Gute Nachbarschaft. Magazin. Die Türkei entwickelt sich zur regionalen Drehscheibe. In den vergangenen Jahren ist der türkische

Ähnliche Dokumente
Die türkische Außen- und Sicherheitspolitik nach dem Ende des Ost-West-Konflikts ( )

Die AKP-Türkei im Nahen Osten: Aufstieg und Niedergang?

Kurswechsel mit Tücken

Von Atatürk bis Erdogan Der Konflikt zwischen Türken und Kurden

Zwischen allen Stühlen

Der nahöstliche Friedensprozess zwischen dem Oktoberkrieg 1973 und dem Camp David - Abkommen 1979

Die Krisen im Nahen Osten als Brennpunkt des Weltfriedens

I Außenpolitische Rahmenbedingungen... 31

Qantara.de - Dialog mit der islamischen Welt

EUROPÄER UND AMERIKANER WÜNSCHEN SICH MEHR TRANSATLANTISCHE KOOPERATION Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage der Bertelsmann Stiftung

Nicht nur nette Nachbarn

REX Außenbeziehungen. Der EWSA und die osteuropäischen Nachbarstaaten

Grundlagenwissen über Herkunftsländer und Folgerungen für die pädagogische Praxis

Unterrichtsmaterialien in digitaler und in gedruckter Form. Auszug aus: Freunde, Fremde oder "privilegierte Partner"?

DIE AUSSENPOLITIK DER NEUEN REPUBLIKEN IM ÖSTLICHEN EUROPA

Qantara.de - Dialog mit der islamischen Welt

Erdgasversorgung in der Türkei

Neue Konfliktkonstellationen im Mittleren Osten

Sajdik EU-Erweiterung Hintergrund, Entwicklung, Fakten NOMOS

Die Kurdenfrage im Kontext des Beitritts der Türkei zur Europäischen Union

Buseinschaltung zum Thema Deutsche Außenpolitik

Mehr Verantwortung, bitte!

INHALTSVERZEICHNIS. Vorwort I. Einleitung A. Thema B. Aufbau der Arbeit C. Literatur und Quellenlage...

Russland in Europa: Annäherung oder Abschottung?

A2009/1567. Die Zukunft der europäischen Sicherheit und die Türkei - Sicherheitspolitische Stabilität und geopolitische Grenzen der Integration

Situation in Syrien seit Januar 2018

vonanfanganmitrepressivenmaßnahmenundmilitärischergewaltanwendung.derberichtderuntersuchungskommissiondesvn-menschenrechtsrats

Steht die Eroberung Jerusalems bevor?

Warum greift niemand in Syrien ein?

Schwarzmeerkonferenz Steiermark Black Sea Region Conference Styria

Die Türkei als Beispiel für die arabisch/muslimische Welt?

Neue Beziehungen null Integration

Analysen Positionen Essays

EU und österreichische Außenpolitik

\!jf. Zur Weltmacht verdammt. Christian Hacke. Die amerikanische Außenpolitik von J. F. Kennedy bis G.W. Bush. Ullstein A 2005/6982

Die Rolle der USA bei den Friedensverhandlungen zwischen Ägypten und Israel im Nahostkonflikt

Syriens Nachbarn fürchten das Chaos vor ihrer Tür

Blickpunkt Türkei Auslandskorrespondenten im Gespräch

Die Rolle der Europäischen Union im Nahost-Friedensprozeß

ab abend Abend aber Aber acht AG Aktien alle Alle allein allen aller allerdings Allerdings alles als Als also alt alte alten am Am amerikanische

Modifizierte Problemsicht frühere Schwarz-Weiß-Schemata abgelöst 17. Nachbarschaftspolitik von Entspannung geprägt 22

Ohne Angriff keine Verteidigung

Wortformen des Deutschen nach fallender Häufigkeit:

Workshop der Deutsch-Türkischen Gesellschaften am Freitag, den

VERANSTALTUNGSBERICHT

DE In Vielfalt geeint DE A8-0050/5. Änderungsantrag 5 Takis Hadjigeorgiou, Barbara Spinelli im Namen der GUE/NGL-Fraktion

