Rechtsnatur von Richtlinien und Branchendokumenten

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Transkript:

Eidgenössische Elektrizitätskommission ElCom Eidgenössische Elektrizitätskommission ElCom Fachsekretariat, 1. Februar 2010 Rechtsnatur von Richtlinien und Branchendokumenten A. Fragestellung Der Verband Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen VSE hat gestützt auf die in Art. 27 Abs. 4 der Stromversorgungsverordnung vom 14. März 2008 (StromVV; SR 734.71) aufgezählten Artikel Richtlinien erlassen. Eine Übersicht der Branchendokumente, in welchen diese Richtlinien enthalten sind, findet sich auf S. 22 f. des Dokuments Marktmodell für die Elektrische Energie Schweiz (MMEE-CH, Ausgabe 2009, abrufbar unter www.strom.ch > Dossiers > Strommarkt) des VSE. Es stellt sich die Frage, welche Rechtsnatur einerseits diesen Richtlinien und andererseits den Branchendokumenten als Ganzes zukommt und ob die ElCom an diese Richtlinien bzw. an die Branchendokumente gebunden ist. B. Richtlinien 1. Übertragung von Rechtssetzungsbefugnissen auf Private Die Übertragung von Rechtssetzungsbefugnissen auf Private setzt eine verfassungsrechtliche Grundlage voraus, da die Schaffung verbindlichen Rechts grundsätzlich staatlichen Organen vorbehalten ist (Art. 163 ff. und 182 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 [BV; SR 101]). Ausnahmsweise, wenn der Vollzug einer Bundesaufgabe durch einen privaten Rechtsträger anders nicht realisiert werden kann, kann dieser Rechtsträger auch gestützt auf ein formelles Gesetz zum Erlass von Rechtssätzen ermächtigt werden. Solche Vollzugsregelungen müssen sich auf die Realisierung des delegierten Vollzugs beschränken und dürfen keine neuen materiellen Pflichten festlegen (Bundesamt für Justiz, Gesetzgebungsleitfaden, 2007, Rz. 842, BGE 135 II 38, E 4.5). Eine verfassungsrechtliche Grundlage für die Übertragung von Rechtssetzungsbefugnissen auf Private im Energierecht besteht nicht (vgl. insb. Art. 91 Abs. 1 BV). Der Bundesrat erlässt die erforderlichen Ausführungsbestimmungen zum Stromversorgungsgesetz (Art. 30 Abs. 2 des Bundesgesetzes über die Stromversorgung vom 23. März 2007 [StromVG; SR 734.7]). Art. 30 Abs. 3 StromVG sieht vor, dass er den Erlass technischer oder administrativer Vorschriften dem Bundesamt übertragen kann. Gemäss Art. 3 Abs. 2 StromVG sind sowohl der Bund wie auch die Kantone dazu verpflichtet, vor dem Erlass von Ausführungsvorschriften private Vereinbarungen zu prüfen und diese allenfalls in ihr Ausführungsrecht zu übernehmen. In Art. 30 Abs. 4 StromVG wird der Bundesrat ausserdem ermächtigt, zum Vollzug private Organisationen beizuziehen. Es handelt sich dabei jedoch nicht um die Befugnis, rechtsetzende Kompetenzen an private Organisationen zu delegieren wie das z.b. in Art. 52 Abs. 1 des Bundesgesetzes über die wirtschaftliche Landesversorgung vom 8. Oktober 1982 (LVG; SR 531) der Fall ist. Eine solche Delegation müsste explizit im StromVG vorgesehen sein. Auch wenn den Richtlinien ein gewisser generell-abstrakter Charakter zukommt, fehlt es ihnen jedoch an Hoheitlichkeit, da keine rechtsetzenden Befugnisse an private Organisationen delegiert wurden. Eidgenössische Elektrizitätskommission ElCom Effingerstrasse 39, CH-3003 Bern Tel. +41 31 322 58 33, Fax +41 31 322 02 22 info@elcom.admin.ch www.elcom.admin.ch 911 - Sektion Einspeisevergütung 003848691C:\Documents and Settings\u80806984\Desktop\20091102_Notiz_Rechtsnatur_Branchenrichtlinien.doc

