Am Morgen danach, als es wieder

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KATASTROPHEN Die Wasser von Weesenstein Erst kam die Flut. Dann kamen Romano Prodi, Joschka Fischer und jede Menge Katastrophen-Experten ins sächsische Dorf Weesenstein. Doch die unerwartete Hilfswelle droht das soziale Gefüge des Ortes zu unterspülen. Von Alexander Smoltczyk Weesensteiner Familie Jäpel auf dem Rest ihres Hauses: Das halten die nicht lange aus Am Morgen danach, als es wieder hell war, hätten die Menschen nur auf die Fluten gestarrt. Sie saßen wie gebannt vor den Wassern, sagt der Pfarrer. Benommen, als hätten sie in einen Abgrund geblickt. Gestern waren sie noch Nachbarn gewesen. Jetzt ist dem einen alles genommen, und der andere wird bald wieder die Geranien vor seinem Fenster gießen. Weil der Fluss es so wollte. Sie waren betäubt von der eigenen Ohnmacht, mit der sie zusehen mussten, wie ihre Nachbarn in Todesgefahr waren. Die Schreie, das Ausbleiben von Hilfe. Die Flut hat ein Urvertrauen zerstört. Das wird noch lange in den Menschen arbeiten, sagt der Pfarrer von Weesenstein. Pfarrer Christian Lehnert ist ein blasser, stoppelhaariger junger Mann, der die 76 vorislamischen Mystiker studiert hat. Er betreut die Pfarrei nur halbtags. Eigentlich ist er Lyriker bei Suhrkamp und bekam für seine dunklen, klein geschriebenen Verse einen Leonce und Lena - Förderpreis. Jetzt muss Lehnert eine Welt von 223 Seelen wieder aufbauen. Eine kleine Welt, die einmal aus 40 Häusern bestand, von denen jedes Vierte in den Fluten verschwunden ist. Und anders als Noah bleiben ihm dafür nicht 350 Jahre Lebenszeit. Das Tosen füllte die Nacht aus. Es war überall, man konnte es nicht orten. Der Fluss war in der Luft. Sie atmeten ihn ein, sie hatten ihn in den Haaren, in den Decken, in der Kleidung. Sie hörten das Knattern von losgerissenen Planen im Sturm. Der Maurer Heiko Jäpel klammer- te sich an das Dach des Vorbaus. Das Wasser war zu schnell gekommen. Er hatte noch den Wagen weggefahren, als die Müglitz immer weiter anstieg, und sich gewundert, dass da keine Sirene war, kein Blaulicht, keine Warnung. Der Fluss war nachmittags angeschwollen, jede halbe Stunde einen Meter höher, an diesem späten Montagnachmittag vorvergangener Woche. Man hatte zusehen können. Und es kamen noch einmal 50 000 Kubikmeter, als gegen 18 Uhr das Prießnitz-Stauwehr oben bei Glashütte brach. Er wuchtete mit seinem Sohn noch das Sofa in den ersten Stock. Er ist in dem Haus geboren und wusste, dass die Mauern gut waren. In mehr als hundert Jahren hatten sie den Hochwassern standgehalten. Aber das hier war unheimlich.