Interview der Botschafterin für A1 TV aus Anlass des 60. Jahrestages der Verabschiedung des Grundgesetzes

Der Begriff der Bedrohung des Friedens" in Artikel 39 der Charta der Vereinten Nationen

WMerstudtai Haket tstc n I

DIE TÜRKEI UND DIE EUROPÄISCHE UNION DIE BEDEUTUNG DER TÜRKEI FÜR DIE EUROPÄISCHE UNION. Mag. Dr. ERCAN MURAT

Die Geschichte der Europäischen Union. EUROPA DIREKT Informationszentrum Mannheim

Die Türkei im Syrien-Konflikt. Eine Analyse der Entscheidung zur militärischen Intervention anhand der Prospect Theory

Rede des Bundesministers des Auswärtigen, Dr. Guido Westerwelle, MdB, zur Eröffnung der EU-Lateinamerika/Karibik Stiftung am 7.

Hörtext 1. Quelle: Deutsche Welle - Langsam gesprochene Nachrichten. im Originaltempo

Unterrichtsmaterialien in digitaler und in gedruckter Form. Auszug aus: Positionen im Nahostkonflikt - Was genau wollen Israelis und Palästinenser?

Das außenpolitische Journal

RECHTSGRUNDLAGE INSTRUMENTE

Kehrtwende mit Fragezeichen

1 von , 14:07

Deutscher Bundestag Drucksache 18/5252. Beschlussempfehlung und Bericht. 18. Wahlperiode des Auswärtigen Ausschusses (3.

Der Globale Militarisierungsindex (GMI) 2013 des BICC

Globaler Ausblick für 2017: Der Iran, der IS und die arabischen Kriege

Berlin, Dezember 2016

Assad gewinnt Kontrolle über ein völlig zerstörtes Land 170 Milliarden Euro für Wiederaufbau nötig

M14/3/HISTX/BP1/GER/TZ0/S2 GESCHICHTE BEREICH 2 LEISTUNGS- UND GRUNDSTUFE 1. KLAUSUR DER ISRAELISCH ARABISCHE KONFLIKT

A7-0330/13

Vom Halbmond zum Dreieck

Wirksame Hilfe in Krisenregionen

Die ECPM steht für Freiheit im Nahen Osten

Ankaras Sonderweg. Die Türkei wendet sich langsam von Europa ab. Aschot Manutscharjan

Großmächte kämpfen um Öl und Gas im östlichen Mittelmeer

322/AB. vom zu 325/J (XXVI.GP) GZ: BKA /0014-I/4/2018 Wien, am 23. April 2018

Westbalkan am demokratischen Scheideweg? Aktuelle Dynamiken und Krisenherde in der Region

Gerhard Schweizer. Türkei verstehen. Von Atatürk bis Erdogan. Klett-Cotta

ZA6615. Einstellungen zu aktuellen Fragen der Außenpolitik und TTIP. - Fragebogen -

Beitrag: Trumps Alleingang und die Folgen Der eskalierende Präsident

Daniel Krahl China und der Mittlere Osten

Auswirkungen der Ukraine-Krise auf die deutsche Wirtschaft

Doppelte Solidarität im Nahost-Konflikt

Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder anlässlich der Verleihung des Heinrich-

I. gemäß bilateraler und multilateraler vertraglicher Vereinbarungen mit dem Ausland1. Vertrag

vielen Dank für die Einladung zum Shell Energie-Dialog und Als Außenpolitiker werde ich den Fokus insbesondere auf die

Kurden Ethnogenese, Sprachen, Religionen, Zahl und Siedlungsgebiete

Eine neue Gelegenheit, um die Strategien gegenüber der Türkei richtig auszurichten

Die EU und Russland in der Krise die Rolle Deutschlands. Dr. Sabine Fischer, SWP, Berlin Stiftung Demokratie Saarland 24.

