Inklusive Erziehung und Bildung Entwicklungen und Perspektiven in Deutschland



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Transkript:

1 Vortrag am 06.10.2010 in Siegen Inklusive Erziehung und Bildung Entwicklungen und Perspektiven in Deutschland Überarbeitete und mit Literatur ergänzte Textfassung der Vortrag wurde im Dialog zwischen Carmen Dorrance und Jutta Schöler gehalten Folie 1 Folie 1 Carmen Dorrance: Was ist die wichtigste Voraussetzung für das Gelingen von gemeinsamer Erziehung / gemeinsamem Lernen in Kindergarten und Schule? Jutta Schöler: Kooperationsbereitschaft 1 ist die absolut notwendige Voraussetzung für das Gelingen von Inklusiver Erziehung und Bildung. Kooperationsfähigkeit kann man lernen. Notwendig ist die Kooperation der Erwachsenen auf allen Ebenen: Schulaufsicht, Schulleitungen, Erzieherinnen und Lehrer/Lehrerinnen. Wir werden im Anschluss versuchen, Ihnen ein Beispiel dafür zu geben, dass auch für einen solchen Vortrag Kooperation von Menschen unterschiedlicher Erfahrungen und mit verschiedenen Qualifikationen sinnvoll und für Sie als Zuhörerinnen und Zuhörer anregend ist. Es geht um Kinder. In Deutschland geht es derzeit um ca. 500.000 Kinder, die keine Regelschulen besuchen, weil sie zu Behinderten erklärt wurden; das sind ca. 5% aller Schülerinnen und Schüler bei großen Unterschieden der Anteile in den verschiedenen 1 Siehe: SCHÖLER, Jutta (1997): Leitfaden zur Kooperation von Lehrerinnen und Lehrern nicht nur in Integrationsklassen. Heinsberg: Dieck

2 Bundesländern. Ca. 85% aller Schülerinnen und Schüler, für die festgestellt wurde, sie hätten sonderpädagogischen Förderbedarf, wurden an Sonderschulen/Förderschulen 2 überwiesen. Im ersten Teil unseres Vortrages möchten wir Ihnen bewusst machen, an welche Normalität wir uns gewöhnt haben, wenn über diese Kinder und ihre Familien gar nicht oder nur selten gesprochen wird. Sonderschulen sind bisher nicht in Schulstrukturdebatten einbezogen worden. Bei internationalen Leistungsvergleichsstudien wird nach den Leistungen der Schülerinnen und Schüler an Sonderschulen nicht gefragt. Auch in der vor wenigen Wochen veröffentlichten Shell-Jugendstudie 2010 sind Schülerinnen und Schüler von Sonderschulen nicht erwähnt; keine der Absolventinnen und kein Schüler einer Sonderschule ist gefragt worden, welche Lebensperspektive sie oder er sich für das Leben in dieser Gesellschaft vorstellt. 3 In der aktuellen Debatte um die Integration von Kindern mit Migrationshintergrund wird nur sehr selten darauf verwiesen, dass in den Alten Bundesländern überproportional viele dieser sozial benachteiligten Kinder zu Lernbehinderten erklärt und in Sonderschulen für Lernbehinderte abgeschoben werden. Wenn Sie jetzt im Zusammenhang mit der Debatte um die Inklusion der Kinder mit Behinderung in der Schule über eigene Erfahrungen nachdenken: Carmen Dorrance: Hatten Sie Mitschülerinnen und Mitschüler, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind oder wegen einer Bewegungseinschränkung bei Klassenarbeiten eine Zeitverlängerung bekommen haben? Sechs von ca. 100 Zuhörer/innen meldeten sich Jutta Schöler: Wer von Ihnen ist mit einer blinden Mitschülerin in die Schule gegangen oder hatte einen Mitschüler, der mit optischen Hilfsmitteln oder erheblichen Vergrößerungen gelesen hat? Zwei Meldungen Carmen Dorrance: In wessen Klasse war ein Mitschüler/eine Mitschülerin, der oder die auf ein Hörgerät angewiesen war? Nutzten Mitschülerinnen und Mitschüler, Lehrerinnen und Lehrer eine Audioport-Anlage? Neun Meldungen Jutta Schöler: Kann sich von Ihnen noch jemand an die Mitschülerin/den Mitschüler erinnern oder hat gar bis heute Kontakte, die im Laufe der Grundschulzeit zu Lernbehinderten erklärt wurden? Sieben Meldungen Carmen Dorrance: Gibt es unter Ihnen Menschen, die Schüler oder Schülerin einer Integrationsklasse waren, in die bis zur 10. Klasse auch Mitschüler/innen gingen, die eindeutig andere Lernziele hatten weil sie als geistig behindert bezeichnet wurden? Zwei Meldungen Es konnte festgestellt werden, dass unter den Zuhörerinnen und Zuhörern deutlich mehr Personen waren, die über eigene Erfahrungen des gemeinsamen Lernens in der Schule verfügen als nach der aktuellen Schulstatistik zu erwarten ist. Folie 2 Jutta Schöler: Wie groß ist statistisch gesehen die Wahrscheinlichkeit, dass hier Menschen sind, die eigene Erfahrungen mit einer solchen gemeinsamen Schulzeit haben? 2 3 Im vorliegenden Text werden die Begriffe Förderschule/Sonderschule synonym gebraucht, in Abgrenzung zu den Regelschulen. Nach unserem Verständnis haben alle Schulen den Auftrag, Kinder zu fördern. Mit der Entscheidung der Kultusministerkonferenz, die Sonderschulen in Förderschulen umzubenennen, sehen wir die Absicht, von den absondernden Auswirkungen abzulenken, die mit der Überweisung in eine dieser besonderen Schulen verbunden ist. SHELL DEUTSCHLAND Holding (Hrsg.) (2010): Jugend 2010. Eine pragmatische Generation behauptet sich. Konzeption & Koordination: Mathias ALBERT, Klaus HURRELMANN, Gudrun QUENZEL & TNS Infratest Sozialforschung. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag

