausgleichenden Faktoren vorlagen, um die aus der Zulassung der Aussage des Ermittlungsrichters resultierenden Schwierigkeiten der Verteidigung zu kompensieren. Es hat daher eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 ivm. Abs. 3 lit. d EMRK stattgefunden (einstimmig). Entschädigung nach Art. 41 EMRK , für immateriellen Schaden, 4.150, für Kosten und Auslagen (einstimmig). Vom GH zitierte Judikatur: Unterpertinger/A v = EuGRZ 1987, 147 = ÖJZ 1988, 22 Kostovski/NL v = ÖJZ 1990, 312 Doorson/NL v = NL 1996, 82 = ÖJZ 1996, 715 Lucà/I v = NL 2001, 55 Al-Khawaja und Tahery/GB v (GK) = NL 2011, 375 Hinweis: Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom , Bsw /07 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2012, 252) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
10 10 Bsw 26171/07 Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf- Format): f Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ( abrufbar.
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