Seit mittlerweile fünf Jahren ist die Galerie Berlin-Baku in Schöneberg eine Institution der aserbaidschanischen Kunst- und

EUROPÄISCHER RAT KOPENHAGEN JUNI 1993 SCHLUSSFOLGERUNGEN DES VORSITZES

begegnete mir sogar in der Pilgerstadt Maschhad, die von ihren schiitisch-arabischen Gästen profitiert. Zu meinen, religiöse Kategorien seien

V Europa und Europäische Union Beitrag 10. Reif für die Union? Kroatien und der EU-Beitritt VORANSICHT

YouGov Umfrage Türkei-Politik

Unterrichtsmaterialien in digitaler und in gedruckter Form. Auszug aus:

Die Gemengelage für das Armageddon

Deutscher Bundestag Drucksache 19/1322. Kleine Anfrage. 19. Wahlperiode des Abgeordneten Dr. Anton Friesen und der Fraktion der AfD

Realistische Lösungen

Rede im Deutschen Bundestag am 08. April Jahresabrüstungsbericht 2010 Erfolgreiche Schritte zu mehr Frieden und Sicherheit

Haager Protokoll über den Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten. Übersetzung 1. (Stand am 8. März 2005)

Transkript:

Gute Nachbarschaft Die Türkei entwickelt sich zur regionalen Drehscheibe Jörg Himmelreich Jahrzehntelang waren Misstrauen und Feindseligkeit zwischen der Türkei und ihren Anrainern der Regelfall, Allianzen bestanden einzig mit dem Westen. Jetzt ist es der türkischen Regierung gelungen, ihre Beziehungen in der Region in historischem Ausmaß zu revolutionieren. Brüssel sollte die Vorteile der neuen türkischen Außenpolitik nutzen. In den vergangenen Jahren ist der türkische Beitrittsprozess auf der europapolitischen Agenda immer mehr in den Hintergrund gerückt. Auch in Deutschland reicht die Debatte kaum über die Integrationsproblematik und den Streit um Vollmitgliedschaft oder privilegierte Partnerschaft hinaus. Dass die Aufmerksamkeit der Europäer gerade jetzt schwindet, ist jedoch kurzsichtig. Brüssel verkennt, dass sich in der türkischen Außenpolitik ein grundlegender Wandel vollzogen hat. Mit ihrem Engagement in den instabilen Nachbarregionen gewinnt die Türkei außenpolitisch an Gewicht, was das Interesse der Europäer an ihrem Beitritt eigentlich erhöhen sollte. Zudem besteht die Gefahr, dass das Desinteresse in Brüssel eine ohnehin bestehende Europa-Müdigkeit in der türkischen Gesellschaft noch verstärkt. Architekt des außenpolitischen Kurswechsels ist Erdoǧans langjähriger Berater Ahmet Davutoglu. Seit 2009 nutzt er als Außenminister seine Gestaltungsmöglichkeiten, der Türkei jene Rolle zuzuweisen, die er 2001 in seinem Buch Strategische Tiefe: die internationale Rolle der Türkei konzipiert hat. Nach der Vorstellung des türkischen Henry Kissinger, wie er nicht ohne Bewunderung genannt wird, habe sich die Republik seit ihrer Gründung im Jahre 1923 mit ihrer strikten Neutralität gegenüber benachbarten Konflikten und mit ihrer alleinigen Allianz mit den USA während des Kalten Krieges eine außenpolitische Selbstisolierung auferlegt. Die Türkei versäumte es, ihre vielfältigen historischen und kulturellen Verbindungen in der Region zur Konfliktbewältigung zu nutzen. Um dieses Potential voll auszuschöpfen, müsse die Türkei ihre Beziehungen zu ihren Nachbarn im Südkaukasus und im Nahen Osten verbessern, den Außenhandel mit ihnen intensivieren und den grenzüberschreitenden Besucherverkehr und 62 IP März /April 2010