3 Folie 2 Das selektive Schulsystem bewirkt nicht nur eine Ausgrenzung von Menschen, die als Behinderte bezeichnet werden, sondern es ist auch Angst machend und Erfahrungen einschränkend für alle Heranwachsenden. Carmen Dorrance: Wenn wir diese Fragen an einer italienischen Universität gestellt hätten, wie sähen dann die Ergebnisse aus? Jutta Schöler: In Italien gibt es seit Anfang der 80er Jahre keine Sonderschulen mehr. Bei einer solchen Frage hätten wir an einer italienischen Universität Erstaunen bei Studentinnen und Studenten ausgelöst, die nicht glauben wollen, dass es in Deutschland noch Sonderschulen gibt. Aufgrund der Gesetzgebung von 1976 durfte ab Schuljahr 1977 nicht mehr in Sonderschulen eingeschult werden; bis Mitte der 80er Jahre waren die Sonderschulen aufgelöst oder umgewandelt in Institutionen, in denen die Stützpädagogen ausgebildet werden. Zur aktuellen Situation in Italien, am Beispiel Südtirol, siehe BRUGGER-PAGGI 4. Anfang der 90er Jahre war ich mit einer Studentengruppe aus Berlin an der Universität Bologna. Eine der Studentinnen der Uni Bologna war auf einen Rollstuhl angewiesen. Sie brachte ihre Empörung zum Ausdruck als sie hörte, dass in Deutschland zur selben Zeit mit großer Wahrscheinlichkeit einer Schülerin, die auf den Rollstuhl angewiesen ist, der Zugang zur wohnortnahen Schule nicht gestattet würde. 4 BRUGGER-PAGGI, Edith (2007): Unterschiedliche Rahmenbedingungen in der inklusiven Bildung. Stand, Entwicklung und Perspektiven in Italien mit besonderer Berücksichtigung der Situation in Südtirol. In: Zeitschrift für Heilpädagogik, 58 (11), S. 439 445 und: http://www.schule.suedtirol.it/lasis/index.htm

4 Menschen aus einem Skandinavischen Land, aus Italien oder Spanien zu erklären, was LERNBEHINDERUNG bedeutet, ist fast unmöglich. In der italienischen Sprache gibt es für LERNBEHINDERUNG kein Wort. Das sind Kinder mit Entwicklungsverzögerungen, mit sozialer Benachteiligung, mit einer Lese-Rechtschreibschwäche oder Rechenschwäche. Es ist Aufgabe aller Lehrerinnen und Lehrer, diese Kinder gemeinsam mit allen anderen Kindern in einer Schule für alle bis zum 10. Schuljahr zu fördern. Folie 3 Carmen Dorrance: Die folgende Karte zeigt einen Vergleich der Sonderschulbesuchsquoten ausgewählter europäischer Länder auf der Basis aktuell zugänglicher Daten der European Agency for Development in special needs education. Sie sehen dabei, dass Deutschland zu den europäischen Ländern mit der höchsten Sonderschulbesuchsquote zählt, während Italien keine Kinder separiert beschult. Folie 3 Folie 4 führt zum Vergleich zusätzlich den Anteil der Kinder mit special education needs an allen schulpflichtigen Kindern auf, der integriert, bzw. inkludiert beschult wird. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Definition von sonderpädagogischem Förderbedarf (special education needs (SEN)) zwischen den Ländern bisweilen erheblich differieren kann.