Gesellschaft stromabwärts, geklammert an einen Gartenbaum. Es riss auch das Haus der Fritzsches, die nie Glück gehabt hatten in ihrem Leben, die sich seit der Wende von ABM zu ABM gehangelt haben. Es fiel das gerade ökologisch sanierte Fachwerkhaus in der Schulstraße Nummer 11. Es fiel die Nummer 12. Auf der Nummer 13 saßen die Jäpels, Vater, Oma und zwei Kinder. Es war schon weit nach Mitternacht. Drei Fensterbreiten lang war die Mauer, die ihnen geblieben war, ein Giebel, ein Schuppen und ein halbes Dach. Seine 69-jährige Mutter hatte sich aufgegeben, die Decke übers Gesicht gezogen. Vom Ufer aus schrien die Nachbarn, dass da ein Riss wäre, quer übers Küchenfenster. Heiko Jäpel sah nichts mehr. Vielleicht war es besser, nicht mit anzusehen, wie eilitz die Linden des Schlossparks entwurzelt und rammte sie jetzt in die Häuserwände. 102 starke, ausgewachsene Stämme. Im 18. Jahrhundert hatten die Schlossherren den Erzgebirgsbach umgeleitet und als Zierschleife quer durch den Barockgarten gelegt. Als gezähmtes Flüsslein unter Bogenbrücken und neben Belvedere und Blumenrabatten. In der Mitte des Parks trug die Statue der Flora zart eine Rose in der Hand. Jetzt sah der Museologe Hennig vom Burgzimmer aus, dass Park und Naturidyll verschwunden waren. Die Müglitz hatte sich in ihr altes Bett geworfen, raste ohne jede Schleife das Tal hinunter auf die ersten Häuser von Weesenstein zu. Die Flora war vom Sockel gestoßen. Der Fluss fraß sich durch die Häuser. Zehn Stunden lang blieb er auf dem Er hätte es noch schaffen können, über die Brücke ans sichere Ufer. Aber nicht mit der Oma und der Kleinen. Jetzt saßen sie auf dem Flachdach, drei Generationen, Oma Sieglinde, Ronnie, der 19-Jährige, und Silvana, die 13 ist und nur noch weinte. Einzig die grüne Kassette mit den Sparbüchern hatte er retten können. Das Tal war stockfinster, und es goss wie aus Kannen. Die Luft kochte, alles war voll Wasserdampf, sagt Lutz Hennig, der Museologe vom Schloss Weesenstein. Er war mit einer Taschenlampe durch den Wald zum Schloss gekommen: Da waren Geräusche, die ich noch nie gehört hatte. Ein Knarren und Knacken, von den Häusern. Ein Donnern. Im Kegel der Lampe sah er ganze Gartenlauben und Bäume vorüberhuschen. Brüllend, zischend, wetternd hatte die Mügdament, bis der Fußboden aufklappte und das Haus ausgekippt wurde wie eine Spielzeugkiste. Gerhard Graf sah noch, wie seine Garteneisenbahn versank, das Felsenschloss aus Zement, das er gebastelt hatte, die elektrische Holzmühle, die kleine Stadt, vor der immer die Kinder stehen geblieben waren. Mit einer Leiter musste der 59-Jährige aus seinem Haus geholt werden. Aber eigentlich wollte er nicht mehr. Die Bahnbrücke am Ortsausgang teilte den Strom. Die Schreinerei stand im Strömungsschatten und wurde verschont. Gegenüber stand die verlassene Schuhfabrik und die Villa der Annemarie Weber. Am nächsten Morgen wird das Haus verschwunden sein, als hätte es es nie gegeben. Augenzeugen gibt es nicht. Annemarie Weber gilt bis heute als vermisst, den Leichnam ihres Lebensgefährten fand man LUTZ HENNIG Haus der Familie Jäpel (vor und nach der Flut): In Fetzen gerissen LUTZ HENNIG (L.); HEINRICH VOELKEL / LAIF (R.) Höchststand. Er hatte insgesamt 24 Stunden Zeit, Weesenstein in den Naturzustand zurückzuschlagen. Die Müglitz unterspülte die Bundesstraße, riss Sandsteinquader und Leitplanken mit sich und wusch das Gleisbett der alten Bahnlinie fort. Bretter, Picknicktische, Bäume und Metallfetzen hatten sich ineinander verkeilt und krachten wie Rammböcke in Fachwerkmauern. Kurz vor Mitternacht fiel das ehemalige Gemeindehaus, ein dreistöckiges Gebäude, das größte des Ortes. Trotz des Regens brach es in einer talhohen Staubwolke zusammen, dann versank es in den Fluten, und man sah nur noch Wasser. Die Müglitz jagte die Schulstraße hinunter, über den Kinderspielplatz hinweg. Hinter der Biege streifte sie das Holzhaus von Margit und Gerhard Graf, rüttelte am Fun- 77