damit den Kontakt zwischen den Gesellschaften erleichtern eine Nachbarschaftspolitik, die Brüssel im Übrigen von jedem Beitrittskandidaten erwartet. Mit dieser Strategie ist es der Türkei gelungen, die zuvor angespannten Beziehungen zu ihren Nachbarn in historischem Ausmaß zu revolutionieren. Waren vor 20 Jahren Misstrauen und Feindseligkeit zwischen der Türkei und ihren Nachbarn der Regelfall, ist heute nur noch das Verhältnis zu zwei Nachbarstaaten problematisch, nämlich zu Armenien und Zypern. Und auch hier haben vielversprechende Verhandlungsprozesse begonnen. Am 10. Oktober 2009 unterzeichneten der türkische und der armenische Außenminister in Zürich ein Protokoll, das die Öffnung ihrer Grenzen und die Aufnahme diplomatischer Beziehungen vorsieht. Bisher waren die Beziehungen von der Weigerung Ankaras überschattet, den Genozid an den Armeniern während des Ersten Weltkriegs anzuerkennen. Das armenische Verfassungsgericht in Eriwan erklärte jüngst das Protokoll nur unter Vorbehalten für verfassungsgemäß. In der Türkei, in Armenien und in der armenischen Diaspora versuchen Nationalisten, die Ratifizierung des Protokolls durch die Parlamente zu verhindern. Und Aserbaidschan, der andere südkaukasische Nachbar, der Türkei wegen seiner engen sprachlichen und kulturellen Verwandtschaft verbunden und über die Baku-Tiflis-Ceyhan-Pipeline ihr wichtigster Gas- und Öllieferant, drängt Ankara hingegen, Zugeständisse im Nagorny-Karabach-Konflikt zur Bedingung für die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Armenien zu machen. Doch trotz dieser noch zu überwindenden Hürden stellt das Zürcher Protokoll einen Durchbruch in den armenisch-türkischen Beziehungen dar, der noch vor zwei Jahren kaum möglich schien. In der Kurdenpolitik verfolgt die Regierung Erdoǧan seit dem letzten Sommer eine Strategie der Öffnung. Zuvor sah sich das türkische Militär immer wieder gezwungen, in der Autonomen Region Kurdistan (ARK) im Nordirak gegen die Rückzugsbasen der als Terrororganisation geltenden kurdischen Befreiungsfront (PKK) vorzugehen. Ankara drohte dem irakischen Diktator Saddam Hussein In der Regierung hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass die PKK mit politischen Mitteln entwaffnet werden muss sogar, die ARK im Irak zu besetzen. Inzwischen hat sich in der AKP-Regierung aber die Erkenntnis durchgesetzt, dass die PKK nur mit politischen Mitteln entwaffnet und der Kurdenkonflikt militärisch kaum gelöst werden kann. Sie kooperiert daher mit der kurdischen Regionalregierung im Irak und erkennt die irakische Territorialität an. Mit ihrer Strategie, die Forderung nach kurdischen Autonomierechten prinzipiell anzuerkennen, tut die AKP-Regierung mehr für die Beilegung des Konflikts als jede türkische Regierung zuvor und erfüllt damit nicht zuletzt eine zentrale Vorgabe im EU-Beitrittsprozess. Auch in anderen Bereichen sorgte die neue türkische Außenpolitik für verbesserte Beziehungen zum Irak. Seit 2003 organisierte Davutoglu etliche Treffen irakischer Nachbarstaaten auf Außenministerebene, um einem drohenden Staatszerfall des Irak entgegenzuwirken. Ankara förderte zudem die Integration der Sun- IP März /April 2010 63

