Hyperkinetische Störungen (HKS) Aufmerksamkeitsdefizit- /Hyperaktivitäts Störungen (ADHS) Alexander von Gontard Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinikum des Saarlandes Homburg
Epidemiologische Daten (USA) Hinweise auf nicht ausreichende Therapie: 25% der Kinder mit ADHD wurden nicht adäquat behandelt und hatten keine Stimulantientherapie (Jensen, 1999) Hinweise auf Fehlindikationen: 72% der Kinder mit Stimulanzien hatten kein ADHD (Angold, 2000)
Hyperkinetische Störungen Leitsymptome: Unaufmerksamkeit (Aufmerksamkeitsstörung, Ablenkbarkeit) Überaktivität (Hyperaktivität, motorische Unruhe) Impulsivität
Definitionen Hyperkinetische Störungen (HKS): Diagnose nach ICD-10 Symptome aus allen drei Bereichen erforderlich Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitäts Störungen (ADHS): Diagnose nach DSM-IV Symptome aus allen drei Bereichen nicht erforderlich
Definition ICD-10 Früher Beginn vor 6.LJ abnormes Ausmaß, bezogen auf Entwicklungsstand situationsübergreifend andauernd nicht durch andere Ursachen bedingt
Klassifikation ICD-10 Einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (F 90.0) Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens (F90.1) sonstige, NNB hyperkinetische Störung (F 90.8, F 90.9); Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperakt. (F 98.8) Aufmerksamkeitsdefizit, Hyperaktivität, Impulsivität Hyperkinet. Störung plus Störung des Sozialverhaltens Restkategorien
ICD-10: Unaufmerksamkeit Mind. 6 Symptome (mind. 6 Monate): unaufmerksam bei Details, Schularbeiten Aufmerksamkeit wird nicht aufrechterhalten hören scheinbar nicht bei Ansprache folgen nicht, erfüllen nicht Aufgaben können Abläufe nicht organisieren vermeiden ungeliebte Arbeiten ablenkbar von externen Stimuli häufig vergesslich
ICD-10: Überaktivität Mind. 3 Symptome (mind. 6 Monate): fuchteln mit Extremitäten, winden auf Sitz Verlassen ihren Platz laufen häufig herum, klettern exzessiv häufig unnötig laut anhaltende exzessive motorische Aktivitäten
ICD-10:Impulsivität Mind. 1 Symptom (mind. 6 Monate): platzen mit Antwort heraus können nicht in Reihe (ab)warten unterbrechen und stören andere reden exzessiv ohne Rücksicht Diagnose HKS: Symptome AUS ALLEN DREI BEREICHEN (Unaufmerksamkeit, Überaktivität, Impulsivität)
Klassifikation DSM-IV Drei Subtypen: Vorwiegend unaufmerksam Vorwiegend hyperaktiv-impulsiv Mischtyp Diagnose weiter als HKS (ICD): Items NICHT aus allen drei Bereichen
Prävalenz Fragebögen: 10-20% DSM: 5-10% ICD-10 1-2% HKS (ICD) = auffälligstes Fünftel ADHD (DSM) USA: 3 % (1,5 Millionen) Kinder/Jugendliche 5-18 Jahre werden medikamentös behandelt
Verlauf Sgl.: irritierbar, Regulationsprobleme KG.: umtriebig, impulsiv, Regelprobleme, Wutanfälle SK.: Vollbild (mit Störung des Sozialverhaltens) deutlich bei kognitiven Anforderungen, klinische Vorstellung Jugend: Zurückbilden der Hyperaktivität, Peristenz der Aufmerksamkeitsdefizite, Impulsivität, Leistungsprobleme Erw.: Substanzmissbrauch, dissoziale Stör.