nen das eigene Haus verlässt. Das Haus, in dem man geboren wurde. Sie sind immer zurechtgekommen, auch nach der Wende. Das Geld reicht so eben. Wenn etwas fehlt, gibt es die Familie und die Nachbarn, wenn etwas übrig ist, wird es ins Haus gesteckt. Alle machen es so in Weesenstein. Die Familien kennen sich seit Jahrzehnten. Ein fürchterliches Quietschen. Der neue Schuppen riss weg und flog die Schulstraße hinunter. Damit war die Giebelwand dem Wasser schutzlos ausgeliefert. Andrea Jäpel, seine Ehefrau, stand oben am Ufer und musste das Ganze mit ansehen. Sie arbeitet bei der Bahn. Mit dem mittleren Sohn Marcel war sie aus Dresden gekommen und über die Hänge ins Dorf. Da standen die Fluten schon hoch. Ein Nachbar hatte sie reingeholt, jemand sagte: Der Heiko ist noch drinnen. Sie telefonierte fünf Handys leer. Wurde weiterverbunden, bis irgendjemand fragte, wo Weesenstein überhaupt liege. Gesellschaft Mann, der zweijährigen Tochter Emilie, dem Schäferhund und einem Welpen. Auch sie hatte niemand gewarnt. Als sie nachmittags von der Schicht nach Hause gekommen war, paddelte der Welpe Jagow schon im Zwinger. Gerade hatten sie die letzte Wohnung ausgebaut. Die Miete sollte reichen, um nicht mehr in drei Schichten arbeiten zu müssen und etwas mehr Zeit fürs Kind zu haben. Sie rief die Feuerwehr an. Unter 112 meldete sich niemand. Bei 110 sagte jemand: Wir sehen selbst, dass es regnet. Sie hörte, wie die Stämme gegen die Wände rammten. Es krachte. Das ist die Schrankwand, sagte ihr Vater. Als sie ins Bad gehen wollte, war da kein Bad mehr. Sie versuchten, durchs Dachfenster und über den Schuppen auf das Dach des Nachbarhauses zu fliehen. Emilie brüllte, der Schäferhund musste getragen werden und klammerte sich dabei an Ankes Hals. Das Dach war glatt. Von dem Haus der Jäpels drüben hörte sie Schreie, dann nichts mehr. Wenn die Mauer kracht, halten wir uns an dem Dach fest und können rüberschwimmen ans Land, sagte Heiko Jäpel zu seiner Tochter. Weil man den Kindern jetzt nicht sagen konnte, dass es jetzt überhaupt keine andere Hoffnung mehr gab, als die Minuten zu zählen und nach oben zu schauen, ob es nicht endlich heller würde. Dass hoffentlich die Nacht zu Ende ging, bevor das restliche Dach einstürzte. Jäpel betete nicht. Er dachte nur: Das kann es noch nicht gewesen sein. Gerade raus aus dem Gröbsten, einmal Urlaub in Tirol und jetzt Schluss? Er wird sich später nicht erinnern können, wie sie dann auf die Mauer gekommen sind, als das Dach zusammenbrach. Instinkt, wird er sagen. Als es hell wurde, saßen sie nebeneinander auf einer 36 Zentimeter breiten Mauer. Vater, Tochter, Sohn, Großmutter. Später wird sich herausstellen, dass Hubschrauber bereitstanden, natürlich auch nachtflugbereit. Aber der Einsatzbefehl Flutopfer-Familie Jäpel, Aufräumarbeiten in Weesenstein: Wir ziehen auf den Berg HEINRICH VOELKEL / LAIF (L.); JOCKEL FINK / AP (R.) Der Empfang ist schlecht im Tal. Es war schon dunkel, als die ersten SMS von ihrer Tochter Silvana kamen: Das Haus stürzt ein. Wir kommen hier nicht raus. Holt Hubschrauber. Aber die Behörden sagten, dass Helikopter nicht bei Dunkelheit aufsteigen dürften. Alle Weesensteiner drückten die Tasten ihrer Handys und versuchten, mit Taschenlampen für etwas Licht zu sorgen. Gegen zwei Uhr kam es Andrea Jäpel so vor, als wäre ihr Haus verschwunden. Sie konnte es nicht glauben. Nur der Vorbau war noch zu sehen, mit dem sich hinunterwölbenden Dach. Die halten das nicht lange aus, sagte sie. Im Nachbarhaus, der Nummer 14, war die Krankenschwester Anke Meyer-Wilk eingeschlossen. Mit ihren Eltern, ihrem 78 Die Meyers schafften es. Dann war auch wieder Handy-Empfang. Ihr Mann brüllte ins Telefon: Bewegt eure Ärsche! Hier verrecken die Leute! In welchem Haus? Im letzten, das noch steht. Gegen drei Uhr fand der Museologe Hennig einen Strahler und richtete ihn in Richtung der Schulstraße: Die Jäpels saßen da zu viert inmitten der tosenden Wüste. Der First war weg, das Dach vom Vorbau schon durchgebogen. Die regten sich kaum mehr. Irgendwann, sagt Marion Donke, die Nachbarin von gegenüber, habe ich die Fenster zumachen müssen, weil wir die Schreie von Silvana nicht mehr ertragen konnten. Auch als alles vorüber ist, wird Frau Donke die Hilfeschreie noch hören, nachts in ihren Träumen. blieb hängen im Dickicht der Zuständigkeiten. Es war hell. Man konnte wieder sehen. Aber es gab nicht mehr viel zu sehen. Die Häuser flussaufwärts, die Brücke zum Schloss, die Schuppen waren verschwunden. Es dauerte bis sieben Uhr, bis der erste Hubschrauber in dem Unwetter auftauchte. Er schlingerte im Wind, machte einige vergebliche Anläufe, eine Schlaufe hinunterzulassen, und drehte wieder ab. Zehn Minuten später erschien ein zweiter, größerer Helikopter des Bundesgrenzschutz. Zuerst wurde die kleine Emilie in die Schlaufe gehoben. Hoffentlich streckt sie die Arme nicht aus, hoffentlich rutscht sie nicht durch, dachte Anke Meyer-Wilk. Aber das war eigentlich schon kein Denken mehr. Mehr ein Bannspruch.