5 Folie 4 Folie 4a

6 Folie 4a Jutta Schöler: Vergleicht man die drei Länder Deutschland, Schweiz und Österreich, welche ein ähnliches Schulsystem mit Mehrgliedrigkeit in der Sekundarstufe I aufweisen, dann wird deutlich, dass Deutschland den mit großem Abstand höchsten Anteil von Kindern hat, die an Sonderschulen unterrichtet werden. In Dänemark 5 ist eindeutig geregelt, dass kein Kind gegen den Willen der Eltern in einer besonderen Organisationsform unterrichtet wird. Italien hat keine Sonderschulen. Die Zuschreibung: Kind mit besonderem Förderbedarf erhalten Kinder mit Sinnesschädigungen, Körperbehinderung, einer geistigen Behinderung oder psychisch kranke Kinder. Diese Statistiken vermitteln uns kein Bewusstsein davon, was es in Deutschland bisher für eine Familie und ein Kind bedeutet, wenn wegen einer Entwicklungsverzögerung, einer körperlichen oder intellektuellen Einschränkung die Institution Schule feststellt: Das Kind ist behindert! Das gehört nicht zu uns in die,,normale Schule! Wir wollen an drei Beispielen deutlich machen, was Exklusion und Integration für Kinder und ihre Familien bedeutet: Folie 5 Jutta Schöler: Bild - Max: Folie 5 Max ist der Sohn hilfloser Eltern. Sie hatten keine Chance, sich gegen die Sonderschule zu wehren. Schon im Kindergarten fiel Max ein wenig auf. Er war langsamer als die anderen Kinder, gab schnell auf. Am Wohnort, in einem kleinen Dorf (das Bundesland ist hier unwichtig) wurde er regulär eingeschult. Zwei Monate nach Beginn des 2. Schuljahres wurde 5 KREUZER, Max (Hrsg.) (1999): Behindertenhilfe und Sonderpädagogik. Erfahrungen und Praxisbeispiele aus Dänemark. Neuwied / Kriftel / Berlin: Luchterhand

7 ein Gutachten über den sonderpädagogischen Förderbedarf erstellt: Hier einige Auszüge aus den zwei Seiten des Gutachtens der Sonderpädagogin: - Max kann sich nur kurze Zeit auf den Lerngegenstand konzentrieren. - Beim Erfüllen von schulischen Anforderungen benötigt er die umfassende Hilfe des Lehrers. - Max ist ein freundlicher, kontaktbereiter Schüler, - Max besitzt einen relativ umfangreichen aktiven und passiven Wortschatz. Er spricht gern. Für Deutsch und Mathematik werden die Defizite konkret benannt. Das Urteil: Da der sonderpädagogische Förderbedarf sehr hoch ist und mit einer weiteren psychischen Belastung von Max gerechnet werden muss, wird eine Umschulung in ein Förderzentrum mit dem Förderschwerpunkt Lernen empfohlen. Dort ist Max jetzt seit drei Jahren. Er ist das einzige Kind im Dorf, das nicht am Wohnort unterrichtet wird und hat inzwischen keinerlei Kontakte zu den anderen Kindern. Seine Mutter sagte mir: Ich weiß auch nicht, was ich mit ihm machen soll er kann doch nicht immer alleine spielen. Er wurde bisher von einem Behindertenfahrdienst morgens ca. 7 Uhr abgeholt und am Nachmittag um 16 Uhr gebracht. Er besuchte zwei Jahre lang eine altersgemischte Klasse (1./2./3. Schuljahr) mit insgesamt acht Schüler/-innen. Am Ende seines 3. Schulbesuchsjahres wurde für ihn und zwei weitere Schüler entschieden, dass sie nicht in die 4. Klasse versetzt werden. Max besucht jetzt in einer Lerngruppe von 12 Schüler/- innen eine altersgemischte 3./4. Klasse. Wie soll es für Max weitergehen? Die Eltern können ihm nicht helfen und sind darüber sehr traurig. Folie 6-9 Carmen Dorrance über ihren Sohn Christoph Folie 6

8 Folie 7 Folie 8

9 Folie 9 Als Mutter eines behinderten Kindes (cerebrale Diparese, beinbetont), habe ich meine Erfahrungen mit dem Übergang zwischen therapeutischer Kindertagesstätte und Regelgrundschule gemacht. Nachdem mir in Christophs ersten beiden Lebensjahren zunehmend bewusst geworden war, dass die Behinderung in seinem Fall nicht wegzutherapieren ist, machte ich mich mit dem Gedanken vertraut, der Behinderung nicht ausschließlich medizinisch zu begegnen, sondern nach Wegen zu suchen, meinen Sohn ganzheitlich zu fördern und ihm damit die Chance zu geben, dass die Behinderung in seinem Leben nicht zum zentralen und alles dominierenden Lebensinhalt wird. Ich wünschte mir, dass er die Chance bekäme, seine Potentiale voll zu entwickeln und zu entfalten. Zu den Herausforderungen, die das Leben, Aufwachsen und Erziehen eines Kindes mit Behinderung mit sich bringt, zählte und zählt für mich die Herstellung und Sicherung eines entsprechenden sozialen Umfeldes für meinen Sohn. Als ausgebildete Grundschullehrerin beteiligte ich mich an einem ganzheitlich orientierten Kindertagesstättenkonzept, das die Therapie nach Andras Petö (Budapest) umsetzt. Ich selber bewarb mich schon frühzeitig als Lehrerin an einer damals noch im Bau befindlichen barrierefrei geplanten Grundschule in der Hoffnung, meinen körperbehinderten Sohn später dort einschulen zu können. Als es dann soweit war, wurde ich jedoch auf die Option Förderschule verwiesen, lehnte aber ab. Schließlich wurde mein Sohn mit unterschwelligen, aber für uns beide deutlich spürbaren Vorbehalten in der allgemeinen Schule aufgenommen. Er überzeugte schließlich auch die letzten Skeptiker durch seine sprachliche Versiertheit, seine überdurchschnittlich hohe Auffassungsgabe sowie durch einen diagnostizierten Intelligenzquotienten von 139. Dennoch musste ich immer wieder Schikanen von Seiten der Schulleitung erfahren, so dass ich bald beschloss, die Schule zu wechseln und mein Kind an unserer eigentlichen Sprengelschule anzumelden. Überraschend und erfreulich für uns war, dass wir mit der Bitte um Aufnahme in unsere Sprengelgrundschule, die sich in einem Jugendstilgebäude ohne Aufzug befand, offene Türen einrannten und uns bedingungslos willkommen fühlen durften. Mit Unterstützung eines Zivildienstleistenden als ständige Schulbegleitung gab es keinerlei Bedenken von Seiten der Schule, vielmehr wurde