niten in die irakische Nachkriegsordnung und knüpfte gleichzeitig Beziehungen zur schiitischen Bevölkerungsmehrheit, um eine politische Alternative zum Iran zu schaffen. Türkische Produkte finden nunmehr nicht nur in der ARK, sondern im gesamten Irak Absatz. Mit dem türkischen Beitrag zur Stabilisierung des Irak entspannen sich auch die Beziehungen zu den USA, die seit der Auseinandersetzung um den Einmarsch in den Irak 2003 belastet waren. Ähnlich verhält es sich mit Syrien: Standen Ankara und Damaskus früher wiederholt kurz vor dem Ausbruch einer bewaffneten Auseinandersetzung, so haben der syrische Präsident Baschar al-assad und Erdoǧan im Oktober 2009 ein Abkommen für den visafreien Personenverkehr abgeschlossen. Auch wenn die Syrer die fast 400-jährige Syrien sieht die Annäherung Fremdherrschaft an die Türkei als Chance der Osmanen keineswegs vergessen und als Möglichkeit, seine Isolation zu durchbrechen haben, sehen sie die Annäherung an die Türkei durchaus als Chance und Möglichkeit, die Isolation durch den Westen zu durchbrechen, ohne amerikanischen Forderungen nachgeben zu müssen. Bisher waren die Bemühungen der Türkei, Syrien zu Reformen zu bewegen, nicht sonderlich erfolgreich. Immerhin zog Syrien 2005 seine Truppen auf ägyptischen, aber auch auf türkischen Druck aus dem Libanon ab. Aufgrund der guten Beziehungen der Türkei sowohl zu Syrien als seinerzeit auch zu Israel kam es 2008 in Istanbul zu mehreren informellen Gesprächsrunden zwischen der israelischen und der syrischen Seite. Zwar wurden diese Gespräche nach dem Gaza-Krieg im Januar 2009 abgebrochen, doch immerhin waren sie ein Beitrag zum israelisch-arabischen Friedensprozess, der Brüssel bislang nicht gelungen ist. Auf Wunsch der Ägypter und der Franzosen trug die Türkei mit eigenen Verhandlungen mit der Hamas im Januar 2009 zum Ende des Gaza-Kriegs bei. Allianz mit dem Erzrivalen Auch ihre Beziehungen zu ihrem historischen Erzrivalen Iran wertete die Türkei auf. Obwohl das theokratische Mullah-Regime im Iran für die säkulare, kemalistische Elite eigentlich den Inbegriff islamischer Bedrohung darstellt, koordinieren Ankara und Teheran mittlerweile pragmatisch ihre Militäreinsätze gegen kurdische Terroristen. Anders als der Kurdenkonflikt stellt die Aussicht auf einen nuklear bewaffneten Iran für das türkische Militär nicht die höchste unmittelbare Sicherheitsbedrohung dar. Sowohl der AKP-Regierung als auch dem Militär geht es vielmehr darum, welche Auswirkungen iranische Nuklearwaffen für das regionale Mächtegleichgewicht im Nahen Osten haben. Grundsätzlich begrüßt Ankara die Bemühungen des Westens, das iranische Nuklearprogramm einzugrenzen. Doch auf absehbare Zeit wird die Türkei wohl keine Nutzung des türkischen Luftraums für eventuelle Angriffe Israels oder der USA erlauben. Das liegt auch daran, dass das türkisch-iranische Verhältnis zunehmend von einer strategischen Allianz zur Erschließung der iranischen Öl- und Gasreserven bestimmt wird. Nach Russland verfügt der Iran über die weltweit zweitgrößten Gasreserven und ist damit als Gaslieferant der drittgrößte Handelspart- 64 IP März /April 2010

Bild nur in Printausgabe verfügbar picture-alliance / dpa ner der Türkei nach Russland und der Ukraine. Die Türkei plant, iranisches Öl über den Landweg an den türkischen Mittelmeerhafen Ceyhan zu führen, ebenso wie turkmenisches Gas über den Iran in die Türkei. Für die Europäer wären beide Varianten vorteilhaft, da sie zusätzliche Liefermengen und weniger Abhängigkeit von Russland versprechen. Während der außenpolitische Kurswechsel die Beziehungen zu fast allen Nachbarstaaten verbesserte, erreichte das türkisch-israelische Verhältnis einen Tiefpunkt. Israel war lange Zeit der einzige regionale Verbündete in einer Region, in der sich die laizistische Türkei von feindseligen islamischen Staaten umzingelt sah. Mit der außenpolitischen Öffnung der Türkei gegenüber den arabischen Nachbarn hat die strategische Allianz mit Israel allerdings an Bedeutung verloren. Das wird nicht verhindert, sondern als Preis für das gestiegene Ansehen in der arabischen Welt akzeptiert. Populistische Entgleisungen auf beiden Seiten tragen ihr Übriges zur Verschlechterung der türkischisraelischen Beziehungen bei. In keinem Bereich feiert Davutoglus Außenpolitik mehr Erfolge als in der Energiepolitik. Besonders ihre Lage zwischen Europa, Asien und dem Nahen Osten verschafft der Türkei eine einzigartige Brückenfunktion. In den vergangenen Jahren hat sie sich zu einem Knotenpunkt internationaler Öl- und Gaspipelines entwickelt und in der internationalen Politik an Gewicht deutlich gewonnen. Auch deshalb ist die Türkei zum unverzichtbaren Grundstein europäischer Energiesicherheit geworden. Neben den erwähnten Pipeline-Projekten im Iran und der BTC im Südkaukasus unterzeichneten die Staatschefs der Türkei, Bulgariens, Rumäniens, Ungarns, und Österreichs am 12. Juli 2009 in Ankara das Nabucco-Projekt, das Gas aus Zentralasien und dem Irak über den Balkan nach Euro- Straßenschild in Zakhu, Nordirak. Ankara kooperiert mit der kurdischen Regionalregierung, um den drohenden Staatszerfall des Irak abzuwenden IP März /April 2010 65