Verlauf Geschlechtsverhältnis: Jungen : Mädchen = 3 : 1 Chronisch-peristierend vom Kindesalter: bei 30-70% ins Jugendalter bei Jugendlichen: 5-fach höheres Risiko für Substanzmissbrauch, dissoziale, delinquente, andere psych. Störungen niedrigere Schulbildung 65% ins Erwachsenenalter (30% Vollbild)
Komorbidität Oppositionelle Verhaltensst. 50% Störung des Sozialverhaltens 30-50% Depressive Störungen 10-40% Angststörungen 20-25% Lern-/Teilleistungsstörungen 10-25% Ticstörungen/Tourette S. bis 30%
Diagnose des HKS Klinische Diagnose; psychopathologisch definiertes Syndrom basierend auf: Anamnese, Beobachtung, Exploration, psychopathologischen Befund Fragebögen (Eltern, Jugendliche, Lehrer) Testpsychologie körperlichem Befund kein Labortest möglich
Differenzialdiagnose Entwicklungsbedingte Hyperaktivität Störungen des Sozialverhaltens Angststörungen Affektstörungen reaktive Hyperaktivität: Spannung/Konflikte Deprivations-/Bindungsstörungen Organische Psychosyndrome geistige Behinderung Autismus, Psychosen
Ätiologie Neurotransmitter: Unterfunktion des dopaminergen Systems (Frontallappen, Striatum) Neurobiologie: hirnorgan. Risiken Nahrungsallergien: Subgruppen Teratogne Effekte: Alkohol, Nikotin Toxine: Pb, etc. psychosoziale Umweltfaktoren
Ätiologie Genetik Familienuntersuchungen: Geschw. 2-3x höher Zwillingsstudien: Konkordanzraten 81% (MZ) zu 29% (DZ), Heritabilität 70-91% Adoptionsstudien: Erhöhte Raten von HKS bei biologischen Eltern Molekulargenetik: Kandidatengene: Dopamin-4 Rezeptor Gen, Dopamin Transporter Gen (DAT 1)
Therapie des ADHS Amerikanische Leitlinien Psychoedukation und Informationsvermittlung bei Eltern, Kind und Bezugspersonen Schulbezogene Interventionen Medikation
Therapie des ADHD Amerikanische Leitlinien Psychosoziale Interventionen 1.Elterntraining 2. Elterngruppen 3. Familientherapie bei familiärer Dysfunktion 4. Soziales Kompetenztraining bei Peer Problemen 5. Einzelpsychotherapie bei komorbiden psychischen Störungen, nicht für Kernsymptome des ADHD 6. Summer Camps
Therapie des ADHD Amerikanische Leitlinien Ergänzende Therapien (Logopädie, Ergotherapie, Psychomotorik) Diät ist selten sinnvoll Andere Therapieformen liegen außerhalb der üblichen Praxis der Kinder- und Jugendpsychiatrie und sind nicht zu empfehlen
Therapie des HKS Deutsche Leitlinien: Aufklärung und Beratung Elterntraining Intervention in Kindergarten/Schule Kognitive Therapie Pharmakotherapie Diät (selten) Behandlung von komorbiden Störungen
Pharmakotherapie des HKS Stimulanzien: Mittel der ersten Wahl Methylphenidat D-Amphetamin Keine absoluten Kontraindikationen Relative Kontraindikationen: Anfallsleiden, reduzierte Hirnkrampfschwelle Tics oder Familienanamnese von Tics Medikamenten/Drogenmissbrauch im unmittelbaren Umfeld des Jugendlichen oder durch den Jugendlichen selbst
Pharmakotherapie des HKS Weitere Medikamente: Präsynaptische-Noradrenalin-Wiederaufnahme Hemmer: Atomoxetin Antidepressiva: eindeutige Wirksamkeit, wegen kardialen Nebenwirkungen nur unter EKG-Kontrollen und enger ärztlicher Überwachung Neuroleptika: Bei komorbiden Tics: Tiaprid (auch in Kombination mit Stimulanzien) Bei erethischen Verhalten: niedrigpotente Neuroleptika
