Blickpunkt Türkei Auslandskorrespondenten im Gespräch
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- Marcus Kopp
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Transkript
1 Blickpunkt Türkei Auslandskorrespondenten im Gespräch Clubgespräch 15. November 2012 Dominique Bauer Diskutanten: Christian SCHÜLLER, ORF, Büro Istanbul Jan KEETMAN, langjähriger Türkei-Korrespondent für die Presse Moderation: Cengiz GÜNAY, oiip Veranstaltungsort: oiip, Berggasse 7, 1090 Wien Anzahl der TeilnehmerInnen: 60 Personen
2 Im Rahmen der Veranstaltung Blickpunkt Türkei Auslandskorrespondenten im Gespräch vom 15. November 2012 wurde unter der Leitung von Cengiz Günay, dem Türkei- und Nahostexperten des Österreichischen Instituts für Internationale Politik oiip, erstmals ein Clubgespräch mit Auslandskorrespondenten als neues Format vorgestellt. Es sprachen Christian Schüller, Büroleiter des ORF in Istanbul und Jan Keetman, langjähriger Türkei-Korrespondent der Tageszeitung die Presse, über ihre Einschätzung der aktuellen und zukünftigen Lage der Türkei. Im Fokus des Clubgesprächs standen drei aufeinanderfolgende Themenblöcke, einerseits die Krise in den Beziehungen mit der EU sowie die Entwicklung der Demokratie, insbesondere der Pressefreiheit und der Umgang mit dem Kurdenkonflikt und andererseits die Stellung der Türkei als aufstrebende Regionalmacht vor dem Hintergrund des Syrienkonfliktes. Cengiz Günay skizzierte einleitend die Entwicklungen des Reformprozesses in der Türkei im Rahmen der EU-Beitrittsverhandlungen, welche im Jahr 1999 mit der Zuerkennung des Status eines offiziellen Beitrittskandidaten der EU, ihren Anfang fanden und bat die Diskutanten um ihre Einschätzung der aktuellen Situation sowie für eine Darstellung, weshalb der Reformprozess, trotz Erfüllung der Kopenhagener Kriterien seitens der Türkei und der Empfehlung vonseiten der EU-Kommission Verhandlungen durchzuführen, zum Erliegen gekommen sei. Jan Keetman erläuterte, dass die Europäische Union auf Grund der offen ablehnenden Haltung einiger Mitgliedsstaaten gegenüber einem EU-Beitritt der Türkei, mitverantwortlich für den Stillstand des Reformprozesses sei. Zudem habe die EU zunehmend autoritäre Tendenzen, beispielsweise im türkischen Mediensektor, ignoriert. Während die Bereitschaft der Türkei zu einem EU-Beitritt in den Jahren 2001/2002, u.a. bedingt durch eine Bankenkrise und die Hoffnung der Opposition der Demokratisierungsprozess könne mit Hilfe der EU vorangetrieben werden, ursprünglich stark gewesen sei, überwiege zurzeit die Enttäuschung über den Verlauf des Prozesses. Trotz dieser negativen Entwicklungen könne die Zollunion als Beispiel dafür gewertet werden, dass der Weg für erneute Annäherungen frei sei. Auch Christian Schüller hielt an dieser Stelle fest, dass ein neuerlicher Aufschwung der Beziehungen zwischen der Europäischen Union und der Türkei wahrscheinlich sei. Er betonte allerdings, dass es fraglich sei, inwieweit ein EU-Beitritt mit den Bestrebungen der Türkei sich als regionale Führungsmacht zu positionieren, kompatibel seien. 2
3 Günay merkte hierbei an, dass es eine Vielzahl an Programmen, wie beispielsweise Erasmus, gäbe, die erkennen ließen, dass der Annäherungsprozess zwischen der EU und der Türkei trotz aller Schwierigkeiten weiter geführt werde, wenn auch nicht auf politischer Ebene. In Bezug auf die Entwicklung der Demokratie in der Türkei bat Günay die Diskutanten anschließend um ihre Einschätzung, inwieweit sich ein autoritär geprägter Wandel in der Politik vollziehe und ob Ministerpräsident Recep Erdoğan als Präsident in einem präsidialen System in Zukunft denkbar sei. Weiters kam vonseiten des Publikums die Frage auf, inwiefern sich der türkische Nationalismus verändert habe. Schüller zu Folge, seien die politischen Strukturen in der Türkei sehr autoritär geprägt. Zudem habe es nie eine Phase ohne autoritäre Führung in der Geschichte des türkischen Staates gegeben. Die von Ministerpräsident Erdoğan in Gang gebrachte Diskussion über eine Einführung der Todesstrafe hielt Schüller für eine Strategie, welche von innenpolitischen Problemen ablenken solle und weniger für ein Zeichen einer zunehmenden Abwendung von demokratischen Prinzipien. In Bezug auf Befürchtungen vonseiten der EU, die türkische Regierung könne den Autoritarismus stärken, wandte Schüller ein, dass sich die regierende AKP aus unterschiedlichen