10 mir berichtet, dass es hier früher ganz normal gewesen sei, Kinder mit Behinderung aufzunehmen. In schulischer Hinsicht kamen wir durch diesen Schritt endlich zur Ruhe. Christoph besucht inzwischen mit großem Erfolg ein kleines Münchener Privatgymnasium und ist sozial voll integriert. Rückblickend erwies sich unser Weg der schulischen Integration als steinig und aufgrund von Willkürentscheidungen einzelner Schulleitungen phasenweise auch als psychisch und emotional schmerzhaft, aber Christoph bestätigt mir immer wieder, wie gut und wichtig es war, dass er diese Schullaufbahn dank meines Engagements einschlagen konnte und ermutigt mich, andere Menschen in ähnlichen Situationen zu unterstützen. Folie 10 Jutta Schöler: Foto von Resi: Folie 10 Bei Resi wurde früh eine Winkelfehlsichtigkeit (Schielen) festgestellt. Sie ist aufmerksam, interessiert aber von Beginn der Schulzeit an hatte sie die typischen Schwierigkeiten, die in Verbindung mit dieser Sehschädigung bekannt sind. Die Ärzte beruhigten die Mutter: Nach einer Operation, die für die Sommerferien nach dem 2. Schuljahr vorgesehen ist, würden sich die Augenprobleme deutlich verbessern. Mitte des 2. Schuljahres wurde die Mutter von der Klassenlehrerin angesprochen, sie wolle sich von einer Sonderpädagogin beraten lassen, wie sie die Wahrnehmungsprobleme von Resi im Unterricht am besten berücksichtigen kann. Hierfür sei aber das Einverständnis der Mutter notwendig. Dafür gab die Mutter ihre Unterschrift. Etwa vier Wochen später erhielt Resis Mutter diesen Brief:

11

12 Die Teilnehmerinnen an der Tagung in Siegen hatten dieses Dokument in ihren Tagungsmappen und wurden gebeten: Stellen Sie sich vor, wie Sie reagieren würden, wenn Sie einen solchen Brief erhalten? Wie würden Sie Ihrer Tochter/Ihrem Son erklären, warum sie/er eine Woche lang nicht in die gewohnte Schule gehen darf sondern in eine fremde Schule, zu fremden Lehrerinnen, um gemeinsam mit Kindern, die auch unbekannt sind unterrichtet zu werden oder zu zeigen, was das Kind kann. Was würden Sie Ihrem Arbeitgeber sagen, dass Sie eine Woche lang später zur Arbeit kommen und mittags das Kind in einer anderen Schule abholen müssen. Oder würden Sie in einer solchen Situation den angebotenen Taxiservice in Anspruch nehmen? Resis Mutter ist alleinerziehend; der Vater hält sich überwiegend nicht in Deutschland auf. Die Aufforderung, die Adresse des Vaters der Schulbehörde zu nennen, verunsicherte die Mutter sehr. Was hat folgende Formulierung zu bedeuten: Möglicherweise besteht ein sonderpädagogischer Förderbedarf? Das wusste die Mutter nicht. Trotz erheblicher Bedenken brachte sie Resi eine Woche lang zu der angegebenen Schule. Sie war dort nicht die Einzige, sondern traf etwa fünfzig andere Kinder mit ihren Müttern oder Vätern. Zehn Tage nach Abschluss dieser Überprüfungswoche erhielt die Mutter den Bescheid: Resis auditive, visuelle und visuomotorische Wahrnehmung bedürfen besonderer Förderung. ( ) sonderpädagogischer Förderbedarf mit dem Schwerpunkt Lernen. ( ) mangelnde Motivation und Unkonzentriertheit hindern sie, ihre Fähigkeiten für schulisches Lernen zu nutzen. ( ) Die Förderschule Lernen bietet Resi den Rahmen, den sie benötigt, um Lernfortschritte zu erzielen. In diesem Gutachten gibt es keine Hinweise, dass die notwendige spezielle Förderung auch in der Grundschule angeboten werden könnte, sondern In der beschützenden Atmosphäre einer kleinen Lerngruppe wird sie ihrem Lerntempo und niveau angemessen gefördert. Diese Mutter hat sich informiert und erfahren, dass die Einschulung in eine Schule für Lernbehinderte in den meisten Fällen dazu führt, dass die Kinder dort bleiben und etliche Jahre später ohne Schulabschluss 6 die Schule verlassen. Sie hat den Kampf gegen die Sonderschulüberweisung aufgenommen und zunächst auch erreicht, dass Resi in ihrer gewohnten Klasse bleiben kann. Allerdings: Eine besondere Förderung, die sie sicherlich auch nach der erfolgreichen Augenoperation gut gebrauchen könnte, erhält sie nicht. Folie 11 Jutta Schöler: Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention 6 Vgl.: KLEMM, KLAUS (2009): Sonderweg Förderschulen: Hoher Einsatz, wenig Perspektiven. Eine Studie zu den Ausgaben und zur Wirksamkeit von Förderschulen in Deutschland. Im Auftrag der Bertelsmann Stiftung,.Gütersloh, auch abrufbar: http://www.bertelsmann-stiftung.de/bst/de/media/xcms_bst_dms_29959_29960_2.pdf http://www.spiegel.de/schulspiegel/wissen/0,1518,721445,00.html Und: KOTTMANN, Brigitte (2006): Selektion in die Sonderschule. Das Verfahren zur Gestaltung von sonderpädagogischem Förderbedarf als Gegenstand empirischer Forschung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt-Verlag