pa transportieren soll. Kurz darauf besiegelten Putin und Erdoǧan am 6. August 2009 das Konkurrenzprojekt Southstream, das russisches Gas durch das Schwarze Meer in die Türkei und von dort über den Balkan nach Westeuropa liefern soll. Russland, das seit Jahrhunderten und insbesondere im Kalten Krieg mit der Türkei um Einfluss in Eurasien konkurrierte, ist zu einem bevorzugten Handelspartner in der Energiewirtschaft geworden. Der innertürkische Reformprozess und das EU-Beitrittsverfahren können allerdings nicht vollendet werden, solange der Zypern-Konflikt un- Russland hat sich vom Konkurrenten um regionalen gelöst ist. 2004 Einfluss zum bevorzugten nahm die EU Zypern als Mitglied Handelspartner entwickelt auf, ohne dass es zuvor zu einer Wiedervereinigung des griechischen mit dem türkischen Inselteils kam. Mit dieser strategischen Fehlentscheidung machte sich die EU zur Geisel der griechischen Inselmehrheit, die Zypern in der EU vertritt und die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei jederzeit blockieren kann. Ankara, Brüssel und Athen sollten alles in ihrer Macht Stehende tun, um UN- Generalsekretär Ban Ki-moon in seinen Bemühungen um eine Wiedervereinigung zu untestützen. Die Türkei hat sich aus ihrem engen bündnispolitischen Korsett befreit und avanciert vor allem in ihrer muslimischen Nachbarschaft zu einem glaubwürdigen Vermittler in regionalen Konflikten. Gerade die arabische Welt sieht in der Türkei auch eine Art Vorreiter des politischen Dialogs und der Annäherung an Europa. Doch Ankara darf nicht der Versuchung erliegen, sich von der EU abzuwenden. Vielmehr gewinnt die Türkei ihr Gewicht vis-à-vis der Nachbarschaft gerade aufgrund ihrer Beitrittsperspektive. Eigentlich müsste daher Brüssel ein gesteigertes Interesse daran zeigen, dem sich dahinschleppenden Beitrittsprozess neues Leben einzuhauchen. Der türkische Beitritt würde der EU mehr Gewicht im Nahen und Mittleren Osten verschaffen und die Einflussmöglichkeiten der Europäer in dieser Region erhöhen. Brüssel sollte zudem erkennen, dass die dauernden Zweifel europäischer Politiker an der Beitrittsfähigkeit der Türkei den innertürkischen Reformprozess enorm erschweren. Die Beitrittsverhandlungen sind seit 2005 eröffnet und sollten, sofern sie alle Voraussetzung erfüllt, der Türkei eine reelle Chance auf Mitgliedschaft bieten. Die jährlichen Fortschrittsberichte der EU belegen deutlich, dass die Türkei weiterhin erheblichen Reformbedarf hat. Doch es geht nicht um den Beitritt der heutigen Türkei in die heutige EU. Sondern darum, mit einer reformierten Türkei langfristig ein Europa zu schaffen, das gerade wegen seines muslimischen Mitgliedstaats als politischer Kooperationspartner in der arabischen Welt anerkannt ist. Dieses neue, um die Türkei bereicherte Europa ist gegenüber der arabischen Welt gestärkt und eher in der Lage, die Vielzahl von Konflikten in der Region zu entschärfen. Dr. JÖRG HIMMELREICH ist Senior Transatlantic Fellow des German Marshall Fund in Berlin 66 IP März /April 2010