Alle wurden geborgen. Auch die Jäpels. Sie kamen als Zweite dran. Unter dem Druck des Hubschrauber-Rotors zitterte die Mauer, aber sie hielt. Ganz zuletzt wurde Heiko Jäpel geborgen. Als sie ihn hochzogen, fiel die Kassette mit den Sparbüchern ins Wasser. Um acht Uhr stand die Mauer immer noch. Leer in den Fluten. Es war der 13. August. Es war vorbei. Es geht erst los. In der vergangenen Stunde hat das Telefon von Pfarrer Christian Lehnert 43-mal geklingelt. Alles Spendenanrufe, sagt er. Die Turnhalle im Nachbarort ist voll mit Kinderkleidung. Aber es gibt kaum Kinder in Weesenstein. Das Dorf ist überaltert. Und er muss jetzt dafür sorgen, zusammen mit der Gemeinde und einer Frau von der Versicherung, dass Weesenstein nicht auseinander bricht. Muss austarieren zwischen all den Jäpels, Fritzsches, Meyers, Grafs, zwischen den Verzweifelten und den Davongekommenen, zwischen denen, Im Barockgarten stehen die Stammrosen wie übrig gebliebene Flamingos in einer kotfarbenen, kniehohen Paste aus Flussschlamm und Geröll. Die Statue der Flora ist geborgen, nur die Hand mit der Blüte fehlt. Der Laubengang ist verschwunden. Es riecht faulig, doch von früh bis zur Dunkelheit schaufeln Freiwillige und Soldaten den Dreck weg, putzen die Buchsbäumchen. Sie rief die Feuerwehr an. Unter 112 meldete sich niemand. Unter 110 sagte jemand: Wir sehen selbst, dass es regnet. Es muss schnell gehen, bevor die Pflanzen ersticken. An keiner Stelle wird mit mehr Einsatz geschuftet als hier. Auch der Schauspieler Rolf Hoppe, der gern Lesungen abhält im Schloss, schaufelt mit. Wir schützen hier auch eine Philosophie. Hier haben sich Menschen ihr Paradies geschaffen, mit so viel Träumen und Gestaltungsmühe, sagt die Gärtnerin Luise Kallweit, die an keiner Pflanze vorbeigehen strophenhelfer aus Piemont. Sie tragen blütenweiße Anzüge gegen den Schmutz, zum Gespött der Soldaten. Aber sie sind die Ersten gewesen, die sich in die stinkenden Keller wagten und anfingen, die Eimer zu füllen. Es läuft. So gut, dass ein Alpin-Technik -Team aus Leipzig seine Winden wieder zusammenpackt: Wir haben eine 30- Tonnen-Winde, sagt der Chef, 10 000 Meter Seil und können völlig autark arbeiten. Die Brücken freiräumen, damit das Wasser sich nicht mehr staut. Alles selbst finanziert mit Hilfe von Sponsoren. Aber THW und Bundeswehr wollen keine Zivilisten. Die glauben, sie könnten das alles selbst und sprengen lieber Baum für Baum. Und während in den Staubwolken ringsum Radlader die Fußböden zermalmen, Badewannen zusammenpressen und ganze Hausstände in ihre Schaufeln nehmen, während sich der Müll, der einmal ein Zuhause war, zu faulig riechenden Bergen häuft hängen überall gelbe Säcke der Pfarrer Lehnert, Autowrack, Flutopfer Meyer-Wilk mit Tochter: Das Innerste nach außen gekehrt FOTOS: HEINRICH VOELKEL / LAIF die immer schon Verlierer waren und jenen, die zu allen Zeiten zurechtkamen. Es ist nicht vorbei. Es zerrt von allen Seiten. Die Schulstraße sieht jetzt aus wie im Urzustand. Nacktes Geröll, Kiesel, Schlamm. Ein Abschleppwagen, der in der Nacht noch ein Auto aus der Flut retten wollte, liegt zerschlagen am Ufer. Der Motorblock herausgerissen, fingerdickes Metall gefaltet und zerfetzt. Das Dorf wird umgewühlt und ausgeschaufelt. Während am Schlossufer die