13 Folie 11 Seit März 2009 gilt die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung. Am Beispiel der drei Kinder Max, Christoph und Resi wurde kurz erläutert, was für sie und ihre Familien Inklusion im Vergleich zur Integration - bedeuten würde: Max Integration: Die Mutter wusste nicht, dass es in ihrem Bundesland per Schulgesetz auch die Möglichkeit gegeben hätte, einen Antrag auf Verbleib in der Wohnort-Grundschule zu stellen, mit Unterricht nach dem Rahmenplan der Schule für Lernbehinderte. Selbst wenn sie es gewusst hätte; sie ist hilflos gegenüber den Ämtern. Ein Umzug der Eltern kommt nicht in Frage. Das Ergebnis eines Integrations-Antragsverfahren ist gegenwärtig erheblich unterschiedlich, abhängig vom Bundesland und dort auch zumeist vom konkreten Kreis/Schuleinzugsbereich 7. Inklusion hätte für Max bedeutet: Er bleibt in der Klasse; eine Sonderpädagogin kommt stundenweise dazu und unterstützt die Lehrerin, einen vielfältigen, für alle Kinder passenden Unterricht anzubieten. Im Laufe der Schulzeit wird über die speziellen Lernziele für Max entschieden. Er bleibt in jedem Fall bis zum Ende seiner Schulpflichtzeit in einer gemeinsamen Lernumgebung mit den Kindern seines Wohnortes idealerweise in einer Gesamtschule, wie in vielen anderen Ländern üblich. Wie der Weg zur Inklusion in Deutschland auch unter den Bedingungen des selektiven Sekundarstufensystems begonnen werden kann, dazu später. 7 SCHNELL, Irmtraud (2006): An den Kindern kann s nicht liegen. Zum aktuellen Stand gemeinsamen Lernens von Mädchen und Jungen mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf in der Bundesrepublik Deutschland. Erschienen in:. gemeinsam leben. Zeitschrift für integrative Erziehung. 14 (4), 195-213; auch in: http://bidok.uibk.ac.at/library/schnell-schule.html