2. Selbstregulierung Unter Selbstregulierung versteht man eine durch den Staat veranlasste, geförderte oder mit ihm ausgehandelte Regelung durch Private, z.b. Wirtschaftsverbände oder Fachvereinigungen, die eine staatliche Regelung ersetzt und den Staat dadurch entlastet. Der Staat kann die Selbstregulierung z.b. durch Festlegung der Rahmenbedingungen für die Regelung durch Private und durch den Hinweis auf die staatliche Regulierung für den Fall, dass es nicht zur gewünschten Selbstregulierung kommt, steuern (Georg Müller, Elemente einer Rechtssetzungslehre, 1999, Rz. 72). Vorteile der Selbstregulierung sind die Mobilisierung von Fachwissen, die Entlastung des Staates, die Verbesserung der Akzeptanz und eine grössere Flexibilität im Vergleich zur staatlichen Rechtssetzung. Die Selbstregulierung ist in der Regel jedoch weniger demokratisch und transparent und führt zu Machtballungen und Wettbewerbsverzerrungen, wenn nicht alle interessierten Privaten in gleicher Weise mitwirken können. Zudem wird die Wahrung der öffentlichen Interessen erschwert (Müller, a.a.o., Rz. 73). Der Bundesrat schreibt den Netzbetreibern z.b. in Art. 3 Abs. 1 StromVV vor, transparente und diskriminierungsfreie Richtlinien für die Zuordnung von Endverbrauchern, Elektrizitätserzeugern usw. festzulegen. Damit gibt er den groben Rahmen der Richtlinien in diesem Bereich vor. Das Bundesamt für Energie BFE wird in Art. 27 Abs. 4 StromVV ermächtigt, in diesen Themen Ausführungsbestimmungen zu erlassen, wenn sich die Netzbetreiber nicht innert nützlicher Frist auf diese Richtlinien einigen oder sie nicht sachgerecht sind. Dies soll wohl einen Anreiz für die Netzbetreiber darstellen, sich auf gemeinsame Richtlinien zu einigen, damit nicht das BFE hoheitlich solche Richtlinien festlegt. Eine abstrakte inhaltliche Überprüfung der Richtlinien durch das BFE ist jedoch nicht vorgesehen. Die Richtlinien werden auch nicht amtlich publiziert. Für deren Veröffentlichung sind die Netzbetreiber zuständig (Art. 27 Abs. 4 StromVV). Bei den Richtlinien handelt es sich folglich um Selbstregulierungsnormen, deren Festlegung durch den Bundesrat gefördert wird, ohne dass aber Rechtssetzungsbefugnisse delegiert werden. Es stellt sich nachfolgend die Frage nach der Verbindlichkeit dieser Normen. 3. Verbindlichkeit der Richtlinien durch Verweisung? 3.1 Grundsätzliches Durch Verweisung werden keine Rechtssetzungsbefugnisse an Private delegiert. Private Normenwerke werden durch Verweisung nicht zu Erlassen, sondern behalten grundsätzlich ihren privaten Charakter. Sofern jedoch auf ganz bestimmte private Normen verwiesen wird (statische Verweisung), die das Rechtssetzungsorgan als anwendbar erklärt, werden die von privaten Organisationen erlassenen Regeln durch die Verweisung zu staatlich gesetztem Recht (Gesetzgebungsleitfaden, a.a.o., 2007, Rz. 901; Müller, a.a.o. Rz. 310). 3.2 Arten von Verweisungen Unter Verweisung versteht man den Verzicht auf eine eigene Regelung und die Bezugnahme auf eine andere, bereits bestehende Norm. Es gibt verschiedene Arten von Verweisungen. Eine indirekte Verweisung liegt vor, wenn im Sinne einer Generalklausel auf einen Standard oder beispielhaft auf bestimmte Normenwerke verwiesen wird. Sie ist zulässig, weil sie nicht dazu verpflichtet, eine bestimmte technische Norm einzuhalten. Es steht dem Adressaten der Regelung frei, den 2/5