Donkes schon ihre Bierkästen sauber spülen dürfen, manövriert drüben ein Bergepanzer der Armee. Radlader, Bagger, Schwerlaster graben sich quer durch die Trümmerhaufen am Kinderspielplatz. kann, ohne sie zu berühren. Wie lange haben wir noch debattiert, ob die Linden beschnitten werden dürfen, und jetzt... Die Müglitz ist in ihr Bett zurückgeschoben worden. Es gibt Klohäuschen. Schotterpisten sind gelegt, Notstrom und Wasser bereitgestellt worden, und der weiß getünchte Mauerrest, auf dem Familie Jäpel saß, ist auch weggerissen worden. Innerhalb weniger Tage ist Deutschlands Katastrophenmaschine auf Touren gekommen. Es gibt einen Einsatzstab oben auf der Burg, Dienstwege und Zugführer. Halb nackte Soldaten mit Schaufeln marschieren in die Keller, THWler hantieren mit Trockenlüftern und Baggern. Romano Prodi und Joschka Fischer sind gekommen. Teams mit Krisenintervention auf dem Rücken. Berittene Polizei. Und Kata- RWE Umwelt an den Laternenstümpfen und Ruinen. Für Plastik. In Deutschland wird auch in der Katastrophe noch der Müll getrennt, sauber und ohne Inhaltsreste. Als das Wasser zurückging, war der Boden voller aufgedunsener, sich windender Regenwürmer, die das Grundwasser aus der Erde gedrückt hatte. Es roch nach Heizöl, alles war aufgerissen. Der feste Boden war weg. Und wird vielleicht auch nicht mehr zurückkehren. Das Schweigen der Sirene werden die Weesensteiner lange nicht vergessen. Die ersten zwei Tage waren wir komplett auf uns selbst angewiesen. Wie die Ratten haben sie uns absaufen lassen, sagt Marion Donke, und das sagen alle. Es wäre genügend Zeit gewesen, nachdem fluss- 79

Gesellschaft auf in Glashütte das Wasser schon hoch stand. Und wenige gibt es, die nicht hinzufügen, dass zu DDR-Zeiten zumindest die Warnungen besser funktioniert hätten. Trotz aller Katastrophenhilfe bleibt das Gefühl, allein gelassen worden zu sein. Da ist die DDR-Hypothek, die starke Abneigung gegen Behörden und alles, was von oben kommt. Heiko Jäpel ist den ganzen Tag unterwegs, läuft zu den Stellen und Ämtern, um seine Papiere zu beantragen. 1500 Euro Soforthilfe haben sie bekommen. Er darf nicht zur Ruhe kommen und vor allen Dingen, darf er nicht allein dahin gehen, wo einmal sein Haus stand. Jetzt sind sie erst einmal zusammen untergebracht, in der Wohnung vom Schloßmüller, im Nachbarort. Die Oma Sieglinde will nicht mehr zurück. Wir ziehen auf den Berg, sagt Heiko Jäpel. Seine Kassette mit dem Sparbuch hat man flussabwärts aus der Müglitz gefischt. mancher blieb namenlos. Wer sein Haus am richtigen Ufer hat, könnte schon wieder in der Sonne sitzen wenn nicht die Sorge um die anderen wäre, die fünf Meter entfernt lebten und jetzt in den Trümmern stochern, um zumindest die Kinderbilder noch zu finden. Wir brauchen einen Spendenschlüssel, sagt Christian Lehnert, der Pfarrer und Viele wollen helfen. Vor allem der Familie auf der Mauer. Die Jäpels könnten reich werden. Sie wollen nicht. Poet, und weiß, dass man ebenso gut nach dem Stein der Weisen suchen könnte. Irgendwer muss die Geldflut kanalisieren, umleiten und zur Not mit Gießkannen an die richtige Stelle tragen. Sonst bricht es. Es knirscht und knackt schon jetzt. Die Flut hat an den Tag gespült, dass es in Weesenstein keine Reichtümer gegeben hat. Und wenn