14 Carmen Dorrance: Christoph: Integration: Christoph besucht heute ein Privatgymnasium und macht voraussichtlich im kommenden Schuljahr sein Abitur. Dieses Gymnasium verfügt über eine langjährige Tradition mit Integration. Den Schulgründer/-innen war dies von Anfang an eine Herzensangelegenheit. Das Schulhaus ist barrierefrei und für Rollstuhlfahrer/- innen sehr bequem zu nutzen. Christoph hat einen ständigen Schulbegleiter bisher ein jedes Jahr wechselnder Zivildienstleistender, der ihn auf dem Weg von und zur Schule begleitet und auch im Unterricht neben ihm sitzt. Dort schreibt er nach Bedarf mit, da Christoph mit seiner Feinmotorik Schwierigkeiten hat und manchmal mit dem Schreiben auf seinem Computer zu langsam ist bzw. zeichnerische Kompetenzen erforderlich sind. Christoph ist auch nicht der einzige Schüler seiner Klasse mit einer diagnostizierten Behinderung. Insgesamt dürften jedoch alle seine Mitschüler/-innen in der Lage sein, das Abitur erfolgreich abzulegen. Die Lernzielgleichheit ist nicht aufgehoben. Bei Klassenarbeiten erhält Christoph einen Nachteilsausgleich in Gestalt einer anteilsmäßig längeren Prüfungszeit. Manchmal macht er davon Gebrauch. Dennoch stößt die Integration auch an Grenzen. Beispielsweise konnte Christoph an einigen internationalen Klassenfahrten nicht teilnehmen. Die Gründe lagen angeblich in organisatorischen und praktischen Problemen und dem mit ihnen verbundenen Aufwand. Inklusion würde für Christoph bedeuten, dass es keine solche Integrationsgrenzen mehr gibt. Inklusion würde auch bedeuten, dass Christophs erfolgreiche Schulkarriere nicht gegen Widerstände von Schulbehörden erst durchgesetzt hätte werden müssen. Und Inklusion würde bedeuten, dass andere Schüler/-innen und Schüler nicht auf ein kostenintensives Privatgymnasium angewiesen sind. In Christophs Umgebung gibt es keine Alternative zu seiner Schule. Er hat Glück, dass es diese Schule gibt und Christophs schulische Ausbildung finanziert werden kann. Außerdem darf nicht vergessen werden, dass er auf dieses Gymnasium nur gehen konnte, nachdem der Sonderschulbesuch verhindert und die Einschulung in die allgemeine Grundschule seinerzeit gegen erhebliche Widerstände durchgesetzt wurde. Jutta Schöler: Resi: Integration bedeutet für Resi derzeit, dass sie wieder in dieselbe Schule gehen darf wie ihre Nachbarskinder. Die Mutter hat sich zwar erfolgreich gegen die Überweisung an die Sonderschule für Lernbehinderte gewehrt, nur: Die jetzigen Lehrerinnen und Lehrer wollen ein Kind wie Resi nicht. Diese Lehrerinnen bekommen bisher keinerlei Unterstützung, um ein Kind wie Resi angemessen zu fördern. Sie behelfen sich damit, dass eine Lese-Oma ihr 2x in der Woche beim Lesen lernen helfen soll. Wenn diese Lese-Oma zu Zeiten kommt, wo Englisch auf dem Stundenplan steht, dann versäumt Resi den Englischunterricht, an dem sie gerne und mit gutem Erfolg bisher teilnimmt. Ist es verwunderlich, dass Resis Mutter daran zweifelt, ob es die richtige Entscheidung war, für diese Integration zu kämpfen? Inklusion würde für Resi und ihre Mutter bedeuten: Sie geht in die Schule am Wohnort und bekommt in einem Zweipädagogen-System die Unterstützung von qualifizierten Sonderpädagogen, die sie braucht. In einer Regelschule, die vielfältigen und für alle Kinder förderlichen Unterricht anbietet, erreicht sie mit großer Wahrscheinlichkeit einen regulären Schulabschluss.

15 Folie 12 Carmen Dorrance: Sonderschulbesuchsquote Folie 12 Die Abbildung zeigt die Sonderschulbesuchsquoten in den Bundesländern. Diese Anteile sind wesentlich aussagekräftiger als die häufig verwendeten Integrationsquoten. Während letztere je nach politischem Interesse leicht zu manipulieren sind (man muss lediglich die statistischen Definitionskriterien für eine schulische Integrationsmaßnahme verändern), geben die Sonderschulbesuchsquoten ein klares vergleichbares Bild wieder: Sie sehen, dass die Neuen Bundesländer mit der Ausnahme von Berlin, durchweg stärker segregieren als die Alten Bundesländer. In Mecklenburg-Vorpommern beispielsweise werden über 9% aller Kinder eines Jahrgangs sonderbeschult und das bei einem Migrationsanteil, der gegen Null tendiert. Besonders positiv fällt Schleswig-Holstein auf, mit einer relativ geringen Separationsquote von 3,1%. Zu Bremen sei noch erwähnt, dass seit dem Schuljahr 2010/11 ein neues Schulgesetz in Kraft getreten ist, das festlegt, dass die Förderlehrer/-innen der Sonderschulen von nun an zu den Kindern in die allgemeine Schule kommen, anstatt wie zuvor die Kinder zu den räumlich getrennten Förderorten.

16 Folie 13 Folie 13a

17 Jutta Schöler Aus den Folien 13 und 13a ist deutlich abzulesen: Die Bundesländer, welche eine hohe Quote der Zuschreibung von sonderpädagogischem Förderbedarf haben, fallen zugleich mit einer geringen Integrationsquote auf. Die Gegner des gemeinsamen Unterrichts von behinderten und nicht behinderten Kindern behaupten oft, es gäbe Bundesländer, die viele Kinder zu Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf erklären und dann Schülerinnen und Schüler als integriert bezeichnen, die an anderen Orten ohne diese Zuschreibung ganz normal unterrichtet würden. Folie 14 Carmen Dorrance: Schulanfänger/-innen Betrachtet man die Zahlen der Schulanfänger/-innen insgesamt, ist klar, dass diese absolut gesehen infolge des demografischen Wandels zurückgehen. Demgegenüber verhalten sich die Anteile der Schulanfänger/-innen in Förderschulen in einzelnen Bundesländern widersprüchlich. Während beispielsweise in Berlin der Anteil der Schulanfänger/-innen an Förderschulen zwischen 2003 und 2008 deutlich zurückgeht, ist etwa in Niedersachsen ein gegenläufiger Trend zu verzeichnen. In Berlin dürfte diese Entwicklung damit zusammenhängen, dass Schüler/-innen inzwischen bei der Einschulung nicht mehr aufgrund von Lernschwierigkeiten oder Verhaltensauffälligkeit segregiert werden. In Niedersachsen hingegen legt die Entwicklung den Verdacht nahe, dass freiwerdende Förderschulplätze trotz (oder gerade wegen) sinkender Schüler/-innenzahlen aufgefüllt werden, d.h. dass sich die Kriterien für die Einschulung in eine Förderschule verändert haben.

