Anna Spitzbart 1
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Pria, die Brieftaube Es war Frühling im kleinen Dörfchen Taubenheim. Ja, es war Mitte Mai und ein sonniger Tag folgte dem nächsten. Die Bäume trugen üppige Blüten, Bienen schwirrten um die Blumenbeete und man konnte, wenn man genau hinhorchte, das Glucksen des Baches und das fröhliche Quietschen der Kinder hören. Ganz Taubenheim freute sich über den Frühling und jeder zeigte es auf seine eigene Weise. Die alte Großmutter schimpfte besonders laut mit Großvater Nils, der Bäcker verteilte Rosinenbrot, der Tischler baute gemeinsam mit ein paar Kindern einen Stall für die Kaninchen und der Bauer schenkte jedem, der vorbeikam, ein paar Nüsse, die er noch vom Winter übrig hatte. Aber jemand ganz Besonderer freute sich mehr als alle anderen über den Frühling. Es war die Brieftaube Pria. Und auch alle anderen Brieftauben, die im Taubenschlag wohnten, hießen den Frühling willkommen. 3
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Denn Taubenheim, wie der Name schon verrät, war ein kleines Bergdorf, das weder Post noch Briefträger kannte. Dort ging alles nur mit Brieftauben. Pria war die bekannteste und die beste Brieftaube im ganzen Dorf. Nur sie konnte Briefe über Ozeane und Gebirge fliegen, auch wenn Stürme wüteten und der Regen gegen die Häuser peitschte. Pria war schon auf allen Kontinenten der Erde gewesen. Sie war in Chile und Peru, in Kenia und Ägypten, in Australien und Neuseeland, und in Nepal und in der Mongolei. Aber am liebsten flog sie nach Frankreich zum Eiffelturm. Dort traf sie sich mit allen Tauben aus Paris und tauschte Neuigkeiten aus. Allerdings war sie vor fünf Jahren zum letzten Mal dort gewesen. Als wichtigste Taube im Dorf hatte sie immer viel zu tun. Aber in diesem Frühling war es wieder einmal Zeit nach Paris zu fliegen. 5
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Viele Leute kamen, um Briefe an Freunde zu schicken, und sie waren alle sehr froh, eine solch großartige Brieftaube zu haben. Im Taubenstock stapelten sich die Briefe, die nach Frankreich geflogen werden sollten. Es waren so viele, dass Pria noch zwei andere Tauben mitnehmen musste, um alle befördern zu können. Jede der drei Brieftauben bekam einen kleinen Tragekorb umgebunden, in dem die Briefe steckten. Kurz nach Mittag flogen sie los und bald waren sie nur mehr drei Pünktchen am Himmel. Die Leute im Dorf kehrten an die Arbeit zurück und die Tauben flogen mittlerweile schon Richtung Paris. 7
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Zwei Tage flogen die Tauben über Europa und dann waren sie endlich über Paris. Sie konnten den Eiffelturm schon sehen und freuten sich, andere Tauben zu treffen und mit ihnen Neuigkeiten auszutauschen. Es war noch früh und die Luft war angenehm kühl, als die drei Tauben beim Eiffelturm landeten. Ein paar Franzosen schlenderten vorbei und einer warf ihnen ein paar Krümel Brot hin. Die drei machten sich auf die Suche nach den anderen Brieftauben und flogen in das zweite Stockwerk des Turmes. Aber statt einer stattlichen Anzahl von Brieftauben saß nur eine einzige dort. Es war Jonathan, die Brieftaube aus Nizza. Das lag im Süden Frankreichs und war eine Hafenstadt. Jonathan und Pria kannten sich schon seit ewigen Zeiten. Pria flatterte auf ihren Freund zu und fragte ihn: Jonathan, wo sind denn die Brieftauben? Wo sind Max und Becky? Jonathan sah sie traurig an: Ach, Pria! Stell dir vor, es ist etwas Neues erfunden worden. 9
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Man nennt es Briefkasten. Dort werfen die Pariser jetzt alle ihre Briefe hinein. Sprachlos sahen sich die Tauben an. Aber was ist denn jetzt mit uns? Was sollen wir denn jetzt machen?, fragte Pria entsetzt. Jonathan raschelte mit den Federn und zuckte mit den Flügeln. Ich weiß es nicht! Wahrscheinlich sind wir in Pension oder so was... Pria drehte sich zu ihren zwei Begleiterinnen um und befahl ihnen erst einmal die Briefe auszuteilen. So lange haben wir Briefe ausgetragen, geliefert und abgeholt. Eine pensionierte Brieftaube? Oh nein, nicht mit mir!, ereiferte sie sich. Es ist sicher besser, wenn ihr nach Hause fliegt, sonst gibt es bei euch auch bald solche Dinger, riet ihr Jonathan. Pria nickte heftig, hüpfte auf einen Eisenstab und nahm ihre Startposition ein: Na dann, nichts wie weg! Bis bald, Jonathan! Sie breitete die Flügel aus und folgte ihren Kameradinnen. 11