eines Tags wirklich die neuen Kühlschränke, Autos, Häuser kommen, Noch halten die Dämme. Aber nicht alle haben die Kraft, neu anzufangen. Weesenstein lichtet sich. Weg. Augen zu und weg. Komplett weg, sagt Peter Fritzsche. Er hockt auf dem Wrack seines Honda Civic, hager, struppig und vernarbt, und hat gerade noch die zwölf Bände Brehms Tierleben aus der Ruine gerettet. Natürlich hatten sie keine Hochwasserversicherung: Das waren 100 Mark im Jahr, das war viel Geld. Über ihm ragt der Omi ihr Bett ins Freie. Weg hier, komplett weg. Gerhard Graf will nicht mehr. Am ersten Tag sah man ihn noch, wie er die Reste seiner Gartenbahn freilegte. Dann ließ er s sein. Die Loks und die Wagen waren sowieso fort. Er hat s satt, sagt Margit, seine Frau. Am liebsten wäre er sofort gegangen, nur mit dem, was er auf dem Leibe trug. Vor zwei Jahren den Herzinfarkt und jetzt das. Der Zaun ist gerade fertig geworden. Als Arbeitsloser hat man schon nicht viel Geld. Und mit einem Schlag ist das Bisschen zerstört. FOTOS: HEINRICH VOELKEL / LAIF Promi-Helfer Hoppe, Bundeswehrsoldaten aus Dresden, Weesensteiner Hilfskräfte: Was bleibt, ist der Dreck Anke Meyer-Wilk umkreist immer wieder das aufgebrochene Haus, wo ihr Innerstes nach außen gekehrt ist. Ihr Bad, ihre Küche, alles den Blicken freigegeben. Jeden Schritt von Emilie haben sie auf Video aufgenommen: weg. Die Familienalben, die Briefe, die Sommerschuhe: weg. Sie umkreisen die Trümmer, würden am liebsten hinein und irgendetwas von ihrem früheren Leben retten, aber es ist zu gefährlich. Die Vergangenheit ist endgültig vergangen. Was bleibt, ist der Dreck. Ihre Eltern weigern sich, wieder in die Nähe von Wasser zu ziehen. Die Tochter weint bei jedem Hubschrauber, der übers Tal fliegt. Der Fluss hat das Dorf in Fetzen gerissen. Mancher ist versichert, mancher nicht. Mancher ist ins Fernsehen gekommen, 80 wird mancher neidisch sein. Neidisch auf die Opfer. Kirchen und Gemeinde haben Konten eingerichtet, für die allererste Not. Jetzt sind die Konten so voll wie das Prießnitzer Rückhaltebecken vergangenen Montag, und das meiste kommt erst noch. Eine Firma will ein ganzes Haus spenden. Alle wollen helfen, und viele wollen speziell der Familie helfen, die eine Nacht auf einem Mauerrest verbracht hatte, sagt Lehnert. Die Jäpels könnten reich werden. Aber sie wollen nicht. Sie wollen nicht mehr als alle anderen. Deswegen hofft Lehnert, dass die Weesensteiner es schaffen. Die Familien kennen sich seit Generationen, haben Nazi- Jahre durchgestanden, auch DDR und Wendezeit und sich weiterhin gegrüßt. Ein voll bepackter Lieferwagen hält kurz vor dem Haus: Sehen wir uns noch mal in Weesenstein, Margit?, ruft jemand heraus. Nee, nicht in Weesenstein, wo sie geboren sind. Die Grafs gehen zum Sohn nach Bayern. Jetzt räumen sie noch ein wenig zusammen. Man kann es ja nicht so liegen lassen, sagt Margit Graf. Bissel was zur Erinnerung braucht man. Am ersten Tag starrten die Menschen von Weesenstein aufs Wasser. Am zweiten Tag kamen die ersten Helfer. Vier Tage dauerte es, bis der erste Zahlungsbefehl mit persönlicher Zustellung in Weesenstein wieder eintraf. Das ist gewiss nicht der Ölzweig im Schnabel von Noahs Taube. Aber ein Zeichen schon, dass die alte Welt nicht völlig untergegangen ist.