18 Folie 14a Folie 13

19 Folie 15a Die Anteile von Kindern mit Migrationshintergrund in Sonderschulen sind in den Alten Bundesländern überproportional hoch im Vergleich zu ihrem Anteil an der Gesamt- Schülerzahl. Nur in Berlin und Bremen sind Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf mit Migrationshintergrund mit ca. 8% bzw. 9% vertreten. Dies ist mit großer Wahrscheinlichkeit darauf zurückzuführen, dass in diesen beiden Städten inzwischen etliche Schulen Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf ohne ein spezielles Antragsverfahren in der Schule aufnehmen bzw. ein Schulkonzept praktizieren, in welchem die Schule im Kiez selbstverständlich die Schule für alle Kinder ist. 8 Carmen Dorrance - Ich möchte im Folgenden einige Ergebnisse meiner Studie zu elterlichen Erfahrungen im Zuge der Einschulung von Kindern, die im Kindergarten einen Integrationsplatz belegten, vorstellen. Wichtig war mir die Orientierung an der Perspektive der Eltern. Zum Zeitpunkt der Untersuchung gab es in der Landeshauptstadt München 31 städtische Integrations- Kindergärten, von diesen hatten 24 ein Integrationskind im Einschulungsjahr, von diesen wiederum gaben 23 Kindergartenleitungen den Fragebogen an die betreffenden Eltern weiter. 18 ausgefüllte Fragebogen erhielt ich zurück, das entspricht etwa einer Rücklaufquote von 75% (N=18). Nach der Einschulung wurden dann themenzentrierte narrative Interviews mit 10 Eltern (8 Mütter und 2 Väter) geführt. 8 So z.b. die Erika Mann Grundschule in Berlin, siehe: http://www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xbcr/sid- 0FFF1BC8-70C20300/bst/xcms_bst_dms_29309_29310_2.pdf

20 Folie 14 Die folgende Grafik zeigt die Integrationsaussichten, die die befragten Eltern sehen. Wer in die allgemeine Grundschule kam, hatte fast immer Eltern, die dies auch schon im Kindergarten ins Auge gefasst haben. Nicht immer ließ sich dieser Wunsch jedoch realisieren. In keinem Fall wurden Eltern, die zunächst skeptisch waren, darin von außen bestärkt und überzeugt, einen integrativen Weg einzuschlagen.

21 Folie 17 Die Auswertung ergab bei allen Interviews Hinweise auf ein deutliches Unbehagen der Eltern gegenüber Klassifizierungen ihrer Kinder - Klassifizierungen, die auf den Entwicklungsstand, das Leistungsvermögen oder das Entwicklungspotenzial bezogen waren. Die Ressourcen und der Förderbedarf des eigenen Kindes werden mit denjenigen anderer Kinder verglichen. Das eigene Kind wird als Teil eines vielfältigen Ganzen betrachtet. Defizite sind kein Alleinstellungsmerkmal des eigenen Kindes. Vielfalt und Förderung werden als allgemeine Aufgabe von Schule gesehen. Interpretation Die Behinderung ist (noch) kein fester Bestandteil des Selbstkonzepts der Eltern. Es gibt Differenzen in der Einschätzung von Leistungs- und Entwicklungspotenzialen. Die Eltern werden mit kategorialen Zuschreibungen konfrontiert, die defizitorientierter als die eigenen sind und im Widerspruch zu ihrer Selbstwahrnehmung stehen.

