Vor dem Fenster steht eine Wand. Wolken ziehen vorüber, Wände bleiben.
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- Gerburg Thomas
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1 Vor dem Fenster steht eine Wand. Wolken ziehen vorüber, Wände bleiben. Prä-Invernale Impressionen mit Kay und Gerda nach H.Chr.Andersens Die Schneekönigin Mit offenen Mündern starren sie die angelaufenen Scheiben an. Oder in die Dunkelheit. Jeden Tag. Jeden Tag frage ich mich, was sie da sehen. Geht doch raus! Denke ich, schaut es euch von Nahem an! Schaut euch an, was vor den Scheiben an euch vorbei zieht! Ich muss nicht mit dem Bus fahren. Ich könnte auch gehen. Ich könnte da raus gehen und mir anschauen, was sie sehen, wenn sie durch die Scheiben schauen. Das könnte ich. Würde mich nicht drängen lassen. Würde nicht angerempelt werden. Ich würde da gehen, wo sie hin schauen, würde mich anschauen lassen, den Bus vorbei fahren lassen, sie vorbei fahren lassen. Ich muss nicht mit dem Bus fahren. Ich bin nicht in Eile. Ich habe Zeit. Ich kann wandern, anstatt nach Hause zu gehen. Ich kann mir vorstellen, ein ganzes Volk zu sein und zu wandern. Durch die weite Welt. Ich bin ein Volk und komme in euer Land, wollt ihr in meines? Wir könnten uns arrangieren! Eine Völkerwanderung, der Volksmarsch. Am Ziel bekomme wir eine Medaille und Suppe - oder Tee. Wenn sie mit offenen Mündern aus den Fenstern schauen. Dann müssen sie etwas sehen. Da muss etwas sein. Da bin ich mir sicher. Und wenn ich es gesehen haben, werde ich wieder in den Bus steigen. Ich werde dann auch aus dem Fenster schauen und wüsste, was an mir vorbei zieht. Ich steige aus. Es ist kalt, mir ist heiss und ich bekomme schlecht Laune. Jeden Tag. Jeden Tag bekomme ich schlechte Laune, wegen der schlechten Luft oder dem Dunst und dem Himmel, den man doch nie sieht, weil es entweder zu dunkel ist oder zu grau. Wenn ich aussteige, wenn alle aussteigen, lasse ich mich in meine Richtung drücken. Meine Richtung ist die Richtung, in die ich gedrückt werde. Wenn ich nicht den Bus nehme, sondern gehe, sehe ich die graue Mauer zwischen mir und dem Himmel.
2 Und die Krähe fragte Gerda, wohin sie in der weiten Welt alleine gehen wolle. Wohin willst du, so alleine, kleine Gerda? Und erinnere mich an eine Geschichte. Ich erinnere mich an eine Geschichte mit einem Spiegel. Erst jetzt sieht man, wie die Welt und ihre Menschen wirklich sind. Ein Spiegel der zu Boden fiel und in tausend Stücke zerbrach. Nein, in hundert Millionen Billionen Stücke! Die Scherben wurden als Fensterscheiben verwendet, als Brillengläser benutzt. Ein Spiegel, der, wenn er spiegelt, zeigt, wie die Welt und die Menschen wirklich sind. Da stand ich an einem ungünstigen Ort? Und die Spiegelsplitter trafen mich ins Herz und in die Augen? Wie dem kleinen Kay.... Ich sitze alleine in der Mitte des Zimmers. Als ich ankam, war die Schneekönigin nicht da. Ein Saal im Eispalast. Die Wände bestehen aus stiebendem Schnee, die Fenster aus schneidenden Winden. Ich bin in Spitzbergen und die Schneekönigin ist nicht da. Und friere. Die Schneekönigin hätte mir den Frostschauer weg küssen müssen. Meine Hände sind blau, beinahe schwarz vor Kälte. Die Schneekönigin küsste Kay und da hatte Kay die kleine Gerda und die Grossmutter und alle daheim vergessen. Ihr Kuss war kälter als Eis. Ich sitze in der Mitte des Zimmers. Ich bin Kay. Die hundert Säle sind vom Nordlicht erhellt, sind eisig kalt und gleissend. Ich schiebe Eissplitter über den glatten Boden, schreibe schöne Worte auf die blanke Fläche. Worte, die niemand liest. Das Licht bricht sich auf den Eisstücken. Es ist ein Spiel. Ich schiebe das Eis über den Boden, lege kunstvolle Muster und wenn ich das Muster legen kann, dieses ganz besondere Muster, das Muster, das der Schneekönigin so gut gefällt, dann bin ich frei. Ich bin freiwillig hier. In der Mitte des Zimmers.