Stimulanzien Geschichte 1887 Synthese des Amphetamin 1937 Wirksamkeit von Benzedrin bei Kindern 1944 Entwicklung von Methylphenidat 1964 Einsatz von MPH bei HKS Bis 1996: 161 randomisiert-kontrollierte Studien, 3000 Publikationen, 250 Übersichten Eines der am besten untersuchten Medikamente im Kindesalter
Stimulanzien Positive Effekte bei 70% unter MPH (90% bei MPH und D-Amph.) Primäre Effekte: Reduktion der Hypermotorik Verlängerung der Aufmerksamkeitsspanne Andere kognitive Effekte: bei Kurzzeitgedächtnis, usw. Sekundäre Effekte: Verbesserung der Eltern-Kind-Interaktion Verbesserung der sozialen Beziehungen mit Gleichaltrigen Verringerung des aggressiven und impulsiven Verhaltens
Stimulanzien Langzeitwirkung: MTA-Studie 579 Kinder mit ADHD, 7-9 Jahre, 14 Monate Vier Gruppen: 1. Medikamente 2. Med. + VT 3. VT 4. Standardtherapie Wirkung: Med. > VT Med. + VT. > VT 1.-3. > Standardtherapie
Stimulanzien Wirkung von Stimulanzien: Zentrale Wirkung nicht eindeutig geklärt Präfrontaler Kortex: exekutive Funktionen Neurotransmitter: Dopamin/ Noradrenalin Bindung an Dopamintransporter: Erhöhung der Dopaminkonzentration im synaptischen Spalt
Stimulanzien Dosierung von MPH: Anfangsdosis: 5mg morgens Steigerung in 5mg Schritten über 2-4 Wochen: Übliche Dosen: 2x5mg, 2x10mg, max. 40 (60)mg 0,3 bis max. 0,8 mg/kg KG/ die Erhaltungsdosis festlegen Wirkung beurteilen Nebenwirkungen erfassen: Puls, RR, Länge, Gewicht
Stimulanzien Standardpräparate MPH: Rasche Resorption: Wirkung nach 30 Minuten Gipfel: nach 1-3 Stunden Dosen: 2 Kinder und Jugendliche ähnliche Wirkung Keine Toleranzentwicklung
Stimulanzien Retardpräparate MPH: Ähnliche Wirkung Wirkung später: nach 90 Minuten, hält ca. 8 Stunden Gipfel später: nach 3 Stunden Dosen: 1 Bessere Compliance
Stimulanzien Keine Nebenwirkungen: Keine Abhängigkeit MPH-Behandlung reduziert Suchtgefahr um Faktor 1,9 Kein sicherer Hinweis auf Verminderung der Krampfschwelle, aber: EEG zur Routine, Epilepsie mit Antiepileptika einstellen Psychotische Symptome bei Überdosierung
Stimulanzien Nebenwirkungen: Leichte NW: Bei 4-10% der Kinder, bilden sich meistens zurück Ernste NW: bei 1: 10.000
Stimulanzien Nebenwirkungen: Schlafstörungen Verminderter Appetit Unspezifische gastrointestinale Beschwerden Reizbarkeit Erhöhte Herzfrequenz (klinisch nicht relevant) Sozialer Rückzug Depressive Verstimmung Auslösung von Tics Erhöhter Blutdruck Schwindel Übelkeit, Obstipation Subgruppen: Reduktion von Gewicht und Länge
Zusammenfassung: Pharmakotherapie des HKS Stimulanzien wirksame Therapie bei Kindern mit HKS Setzt fachärztliche Diagnose und Überwachung voraus Mit begleitende Beratung und VT Langfristige positive Effekte über Jugendbis ins Erwachsenenalter
Zusammenfassung HKS und ADHS: unterschiedliche Diagnosen Häufige Störungen Ungünstige Langzeitprognose Frühe Diagnose erforderlich Effektive Hilfen für Kinder und Jugendliche mit HKS/ADHS vorhanden Vorraussetzung: exakte Diagnose, spezifische Therapie Pädagogik und Verhaltenstherapie allein oft nicht ausreichend Pharmakotherapie wichtiger, hocheffektiver Baustein