Strömungen zusammensetze. Derzeit sei der Druck auf Journalisten und Verleger im Steigen begriffen und es komme vermehrt zu Inhaftierungen, insbesondere von pro-kurdischen Journalisten, dennoch ließen sich auch positive Entwicklungen erkennen, wie beispielsweise ein stärkeres Bewusstsein für das Armenienthema und den Kurdenkonflikt. Zudem sei es durch ein Verfassungsreferendum möglich geworden, Mitglieder des Militärs vor Gericht zu bringen. In Bezug auf den türkischen Nationalismus, hielt Schüller fest, dass zwischen den Parteien kein Konsens herrsche, wie man Minderheitenrechte in der Verfassung verankern könne, wenngleich seiner Ansicht nach ein Umdenken zu spüren sei. Auch Keetman sprach positive politische Entwicklungen an und hielt fest, dass Aktivitäten von Bürgerbewegungen anstiegen und sich die Lage ausländischer Journalisten in der Türkei verbessert habe. Dennoch seien neben einem erhöhten Druck auf die Medien, eine Reihe Autoritarismusstärkender Entwicklungen zu verzeichnen, wie beispielsweise die Verschärfung des Strafrechts, die Erlassung der Anti-Terrorgesetze sowie das Referendum aus dem Jahr 2010, durch welches die Unabhängigkeit der Justiz beeinträchtigt werde. In Bezug auf die Bestrebungen von Ministerpräsident Erdoğan, im Zuge der 2014 stattfindenden Präsidentschaftswahl zum Präsidenten gewählt zu werden, erläuterte Keetman, dass Erdoğan ein 3
4 großes Stimmendepot brauche. Er sei einerseits auf die Unterstützung der nationalistischen MHP angewiesen, andererseits profitiere er vor allem von einem Fokus auf religiöse Themen. Zudem komme ihm die Schwäche seiner Konkurrenten, welche u.a. durch die 10-Prozent-Hürde für den Einzug von Parteien ins Parlament bedingt sei, zugute. Im Rahmen des Clubgesprächs kam weiters die Frage auf, inwiefern man von einer zunehmenden Islamisierung der türkischen Innenpolitik sprechen könne. Die Diskutanten merkten hierbei an, dass sie eine vonseiten einiger europäischer Akteure befürchtete Einführung der Scharia für unwahrscheinlich hielten. Zudem seien viele, im europäischen Verständnis progressive Reformen, beispielsweise im Bereich der Frauenrechte, umgesetzt worden. Bezüglich des Kurdenkonflikts und vor dem Hintergrund des Hungerstreiks kurdischer AktivistInnen hielten die Diskutanten fest, dass kurzfristig keine politische Lösung in Sicht sei. Auch trotz der an und für sich positiven Reaktionen vonseiten der türkischen Öffentlichkeit auf die publik gewordenen Geheimverhandlungen in Oslo, welche im Zeitraum von 2010/2011, zwischen der türkischen Regierung und der PKK stattfanden, sei dem so. Schüller wertete die Entwicklungen im Zuge des Arabischen Frühlings als Vorteil für die PKK und die Nichteinbeziehung der Führungsperson Öcalan im Rahmen der Oslo-Gespräche als Fehler. Weiters sei Schüller zu Folge, die Lösung der Kurdenfrage für die Zukunft der Türkei essenziell. Abschließend bat Günay die Diskutanten um ihre Einschätzung, inwiefern die Türkei als aufstrebende Regionalmacht gewertet werden könne und wo Chancen bzw. Hindernisse vor dem Hintergrund des Syrienkonfliktes zu verorten seien. Schüller zu Folge, habe die türkische Regierung die Entwicklungen in Syrien unterschätzt und sei mit einer abwartenderen Haltung besser beraten gewesen. Keetman hielt fest, dass die Türkei auf Grund ihrer zuvor engen Beziehungen zu Präsident Assad und der Angst vor einem Zerfall Syriens, welcher vor allem in Hinblick auf die türkische Innenpolitik nicht im Interesse der Türkei liege, dem Syrienkonflikt konzeptlos gegenüber stehe. Auch in Bezug auf die Entwicklungen im Zuge des Arabischen Frühlings, fehle der türkischen Regierung ein politisches Konzept. In der Vermittlerrolle sei die Türkei gescheitert. 4
5 Abschließend wurde von Seiten der Diskutanten festgehalten, dass die Berichterstattung über die vielschichtigen türkischen politischen Gegebenheiten äußerst anspruchsvoll sei, da die Entwicklungen in der Türkei in vieler Hinsicht schwer einzuschätzen seien und ein Bewusstsein für die Komplexität der Türkei in der österreichischen Öffentlichkeit nicht gegeben sei. Zudem werde politischen Entwicklungen in der Türkei in den österreichischen Medien kein besonderer Stellenwert beigemessen. Fazit sei jedoch, dass die Türkei für Europa einen wichtigen Akteur darstelle und auch in Zukunft darstellen werde. 5
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