3 Ewigkeit soll ich auf den Boden schreiben. Zeichnen. Dann schenkt mir die Schneekönigin die ganze Welt und ein Paar neue Schlittschuhe. Aber Kay kann es nicht. Ich kann es nicht. Da steht sie doch, die Ewigkeit. Ich sehe sie, wenn ich aus dem Fenster schaue. Weites Weiss. Ich öffne das Fenster und lasse die Kälte herein. Wenn ich Ewigkeit auf den Boden schreiben würde, müsste sich die Ewigkeit, die nun mit mir das Zimmer teilt, darin spiegeln und auflösen. Wenn Kay Ewigkeit auf den Boden schreiben würde, hätte sich Gerda vergeblich auf den Weg gemacht. Sie hätte nach im gesucht und geweint, gehofft hätte sie, aber als sie ankam, war Kay schon fort. Weil er das Rätsel gelöst hätte. Ich möchte die grossen Säle sehen, die anderen Säle, möchte sehen, was hinter den Mauern aus stiebendem Schnee ist. Wer darin sitzt. In der Mitte. Wer Eisstücke über den Boden schiebt und kunstvolle Muster legt. Ob da jemand sitzt. Dass möchte ich wissen und falls ja, möchte ich sehen, was er schreibt und ob er das Rästel lösen kann. Ob er das Rätsel lösen will. Über hundert Säle und in jedem sitzt ein Kay. Ein wartender, kleiner Kay, der da sitzt und sein Vernunfftsspiel spielt und die kleine Gerda, die Grossmutter und alle, die da waren, längst vergessen hat. In jedem Saal ein Kay. Das macht über hundert Kays. Über hundert Gerdas, die durch die weite Welt ziehen, ganz alleine durch die weite Welt ziehen, wohin willst du in der weiten Welt, so alleine, wohin willst du, Gerda? Du! Ja, du! Du suchst den kleinen Kay? Der sitzt neben mir, in einem der hundert Säle, das Rätsel kann er nicht lösen, da bin ich mir sicher, er kann es nicht lösen, weil er auf dich warten muss, Du musst weinen, Du musst sein Herz mit deinen Tränen wärmen und singen musst du, Gerda, singen! Im Tale blühen Rosen schön. Schööööön! Du musst singen und weinen, bis Kay auch weint, ihn wärmen, bis die Splitter aus seinen Augen schmelzen, bis er dich erkennt und einstimmt, blühen Rosen schön, dir um den Hals fällt und dann, ganz nebenbei, legt ihr gemeinsam das Muster, das Muster, das der Schneekönigin so gut gefällt, vor euch auf die glatte Fläche, legt das Muster und dann,
4 seid ihr frei. Ich sitze in der Mitte des Zimmers und wenn ich mich umdrehe, steht er einfach neben mir. Kay dreht sich um und Gerda steht da. Jetzt hat er mich gefunden. Endlich. Das stelle ich mir vor, dass er einfach da steht und dann ist alles gut. Es ist ein Spiel. Ich schiebe das Eis über den Boden, lege kunstvolle Muster. In den verschiedensten Varianten zeichne ich ihre Namen. In der Mitte des Saales schreibe ich die Namen so gross, dass ich sie selber nicht lesen kann. Kay und Es ist ein Spiel. Ich sitze in der Mitte des Zimmers und wenn ich mich umdrehe, steht er einfach neben mir. Kay dreht sich um und Gerda steht da. Hier gibt es über hundert Säle. Über hundert Kays und ich stelle mir vor, wie Gerda Kay trifft, doch es ist der Falsche! Hier bist du falsch. Nicht richtig. Das stelle ich mir vor. Ich warte auf meine Gerda, such du deinen Kay.... Wenn es dunkel ist, sieht man nicht, wie hässlich die Stadt ist. Dann ist sie beinahe schön. Ich gehe ein paar Schritte und stelle mir vor, noch nie hier gewesen zu sein. Die ersten Schritte zu gehen. Etwas entdecken zu können. Nichts zu kennen, stelle ich mir vor. Vielleicht muss ich Wege gehen, die ich nicht kenne. Ich muss die Wege finden, die ich nicht kannte und sie gehen. Ich weiss nicht, in welche Richtung ich gehen soll. Wo ich was suchen soll. Nicht in meiner Richtung, da suchte ich lange. Hier bist du falsch. Nicht richtig. Falsch. In die andere Richtung. Mich nicht drängen lassen. Stehen bleiben. Wenn ich das nächste Mal aussteige, wenn alle aussteigen, lasse ich mich nicht weiter drücken. Ich lasse mich nicht in meine Richtung drücken. Alle vorbei ziehen lassen und dann entscheiden. Mich umdrehen und in die andere Richtung gehen. Nach Osten oder Süden, Westen und Norden. Ich bin Gerda und weiss nicht, wohin ich in der weiten Welt gehen soll. Ein paar Schritte.