Nachweis zu erbringen, dass sich die gesetzliche Anforderung auch auf anderem Wege als über eine Verbandsnorm verwirklichen lässt (Gesetzgebungsleitfaden, a.a.o., 2007, Rz. 902). Von direkter Verweisung spricht man, wenn ausdrücklich auf ein bestimmtes Normenwerk verwiesen wird. Direkte Verweisungen sind entweder statisch (es wird auf eine bestimmte Fassung des Verweisungsobjekts verwiesen) oder dynamisch (es wird auf eine Normenwerk in deren jeweils geltender Fassung verwiesen) (Gesetzgebungsleitfaden, a.a.o., Rz. 892 ff.). Statische Verweisungen werden in der neueren Lehre und Praxis als zulässig angesehen, sofern dadurch eine im Moment und für die absehbare Zukunft sachgerechte Regelung getroffen werden kann. Bei der dynamischen Verweisung kann sich der Gesetzgeber im Zeitpunkt des Inkrafttretens der Verweisungsnorm eine konkrete Vorstellung vom Inhalt der privaten Norm machen und deren Gesetzeskonformität überprüfen. Es besteht jedoch keine Gewähr, dass der Regelsetzer auch in Zukunft innerhalb des vom Gesetzgeber gezogenen Rahmens bleibt. Die dynamische Verweisung auf private Normen käme daher einer versteckten Übertragung von Rechtsetzungsbefugnissen auf eine ausserstaatliche Stelle gleich und ist daher nicht zulässig (Gesetzgebungsleitfaden, a.a.o., 2007, Rz. 902). 3.3 Richtlinien gemäss StromVV In der StromVV werden die Netzbetreiber aufgefordert, Richtlinien in verschiedenen Bereichen zu erlassen. Wie bereits festgestellt, handelt es sich dabei nicht um die Delegation von Rechtssetzungskompetenzen. Es liegt auch weder eine statische noch eine dynamische Verweisung vor, da weder auf ein konkretes noch auf die jeweils geltende Fassung eines Branchendokumentes verwiesen wird. Es könnte jedoch eine indirekte Verweisung vorliegen. Versteht man den als Beispiel herangezogenen Art. 3 Abs. 1 StromVV als indirekte Verweisung auf die Richtlinien (im Sinne: Richtlinien = anerkannte Regeln der Technik ), so sind bestehende Richtlinien zur Konkretisierung für einen transparenten und diskriminierungsfreien Netzzugang heranzuziehen. Da es in diesem Bereich eine Vielzahl von Konstellationen gibt, sieht die StromVV keine detaillierte Regelung vor, sondern überlässt die Detailregelung der Branche (Stromversorgungsverordnung: Erläuternder Bericht zum Vernehmlassungsentwurf vom 27. Juni 2007, S. 7). Die StromVV mandatiert nicht explizit einen bestimmten Fachverband mit der Festlegung von Richtlinien. Beauftragt werden vielmehr die Netzbetreiber, welche sich folglich in ihrer Gesamtheit auf Richtlinien zu einigen haben. Aus dem erläuternden Bericht zur Stromversorgungsverordnung geht jedoch hervor, dass der Verordnungsgeber im Zusammenhang mit den festzulegenden Richtlinien an Branchendokumente i.s. des Marktmodells für die Elektrische Energie Schweiz (MMEE-CH) des VSE gedacht hat (Stromversorgungsverordnung: Erläuternder Bericht zum Vernehmlassungsentwurf vom 27. Juni 2007, S. 4). Daraus lässt sich ableiten, dass der VSE in einem gewissen Mass als Repräsentant aller Netzbetreiber verstanden wird und sich daher zusammen mit den ihm nicht angehörenden Netzbetreibern auf Richtlinien zu einigen hat. Aus Art. 27 Abs. 4 StromVV geht hervor, dass die Netzbetreiber zudem die Vertreter der Endverbraucher und der Erzeuger vor Erlass der Richtlinien zu konsultieren haben. Eine Konsultation der Branche und der Endverbrauchern fand im April/Mai 2009 statt (Marktmodell für die elektrische Energie Schweiz, MMEE - CH, Ausgabe 2009, S. 3, abrufbar unter www.strom.ch > Dossiers > Strommarkt). Die anlässlich dieser Konsultation eingegangenen Änderungsvorschläge wurden nur teilweise berücksichtigt. Es besteht folglich in der Branche (und bei den betroffenen stromintensiven Endverbrauchern) kein Konsens bezüglich des Inhalts der Richtlinien. Ein solcher Konsens wäre ein Indiz für die Sachgerechtigkeit der Richtlinien. 3/5