22 Die Mutter wird mit Normalitätsstandards konfrontiert, die ihre Tochter nicht erfüllen kann. Sie ist dabei auf Informationen angewiesen, die den Rahmen ihrer Entscheidung bilden. Die Mutter übernimmt die alleinige Verantwortung für die Konsequenzen der Entscheidung. Interpretation Die Regelschule wird als strukturell, organisatorisch und didaktisch defizitär beschrieben. Sie ist nicht in der Lage, die notwendige individuelle Förderung zu leisten. Die Entscheidung von Eltern bezüglich einer Sonderbeschulung ist keine Entscheidung für die Förderschule, sondern eine Entscheidung gegen die Regelschule. Folie 18 Jutta Schöler: Perspektive: Schulentwicklungsplanungen müssen jetzt begonnen werden. Spätestens ab dem Schuljahr 2012/13 darf nicht mehr in Sonderschulen eingeschult werden. Jede der jetzigen Sonderschulen muss sich in den kommenden zehn Jahren darauf einstellen, eine attraktive Schule für ALLE Kinder zu werden oder die Schulen werden geschlossen. Die derzeitigen Pläne, Förderschulen für behinderte Kinder in Förderzentren zu verwandeln, sind nur dann akzeptabel, wenn diese Zentren keine Schüler haben.,,förderbedarf einzelner

23 Kinder darf nicht mehr der Vorwand sein, dass einzelne Kinder ausgesondert werden und alle anderen Kinder Angst vor einer solchen Aussonderung haben. Sie hier im Raum haben unser selektives Bildungssystem erfolgreich (wenngleich vielleicht nicht immer ohne Blessuren) durchlaufen. Sie wissen selber, mit welchen Ängsten Sie dieses System bewältigt haben. Sie durften nicht die Erfahrung machen, was es bedeutet, in einer Atmosphäre der Akzeptanz von Verschiedenheiten aufzuwachsen. Ihre Kinder werden es Ihnen in dreißig Jahren nicht glauben, wenn Sie davon berichten, dass es in Deutschland Schulen nur für behinderte Kinder gab ähnlich wie sich die Kinder heute nicht vorstellen können, wie ein Leben ohne Handy möglich war. Jede und jeder von Ihnen kann dazu beitragen, dass die kommende Generation auch in Deutschland die Freude und die vielfältigen Anregungen einer Schule für alle erleben darf. Folie 19+20: Carmen Dorrance Kindergartenfolie: Erster Schritt muss das gemeinsame Spielen und Lernen im Kindergarten sein. Folie 19 Die Grafik gibt die Anteile der Kinder mit besonderem Förderbedarf in Kindertageseinrichtungen wieder. Enthalten sind lediglich die Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, nicht die der Behindertenhilfe. Auffallend ist, dass Baden-Württemberg und Bayern zwar einen relativ geringen Anteil an Kindern in Sondereinrichtungen in Trägerschaft der Jugendhilfe aufweisen, andererseits aber den größten Anteil an Kindern in Sondereinrichtungen schulischer Trägerschaft. Dies relativiert die Rangfolge der Bundesländer. Betrachtet man ausschließlich die Anteile der Kinder in integrativen Tageseinrichtungen, wird deutlich, dass Baden-Württemberg und Bayern am schlechtesten von allen Bundesländern abschneiden.

24 Folie 20 Ebenso deutlich wird dies bei der Betrachtung der Separationsquoten im Bereich der Kindertagesstätten. Diese sind in Baden-Württemberg und Bayern mit Abstand am höchsten. Dies ist ein weiterer statistischer Hinweis auf die Barriere, die der Zeitpunkt der Einschulung für die Integration von Kindern mit Behinderung immer noch darstellt. Jutta Schöler: Durch begleitende Fortbildungen der Lehrerinnen und Lehrer und feste Zuordnungen von Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen an die Grundschulen muss gesichert werden, dass Kinder wie Max, Christoph oder Resi an ihrem Wohnort einen vielfältigen, angstfreien, ihrem Lerntempo und ihren besonderen Lernbedürfnissen entsprechenden guten Unterricht in einer Ganztagsschule erhalten. Die entscheidende Frage in Deutschland ist: Wie geht es weiter in der Sekundarstufe? Am sinnvollsten ist ein durchgängiges Gesamtschulsystem wie in den Skandinavischen Ländern oder in Italien. Wir können aber nicht warten, bis diese Schulstrukturdebatte ausgestanden ist, um dann erst zu beginnen, Kinder mit Behinderungen nach der Grundschulzeit weiter gemeinsam lernen zu lassen. Jede Schulform der Sekundarstufe muss verpflichtet werden, sich an der Aufgabe des gemeinsamen Unterrichts zu beteiligen. Vor allem die Gymnasien sind herausgefordert, auch zieldifferenten Unterricht zu planen und zu realisieren. 9 9 Siehe: http://bidok.uibk.ac.at/library/q?author=1;author_id=275;author_firstname=jutta;author_middle name=;author_lastname=schöler Und: http://www.quer-wege.de/5957,5995,0,5995,0.htm?sid=b79a634c16dce54dfa3871527d5ac03b

25 Folie 21 Carmen Dorrance: Auch zielgleiche Integration mit Nachteilsausgleich (wie bei Christoph) ist für Lehrerinnen und Lehrer eine neue Herausforderung. Wenn Schulen sich auf diesen Weg machen, wird sich Schule von innen heraus reformieren. Folie 22

26 Folie 23 Folie 24 10 10 SCHÖLER, Jutta (Hrsg.) (1998):Texte und Wirkungen von Ludwig-Otto ROSER, Berlin : Luchterhand-Verlag, 1998 Als Volltext: http://bidok.uibk.ac.at/library/schoeler-normalitaet.html

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