5 Wenn ich ziellos durch die Strassen gehe, wäre ich froh, ein Ziel zu haben. Wenn ich ziellos durch die Strassen gehe, überlege ich mir, dass ich damit aufhören könnte, ziellos durch die Strassen zu gehen. Wenn es dunkel ist, sieht man nicht, wie hässlich die Stadt ist. Ich gehe ein paar Schritte, komme an der Bar vorbei und setze mich. Und sitze nur so da. Wie immer passiert nichts und ich sitze nur so da und warte noch eine Weile, bis ich sicher sein kann, dass ganz sicher, wie immer, nichts passiert und ich auch wieder gehen kann. Und gehe wieder. Heute ist alles anders. Heute bin ich geblieben. Ich bleibe an der Bar sitzen und denke, dass es nicht gerecht ist. Anderswo scheint die Sonne, die Sonne scheint immer irgendwo, nur sehen wir das hier nicht. Ich sollte in den Süden fahren. Im Sommer in den Süden und im Winter in den Süden und immer nur Süden und Sonne. Ein Mann setzt sich an die Bar. Seine Beine bewegen sich im Takt der Musik. Meine Beine baumeln taktlos. Wenn Kay einfach sitzen bleibt, muss sie ihn finden. Früher oder später muss Gerda ihn finden, wenn Kay einfach sitzen bleibt.... Ich sitze in der Mitte des Zimmers. Ich bin Kay und sitze mitten in dem leeren, kalten Schneesaal und da liegt ein See. Zugefroren. In tausend Stücke zerborsten. Nein, in Millionen und mehr. Tausend Millionen Billionen und mehr. Jedes Stück genau gleich. Und in der Mitte müsste die Schneekönigin sitzen. Aber sie ist nicht da. Die Schneekönigin sitzt in der Mitte der Tausend Millionen Billionen Eisstücke und sagt: Das ist der Spiegel des Verstandes. Die Schneekönigin ist nicht da. Sonst würde sie Kay genauso hier sitzen sehen. Scherben auf dem Boden hin und her schiebend. Denn Gerda ist nicht gekommen. Obwohl niemand mit ihr im Garten spielt. Obwohl sie ihn vermisst. Obwohl sie alleine ist. Obwohl er auf sie wartet.
6 Sie ist nicht gekommen. Du hast mich nicht gefunden, dafür den schönen Prinzen. Du lebst in der grossen Stadt im schönen Schloss. Der Prinz wurde König, du Königin und eure Kinder sind die neuen Prinzen und Prinzessinnen. Du hast mich nicht erkannt. Mein Körper ist blau und schwarz vor Kälte. Meine blonden Locken eingefroren und abgebrochen. Du suchtest in der falsche Richtung. Nach Osten statt nach Norden oder nach Westen und Süden bist du gelaufen. Hast du dich überhaupt auf den Weg gemacht? Ich sitze in der Mitte des Zimmers. Ich bin Kay und sitze in der Mitte des viele Kilometer grossen, leeren Eissaals. Und schaue die Eisstücke an. Ich schaue sie an und denke nach. Und denke nach. Und denke nach. Bis es knackt und knarrt in meinem Kopf. Holz. So fest denke ich nach und dann noch fester.... Wenn es dunkel ist, sieht alles etwas harmloser aus, etwas besser. Dann gehe ich ein paar Schritte. Wenn ich aus der Bar komme, nach Hause. Ich eile. Gehe schnell. Schneller noch. Gib mir deine Hand, sagte er und ich gab sie ihm. Seine war gross und warm. Den Arm gab ich ihm auch. Die Augen geschlossen. Seine Schwere gespürt und seinen Atem. Ich könnte noch dort liegen, neben ihm und seinen Körper riechen. Ich rieche seinen Körper noch. Ich sehe mich vor einer Wand stehen. Ich stehe vor der Wand und will durch. Schlage mir den Kopf blutig aber es gibt kein Loch in der Wand und genau so sehe ich mich stehen.
7 Ich eile. Schnell gehe ich, schneller als sonst. Ich betrete das Zimmer. In der Mitte des Zimmers sehe ich meinen Schatten. Er zeichnet sich deutlich vom Holz des Bodens ab. Ich könnte mich in meinen Schatten setzen. Wie lange bin ich in dem leeren Zimmer gesessen, einen Schatten hinterlassend? Wohin willst du in der weiten Welt, so alleine. Wohin willst du? Der schwere Atem haftet an meinen Kleidern, an meiner Haut ist er hängen geblieben. Der Geruch. Nicht einsam sein. In der Mitte des Zimmers ein Scherbenhaufen. Und erinnere mich an eine Geschichte. Ich erinnere mich an meine Geschichte. Ziellos durch die Strassen gehen, mich in meine Richtung drücken lassen und jammern. Ich lege die Geschichte zu den Glassplittern auf den Boden. Sie soll sich mit den Scherben, auf denen ich herumtrampelte, vermischen. Kleine Stücke stechen in die Augen und ins Herz. Ich hebe ein grosses Stück Scherbe auf, ein besonders schönes, eines, das ich nicht zertreten habe. Sehe schwach mein Spiegelbild, meine Hand. Dann lege ich es wieder hin und zertrete es.
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