Die ElCom wird daher im konkreten Streitfall prüfen, welche Lösung die Branchenrichtlinien vorschlagen. Sie wird die vorgeschlagene Lösung übernehmen, es sei denn, sie erweise sich nicht als sachgerecht. C. Branchendokumente 1. Rechtsnatur Der VSE bezeichnet das Marktmodell für die elektrische Energie Schweiz als Branchenempfehlung bzw. als Leitfaden, worin zentrale Aspekte der Organisation des Strommarktes Schweiz geregelt werden (Marktmodell für die elektrische Energie Schweiz, MMEE - CH, Ausgabe 2009, S. 6 und 7, abrufbar unter www.strom.ch > Dossiers > Strommarkt). Die über die Richtlinien hinausgehenden Regelungen im MMEE CH und in den dazugehörenden Schlüsseldokumenten wurden nicht staatlich angeordnet. Es handelt sich daher um freiwillige, nicht staatlich angeordnete Regelungen, die keine Selbstregulierung im vorgenannten Sinne (vgl. B.2.) darstellen. Die Verbindlichkeit dieser Branchendokumente ist nachfolgend zu prüfen. 2. Verbindlichkeit Es stellt sich die Frage, ob die Bestimmungen in den vom VSE erarbeiteten Branchendokumenten, welche nicht als Richtlinien i.s.v. Art. 27 Abs. 4 StromVV gelten, als Verbandsnormen oder durch die Aufnahme in Verträge zwischen den verschiedenen Branchenteilnehmern Verbindlichkeit erlangen können. 2.1 Verbandsnorm Verbindlich für alle Verbandsmitglieder sind in erster Linie die Statuten. In den Statuten des VSE wird kein Bezug genommen auf die Branchendokumente oder auf deren Verbindlichkeit. Der VSE bezeichnet seine Regelwerke betreffend Nutzung der Stromnetze und Organisation des Energiegeschäfts als Empfehlungen zur Organisation des liberalisierten Strommarktes (Marktmodell für die elektrische E- nergie Schweiz, MMEE - CH, Ausgabe 2009, S. 6, abrufbar unter www.strom.ch > Dossiers > Strommarkt). Es handelt sich dabei um Dokumente, welche vom Vorstand des VSE genehmigt wurden (Ausnahme: Transmission Code 2008 wurde von der swissgrid verabschiedet). Aufgrund der Bezeichnung als Empfehlung ist jedoch nicht davon auszugehen, dass die Branchendokumente des VSE für seine Mitglieder im gleichen Masse verbindlich sind wie die Statuten. Die Tatsache, dass ein Energieversorgungsunternehmen Mitglied beim VSE ist, bedeutet folglich noch nicht, dass er an die Empfehlungen des VSE gebunden ist. 2.2 Vertragsbestandteil Der VSE hat Musterverträge herausgegeben, welche als Redaktionshilfen für die Erstellung der Verträge zwischen den Akteuren im offenen Strommarkt dienen. In diesen Musterverträgen ist vorgesehen, dass die Vertragsparteien je nach Vertragstyp gewisse Schlüsseldokumente als Vertragsgrundlage übernehmen (z.b. Rahmenvertrag zur Netznutzung durch Lieferanten, Netzanschluss- und Netznutzungsvertrag für Erzeuger, Netzbetriebsvertrag Verteilnetzbetreiber Verteilnetzbetreiber; zu finden in: Musterverträge zur Branchenempfehlung, Marktöffnung Schweiz, MVBM-CH, Ausgabe 2007, abrufbar unter www.strom.ch > Dossiers > Strommarkt). Sofern ein Branchendokument zur Vertragsgrundlage erhoben wird, ist es für die Vertragsparteien grundsätzlich verbindlich; es sei denn, es verstosse z.b. gegen die Vorgaben der Stromversorgungs- 4/5

gesetzgebung. Es ist denkbar, dass die ElCom die Anwendbarkeit von Branchendokumenten im Einzelfall vorfrageweise prüft. D. Fazit Zusammenfassend ist festzustellen, dass keine rechtsetzenden Befugnisse an private Organisationen delegiert wurden. Weder Branchendokumente noch Richtlinien sind also staatlich gesetztes Recht. Bei denjenigen Bestimmungen der Branchendokumente, welche als Richtlinien i.s.v. Art. 27 Abs. 4 StromVV gelten, handelt es sich um Selbstregulierungsnormen. Die ElCom wird im konkreten Einzelfall die in den Branchenrichtlinien vorgeschlagene Lösung übernehmen, es sei denn, sie erweise sich nicht als sachgerecht. Die übrigen Branchendokumente sind grundsätzlich für diejenigen Beteiligten verbindlich, welche die Branchendokumente in einem konkreten Vertrag zum Vertragsbestandteil erklärt haben (sofern sie nicht z.b. gegen die Stromversorgungsgesetzgebung verstossen), im Übrigen handelt es sich dabei um Branchenempfehlungen. 5/5