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Während des ganzen Rückflugs schimpfte Pria vor sich hin. Plötzlich jedoch rief eine ihrer Begleiterinnen: Pria, sieh doch, dort! Der Bauernhof, oje, da ist ein Brand ausgebrochen!! Pria hörte auf zu fluchen und sah nach unten. Tatsächlich, da brannte ein Bauernhof. Schnell! Wir müssen Hilfe holen!, sie drehte um und flog so schnell sie konnte wieder zurück nach Paris. Ihre Begleiterinnen folgten ihr und sie schossen gemeinsam wie Federkugeln nach Westen. 13
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Nach ein paar Minuten erreichten sie einen kleinen Ort. Sie landeten und hüpften auf einen Laden zu. Dort stand ein Mann und verkaufte Rüben. Pria hüpfte auf seine Schulter und rief: Schnell! Nicht weit von hier brennt ein Bauernhof! Helfen Sie uns! Aber der Mann konnte ja kein Taubisch und verstand deshalb nur aufgeregtes Piepsen. Verschwinde, du Federvieh!, schrie er und fuchtelte mit den Armen. Pria sprang erschrocken zurück und starrte den fluchenden Mann an. 15
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Das hab ich ganz vergessen! Wie sollen wir Hilfe holen, wenn sie uns nicht verstehen?, piepste sie verzagt. Hilfe?, sagte da plötzlich jemand hinter ihr. Es war ein Hirtenhund. Ich kann euch helfen. Ich hole mein Herrchen! Wer braucht denn Hilfe? Erleichtert schilderte Pria die Situation und erzählte dem Hirtenhund von dem brennenden Hof. Der Hund verstand das Problem und bat Pria ihn und sein Herrchen hinzuführen. Pria war einverstanden. Sofort fing der Hund an zu bellen und zu jaulen. Die Leute kamen auf die Straße gerannt, um zu sehen, was passiert war. Der Hund lief los, vor ihm flog Pria und hinter ihm liefen die Menschen aus dem Dorf. Bald erreichten sie den Bauernhof und die Menschen sahen, was passiert war. Sofort liefen sie und holten Wasser zum Löschen. Bald darauf waren der Brand unter Kontrolle und der Bauer und sein Hof gerettet. Der Hund wurde von allen gelobt und gestreichelt. Aber dann lief er zu den Tauben, die sich auf einem Baum niedergelassen hatten und winselte leise. 17
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Sie haben dir wohl geholfen, oder Pierre?, fragte sein Herrchen. Der Hund wedelte mit dem Schwanz und bellte zustimmend. Tauben sind eben doch das beste Verständigungsmittel., sagte ein Mann und ein anderer stimmte ihm zu. Ja, auf die kann man sich verlassen!, sagte eine Frau. Viel besser als diese Briefkästen!, fügte eine andere hinzu. Die Leute stimmten ihr zu und dann sagte einer: Ich steige wieder um auf Taubenpost, das ist viel besser! Die Leute nickten und von überall hörte man: Da hat er Recht!, Ja, das mache ich auch! und Ich steig auch wieder um!. Pria sah sich glücklich um. Hört ihr das?, fragte sie ihre Begleiterinnen, Wir sind eben doch wichtig für sie! Sie hüpfte herum und rief: Auf die Taubenpost! Ihre Begleiterinnen stimmten mit ein und auch der Hund freute sich. 19
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Am Abend verabschiedeten sich die Tauben vom Hund und machten sich wieder auf den Heimflug. Zwei Tage später kamen sie zurück nach Taubenheim. Alle Menschen steckten die Köpfe aus den Fenstern und liefen zum Taubenschlag, um ihre Post zu holen. Und der Dichter des Dorfes dachte sich: Sie haben bestimmt wieder etwas Tolles erlebt! Er setzte sich an den Tisch und fing an, ein neues Gedicht zu schreiben.es begann mit dem Satz: Mein lieber Freund, ich schreibe dir. Ich habe Neuigkeiten hier. Und schicken werd ich sie getrost, mit unsrer guten Taubenpost... 21